Die Unschuld (Fünfte Sammlung)
Die Unschuld hatte dadurch gefehlt, daß sie recht gethan hatte, und ward deßhalb vor Gericht gefordert.
Unerschrocken trat sie vor dasselbe, weil sie die Richter nach sich selbst beurtheilte; sie sahe diesen, jenen, einen dritten an, die sie einzeln für gute Männer gehalten hatte, und konnte nicht anders denken, als daß sie jezt verbunden auch die billigsten Richter seyn müßten.
Da waren Gottesläugner, die im Ruf einer unabläßigen Andacht standen; Blutsauger, die das Recht sprechen, Barbaren, die alles wissen, Blinde, die von Farben urtheilen sollten. Denen allen vertrauete sich die Unschuld sicher an; ach aber, wie sehr hatte sie sich betrogen!
Sie hatte die Guten gelobt, die Bösen getadelt; und sahe jetzt, daß die, die sie für die Guten gehalten hatte, sich des Tadels der Bösen als ihrer eignen Sache annahmen, mit dem Lobe der Guten dagegen gar nicht zufrieden waren. Kaum wollte sie ihren Augen trauen, da sie sah, daß andächtige Männer die Andacht mißbilligen, gerechte Männer der Billigkeit entgegen streben, gelehrte Männer Wissenschaften verachten, das unterdrückte Volk seine Freiheit verabscheuen könne; sie stritt mit sich, und ward beinahe an sich selbst irre, daß sie mit ihrem Urtheil den besten Männern so habe mißfallen mögen.
Den Nebel zerstreuete ihr aber die edle Jungfrau, Rechtschaffenheit, tröstete die Unschuld und hieß sie mit der heitersten Stirn das unbilligste Gericht erwarten. Denn, sagte sie, wisse diese Maxime, Schwester: „Männer, die jeder für sich der Unschuld nichts anzuhaben wagen, können, wenn sie im Collegium oder sonst mit andern vereint sind, ohne Gewissen ihr Schimpf und Schande anthun.“