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Autor: Karl August von Heigel
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Titel: Die Tochter des Fälschers
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–5, S. 1–4, 17–20, 33–36, 49–52, 66–69
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Text auch als E-Book (EPUB, MobiPocket) erhältlich
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[1]
Die Tochter des Fälschers.
Von Carl Heigel. [1]


1.

Die Gäste an der fürstlichen Tafel waren beim Dessert. Die Liebenswürdigkeit des Fürstenpaars, das treffliche Diner und reichlicher Champagner hatten mehr und mehr die bürgerliche Befangenheit und Zurückhaltung gebannt, das Gespräch wurde lauter, lebhafter, und Jeder nahm daran Theil. Einige Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, die Beamten des Fürsten und der nahen Kreisgerichtsstadt und der junge Pastor waren zugegen. Nur der Rendant des königlichen Gerichtes war abwesend. Man erwähnte seine Krankheit, und eine seltene Uebereinstimmung von Verehrung und Theilnahme für den wackern Mann gab sich kund. Die Fürstin und der Pastor betonten den frommen, sittlichen Sinn Günther’s, der Kreisrichter und Actuarius hoben die Diensttreue und unermüdliche Thätigkeit des Rendanten hervor, Alle vereinigten sich im Lobe seiner Bescheidenheit und Herzensgüte. Nur Doctor Michaelis schwieg; doch die wortkarge, verschlossene Art des fürstlichen Leibarztes war bekannt. Zuletzt erhob sich der Herr des Schlosses, ein wahrer Edelmann, mit offenem Sinn für alles Gute begabt. „Meine verehrten Gäste,“ begann er, „wir sprachen soeben von einem Manne, der als Vater, Bürger und Beamter Allen ein Muster ist. Ich entspreche gewiß Ihrem innersten Gefühl, wenn ich meiner Freude über die Verlobung seiner Tochter mit unserm lieben Pastor lauten Ausdruck gebe! Trinken wir auf das Wohl des jungen Brautpaars, auf die baldige Genesung des allbeliebten Ehrenmannes!“

Dem Trinkspruche folgte allgemeine und begeisterte Zustimmung. Das Gläserklirren schien kein Ende nehmen zu wollen, und Jeder drängte sich zum Pastor, um dem künftigen Schwiegersohn des einzigen Günther die Hand zu schütteln.

„Aber Doctor,“ rief plötzlich Reinhold den Arzt an; „Sie haben ja noch Ihr volles Glas stehen. Tranken Sie denn nicht auch auf die Gesundheit meines theuren Freundes?“

„Ach was!“ erwiderte Jener verdrießlich; „Ihr habt gut Jemandem Gesundheit wünschen; die Mühe des Gesundmachens bleibt doch mir allein.“

„Um so mehr sollten Sie auf seine baldige Genesung mit uns anstoßen. Aber während wir Alle uns des seltenen Mannes erfreuen, sitzen Sie mürrisch und schweigsam, als ob Sie gegen Günther weiß Gott was auf dem Herzen hätten!“

„Ich habe gar nichts gegen ihn! Nur bin ich kein Schwärmer und lobe keinen Menschen vor seinem Tode! Fehler haben wir Alle, und er wird sie wohl auch haben!“

Pastor Reinhold wollte gereizt antworten, allein in demselben Augenblick erhob sich die Fürstin und gab damit das Zeichen zum Aufbruch. Verstimmt durch des Doctors zweifelhaftes Gebahren verabschiedete sich Pastor Reinhold bald von der übrigen Gesellschaft und schlug mit eiligen Schritten den Weg nach dem benachbarten Städtchen, dem Ziel und Wohnort der meisten Gäste, ein. Sein Mißbehagen wurde durch die Schärfe der Luft nicht gemildert, welche außerhalb der warmen Schloßräume die Heimkehrenden empfing. Denn der Abend war mit Nebel und Frost hereingebrochen, und aus manchem Fenster der auftauchenden Stadt schimmerten schon die Lampen fleißiger Handwerker. Die Pappeln, die zu beiden Seiten des Heerweges gepflanzt waren, ragten kahl wie Mastbäume empor und knarrten im Nachtwind. Links und rechts dehnte sich der weiße Spiegel der verschneiten Gefilde; fernab, wo der dunkle Waldsaum begann, grauten Nebel.

Dicht vorm Thor sah dem einsamen Wanderer das Häuschen des königlichen Kreisgerichts-Rendanten mit rothen Fenstern entgegen. Unwillkürlich stand Reinhold still und lüftete mit tiefem Athemzug den Hut.

„Der Wein ist wir zu Kopf gestiegen,“ sagte er sich selbst. „Dieser Doctor! Gott verzeihe mir, aber ich hasse ihn! Das Fürstenpaar, die Räthe, wie freundlich, wie begeistert waren sie Alle außer ihm! Er liebt meinen Schwiegervater nicht; pah, er liebt auch mich nicht, er liebt Niemand, es sei denn seinen Pudel! Gleichwohl bin ich so thöricht, mir durch sein Achselzucken die ganze Freude verderben zu lassen. Ich fühle mich beengt, etwas wie eine trübe Ahnung lastet auf mir. … Ah! …“ Er athmete tief aus. Dann öffnete er die Gartenthür.

„Willkommen, Reinhold!“

Beim Anblick seiner Braut schwanden alle Schatten auf des Pastors Stirn. Das schöne, schlanke Mädchen kam ihm auf der Schwelle mit Licht entgegen und zog ihn freudig erregt in die warme Wohnstube. Dort stellte sie den Leuchter auf den Tisch und ergriff dann beide Hände ihres Verlobten, der indessen Hut und Ueberrock abgelegt hatte. Ihre Augen ruhten leuchtend auf der hohen Gestalt des geliebten Mannes. Sie streifte den Reif von seinem lichtbraunen Haar und brachte die feuchtgewordene Halsbinde in Ordnung.

„Die weiße Binde steht Dir gut zu Gesicht,“ sagte sie erröthend. „Du siehst heute gar schön und vornehm aus. Wenn Damen bei Tische waren, haben sie mich gewiß um meinen Bräutigam beneidet.“

[2] „Wer wird an Aeußerlichkeiten hangen!“ erwiderte er, aber im Innersten that ihm die aufrichtige Bewunderung doch überaus wohl. „Wie geht’s dem Vater?“

„Er ist sehr aufgeregt und hat wiederholt nach Dir gefragt.“

„So gehen wir hinein zu ihm.“

„Erzähle ihm nur recht ausführlich vom Diner. Er wäre gar zu gern dabei gewesen. Auch bin ich selber neugierig.“

Sie traten in’s Krankenzimmer. Günther, ein kleiner, schmächtiger Mann mit ergrautem Haar, saß aufrecht im Bett und drückte hastig die Hand seines künftigen Schwiegersohnes. „Da sind Sie ja,“ sprach er mit flüsternder, heiserer Stimme, oft vom schlimmen Husten unterbrochen. „Die Tafel hat lange gedauert. Oder kommen Sie nicht direct vom Schloß?“

„Wie sollt’ ich hier vorübergeh’n, ohne anzupochen?“

„Ein armer, kranker Mann darf nicht verlangen, daß sich die Welt um ihn bekümmere.“

„Sie sehen doch die Welt in Ihren Freunden?“

„Ich bin allen Menschen Freund.“

„Und Alle sind es Ihnen. O mein verehrter, väterlicher Freund, hätten Sie doch hören können, wie heute wieder, bei der fürstlichen Tafel, Alle von Ihnen mit Liebe und Bewunderung sprachen!“

„Man sprach von mir?“ fiel Günther hastig ein. „Was – bitte, erzählen Sie!“ … Ein heftiger Husten folgte seiner Aufregung.

Amanda legte wie zur Besänftigung der empörten Natur die Hände auf des Kranken Stirn und Brust. Auch Reinhold war liebevoll um ihn besorgt. „Sie sprachen zu viel, lieber Vater,“ sagte das Mädchen, nachdem der heftige Anfall vorüber war.

„Ist von keiner Bedeutung, meine Theueren,“ versetzte der Rendant und zwang sich zu einem Lächeln. „Ein bloßer Kitzel! Ich habe eine starke Natur, und wenn ich erst wieder gehen und arbeiten darf, bin ich in vierzehn Tagen völlig hergestellt. Währenddessen seid Ihr ein Paar geworden, und eines Morgens dann reisen wir in’s Gebirg!“

Die Blicke der Verlobten begegneten sich; sie waren thränenfeucht.

„Aber nun, mein bester Reinhold, erzählen Sie mir Weiteres von der Tafel. War auch mein College Scybylski geladen?“

„Ja.“

„Das war doch sonst nie der Fall! Aber ich ahnt’ es! Man betrachtet ihn bereit als meinen Nachfolger.“

„Niemand denkt daran.“

„Doch, doch! Aber sie irren sich. Ich werde, ich muß genesen, und dann will ich arbeiten, noch viele Jahre arbeiten!“

„Das ist ja unser Aller Wunsch und tägliches Gebet! Ueber einen Mann, wie Sie, von Allen geliebt und Allen ein Muster, hält Gott schützend seine Hand. Der Stolz meines Herzens, mich bald zu den Ihrigen zählen zu dürfen, ist keine Sünde! Wie hob er heute meine Brust, als von Aller Mund Ihr Lob ertönte, als sich zuletzt der Fürst selbst erhob, dem Gefühl der Verehrung für Sie begeisterten Ausdruck gab, und die ganze Gesellschaft jubelnd auf Ihr Wohlergehen die Gläser klirren ließ!“

Hoch auf schlug Amanda’s Herz vor Freude und Genugthuung; auch über das Antlitz des Kranken flog eine leise Röthe, dann aber sagte er mit einer abwehrenden Handbewegung:

„Gott segne den guten, hohen Herrn, aber sein Lob verdien’ ich nicht! Ihr Alle habt zu viel Nachsicht mit mir; ich bin schwach, sündig und irdischen Gebrechen unterworfen, mehr als viel Tausend Bessere in dieser Stadt. Verdienste hab’ ich nicht –“

„Ihre Bescheidenheit sagt das,“ fiel der Pastor, von der schlichten Art des Mannes hingerissen, mit großer Wärme ein. „Anders reden Ihre Vorgesetzten, der Gerichtsrath, der Kreisrichter! Sie sagen, im ganzen Königreich finde man keinen gewandteren Arbeiter und treueren Verwalter. Vor acht Tagen war Ihr Chef, der Gerichtsrath, bei uns zu Tisch. Wir sprachen natürlich von Ihnen. „„Der gehörte an einen ganz andern Posten,““ meinte der Rath. „„Nach der Hauptstadt, in’s Ministerium müßte Günther! Ich wünsch’ es ihm und wünsch’ es nicht; er verdient es, aber ich möchte ihn auch um alle Welt nicht verlieren!““ So äußern sich Ihre Vorgesetzten, und die Ihnen untergeordneten Beamten stimmen nicht minder bereit Ihr Lob an. Der Actuar Scybylski würde für Sie in’s Feuer gehen!“

„Still, still! Nichts mehr von meinen Verdiensten“ rief der Gepriesene. „Ich wollte, daß Sie mein Herz sehen könnten, Ehrwürden, wie es sich krümmt unter Ihrem Lob. Ich bin ein schwacher, sündiger Mensch!“

„Vor Gott sind wir Alle Sünder; unter uns aber sind Sie ein Augentrost und eine Leuchte der Gerechten!“

Nach einer Pause begann Günther: „Haben Sie den Doctor gesprochen?“

„Nur flüchtig,“ antwortete Reinhold verlegen.

„Glauben Sie, daß er mich morgen aus der Stube entlassen wird?“

„Wenn es Ihrer Gesundheit heilsam ist, gewiß.“

„O, wenn ich nur wieder in meinem Büreau bin! Ich werde ein tüchtiges Stück Arbeit nachzuholen haben! das wird mir besser thun, als alle Medicin!“

„Willst Du jetzt nicht ein Weilchen schlafen?“

„Liebes Kind, Du behandelst mich gerade, als ob ich auf den Tod krank wäre. Um sieben Uhr schläft doch Niemand!“

„Aber Doctor Michaelis hat Dir das viele Sprechen verboten.“

„Die Aerzte haben leicht verbieten,“ entgegnete Günther mit der den Kranken eigenthümlichen Gereiztheit. „Doch,“ fügte er hinzu, „ich will es mit dem Doctor nicht verderben, denn er muß mir morgen auszugehen erlauben. Weißt Du was, Amanda? Sing uns ein schönes Lied. Reinhold wird Nichts dagegen haben, und mir thut Dein Gesang gar sehr wohl.“

„Ich bitte darum,“ sagte der Pastor, und Amanda setzte sich an den Flügel im Nebenzimmer und sang mit angenehmer Stimme und leidlichem Vortrag:


Noch nichts von winterlicher Trauer;
Noch einmal warmen Sonnenschein
Und düftetrunkne Ahnungsschauer,
Noch einmal laßt es Frühling sein!

Die schwergebeugten Wipfel warten
Der Hand noch, die die Früchte bricht;
Die Sonnenblume kehrt im Garten
Ihr Antlitz sehnend noch zum Licht.

Noch immer hör’ ich den gewohnten
Gesang der Vögel im Geheg,
Und Schatten gaukeln wie vor Monden
Auf dem verlaßnen Waldesweg.

Und geh’ ich Nachts im Sternenscheine
An Deinem Hause still vorbei,
Regt sich die Sehnsucht, und ich meine,
Daß es noch immer Frühling sei!


Amanda’s Lied verhallte. Von mannigfachen Gefühlen bewegt, blieben die drei Menschen im Schweigen versunken. Draußen aber hatten sich die Nebel zertheilt, und ein klarer Sternenhimmel spannte sich über der Winterlandschaft aus.


2.

Von allen Gästen der fürstlichen Tafel war, außer den Besitzern selbst, nur der Arzt im Schloß zurückgeblieben. Ein früher unbewohnter Flügel war ihm daselbst eingerichtet und enthielt in zwei geräumigen, braungetäfelten Zimmern seine Bibliothek, seine Sammlungen und Instrumente. Das Schlafgemach, das hoch in einem Thurm lag, benutzte er zugleich als Sternwarte.

Einsam und freundlos, wenn nicht Bücher und Sterne und ein alter Pudel seine Freunde genannt werden dürfen, lebte er hier, denn so liebevoll er für seine Kranken sorgte, ebenso kalt und unzugänglich blieb er den Gesunden gegenüber. Wohl hatten der Fürst und die andern Bewohner der Landschaft seine Kenntnisse, wie seinen uneigennützigen Sinn erprobt, aber mehr als Achtung wünschte weder, noch erlangte dieser immer besonnene, gemessene Mann, dessen scharfer Verstand jedes wärmere Gefühl erfrieren ließ. Nach dem Tode seines Vorgängers, des fürstlichen Leibarztes, war er aus der Hauptstadt hierher berufen worden. Von seinem frühern Leben wußte Niemand zu sagen. Nur der Menschenkenner errieth aus den leisen Falten seiner Stirn und einem schwermüthigen Zug um den Mund, daß auch andere Sorgen und Aufregungen als die der Arbeit ihn hatten altern lassen. Er selbst sprach nie von sich. Sogar die gelehrten Abhandlungen, die Früchte seiner rastlosen Studien, veröffentlichte er ohne seinen Namen.

[3] Als er nach dem Diner in sein Zimmer trat, sprang ihm der Hund bellend und wedelnd entgegen, schmiegte und drückte sich an seine Beine und beleckte die Hände des Herrn, der ihm freundlich den zottigen Kopf streichelte. Dann entledigte sich Michaelis seines Fracks, zog seinen blauen, langschößigen Hausrock an und schritt, vom Pudel begleitet, ein paar Mal im Zimmer auf und nieder. „Die Herrschaft thäte auch klüger,“ sagte er halblaut zum aufblickenden vierfüßigen Begleiter „wenn sie mich ein für allemal von ihrer Tafel fern hielte. Ich begnüge mich vollkommen mit Deiner Gesellschaft. Hol’ der Geier diese Diners! Langweile während und ein verdorbener Magen nach der Tafel sind der Gewinn davon. Diese hohlen Redensarten, diese Ziererei! Die Menschen, welche in Gesellschaft kommen, reden Einer dem Andern ein, daß sie sich amüsiren, und die ganze Gesellschaft ist eine große compacte Lüge von sechs oder sieben Gängen, in Madeira, Rheinwein und Champagner eingetunkt.“

Er brannte sich eine Cigarre an, rückte seinen Lehnstuhl an’s Fenster und ließ sich verdrießlich nieder. Seine Gedanken waren noch bei der Tafel.

„Einen neuen Heiligen hätten wir nun gefunden! Johann Jakob Günther, geheimer Secretarius und Rendant Sr. Majestät. Was für Criminalblicke mir zugeschleudert wurden, weil ich in die allgemeine Litanei nicht einstimmte! Ich weiß zwar gegen den Mann nichts zu sagen, aber ich traue den Leuten nicht, welche mit aller Welt Freundschaft halten. Er lobt immer und jeden; dafür lobt nun der Herr Jeder auch ihn! Habeat sibi!

Er zog die Klingel. Ein Diener erschien mit Licht.

Der Arzt stellte die Lampe auf seinen ungestalten, von Büchern, anatomischen Karten und Manuscripten überflutheten Schreibtisch und vertiefte sich bald in das Werk eines befreundeten Gelehrten. Nichts störte die Stille des Gemachs. Der Pudel lag stumm; nur zuweilen schmiegte er liebkosend sein Haupt an die Füße seines Herrn. Im Kamin knisterte die Gluth, und das Rauschen der umgewandten Blätter zeugte vom Eifer des Lesenden.

Eben verhallte der elfte Schlag der Schloßuhr, als auf dem Korridor eilige Schritte tönten und an die Thür heftig gepocht wurde. Der einsame Junggeselle, so später Besuche als Arzt gewohnt, rief ruhig sein Herein, erstaunte aber dennoch, da Pastor Reinhold in’s Zimmer schritt. Er trat dem späten Gaste fragend entgegen.

„Entschuldigen Sie,“ sagte dieser hastig, mit zerstörtem Antlitz und unverhehlter Aufregung. „Entschuldigen Sie, Herr Doctor, wenn ich Sie aus wichtigen Studien störe. Ihre Hülfe ist dringend noth. Meinen Schwiegervater hat ein heftiger Blutsturz befallen. Eilen Sie! helfen Sie!“

„Sie melden mir nichts Unerwartetes!“ erwiderte der Arzt. „Ich habe den Fall längst vorausgesehen!“

„Wie?“ rief der Andere empört, „und Sie haben den ausgezeichneten Mann, die liebenswürdige Tochter nicht gewarnt?“

„Davon später! jetzt kommen Sie!“ Michaelis hatte bereits Hut und Mantel ergriffen, und rasch schritten beide Männer hinab in’s Freie. Während sie den Weg nach der Stadt einschlugen, begann der Arzt: „Schon vor längerer Zeit sprach ich mit Günther über sein geheimes Leiden. Ich bat ihn, einige Monate sich der Geschäfte zu enthalten, bat ihn mit der vollen Aufklärung über die schwebende Gefahr, ich selbst wollte ihm einen Urlaub vermitteln; allein er hat mich mit heftigen Worten abgewiesen. Er wollte nicht gesund werden; dem Erkrankten kann ich die Schmerzen erleichtern, ihn heilen aber, Herr Pastor, das sage ich Ihnen vorher, ihn heilen kann ich schwerlich mehr.“

Reinhold erblaßte. „So geben Sie jede Hoffnung, ihn zu retten, verloren? Und das sprechen Sie so ruhig aus? Bewegt Sie denn der Verlust eines solchen Mannes, den Alt und Jung als Ehrenmann bewundert und liebt, dessen Charakter und Wandel so rein ist, daß selbst der Neid verstummt, und kein Feind ihm unter Allen, die ihn kennen, lebt – bewegt Sie denn das Leiden und der mögliche Verlust eines so seltenen, eines so einzigen Mannes nicht?“

„Ich bin Arzt, ich sah die besten und die schlechtesten Menschen dem gleichen Gesetze unterworfen. … Eilen wir!“

Nach den letzten bestimmten Worten des Arztes fühlte sich Keiner geneigt, das Gespräch fortzusetzen, sondern Beide eilten schweigend neben einander her.

Als sie durch den kahlen, schneeverwehten Garten schritten, welcher des Rendanten Haus von der Landstraße trennte und im grünen Sommer heiter einrahmt, konnte sich der Geistliche eines Seufzers nicht enthalten. Er dachte an die schonen Juni- und Julinächte, die er hier mit Amanda, ihrem Vater und gemeinsamen Freunden verbracht hatte. War denn dieser wüste, traurige Fleck Erde derselbe, welcher vor wenig Monaten mit duftigen Blumenbeeten und dicht verschlungenen Lauben ihn gleich einem lieblichen Eden gefesselt hatten? Wie gespenstisch erschien ihm das sonst so trauliche Haus! Statt der luftigen Last tausendfach verschlungener Rebenranken trägt nun das Dach die Wucht des Schnees, welche den leichten Bau zu erdrücken droht. Und dräut nicht auch im Innern Zusammensturz und plötzliche Vernichtung schöner, reiner Verhältnisse? Die Räume, welche ehedem vom süßen Gelächter des Mädchens wiederhallten, erfüllt heute Weinen und Wehklagen. Der Tod, der schon die Mutter entriß, scheint auf’s Neue hier sein Fest feiern zu wollen.

Schon im Flur begegnen die Ankommenden ängstlichen, fragenden Gesichtern. Im Gemach, das an des Hausherrn Schlafzimmer stößt, sind außer der Tochter die Vorgesetzten des Rendanten und die angesehensten Bürger versammelt. Jedermann ist für Günther zur Hülfe bereit. Bei der Ankunft des Arztes wird es still. Was wird er verkünden? Der Kranke, jetzt von den Theilnehmenden umringt, liegt schwerathmend auf seinem Lager. Wenige Stunden haben ihn furchtbar verändert. Amanda beugt sich über ihn. Er spricht nichts. Nur seine Finger hasten fieberhaft über die Decke, und seine verglasten Blicke sind nach der Thür gerichtet, durch welche der Arzt eintritt. Dann leuchten sie neubelebt und hangen an den ruhig prüfenden Augen des Doctors, als wollten sie durch den klaren Spiegel in die Seele dringen und dort einen rettenden Gedanken erfassen. Es ist still – todtenstill! Der Arzt befühlt die Brust, zählt den Puls des Kranken, lauscht seinen Athemzügen – dann schreibt er … das Kritzeln der Feder hört auf. …

„Nur Ruhe – und es wird vorübergehen!“

Ah! – Ein tiefer Athemzug entringt sich Allen. Amanda eilt in’s Nebengemach und bricht dort in krampfhaftes Weinen aus.

Die Freunde, auch der Pastor, drücken Michaelis die Hand. Der Kranke aber sinkt aufseufzend in die Kissen zurück und fährt mit der Rechten langsam über die Stirn, als wollte er einen bösen Traum verlöschen. Die Bekannten und Freunde verlassen beruhigt das Haus. Nur Amanda’s Bräutigam und der Doctor bleiben am Krankenbette zurück.

Jetzt schließen sich die Lider des Leidenden. Der Arzt winkt Reinhold. Dieser tritt in die Wohnstube und reicht dort seiner schluchzenden Braut noch einmal die Hand. Dieser stumme Händedruck aber in diesem Augenblick ist ein Schwur heiliger Treue, der Treue, welche auch über’s Grab hin dauert! – Dann folgt der junge Mann dem Doctor.

An der Gartenthür scheiden sich ihre Wege. Noch hält Reinhold den Arzt zurück. „Hier unter dem ewigen Himmel geben Sie mir Wahrheit! Hoffen Sie?“

„Ja. Es ist Hoffnung. Ich fürchte nicht die Krankheit, aber den Kranken. Wenn Sie Gewalt über ihn haben, so bestimmen Sie ihn, ruhig zu sein!“

Damit trennen sich beide Männer. Die Nacht ist unterdeß sternhell geworden. Reinhold geht langsam in die Stadt, wo neben der Kirche im stillen Pfarrhause schon die Mutter schläft. Er aber liegt noch stundenlang auf den Knieen und sucht Trost in den heiligen Sprüchen der Bibel, während fern von ihm, hoch auf seiner Warte, der Arzt im verschlungenen Reigen der Gestirne den ewigen Gesetzen nachsinnt.


3.

Durch die Wohnstube des Pfarrhauses zieht am Morgen eine angenehme Wärme. Ein wolken- und nebelfreier, stahlblauer Winterhimmel blickt herein und verlockt den Canarienvogel im Bauer zum Gesang. Auf dem Tisch steht das Frühstück, das die greise Mutter mit ihren noch immer schönen Händen bereitet und dem Sohne darreicht. Er aber schlürft nicht mit gewohnter Behaglichkeit den braunen Trank, sondern kauert schweigsam im Lehnstuhl, nur dann und wann das blasse, überwachte Antlitz nach der Wanduhr erhebend. Seine Gedanken fliegen ihm schon voraus zur Braut, zum kranken Vater. Die Mutter, eine hohe, stattliche Greisin mit vollem, [4] weißem Haar, dunklen Brauen und stolzen Zügen, ruht auf dem Sopha und betrachtet nicht ohne Unruhe ihren Sohn.

„Theodor!“ begann sie endlich; „Du siehst recht krank aus. Du nimmst Dir das Unglück des Rendanten mehr zu Herzen, als sein eigenes Kind.“

„Mutter!“ erwiderte Reinhold vorwurfsvoll, „wie können Sie das sagen? Hätten Sie doch den Schmerz meiner Braut gestern gesehen!“

„Kann denn Amanda Schmerz empfinden? Ihre leichtlebige Natur scheint Thränen nicht zu kennen.“

„Theuerste Mutter, ich bitte, ich beschwöre Sie, mich in meiner Braut nicht so tief zu verletzen. Sie lieben nur den Ernst, aber meinen Sie nicht, daß auch die Freude in dieser Welt ihr Recht besitzt?“

„Nein – gottselige Heiterkeit hat mit dieser Freude nichts gemein! Sang und Tanz, Tanz und Sang, das ist Amanda’s einziger Wunsch. Ich will schweigen von ihrem ewigen Lachen, ihren knabenhaften Scherzen, aber das kann ich nun und nimmer verwinden, daß sie, eines geweihten Priesters Braut, auf den fürstlichen Bällen mit den Officieren und jungen Adeligen tanzt; daß sie, die Tochter eines Rendanten, sich wie einer Gräfin huldigen läßt und dem Schmeicheln eitler Gecken –“

„Sie ist in vieler Beziehung noch ein Kind,“ unterbrach Reinhold die Mutter; „die Schule des Lebens wird und auch ich werde sie zum Ernste lenken.“

„Mög’ es Dir gelingen!“ versetzte seufzend Frau Reinhold. „Sieh’, Dein und mein Vater waren Superintendenten. Unsere Familien zählen hinauf bis in die Jahre der Reformation. Als ein heiliges Erbe pflanzte sich von Sohn auf Sohn das Priesteramt. Ich messe mich mit jeder Freiin. Ist Amanda, die Tochter des weltlich gesinnten Subalternen, würdig in einen solchen Kreis zu treten? Wird sie deinen Aeltesten einst zum geweihten Priester erziehen können?“

„Liebe Mutter, die Tochter eines solchen Mannes wie des Rendanten Günther wird unserer Familie nicht zur Schmach gereichen.“

„Ja, Er ist ein Ehrenmann,“ erwiderte die Greisin. „Du kannst ihn von mir grüßen.“

„Ich danke Ihnen, theuerste Mutter,“ sagte Reinhold sich erhebend und küßte ihr die Hand. „Auf Wiedersehen!“

„Gott behüte Dich, mein Kind, zerstreue Dich nicht zu sehr!“

In diesem Augenblick ward an die Thüre gepocht, und es trat ein schmächtiger, nicht mehr ganz junger Mann herein. Es war der königliche Gerichtsschreiber Scybylski. Immer trug er einen schwarzen Frack, weiße Halsbinde, dunkle Pantalons und Winter wie Sommer leichte Zeugstiefelchen. Er stammte aus dem benachbarten Polen und führte natürlich seine Familie auf einen uralten Königsstamm zurück. Doch war er ein tüchtiger Arbeiter und nicht ohne Mutterwitz. Sein Vorgesetzter, der Rendant, war ihm das leuchtende Vorbild. Ihm zu gefallen, ihm ähnlich zu werden, erschien ihm als das schönste Ziel.

„Setzen Sie sich, lieber Scybylski,“ sagte herablassend die Greisin.

Der Pastor war nach freundlichem Gruß am Gerichtsschreiber vorüber nach seinen Zimmern gegangen.

„Sie kommen gewiß vom Rendanten?“

„Ja, Frau Superintendentin,“ erwiderte der Actuarius und erwartete vergebens eine Frage nach dem Befinden des Kranken.

„Wir hoffen das Beste,“ fuhr er nach einer Pause unaufgefordert fort. „Freilich fühlt sich mein verehrter College und Chef recht matt und angegriffen. Auch untersagte ihm Doctor Michaelis auf’s Strengste jede Aufregung und Anstrengung. Seine Geschäfte hat der Kreisgerichtsrath einstweilen mir übertragen. Gebe Gott, daß der theure Mann möglichst bald hergestellt seiner gewohnten Thätigkeit nachgehen kann. Wie gesagt, es ist Hoffnung, gegründete Hoffnung vorhanden, und dies Ihnen und Seiner Ehrwürden mitzutheilen, hat mich Fräulein Günther beauftragt.“

„Das sagt wohl nur Ihre Artigkeit. An mich hat Mamsell Günther nicht gedacht. Mir traut sie kein Interesse für die Leiden meiner Nächsten zu. Aber ich nehme Antheil, tiefen Antheil! … Trinken Sie den Kaffee weiß oder schwarz?“

Unterdessen war der Pastor nach dem Hause des Rendanten gegangen. Er wurde von der schönen Amanda heiter empfangen. „Es wird Alles gut werden,“ sagte sie. „Väterchen hatte sich in der letzten Zeit zu sehr angestrengt. Der Fürst, der uns schon in früher Morgenstunde beehrte, wird eine Reise in’s Bad ermöglichen, und Doctor Michaelis hat für diesen Fall das Beste versprochen.“

„Danken wir dem lieben Gott, daß er diese Prüfung so schnell an uns vorübergehen ließ.“

Er trat mit seiner Braut in’s Krankengemach, wo ihm Günther mit lächelndem Angesicht entgegensah. „Mir ist so wohl,“ sagte derselbe mit leiser Stimme, „mir ist so leicht! Dem Himmel sei Dank, mit dieser schlimmen Nacht habe ich mir die Genesung erkauft!“

„Sicher, verehrter Freund, wenn Sie sich Zeit und Ruhe zur Genesung gönnen.“

„Wenn ich nur wieder, am liebsten morgen wieder meinem Amte nachgehen kann!“

„Denken Sie nicht daran!“ rief Reinhold. „Sie haben sich ohnehin geopfert. Lassen Sie einstweilen jüngere Kräfte für sich arbeiten! Scybylski ist ja Ihr Schüler.“

Der Kranke richtete sich krampfhaft auf. „Nein,“ rief er, „man soll mich nicht ersetzen, auch Scybylski nicht. Ich bin ja kein Greis; ich bin kein Sterbender. Man wird mich doch eines leichten Hustens halber nicht aus dem Amte entfernen? Siebenundzwanzig Jahre hab’ ich es treu und redlich verwaltet!“

„Verehrter, Niemand spricht von Entfernung. Im Gegentheil, der heiße Wunsch Aller ist es, Sie sobald als möglich thätig zu sehen. Darum aber müssen Sie jetzt um so mehr geschont werden.“

„Ich will, ich brauche keine Schonung,“ warf Jener heftig ein. „Weder Scybylski, noch ein Anderer kennt die Pflichten meines Amtes. Ich muß, muß sogleich auf das Gericht, ich bin nicht mehr krank. Nur Unthätigkeit wird mich krank, mich sterben machen!“

Er erhob sich und wollte das Lager verlassen, aber der Anstrengung seiner schwachen Glieder folgte sofort ein krampfhafter Husten. Erblassend bemühten sich die Verlobten, ihn zu beschwichtigen.

„Ich will nicht – ich will nicht – laßt mich gehen – ich muß – muß – –“ zuckten seine Lippen. Dann sank er zurück in die Kissen.

[17] Amanda war eine jener Frühlingsnaturen, denen der Glaube an das Unglück schwer wird. Lächelnd und sorglos blickte sie in’s Leben, wie in einen grenzenlosen, blauen Morgenhimmel. Wohl überschlich sie manchmal der Gedanke an ein nahes Ende des Vaters, aber das waren vorübergehende, wesenlose Schatten. Es ist unmöglich, dachte sie, als sie einige Stunden später auf ihrem Stübchen über seinen Handarbeiten saß. Gott muß uns den Theuren erhalten, denn das Leben seines Kindes blüht nur auf dem seinen fort. Noch steht er ja im schönsten Mannesalter, und welch ein Mann ist er! Seine Vorgesetzten sehen in ihm nicht den Untergebenen, sondern den Freund, das Muster eines redlichen Beamten. Die Stadt und Bürgerschaft zählt ihn stolz zu den Ihrigen. Der Fürst, unser hoher Nachbar, zeichnet ihn auf jede Weise aus. Mit einem mäßigen Gehalte weiß er sich ein behagliches Dasein zu schaffen, und mich zu bilden, scheut er keine Opfer. Selbst die zarte Sorgfalt der Mutter konnte sein Herz ersetzen; Freude und Friede wichen nie aus diesen bescheidenen Räumen. Jedes von uns Beiden ist dem andern nothwendig; jedes trägt und wird von der höchsten Liebe getragen. Die neue Verbindung mit einer andern Familie ist für den Vater ebenso erfreulich als tröstlich. In einer Vermählung mit Theodor sieht er die Gewißheit, daß seine Grundsätze und Tugenden fortdauern. Und der Himmel sollte ihn, der so viele Fremde glücklich machte, nicht das Glück seines eigenen Kindes erleben lassen? Nein – bald wird er wieder heiter lächeln und genesen, mich als Braut, als das Weib Theodor’s segnen!

Und damit erschlossen sich ihr neue, trostreiche Bilder der Zukunft. Die Nadel entfiel ihren Händen, und das Mädchen lehnte sich zurück, so daß das Sonnenlicht voll auf die braunen Haare, das feine Gesicht und die schwellende Gestalt fiel. Die frischen, recht zum Kuß geschaffenen Lippen öffneten sich über den weißen Zähnen mit einem Lächeln. Die langen Wimpern verschleierten halb die braunen Augen, die auf den gestickten Rosen ihrer Arbeit ruhten, während die Seele rosigen Jugendträumen nachhing. Sie sah sich von einer frisch ergrünten Natur umgeben, Arm in Arm mit dem geliebten Gatten wandelnd.

Als sie in der Dämmerstunde am Bett des Kranken wieder Platz nahm, befremdete sie das stumme, nachdenkliche Wesen, der starre Blick des Vaters. Sein Geist schien der gewohnten Thätigkeit nachzuhängen, denn seine Lippen flüsterten Zahlen, und die Finger schieben auf die Bettdecke Ziffern, schienen sie auszulöschen und wieder zu schreiben.

„Vater,“ brach endlich Amanda die bange Stille, „warum hast Du keinen Blick für mich? Lange schon sitze ich neben Dir, und Du hast meine Anwesenheit noch kaum bemerkt!“

Der Rendant wandte sein Antlitz nach der Sprechenden und sah sie mit großen, fremdblickenden Augen an. „Kommst Du von Scybylski?“ fragte er dann.

„Was hätte ich bei dem zu suchen?“

„Kommt Reinhold nicht?“

„Ja, er wollte Dich Abends besuchen.“

„Wie viel Uhr ist es?“

„Sieben Uhr.“

„Jetzt zieht der Herr Rath auf unserm Büreau den Ueberrock an; der Herr Kreisrichter ist schon fort, der hält niemals länger als bis fünf Uhr aus. Jetzt kommt der Rath an mein Pult. Guten Abend, Herr Kreisgerichtsrath!“ Der Rendant verbeugte sich im Bett vor einer unsichtbaren Person.

„Vater!“ rief Amanda ängstlich und berührte den Arm des wachen Träumers.

„Ja so,“ sagte er traurig, „ich bin krank, und mein Pult steht leer. Ob der Herr Rath wohl im Vorübergehen nach meinem Platz blicken wird? Ich habe ihm Jahr für Jahr und Abend für Abend an derselben Stelle und mit demselben Glockenschlag einen guten Abend und eine Prise geboten. Er ist kein Schnupfer, er mußte jedesmal niesen … Prosit, Herr Kreisgerichtsrath! … Ja so! heute niest er nicht, denn heute ist Niemand da, der ihm eine Prise reicht! Wenn er nur nicht krank deswegen wird! das regelmäßige Niesen that ihm gewiß gut. … Jetzt tritt er an Scybylski’s Pult. …“

Der Kranke richtete sich jetzt krampfhaft empor und starrte mit weit geöffneten Augen in’s Leere. „Was zischelt er mit dem Actuarius? Was blättern sie denn in den großen Büchern? Es sind meine Bücher! Ich will nicht, daß man in meinen Büchern … Alles in Ordnung, Herr Kreisgerichtsrath! Alles in Ordnung!“

Er sank erschöpft in die Kissen zurück. Pastor Reinhold trat ein. Günther erkannte ihn.

„Gut, daß Sie kommen, Herr Pastor. Ich habe eine Gewissensfrage an Sie. Halten Sie das Lotteriespiel für eine Sünde?“

„Als Leidenschaft kann es leicht zur Sünde werden.“

„Glauben Sie aber nicht, daß Gott einem Bedrängten auch auf diesem Wege aus der Noth helfen kann?“

„Wer vermag des Herrn Mittel und Wege zu erforschen?“

[18] „Wir haben doch Beispiele! Mein Vorgänger im Amte war ein armer Mann mit sieben Kindern. Unser Fürst – das Gericht war damals noch fürstlich – schenkte ihm einmal ein Viertelloos; es gewann. Der Beglückte wurde Landmann und besitzt jetzt ein schönes, einträgliches Gut im Gebirge.“

„Spielst Du denn auch, Vater?“ fragte Amanda.

Der Rendant stockte und zupfte verlegen an der Bettdecke. „Ich?“ erwiderte er zögernd. „Ich spiele nicht. Es war nur eine flüchtige Idee von mir; ein kranker, arbeitloser Mann kommt auf allerlei Pläne und Träumereien. Es wäre doch gar zu schön, wenn eines Tages der Postbote mit einem Brief käme, in dem geschrieben steht: das Loos Nummer so und so hat 7000 Thaler oder noch mehr gewonnen! Wenn das eintrifft, schenk’ ich dem Briefträger funfzig baare Thaler … das heißt, wenn ich einmal spielen sollte.“

Er schwieg und schien nette Träume zu spinnen. Das Liebespaar flüsterte zusammen. Es ging auf zehn Uhr; da schrie der Rendant plötzlich auf und wies nach dem Fenster, das nach dem Garten ging und nur wenige Fuß über der Erde lag, denn des Rendanten Zimmer waren im Erdgeschoß. Ein Gesicht, ein wohlbekanntes, hatte sich an den Scheiben gezeigt und war schnell wieder verschwunden.

„Da! da, Scybylski!“ rief Günther. Er war noch blässer geworden. Amanda trat an’s Fenster. Wirklich sah sie draußen im Mondlicht den Actuarius über die verschneiten Beete nach der Gartenthüre huschen.

„Warum kommt er nicht herein?“ sagte sie verwundert.

„Soll ich ihn hereinrufen?“ fragte der Pastor und griff nach seinem Hut.

„Nein, nein!“ bat Günther. „Laßt ihn gehen!“

Die beiden Andern schoben die Ursache seiner Aufregung auf die Krankheit. Der Pastor verplauderte noch ein halbes Stündchen, dann empfahl er sich. Amanda machte sich im Nebenzimmer ein Lager zurecht und versank bald in Schlaf. Von des Vaters Lager aber floh der Schlaf. Draußen regte sich nichts; nur der Wächter sang von Stunde zu Stunde sein eintöniges Lied. Elf Uhr – zwölf Uhr – Eins! Und wieder starrten Günther’s Augen in’s Leere, wieder schrieben seine Finger auf die Decke Zahlen, löschten sie aus und schrieben wieder. Er sah im Geiste seinen Collegen und Nachfolger über den großen Büchern sitzen, die sonst wohlverschlossen in seinem, in des Rendanten Pulte lagen. Er rechnete mit seinem Traumbild, revidirte und addirte eine endlose Reihe von Posten. Was für eine Menge von Namen! Er kennt alle, weiß genau, was sie gegeben, und was er in die Bücher eingetragen hat. Nur arme Leute, sehr arme Leute! Aber es summirt sich doch! Der Mann im Traumbild schüttelt den Kopf, blättert zurück und beginnt auf’s Neue zu rechnen. Günther rechnet mit ihm. Jetzt springt der Mann im Traumbild auf und geht in der Stube auf und nieder. Günther’s Augen hängen brennend an ihm. Wenn er den Rücken kehrt, will er die Bücher vom Tische reißen. … Aber Jener sitzt schon wieder über den Folianten wie eine Eule, und verfolgt mit Aug’ und Finger Posten für Posten. Der Mann im Traumbild wischt sich den Schweiß von der Stirn, auch Günther ist in Schweiß gebadet. Die Blätter rauschen, aber die stummen Zahlen bleiben unverändert dieselben! Nein! jetzt wachsen sie riesengroß, verzerren sich und greifen wild in einander! Alles um ihn bewegt sich und kreist; nur das Antlitz des geträumten Mannes blickt ihn versteinert an; jetzt öffnet das Schattenwesen seine Lippen und flüstert – nein, es schreit, daß die ganze Stadt aus dem Schlafe fahren und es hören muß: Gefälscht! – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

In derselben Nacht brannte in der einen Amtsstube des Kreisgerichts eine einsame Lampe und warf ihre Strahlen auf offene Bücher mit Zahlenreihen. Ueber sie gebeugt saß Scybylski.

Die Wärme des Ofens war längst verflogen, es war bitter kalt in der Stube, aber den eifrigen Rechner fror nicht, seine Stirne glühte, seine Pulse fieberten. Oft unterbrach er sich und starrte auf die Ziffern, als müßten sie unter seinen flehenden Blicken sich verändern. Aber die Zahlen blieben so, und ihre Summen waren erlogen. Endlich schob er stöhnend die Bücher bei Seite. Noch immer wollte er sich überreden, daß ein Fieber ihm die Klarheit raube und seine Sinne verwirre. Um sich zu sammeln, griff er zu einem Bündel von des Rendanten Acten. Er überlas einige Bogen und verstand Satz für Satz. Da fiel ein offener Brief aus dem Hefte zur Erde. Scybylski hob ihn auf und durchflog seinen Inhalt. Er war kurz:

„Sehr geehrter Herr Rendant! Umgehend ersuche ich Sie um Erneuerung der von Ihnen gespielten sechs ganzen Loose …“

Sechs ganze Loose macht jährlich sechshundert Thaler. Ein Mann ohne Vermögen, mit einem Gehalt von siebenhundert Thalern spielt mit sechshundert Thalern … Diese Rechnung war klar. Scybylski entsank das Blatt. „Amanda! arme Amanda!“ rief er und barg zusammenbrechend sein Antlitz in beide Hände. Er weinte.

Zwar faßte er sich nach einer Weile männlicher und bezwang die Thränen; aber die schmerzlichsten Gedanken zerrissen seine Seele. „Warum,“ rief er, „muß ich diese furchtbare Enthüllung machen und offenbaren? Wodurch habe ich diese Prüfung verschuldet? Ich, der Amanda mehr als Alles auf der Erde liebt, muß ihren Vater als Betrüger entlarven und dem Gerichte überliefern! Und ich sehe keine Rettung, keinen Ausweg! Schweigen darf ich, kann ich nicht! Meine rechte Hand würde ich hingeben und betteln gehen, dürfte ich diese Bücher, ohne Eid und Treue zu verletzen, den Flammen übergeben und mit ihnen Günther’s Schuld vernichten! So aber muß ich meiner Pflicht gehorchen, die Familie und mich für immer unglücklich machen!“

Er ordnete und verschloß sorgfältig Bücher und Papiere, dann schickte er sich zum Aufbruch an. Die Lampe verlosch, aber an den Fenstern glänzte schon der erste Frührothschein.


4.


In der zehnten Morgenstunde nach dieser verhängnisvollen Nacht hörte Amanda, im obern Raume beschäftigt, den Vater plötzlich heftig klingeln. Als sie bestürzt in sein Zimmer eilte, rief ihr Günther entgegen: „Scybylski kommt; ich weiß, Scybylski kommt!“

Und in diesem Augenblicke ertönte auch wirklich die Glocke im Hausflur, und Amanda, welche zu öffnen ging, erschrak nicht wenig, als Scybylski mit höflichem Gruß eintrat. Der Schreiber, beim Anblick seiner geheimen Liebe selbst mit Gluth übergossen, bemerkte die Ueberraschung des Mädchens und stotterte etwas von Störung und Wiederkommen.

„Nein, Herr Scybylski,“ sagte Amanda schnell gefaßt und freundlich. „Sie sollten doch wissen, daß Sie uns nie stören. Ich erschrak nur über des Vaters Ahnungsvermögen. In dieser Minute hat er Ihren Besuch vorhergesagt.“

„Wirklich? Kann ich ihn sehen, darf ich ihn sprechen?“

Scybylski vermied es hartnäckig, dem Mädchen in die gefährlichen Augen zu schauen. Er mußte den Rendanten sprechen, aber in diesem Augenblicke wünschte er mit steigender Herzensangst, abgewiesen zu werden. Amanda jedoch erwiderte arglos:

„Gewiß, lieber Herr Scybylski, er wird sich freuen, Sie begrüßen und von der Amtsstube sprechen zu können.“

„Ich habe mit ihm über einen Rechtshandel zu reden.“ – Scybylski stieß jedes Wort mühsam heraus. – „Ist er – ist der Herr Rendant allein?“

„Niemand ist bei ihm. Mich halten meine Geschäfte ohnehin über Gebühr von der Krankenstube fern … Oder“ – setzte sie nach kurzem Besinnen hinzu – „ich werde nach dem Schloß gehen. Mein unruhiger Geist würde mich doch dann und wann zum Väterchen ziehen, und wer weiß, was für tiefe Staatsgeheimnisse mir da den Kopf verdrehen möchten. Aber warum treten Sie nicht ein?“

„Ich, ich erwarte noch die Ankunft des Herrn Gerichtsraths.“

„Ei, so fehlt ja nur der Kreisrichter, und unser Haus vereinigt das ganze hohe Gericht. Vertiefen Sie sich nicht zu sehr in die Rechtshändel, lieber Scybylski! Denken Sie nicht allein an das Heil des Staates, sondern auch an das Ihrige. Sie sehen selber krank aus.“

Sie drängte den Verlegenen einige Schritte an’s Licht zurück, das durch die offene Hausthür in den Flur fiel. „Wahrhaftig!“ sagte sie, und ihre Blicke ruhten mitleidig auf dem Antlitz des Schreibers, das die Spuren schlafloser Nächte trug. „Wahrhaftig, die Krankheit meines Vaters bürdet Ihnen zu viele Geschäfte auf. Sie haben sich überarbeitet.“

Scybylski’s Verlegenheit wuchs. „Sie sind so gut!“ sagte er. „Allerdings haben wir gegenwärtig auf dem Bureau viel zu thun und vermissen mehr als je die Kraft und Umsicht Ihres Vaters.“

[19] „So Gott will, wird er bald wieder seinen Pflichten nachkommen!“

„Gott gebe es!“ fiel er ein und ergriff in aufwallendem Gefühl die Hand des Mädchens. Dann trat er in die anstoßenden Gemächer, während Amanda auf ihr Stübchen eilte, um sich zum Gange nach dem Schloß anzukleiden.

Als sie, ihr Haar strählend, zufällig an’s Fenster trat, sah sie den Gerichtsrath und Kreisrichter durch den Garten schreiten, Beide schweigsam und mit ernstem Antlitz.

„Puh! welche Amtsmiene!“ dachte sie. „Was sie nur wieder haben! über welchen armen Menschen sie wieder den Stab brechen! Gott sei Dank, daß mein Bräutigam keine Gerichtsperson ist. Zwar könnt’ ich morgen Frau Actuarius werden; der Scybylski, der – – Aber Frau Pastorin klingt doch hübscher! Freilich, wenn mein Theodor im Schreiberrock steckte, dann dürften zehntausend Pastoren um mich werben, und ich würde zehntausend Körbe verabreichen.“

Ihr ganzes Gesicht lachte. „Zehntausend Ehrwürden als Anbeter! Wie komisch: diese Anträge, diese Erklärungen, Bitten, Betheuerungen und Schwüre! Aber am Ende wäre es doch langweilig, und nach dem ersten Dutzend schon müßte mich der Dreizehnte mit meinem Theodor trauen.“

Diese und ähnliche heitere Gedanken ausspinnend, vervollständigte sie ihre Toilette. Sie war sich ihrer körperlichen Vorzüge bewußt und besaß Geschmack und Kunst, dieselben durch eine gefällige, wenn auch einfache Kleidung zu heben. Sie wollte sich vom Vater verabschieden, aber die Zimmer im Parterregeschoß waren von innen verriegelt. „Als ob Jemand auf ihre Proceßgeschichten hören wollte!“ murrte sie und schlug, das Haus verlassend, den Weg durch die lange Pappelallee nach dem Schloß ein.

Die Luft war kalt, doch um so reiner und weiter. Der festgefrorene Schnee knirschte unter den Rädern der Lastwagen und Kohlenfuhrwerke, welche heute, am Sonnabend, die Straße belebten. Aus der Stadt wallte das Geläut der katholischen und protestantischen Kirche einträchtiglich über Wald und Gefild. In den Scheunen der fürstlichen Vorwerke aber dröhnte der fröhliche Sechsachteltakt der dreschenden Knechte. Von der Heerstraße abbiegend, wendet sich ein breiter und bequemer Weg die Höhe hinan, auf welcher das Schloß mit Basteien, Thürmen und altersgrauen Gebäuden stolz sich ausbreitet, ein ehrwürdiges Denkmal vielhundertjährigen Besitzes und wohlerhaltenen Reichthums.

Amanda wollte der Fürstin ihren Dank für die vielen Beweise zarter Aufmerksamkeit darbringen, welche dem Rendanten seit seiner Krankheit durch die edle, feinfühlende Dame zu Theil geworden waren. Allein die Herrschaft hatte den schönen Tag zum Besuch benachbarter Gutsherrn benutzt. Schnell entschlossen, schritt das Mädchen über den Schloßhof nach dem andern Flügel des Gebäudes und klopfte, nachdem sie sich mühsam über die vielen Treppen und in den langen Corridoren zurecht gefunden hatte, an die Thüre des alten Leibarztes.

Doctor Michaelis empfing die Tochter seines Patienten mit großer Freundlichkeit, denn ihm gefiel der schroffe Gegensatz seiner eigenen Weise, die heitere, sorglose Natur Amanda’s. Auch erinnerten ihn ihre Züge an ein geliebtes Wesen. Auf einem ähnlichen Antlitz hatte sein Auge in der Jugendzeit oft und schwärmerisch geruht und eine glückliche Zukunft gelesen.

Nach den ersten Grüßen und Fragen nöthigte er das Mädchen, in seiner Wohn- und Studirstube es sich bequem zu machen. Bücher und Schreibhefte wurden schonungslos vom Tisch geworfen, der vor dem Sopha stand.

„Sie sollen,“ rief der Greis, „mir nicht so bald wieder entfliehen! Solch angenehmer Besuch wird mir nur selten zu Theil. Auch sind Sie müde und von der scharfen Luft erkältet. Wir wollen ein Täßchen Thee trinken und eine Stunde angenehm verplaudern.“

Amanda erklärte sich ohne langes Zögern einverstanden, legte Hut und Mantel ab und bewegte sich frei und leicht wie daheim. Dem Diener, der auf Befehl das Nöthige zum Thee beschaffte, nahm sie alle weitere Sorge ab, mit Humor und Zärtlichkeit sich in die Rolle der Dame vom Haus schickend.

Als der Theekessel über die Gluth im Kamin gesetzt war, sah sie sich im großen, aber überfüllten und ungeordneten Gemach um.

„Herr Doctor,“ hub sie an und drohte schelmisch mit dem Zeigefinger, „Sie werden bald genug Ihre Gastfreundschaft bereuen! Es ist ein gefährlicher Kobold in die Gelehrtenwohnung eingedrungen. – Sie haben da ein schönes Gemach, liebster Doctor, ehrwürdige und bequeme Möbel und tausend hübsche Gegenstände. Aber – verzeihen Sie einem naseweisen Mädchen – dies Alles könnte noch hundertmal schöner, behaglicher sein, wenn – wenn Sie mehr auf Ordnung hielten! Erlauben Sie, bester Herr Doctor, daß ich hier nur ein Viertelstündchen die Hausfrau spiele und aufräume … Haben Sie keine Sorge um den Schreibtisch,“ fügte sie lächelnd hinzu, als der Gelehrte zögernd auf das traute Chaos seines Arbeitstisches sah. „Dies Heiligthum dürfen wir nicht berühren, das weiß ich leider vom Väterchen. Uebrigens steht jenem Riesenrücken die gelehrte Verwirrung recht wohl an.“

Der Doctor mußte lächeln und blickte wiederholt seinen alten Zimmergenossen, den verwundert starrenden Pudel an, während Amanda die Revolution in’s Werk setzte.

Unter ihren flinken Händen schien Alles sich von selbst zum schönen Ganzen zu ordnen, so daß Michaelis in wachsender Freude darüber dienstfertig nach ihren Winken darreichte und zurecht legte. Die Bücher stellte man wohlgeordnet in die Repositorien zurück; hier ward ein schwerer, geschnitzter Lehnstuhl vor ein bestimmungsloses Tischchen gerückt und auf das letztere eine Lampe oder Vase gestellt; dort mußte ein altes Gemälde seinen Platz mit einem andern tauschen. Die große, prächtige Büste einer Pallas Athene wurde hinterm Bollwerk schweinslederner Folianten hervorgeholt und auf den Schreibtisch gestellt; dort ward eine leere Console mit pompejanischen Schalen und Terracotten geschmückt. Die schwere Standuhr, die antiken Leuchter, die Instrumente und Globen, die hundert Gegenstände, welche der begüterte Mann während eines langen Lebens und auf weiten Reisen gesammelt hatte, erhielten einen besseren Platz und schienen jetzt erst da zu sein. Zuletzt wurde noch das Sopha in eine freiere Lage gerollt, wo es eine Ecke traulich ausfüllte. Für den Tisch davor fand sich eine Decke, und Amanda schuf ihn rasch zum einladendsten, freundlichen Theetisch um. Dann endlich trat sie an’s große Bogenfenster und faltete die schweren, dunkelfarbigen Vorhänge davor so, daß der Sonnenschein hereinströmen konnte und sich golden in die veränderten Räume ergoß.

Der alte Doctor sah sich eine Weile schweigend im Gemache um. Er fühlte in diesem Augenblick die Einsamkeit, in der er bisher gelebt und sich allen heitern Genüssen entfremdet hatte.

„Ich danke Ihnen, meine gute Fee,“ sagte er bewegt. „Zum ersten Male ist dem Einsiedler seine Klause behaglich!“

Nun setzte man sich an den Tisch, um den würzigen Trank zu schlürfen, welcher die Stirn erheitert und die Säfte lebhafter kreisen läßt. Auch des Pudels vergaß man nicht, und bald schmiegte sich dieser dankbar schmeichelnd an seine neue Freundin.

Michaelis ward im traulichen Gespräch mit seinem jungen Gast selbst verjüngt. Er sprach lebendig und mit offenem Gefühl, was Amanda an dem sonst so wortkargen Gelehrten nicht wenig überraschte. Belehrend und unterhaltend zugleich, wußte er des Mädchens Wißbegierde zu befriedigen, welche durch die wissenschaftlichen Apparate, die vielen alten Holzschnitte und Kupferstiche an den Wänden erregt wurde.

Als man sich endlich und ungern trennte, hatten wenige Stunden Beide einander näher gebracht, als jahrelanger Umgang es vermocht hätte.

… Dem Actuarius Scybylski war’s in des Rendanten Stube nach dreistündiger Verhandlung zu heiß geworden. Er trat vor die Hausthür und setzte sich in der kahlen Laube auf den Pfahl, welcher während der Sommerszeit eine Tischplatte trug. Die Laube war in den grünen Monaten mit der wilden Rebe und Rosengesträuch bewachsen. Er gedachte eines Juniabends, an dem Amanda ihm auf dieser Stelle eine Rose gepflückt und scherzend gegeben hatte. Heimlich küßte er damals die Blume, preßte sie zu Hause sorgfältig und trug sie seitdem, in feines Papier geschlagen, in seiner Brieftasche wie einen Talisman.

Als er vor wenigen Stunden in seinem Portefeuille ein Blatt mit Notizen suchte, die er zu schwerer Beschuldigung eines gewissen Mannes zusammengestellt hatte, fand er es zufällig neben dem Papier mit der Rose stecken. Er stützte das Haupt auf beide Hände und überließ sich unsäglich traurigen Gedanken.

„Wer wird bei solcher Kälte mit bloßem Kopf im Freien sitzen!“ sagte eine Stimme hinter ihm. Er sprang erschreckt empor.

„Fräulein Günther!“

„Ist die geheime Sitzung zu Ende?“

„Noch nicht – und ich weiß nicht, ob – –“

[20] Aber Amanda war leichtfüßig die Stufen hinan und in’s Haus gesprungen. Scybylski folgte ihr eilig, um sie zurückzuhalten, allein ebenso rasch sprang sie in des Vaters Schlafzimmer.

Man hatte einen Tisch mit Schreibgeräth, Actenbündeln und großen Büchern bedeckt und an das Bett des Kranken gerückt. Der Gerichtsrath und Kreisrichter saßen an diesem Tisch. Günther hatte sich in den Kissen emporgerichtet und war eben im Begriff, einen beschriebenen und untersiegelten Bogen zu unterzeichnen. Offenbar setzte Amanda’s Ankunft die Anwesenden in große Verlegenheit.

„Ich störe,“ sagte Jene. „Nur eine Frage, wie Dir’s geht, und einen Händedruck, lieber Vater, dann eil’ ich wieder fort.“

„Thue das, mein Kind!“ sagte Günther. „Ich fühle mich wohl und habe noch wichtige Geschäfte zu besprechen. Geh doch auf eine halbe Stunde zu Reinhold’s Mutter!“

„Wie Du befiehlst, Vater,“ erwiderte sie und empfahl sich.

Reinhold war nach einer Filiale gefahren, seine Mutter also allein zu Hause. Die kalte Höflichkeit, mit welcher Amanda empfangen wurde, war diese längst gewohnt. Auch sie zwang sich umsonst zu wärmerem Gefühl für die Mutter ihres Bräutigams, und oft konnte sie bei aller Ehrerbietung nicht widerstehen, den Spitzen der stolzen Frau auch ihrerseits leise Ironie entgegenzusetzen.

Anfangs floß das Gespräch ruhig dahin. Als aber Frau Reinhold mit vornehmer Herablassung ihr Bedauern ausdrückte, noch keine Zeit zum Besuch des kranken Rendanten gefunden zu haben, schilderte Amanda mit absichtlicher Lebendigkeit die allgemeine Theilnahme, deren sie sich zu erfreuen hätten.

Fürst und Fürstin, viele benachbarte Gutsherren, der Bürgermeister und die angesehensten Bürger der Stadt hätten den Vater wiederholt besucht. Die Herren vom Gericht machten kein Hehl daraus, wie schwer sie ihren Rendanten vermissen. Diesen Nachmittag erst hätten sie sich in seiner eignen Stube zu einer ohne Zweifel wichtigen Sitzung eingefunden. Das Mädchen schilderte mit breitem Behagen die geheimnißvolle Zusammenkunft, welche nun schon stundenlang dauere und selbst von der Tochter nicht unterbrochen werden dürfe. In kindischer Eitelkeit that sie sich darauf etwas zu Gute, der aufhorchenden Greisin zu erzählen, wie sie den Vater bei der Unterschrift eines dickbogigen Documents betroffen hätte.

„Das muß ohne Zweifel ein wichtiges Document gewesen sein,“ sagte die alte Dame. „Und der Vater hieß Dich wieder gehen?“ Sie versank in Nachdenken.

Amanda benutzte die Pause, sich zu empfehlen.

„Du sollst nicht allein Grund zum Stolz haben!“ dachte Amanda auf dem Wege nach Hause. „Die geheime Session hat gewirkt!“

Den Vater traf sie allein und in ungewöhnlich weicher Stimmung. Er hielt beide Hände seines Kindes und küßte sie.

„Vergieb mir, Amanda,“ sagte er leise.

„Ich Dir vergeben? Seit ich denke, hast Du ja nur Gutes an mir gethan.“

„Auch die Eltern haben ihren Kindern Manches abzubitten!“

„Was ist Dir, Vater? Du weinst?“

„Ich bin ein schwacher, alter Mann. Sind meine Haare in den letzten Tagen nicht völlig grau geworden?“

„Herzliebster Vater, rede nicht so! Du ängstigst mich. Fühlst Du Dich nicht wohl?“

Der Rendant athmete tief auf und nickte mit dem Kopf. „Unaussprechlich wohl.“

Nach einer Weile nahm er wieder des Mädchens Hand.

„Amanda! versprich mir etwas!“

„Alles, was Du willst!“

„Wenn ich sterben sollte, setze mir ein einfaches Kreuz auf mein Grab. Keinen Stein! keine prahlerische Inschrift! Nur ein Kreuz mit meinem schlichten Namen!“

Unaufhaltsam rollten jetzt die Thränen über Amanda’s Wangen. „Sprich nicht von Deinem Grab!“ rief sie. „Du wirst gesund werden und noch lange mein guter, lieber Vater bleiben!“

„Du hast Recht, mein Kind. Ich darf Gott nicht versuchen. Ich will Dich nicht verlassen! … So, und jetzt richte mir die Kissen in die Höhe. Ich bin müde und will endlich einmal wieder schlafen.“


5


Die Mutter Reinhold’s konnte heute keinen Schlummer finden. Die Erzählung Amanda’s von der geheimnisvollen Berathung beim Rendanten hatte eine peinliche Begierde in ihr erweckt, diesen Schleier zu lüften. Von Natur mißtrauisch machte sie sich tausend Gedanken über den dunkeln Fall. Sie kannte des Rendanten Geschäftskreis und mußte gar wohl, daß seine Thätigkeit nicht von solchem Umfang, von so ernster Wichtigkeit war, daß seine Person und Hülfe nicht entbehrt werden könnte. Ihn selber also, seine Privatverhältnisse mußte diese geheime Sitzung berühren. War’s ein Testament, was er unterschrieb? … Der karge Schlaf, welchen sie endlich fand, kühlte ihre Neugierde nicht. Sie war am Morgen fest entschlossen, hinter das Geheimniß zu kommen, denn eine dunkle Ahnung ließ sie hoffen, das eitle Mädchen bitter enttäuschen zu können. Sie rief sich Amanda’s Erzählung in’s Gedächtniß und sann darüber nach, von welchem der Betheiligten sie die Lösung des Räthsels erlangen könnte.

„Scybylski muß mir Aufklärung schaffen,“ sagte sie zuletzt. „Ein gutmüthiger Mensch, weich wie Wachs, schwach und arglos wie ein Kind. Auch hat er allen Grund, der Rendantenfamilie zu grollen, denn die ganze Stadt erzählt sich, daß er von der hochfahrenden Jungfer einen Korb erhielt!“

Frau Reinhold frühstückte allein. Es war Sonntag, und der Pastor bereitete sich zur Predigt vor. Als das Geläut der Glocken begann, hüllte sie sich in ihren Pelzmantel und trat an’s Fenster. Sie blickte hinab auf die festlich gekleideten Kirchgänger. Amanda ging vorüber und grüßte freundlich herauf. „Wie geputzt sie wieder ist!“ murrte Frau Reinhold. Jetzt schritt der Gerichtsrath vorbei. „Sucht der auch einmal den Weg zur Kirche? Vergangene Weihnachten war er zum letzten Male in der Predigt. Dem Herrn ist wohl ein Unglück passirt? Noth lehrt beten, selbst die Herrn Juristen! Dort kommt Scybylski geschlichen!“ Sie eilte rasch in’s Freie hinab. „Guten Morgen, Herr Scybylski!“

Der Actuarius fuhr beim Gruß der Frau Superintendentin scheu zusammen und erwiderte ihn verlegen.

„Der hat etwas auf dem Herzen!“ dachte sie. „Werden Sie uns nach der Predigt nicht besuchen? Sie machen sich so selten! Mein Sohn fragte gestern nach Ihnen. Vielleicht hat er Ihnen etwas mitzutheilen. Also pochen Sie bei uns an!“

Frau Reinhold hatte noch niemals so viel Worte an den Actuarius verschwendet. Aber der Letztere achtete heute darauf nicht.

„Ich werde von Ihrer Erlaubniß Gebrauch machen.“

„Ich rechne darauf!“ sagte die Frau Superintendentin mit gnädigem Kopfnicken und rauschte am Schreiber vorbei. „Meinen Sohn werd’ ich fern zu halten wissen,“ dachte sie. „Vielleicht, daß ich doch ein Fädchen finde, woran sich ein Plan gegen Theodor’s heillose Liebschaft knüpfen läßt.“

Ihr Sohn aber stand hoch auf der Kanzel, leuchtenden Auges, und predigte christliche Liebe und Milde. „Wer sich frei fühlt von Schuld, der werfe den ersten Stein auf sie!“

Die Stirn der Superintendentin blieb bei dem gewichtigen Wort glatt und glänzend wie Alabaster. Sie fühlte keinen Stachel. Sie war ja die Schuldlose! Ihren Eltern war sie gehorsam, ihrem Gatten treu, ihrem Sohn eine gute Mutter gewesen. Sie arbeitet und betet; an jedem Sonnabend empfangen die Armen der Gemeinde Almosen aus ihrer Hand. Keine Leidenschaft kennt sie, als den Stolz auf die Weihe ihrer Familie, und das ist ein gerechter, heiliger Stolz! Und wenn Christus mit liebeseligem Antlitz zwischen ihr und einer Verbrecherin stünde, sie würde den Arm gegen diese erheben und sagen: „Ich darf es, Herr; still ist mein Gewissen und stark meine Hand!“

Anders waren die Gedanken Scybylski’s. Die Wissenschaft von der Schuld dessen, den er vor allen Menschen hoch hielt, lastete auf seinem Gemüth, wie der Schatten nachbarlicher Felsen einen Seespiegel verdüstert. Alle mildernden Umstände, welche Veruntreuung begleiten können, rief er sich in’s Gedächtniß. Er versetzte sich in die Lage eines bedrängten Vaters, eines Vaters, der Amanda zur Tochter hat. Mit fiebernder Phantasie drängte er den besseren Glauben an sich als verblendete Eitelkeit zurück und überredete sich, daß er in ähnlicher Lage ähnlich handeln würde.

Und doch hatte Er das erste Schuldig gesprochen, den Stein gegen den Verbrecher erhoben! Der Widerspruch der verzeihenden Liebe mit den nothwendigen Gesetzen des Lebens, schneidender als je, zerriß sein Herz. Verbannt schien ihm jede Versöhnung aus der Wirklichkeit, und als die Gemeinde den Gottesdienst mit Gesang für einen Verstorbenen schloß, bewegten ihn die Anfangsworte „Nur im Grab ist Frieden“ zu Thränen. Er wünschte sich diesen ersten und letzten Frieden.

[33] Wieder läuteten die Glocken; das Kirchenthor entließ die Gemeinde, und in buntem Gewirr strömten Männer, Frauen, Bürger und Landleute über den Marktplatz. Amanda, von der Rede ihres Geliebten tief bewegt, mischte sich unter eine Schaar blühender Mädchen, die über Sonntagspläne lebhafte Debatten pflogen, und war bald der lautesten und fröhlichsten eine, ohne dabei die Kirchenthüre aus dem Aug’ zu verlieren, durch welche der junge Pastor kommen mußte. Denn Reinhold pflegte nach dem Gottesdienst die fürstliche Herrschaft zum Wagen oder bei heiterem Himmel auf’s Schloß zu geleiten.

Jeder kleinstädtische Marktplatz bietet an schönen Wintersonntagen nach der Predigt ein ebenso bewegtes als anmuthiges Bild. Der Schnee liegt glänzend und flimmernd auf den spitzen Giebeldächern der alten, wunderlichen Häuser, wie frischgewaschene Schlafmützen. Auch die Menschen sehen im Sonntagsputz frischer und zufriedener aus. Der Winterhauch giebt den Gesichtern gesunden Glanz; das Bewußtsein des freien Tages verleiht ihren Bewegungen eine größere Gemessenheit und Würde, ihre Rede ergeht sich breiter und behaglicher als im Drang der Werktage. Vor den Gasthäusern stehen die abgeschirrten Fuhrwerke benachbarter Forst- und Amtleute; diese selbst unterhalten sich auf dem Platz mit befreundeten Städtern, alle kennen sich und plaudern in gemüthlichen Gruppen über Zeitereignisse und Marktpreise. Die junge Männerwelt, die Provinzialdandies, stolz in vorjähriger Modekleidung, lugt nach den Mädchen, den zierlichen Beamtentöchtern und drallen Bürgerkindern. Arm in Arm schlendern die Dragonerofficiere der Garnison durch den bunten Schwarm. Die Kaufleute öffnen ihre Lager, und die Weinstübchen hinterm Laden füllen sich.

Schon stand Amanda mit der Tochter des Kreisgerichtsraths nunmehr allein und verabschiedete sich eben auch von dieser, welche sie zum Besuch auf den Nachmittag eingeladen hatte, als das Fürstenpaar mit dem Pastor aus der Kirche trat. Jene erwiderten die Complimente der Mädchen mit freundlichem Gruß; länger, feuriger ruhte das Auge Reinhold’s auf dem freudestrahlenden Antlitz seiner Braut. Während diese vier Menschen, Amanda in respectvoller Ferne folgend, die sanft sich senkende Straße nach dem Thor gemächlich hinabschritten, stand Scybylski im Zimmer der Superintendentin. Nach kurzem gleichgültigem Gespräch faßte die greise Frau ihn plötzlich scharf in’s Auge.

„Sie waren gestern Nachmittags mit den Herren vom Gericht beim Rendanten?“

„Sie wissen …?“ stotterte Scybylski.

„Glaubten Sie, eine so geheimnisvolle Versammlung bliebe in unserer Stadt unbesprochen?“

„Man weiß also – ?“

„Was weiß man? Ohne Zweifel, daß der Rendant sein Testament gemacht hat.“

[34] Scybylski athmete tief auf. „Ganz richtig,“ sagte er; „ganz richtig, das Testament.“

„O,“ fuhr sie mit lauter Stimme fort und behielt den Verlegenen im Auge; „das vermuthet die Menge, aber Klügere vermuthen Anderes. Kluge Leute lassen sich nicht täuschen. In des Rendanten Verhältnissen ist ein Testament sehr überflüssig!“

„Erlauben Sie mir, Frau Superintendentin, ein Testament –“

„Keine juristischen Flausen, lieber Scybylski! Es handelt sich um kein Testament! Können Sie mir frei in’s Auge blicken und behaupten, daß es diese Angelegenheit betraf?“

„Welche andere denn?“ preßte der Gefolterte mit neuer Bestürzung heraus.

„Es könnte sich ja auch …“ sagte die Superintendentin mit stockender Stimme, und plötzlich blitzte ihr ein Gedanke auf, „es könnte sich ja auch um Unterschlagung handeln!“

„Wer sagte Ihnen!?“ rief der erblaßte Schreiber und sprang empor, daß hinter ihm der Stuhl zur Erde fiel.

„Also doch – Unterschlagung! Der Gedanke, der wahnsinnige Gedanke ist richtig? Rendant Günther – der Ehrenmann – ein Schurke!“

„Um Himmelswillen! Nein! Gnädige Frau, ich beschwöre – ich bitte, sprechen Sie nicht so laut!“

„Verhüllen, verleugnen Sie mir nichts mehr! Amanda, das leichtsinnige, thörichte Mädchen ist schuld, daß ich es entdecken mußte. Doch nein – Gott hat gewollt, daß ich das Unheil erfahre. Sagen Sie mir Alles! Ich, die künftige Schwiegermutter, habe ein Recht, es zu wissen. Ihr müßt mir’s sagen, oder ich schreie meine Vermuthung in alle Welt hinaus.“

Scybylski schlug stöhnend die Hände über sein Gesicht zusammen. „Ich dachte mir’s wohl,“ bebte er, „daß es nicht verborgen bleiben könne, daß sich die Schuld rächen werde. O, wenn Sie wüßten, welche Qualen ich unter der Last dieses Geheimnisses litt! Ihnen ist es bekannt, wie ich den Rendanten verehrte, wie ich ihn liebte. Ein Sohn konnte nicht felsenfester auf ihn vertrauen. Wir Alle haben auf ihn vertraut, der Gerichtsrath, der Kreisrichter; wir Alle wurden von ihm getäuscht. Wer mir vor vier Wochen gesagt hätte: der Rendant betrügt! dem hätte ich in’s Gesicht geschlagen, als einem niedrigen, verleumderischen Schurken. Ich nannte mich selbst einen verworrenen Dummkopf, einen leichtfertigen Lügner, als ich nach seiner Erkrankung Günther’s Geschäfte übernahm, seine Bücher revidirte und die Bücher gefälscht fand. Eine ganze Nacht saß ich darüber. Ich zweifelte, ob 5 und 2 sieben sei oder 7 von 22 nur 5 bleiben. Ich nahm sieben Stücke Geld und zählte sie; die vier Species schienen mir keine Wahrheit mehr! … Noch am Morgen wollte ich mich überreden, daß ein Fieber mir die Klarheit geraubt und meine Sinne verwirrt hätte. Ohne ein Wort zu äußern, legte ich die Bücher dem Gerichtsrath vor und erst, als auch er erblaßte, erst da gestand ich mir’s: Hier hat ein Mann das ihm anvertraute Gut und tausend Arme bestohlen. – O, was sind wir Menschen! Dieser Mann, liebenswürdig, gebildet, gutmüthig, kein Verschwender, kein Spieler, kein Müßiggänger: dieser Mann übt sieben Jahre hindurch mit sicherer Hand und raffinirter Schlauheit Betrug! Sieben Jahre hindurch nimmt er das Geld von den Armen und der Gemeinde und giebt es nicht in die Casse; nimmt er aus der Casse Geld und giebt es nicht der Gemeinde, nicht den Armen. Das rücksichtslose Vertrauen seines Vorgesetzten, der aus Herzensgüte und Menschenzuversicht die Strenge seines Amtes umgeht und den Rendanten allein und ohne Aufsicht walten läßt, täuscht er; sieben Jahre lang war Günther ein Fälscher und Dieb, und ohne seine Miene zu ändern, nahm er das Lob und die Achtung einer ganzen Stadt hin!“

Scybylski schwieg, denn der Schmerz überkam ihn zu mächtig. Dann erhob er sich. „Wir haben,“ sagte er, „trotzdem mit dem Manne Mitleiden fühlen müssen, schon um seines Kindes willen. Der Gerichtsrath und Kreisrichter wollen die fehlende Summe, die sich auf mehrere Tausend Thaler beläuft, theils vom benachbarten Fürsten, theils von der Loge, deren Bruder Günther ist, erheben und das Deficit decken. Niemand soll es erfahren. Günther kann seine Krankheit zum Vorwand nehmen, um seinen Abschied zu erlangen. Gestern theilten wir ihm unsere traurige Entdeckung mit, die er natürlich nicht zu leugnen vermochte. Wir richteten den Verzweiflungsvollen durch das Gelöbniß auf, sein Verbrechen Niemand zu verrathen. Zu unserer eigenen Beruhigung und Sicherstellung unserer Amtsehre ließen wir ihn ein Document unterzeichnen, worin er seine Schuld bekennt. Amanda unterbrach uns, als er eben die Feder ansetzte … das arme, ahnungslose Kind! – Frau Superintendenten, es war meine unselige Schwäche, die Folge meiner Aufregung, daß Sie Mitwisserin wurden! Sie werden aus Barmherzigkeit mit dem Kinde, Sie werden um Ihres eigenen Sohnes willen das Geheimniß gegen Alle, selbst gegen Herrn Reinhold, verschweigen und als ein Geheimniß in’s Grab nehmen!“ –

Er ging; sie erhob sich nicht bei seinem Weggehen, sondern starrte nach immer auf die Stelle, wo er gesessen und ihr die grausame Wahrheit mitgetheilt hatte. Dann plötzlich fuhr sie empor, eilte zum Crucifix und warf sich auf dem Betpult ihres Sohnes nieder. „Heiliger, gerechter Gott!“ rief sie, die Hände emporstreckend, „Du hast mein Haupt vor Entehrung, hast die Familie, welche Dir treu diente, vor unauslöschlicher Schande bewahrt. Du hast die Entdeckung gewollt, Du hast mich gewarnt – ich darf nicht schweigen! – Ich kann meinen Sohn nicht zum Bruch seines Versprechens zwingen, ohne ihm die Wahrheit zu sagen; er kann sich von seinem Schwur nicht lösen, ohne der Welt die Wahrheit zu sagen. Du willst nicht, Herr, daß Deiner Gerechten Einer um einen Schurken leide. Ich muß den Menschen die Augen öffnen über den Betrug, der an ihnen verübt wurde und noch wird.“ Damit erhob sie sich, fest und mit gereiftem Entschluß. –

Reinhold aber schritt in behaglicher Gemächlichkeit auf dem Weg nach Hause. Die Fürstin hatte ihm viel Verbindliches über seine Predigt gesagt. Er war in gehobener, freudiger Stimmung. Wie ruhevoll und stattlich lag hinter den Lindenbäumen das Pfarrhaus! Der junge Priester konnte nicht umhin, vor seinem Eintritt einen dankbaren Blick zum Himmel auszusenden, der ihn mit seltenem Glück überschüttet hat, denn es ward ihm bei äußerem Wohlstand ein heiliger Beruf, dem er mit Begeisterung anhängt, eine schöne, geliebte Braut, und als Zeugin seines Glücks lebt ihm noch in voller Gesundheit die Mutter.

„Glauben Sie,“ sprach er zu dieser, als Beide wenige Minuten nach Reinhold’s Heimkehr beim Mittagsmahl saßen. „daß ich der Vorbereitung zu meinen Predigten kaum bedürfte. Sobald ich die Kanzel betrete und mein Auge auf Sie, auf Amanda fällt, bin ich von der Güte und Liebe Gottes so durchdrungen, daß die Worte sich von selbst fügen, ja, daß mir die Stunde nicht genügt, meiner Gemeinde das zu sagen, was mich im Innersten so schön bewegt. Wohl glaube ich vom Himmel mehr als Viele begünstigt zu sein, aber auch nirgends finde ich unglückliche Verhältnisse, ohne die Spur eines ursprünglich weisen Planes, der zum Glück führte, wenn nicht die Menschen ihn durch eigene Schuld verwirrten!“

Die Mutter schwieg. Hatte sie vorher die traurige Mittheilung beabsichtigt, so wagte sie jetzt doch nicht, eine gottselige Stimmung durch den entsetzlichen Mißton zu entweihen. „Ich kann nicht!“ rief das Muttergefühl in ihr, „ich kann es nicht über die Lippen bringen; mag er das Unheil von Andern erfahren!“

Nach der Mahlzeit verabschiedete sie sich daher vom Sohn, um einige Freundinnen zu besuchen. Sie kannte die Welt und kannte die Macht der Fama.


Kaum zwei Stunden waren vergangen, so wußte vom Verbrechen des Rendanten der reichste und ärmste Bürger. In allen Kreisen tönte die Kunde: Günther hat seine Casse bestohlen! und wer sie hörte, ward erschüttert. In den Sälen des benachbarten Schlosses, in Wirthsstuben, Küchen und Ställen der Stadt flüstert man, ringt man die Hände. Auf den Straßen hält man sich an und raunt sich’s zu, zweifelt eine Secunde, um dann desto fester zu glauben. Vieler Jahre hat es bedurft, den Ruf Günther’s so stolz und in Aller Herzen zu begründen, eine Stunde genügt, ihn zu stürzen. Das ist ein schwerer Schlag für gute und ehrliche Gemüther, das ist ein Fest für die bösen Zungen! – –

In der Gesellschaftsstube des Gerichtsrathes sitzt ein Kreis von älteren Damen und Herren um den Kaffeetisch. Die junge Welt schäkert und plaudert in traulichen Ecken und Fensternischen. Da wird die Thür aufgerissen; mit hochrothem Antlitz stürzt die fürstliche Räthin, eine geschworene Feindin der königlichen Rathsgattin, in’s Zimmer. „Wissen Sie das Neueste?“ ruft sie. „Der Rendant Günther hat in sieben Jahren die Summe von achttausend Thalern unterschlagen.“

Alles fährt empor.

„Um Gottes willen, schweigen Sie!“ bebt der Herr des Hauses, ein würdiger, edel gesinnter Mann. Aber es ist zu spät.

[35] Ein bleiches Mädchen tritt mit funkelnden Augen auf die Dame: „Das ist nicht wahr, das hat mein Vater nicht gethan!“ Und sie schlägt einen Blick, einen verzweiflungsvoll bittenden Blick zum Justizrath empor. Vertheidige den Geschmähten! Wie sie die Verwirrung, das rasche Erröthen und Erbleichen des Mannes sieht, wie nach einer Minute athemloser Spannung dieser schweigend sich abwendet, da bricht sie ohnmächtig in den Armen Reinhold’s zusammen, mit dem sie kurz vorher in seliger Liebe geschwärmt hatte.

Man bringt sie zu sich; man bittet, beschwört sie, man schmeichelt ihr, man tröstet das arme Kind – aber sie ist kein Kind mehr. Sie hört nicht auf das Nichts der glatten Worte, sie fühlt nur die einzige, furchtbare Wahrheit. Stumm lehnt sie jede Hülfe, jede Beileidsbezeigung, selbst die Hand ihres Geliebten ab und verläßt das Haus, das zum Grab ihres Glücks geworden.

Wie sie nach Hause kam, wußte sie nicht. Was sie den Vater dort fragte und sagte, wußte sie nicht. Aber dieser schreit gegen die Tochter, wie gegen eine Gespenstererscheinung, die zur Gruft winkt. Und als sich gleich darauf die Thür des Krankenzimmers öffnete und der Justizrath mit fahlem, unglücksweissagendem Antlitz auf der Schwelle sich zeigte, da war’s dem kranken Mann zu viel – er schlug krampfhaft die Hände in die Luft – aus der Brust riß sich der Strom des gepeitschten Blutes – er röchelte – er sank zurück – wollte noch sprechen – verstummte, verstummte für die Ewigkeit.

Und als die schöne, friedselige Nacht mit Mond- und Sternenlicht heraufgezogen war, ging das neue Gerücht durch Häuser und Hütten: der Rendant Günther ist gestorben.


6.

Im Haus, das eine Leiche beherbergt, herrscht heilige Scheu. An seiner Thür lagert eine ernste Sphinxgestalt, unlösbare Fragen auf den Lippen. Stumm und gedemüthigt treten wir an ihr vorüber zum Sarg.

Hätte Günther seine Schande überlebt, wären fürderhin die Freunde von ehedem ihm aus dem Weg gewichen und Aller Augen würden ihn gemieden haben. Da er aber in seinem Zimmer lag, starr, kalt und fahl, schaarten sich Freunde und Bekannte um ihn, und das tiefere Räthsel des Todes drängte die Frage: Wie konnte dieser Mann so handeln? zurück.

Es war ein lichter Nachmittag, an dem man sich zu Günter’s Begräbniß versammelte. Die Sonne begann den hartgefrorenen Boden zu erweichen, und von den Dächern sprühte der geschmolzene Schnee.

In dunkler Kleidung, mit gemeßnem Schritt und ernstem Antlitz kamen nach und nach die Städter, die Amtmänner und Landleute der Nachbarschaft vor dem Trauerhause an. Garten und Thüren stauden Jedermann offen, und ein schweigsames Aus- und Eingehen begann. Jeder drängte sich in des Verstorbenen Zimmer, um jenen letzten, scheuen Blick, womit wir fremde Leichen betrachten, auf die regungslos hingestreckte Gestalt zu werfen. Durch’s Fenster scheint freundlich die Sonne herein; trotzdem brennen Kerzen rings um den Sarg. Der Mann auf dem Schragen, der weiland Allbeliebte, ist inmitten der Lebendigen wie das Kerzenlicht am Tage.

Was dann in Günther’s Zimmer erfolgte. … im Palast und in der Hütte ist es dasselbe düstre, jammervolle, hoffnungslose Bild. Wiederholt warf sich Amanda über den Entseelten; unbekümmert um die Gegenwart so vieler Fremden, dem Schmerz ganz hingegeben, weinte sie laut, rief mit gebrochenen Tönen den Theuern und küßte sein Antlitz, als müßten ihre warmen Lippen diesem marmorgewordenen Vaterbild Athem und Leben einhauchen. Immer noch verzögerte sie den letzten Abschiedsblick, immer noch hoffte sie auf ein Wunder, auf ein plötzliches Erwachen und Auferstehen des Todten, bis man sie mit sanfter Gewalt entfernt, und die Hammerschläge, welche auf den Sargdeckel niederfallen, ihr das Bewußtsein rauben. – –

Als Amanda wieder die Augen aufschlug, war Niemand außer der Todtenfrau im Zimmer. Die ausgelöschten Kerzen rauchten noch, aber der Raum zwischen den Leuchterpaaren war leer. Die Leichenwärterin, durch die Gewohnheit abgestumpft, öffnete die Fenster und legte alle Stühle um, weil sonst – nach dem Aberglauben jener Gegend – „der Leiche im Hause bald eine andere nachfolge“. Dann packte sie das Kirchengeräth zusammen und ging.

Amanda warf einen wirren Blick um sich. Nur zu bald ward sie an die Wirklichkeit gemahnt. Das Glockengeläute, das durch’s Fenster dringt, begleitet ihren Vater auf dem letzten Wege!

Athemlos lauschte sie. Ihre Gedanken gingen mit dem Zug hinter dem schwankenden Sarge her. … Jetzt lenkt man von der Heerstraße rechtsab, wo der kurze, gerade Weg zum neuen Kirchhof fuhrt. … Die Glocken verstummen; man steht vor dem offnen Grab.

Die Rede des Pastors tönt nicht bis zu ihr – es ist ja nicht Reinhold! Ein fremder Prediger gab ihrem Vater das letzte Geleite. Rings still!

Rings still! In diesen stummen Minuten überdenkt sie zum erstenmal seit dem Unglücksabend ihre trostlose Lage; zum erstenmal ruft sie sich auch die Ereignisse vor Günther’s Tod in’s Gedächtniß, und mit seinem ganzen Jammer überfällt sie der Gedanke, daß ihr Vater entehrt gestorben ist! Nicht mit reiner Anerkennung und ungetheiltem Lob wird jetzt an seinem Grab gesprochen, sondern in der vieldeutigen Sprache des Mitleids und der Nachsicht. Das Blut schießt Amanda in’s Gesicht: zum erstenmal fühlt sie außer dem Schmerz um den Verlorenen die Last seiner Schuld und seiner Schande.

Welch ein trostloser Blick in die Zukunft! Wohl stimmt heute noch das Schauspiel des Todes die Herzen weich und rücksichtsvoll, allein wenn sich erst die Erde über dem Sarg geschlossen haben wird, werden Unwille und Lästerung auf’s Neue laut werden. Man wird das Kind fühlen und entgelten lassen, was der Vater verbrach. Und selbst wenn gegen alle Menschenart Keiner ihr Herz verletzen, Niemand sie geringer achten würde, so kann sie doch selber nie mehr lächeln unter Menschen, welche ihr Vater belog und bestahl.

Und nun sammelt sie die Erinnerungen der letzten zwei Tage. Die Fürstin, der Gerichtsrath und Viele kamen; Doctor Michaelis war Morgens und Abends bei ihr, aber Reinhold’s Stimme hatte sie nicht gehört. O wenn Einer sie trösten konnte, war’s Reinhold, aber er, er allein war nicht erschienen!

„Das ist mein Urtheil,“ sagte sie und weinte auf’s Neue.

Horch! die Glocken tönen wieder, und Knabenstimmen singen ein schwermüthig Lied.

Jetzt rollt der Sarg – – – Plötzlich erhebt sich Amanda; eine goldne Kette, das Geschenk ihres Vaters, nimmt sie sich vom Hals, einen Ring vom Finger und legt sie weg. „Ich habe kein Recht auf dieses Gold. Fürderhin schmuck- und freudelos, arm und elend!“

Ein Entschluß reifte in ihr, sie eilte hinauf in ihre Kammer und schrieb dort. Als sie damit fertig war, schnürte sie in fliegender Eile das Nothwendigste ihrer Habseligkeiten in ein Päckchen; die seidenen Kleider und hübschen Hüte, ehedem ihr Stolz und ihre Lust, ließ sie unberührt. Den Brief, welchen sie geschrieben, nahm sie hinab in die Wohnstube, um ihn zu Ring, Kette und andern Schmucksachen auf den Tisch zu legen. Dann trat sie in’s Freie.

„Dies Haus meiden Diebe!“ sagte sie bitter, als sie den Schlüssel in der Thüre stecken ließ.

Hastig schritt sie nun nach dem Marktplatz. Er lag still und menschenleer; Alle waren auf dem Kirchhof. Nur der Posten vor der Wache bewegte sich hin und her, wie ein Pendel. Am Fenster der Wachtstube saß ein Officier, mit dem Amanda auf dem Fürstenschloß oft getanzt hatte, und las. Sie aber warf nur einen Blick hinüber nach dem Pfarrhause. Die Gardinen waren herabgelassen. „Fahrwohl! Fahrwohl!“ flüsterte das Mädchen unter Thränen und winkte mit der Hand.

Bald befand sie sich auf der Landstraße. Behend wie ein flüchtiges Reh eilte sie auf dem nassen, glatten Weg dahin, Hügel auf, Hügel ab, durch einsamen, schneebelasteten Forst, an traulichen Dörfern vorüber.

Der Tag verglühte, und dichte Nebel hüllten die Landschaft ein. Da und dort stahl sich das Heerdfeuer eines stillen Weilers hindurch. Die Straße selbst war wenig belebt, arme Frauen trugen ihre Reisigbündel heimwärts, zuweilen schlich ein Fuhrwerk träg vorbei, oder ein Stück Wild sprang über den Weg waldeinwärts. Amanda schritt ohne Aufenthalt vorwärts, bis endlich bei sinkender Nacht die grünen Laternen und die erleuchtete Halle der Bahnstation K. … ihr entgegenglänzten.

Ein Stationshaus ist kein gastlich Haus. Wer drinnen Einkehr hält, legt nicht Hut und Wanderstab bei Seite, sondern drückt in Mienen und Gebahren Eile und Fortverlangen aus. Die Gäste kennen sich nicht; sie schreiten verdrießlich auf und nieder oder [36] brüten, von Handkoffern und zugeschnürten Schachteln eingeengt, über dem Fahrplan. Draußen rufen und lärmen die Packknechte, knarren die Rollwagen; die Thüren gehen von Hand in Hand, und die Winterluft bläst herein.

Doch gerade dies fremde, nüchterne Getriebe that Amanda wohl. Sie athmete nach ihrer Ankunft freier. Niemand hier kannte sie, kannte ihren unglücklichen Vater. Und als, wenige Minuten später, Amanda im brausenden Eilzug die nächtliche Landschaft durchflog, sank sie in der kahlen, kalten Wagenecke nach zwei durchwachten Nächten zum ersten Mal wieder in ruhigen, traumlosen Schlaf.


Nur Einer erfuhr am Abend noch die Abreise des Mädchens, denn das Begräbniß Günther’s schien alle Neugier und Theilnahme erschöpft zu haben. Niemand bekümmerte sich um die Waise, Niemand achtete darauf, daß die Fenster beim Rendanten unerhellt blieben.

Auch Doctor Michaelis, der sich als Vormund des verlassenen Mädchens dem Gerichte angeboten hatte, ging nicht sogleich nach dem Begräbniß zu Amanda, sondern spazierte vom Friedhof nach einer Hügelkette, wo zur Sommerszeit auf sandigem Grund herber Wein wuchs. Dort schlenderte er nachdenklich dahin, pfiff seinem Pudel, wenn dieser ein Häschen aufscheuchte, blieb stehen, stieß zornig seinen Rohrstock in den Schnee, setzte sich wieder in Bewegung und hielt im Gehen laute Monologe.

„Recht geschieht mir! Wieder einmal sentimental gewesen, mich um andrer Leute Brei bekümmert! Hab’ ich nicht an meinen Patienten genug? Noch mehr Aerger und Plage und Undank? – He, Hans! her zu mir. (Hans hieß des Doctors Hund.) – Amanda ist zwar ein Prachtkind, gesund und frisch, ohne Heuchelei und brav! Ich wollte, sie wäre mein Kind! Aber warum will sie just den Pastor heirathen? Warum hat sie keine andere Schwiegermutter, als – – – Hans! Bestie! hierher! Willst Du kommen! Wird eine nette Unterhaltung werden, wenn ich jetzt zu Reinhold’s gehe! Ich sehe der alten Madame Augen. – Da läuft das Thier schon wieder davon! – Aber ausgesprochen und ausgetragen muß die Sache werden! Ohne Barmherzigkeit; heute noch.“

Unter diesen und ähnlichen Selbstgesprächen erreichte Michaelis die Stadt, wo er in das Pastorhaus trat.

Reinhold kauerte, das schmerzende Haupt auf beide Hände gestützt, im Zwielicht einer Ecke, während seine Mutter im vollen Lampenlicht aus dem Sopha saß, ungebeugt, starr, stolz wie immer.

„Sie hörten vielleicht,“ begann der Arzt, nachdem er der Witwe gegenüber Platz genommen hatte, „daß ich die Vormundschaft über die verwaiste Günther angetreten habe?“

„Wir hörten,“ erwiderte frostig die Superintendentin.

„Dann errathen Sie ohne Zweifel, in welcher Angelegenheit ich zu Ihnen komme?“

„Durchaus nicht, Herr Doctor,“ sagte Frau Reinhold. „Ich denke nur, daß es von Wichtigkeit sein muß, was Sie zu uns führt.“

„Ich komme in meiner Eigenschaft als Vormund. Günther hat außer der unsicheren Aussicht auf den Gewinn einiger Lotterieloose Nichts hinterlassen. Baares Vermögen ist nicht vorhanden, das Grundeigenthum belastet. Dem Kinde bleibt also nichts, und mir die Sorge, seine Zukunft zu sichern …“

„Nur eine Frage also an Ihren Sohn,“ fuhr nach einer Pause Michaelis fort und wandte sich nach der dunkeln Ecke, wo der Prediger saß. „Sie, Herr Pastor, gaben dem Mädchen das Eheversprechen, Sie zeigten sich auch der Welt gegenüber als ihr Verlobter. Sind Sie gesonnen, Ihr Wort zu halten?“

„Halt!“ rief die Superintendentin und schnitt ihrem Sohn jede Erwiderung ab. „Als Theodor in die Beziehungen zu Günther’s trat – Beziehungen, welche ich nicht leugne, obwohl ich sie nie gebilligt habe! – war eine Heirath mit Amanda Günther, wenn auch kein Glück, doch keine Unmöglichkeit. Der Rendant galt für einen Ehrenmann, und verwandt mit ihm zu werden, für keine Schande. Nun aber haben sich die Verhältnisse so geändert, daß die Ehe mit einer Günther für den Pastor Reinhold ein moralischer Selbstmord sein würde. Wenn also mein Sohn ein stillschweigendes Gelöbniß that, so erlauben ihm doch die letzten Vorfälle, es ohne Sünde zurückzunehmen. Oder glauben Sie nicht, daß es dem Herodes besser gewesen wäre, wenn er seinen Schwur –“

„Denken Sie über Herodes, wie Sie wollen!“ unterbrach sie Michaelis gereizt. „Ich bin da, um mir von Ihrem Herrn Sohn selbst ein kurzes Ja oder Nein zu erbitten.“

Reinhold erhob sein Antlitz, das vom inneren Kampf ein ungeheucheltes Zeugniß gab.

„Ja oder nein!“ sagte er bitter. „Wie rasch, wie kalt Sie das fordern! Und doch hängt von diesem Entscheidungswort das Glück zweier Menschenleben ab. In jede Schale hab’ ich hundert Gründe zu legen: mein Herz zieht die eine, mein Verstand, meine Amtsehre und Pflicht die andere. Denken Sie sich doch, bevor Sie so kurzweg einen Entschluß verlangen, in meine Lage!“

„Verstand, Herz, Ehre,“ sprach der Doctor ärgerlich, „wozu diese Unterscheidungen? Ich in Ihrer Lage würde als Mensch recht zu handeln suchen, ohne Furcht, meinem Amt dadurch zu nahe zu treten.“

„Gestatten Sie mir eine Bemerkung,“ entgegnete die Mutter, und ihre Augen funkelten. „Das Amt meines Sohnes mißt sich nicht an alltäglichem Beruf, sondern ist göttlichen Ursprungs. Dreimal mehr Wehe, als Andern, dem Priester, der ein Aergerniß giebt!“

„Was ist ein größeres Aergerniß, eine Unschuldige zeitlebens für das Vergehen ihres Vaters büßen zu lassen, oder Geschehenes mit dem Mantel der christlichen Liebe zu bedecken und sich und Andere glücklich zu machen?“

„Der Herr sucht die Sünden der Väter an den Kindern heim bis in’s dritte und vierte Glied! Mit von Gott Geschlagenen sollen die Hüter der Bundeslade nicht verkehren! Schlagen Sie diese beiden Stellen in der Bibel nach, wenn Sie eine besitzen! Mein Sohn muß, als Seelenhirt, rein dastehen vor der Gemeinde; kein Schatten darf auf seinen Weg fallen; kein Makel an ihm, ebenso wenig an seinem Weibe haften, denn dies Weib wird Fleisch von seinem Fleisch und Blut von seinem Blut.“

„An Amanda –“ begann Michaelis, aber Frau Reinhold unterbrach ihn.

„Der Herr sucht der Väter Sünden an den Kindern heim,“ sagte sie ungeduldig; „muß ich es Ihnen noch einmal in’s Gedächtniß rufen?“

„Und wenn Sie mir zehnmal es wiederholen,“ rief der Doctor, „Sie bekehren mich nicht zu Ihrer Auffassung. Ich gestehe Herrn Reinhold durchaus keine andern Ehrengesetze zu, weil er zufällig Pastor ist.“

„Zufällig?“ rief die Greisin außer sich und sprang empor. „Was Sie zufällig nennen, Herr Doctor, hält mein Sohn und ich für ein köstliches Geschenk des Himmels. Jahrhunderte hindurch, in den Stürmen des dreißigjährigen Krieges, wie später in der Pestzeit der Revolution haben die Reinhold’s, deren Namen auch ich schon vor meiner Ehe trug, fromm und tugendhaft und unentweiht als Wächter des heiligen Amtes dagestanden. Es war kein Mann, noch ein Weib in unserer Familie, deren Leben und Abkunft nicht vor den Augen Gottes wie der Welt das strengste Gericht bestehen konnte. Das Andenken an die Eltern und Großeltern wurde für Jeden der schönste Sporn, der reinste Quell hoher Kraft und Begeisterung. Und so soll es bleiben, so lange der Name Reinhold genannt wird. Wenn mein Sohn die Günther zum Weibe nimmt, wird ein krankes Reis auf den gesunden Stamm gepfropft. Was wird der Vater seinen Kindern erwidern, wenn sie nach ihrem Großvater fragen? Was werden die Kinder, heranwachsend, von der Welt erfahren? Herr Doctor! Wir abergläubischen, wir unaufgeklärten, dunklen Leute, wir lassen uns nun einmal nicht beschwatzen, daß die Abkunft von einer streng sittlichen, untadelhaften Familie kein Glück, kein wohlzuverwahrendes Gottesgut, sondern ein bloßer Zufall sei. Und Gott sei Dank, das Volk ist noch ebenso abergläubisch, so unaufgeklärt und dunkel wie wir. Mein Sohn hat mit diesem Volke, nicht mit den Gelehrten und Philosophen zu verkehren. Sein Weib muß ihn in der lebendigsten Gemeinschaft mit seinen Pfarrkindern unterstützen, nicht hemmen; sie muß sogar in hundert Fällen die Vermittlerin sein zwischen dem göttlichen Amt und der menschlichen Familie. Das abergläubische, unaufgeklärte, dunkle Volk aber, Herr Doctor, würde für die Vermittlung einer Frau danken, deren Vater dies Volk betrogen und bestohlen hat, deren Vater ehrlos gestorben ist. Du, mein Sohn, sagtest vorhin, daß Dein Herz die eine Wage ziehe, nun denn – in die andere werf’ ich zum Vermächtniß Deiner Väter und zur Meinung der Welt den Segen Deiner Mutter!“

[49] Nach dieser langen Rede ließ sich die Superintendentin wieder auf dem Sopha nieder. Der Arzt sah fragend auf Reinhold. Dieser schwieg. Michaelis stieß unwillig seinen Stock auf die Erde und erhob sich. „So wären wir denn zu Ende.“

Pastor Reinhold, im höchsten Seelenkampf, vertrat ihm den Weg „Gehen Sie nicht so!“ flehte er. „Ich kann Amanda nicht so verlassen! Vielleicht – – Geben Sie mir Bedenkzeit!“

„Nein,“ entgegnete Jener bestimmt. „Wozu Bedenkzeit? Ich kann sie im Interesse des armen Mädchens nicht gestatten. Soll es sich wochenlang in der Qual der Ungewißheit, in Sehnsucht, Furcht und Hoffnung aufreiben, um endlich und aller Wahrscheinlichkeit nach zu erfahren, daß sie entsagen müsse?!“

„O,“ warf Reinhold’s Mutter ein, „Amanda ist keine so tiefe Natur! Sie weiß gar nicht, was Kummer ist. Sie wird auch diesen fortsingen und fortlachen.“

„Madame,“ sagte der Doctor ironisch, „unfertig sein ist ein Verbrechen, mit dem wir Alten gerne vierzig Jahre zurückkaufen würden. – Wie Sie das Glück härtete, so wird hoffentlich meine Mündel durch das Unglück ein Charakter werden.“

„Nun denn,“ rief der Pastor, „wenn Sie grausam genug sind, den Bruch jäh herbeizuführen, versichern Sie Amanda wenigstens, daß diese Entsagung mein Herz zerreißt, daß ich ewig an sie denken und keine Andere mein Weib nennen werde!“

Neue Gelübde?“ fragte Michaelis bitter. „Wählen Sie dazu einen leichtgläubigeren Boten! Meine Pflicht hier ist für alle Zeit zu Ende. Amanda’s Zukunft wird nun meine Sorge; Ihnen aber wünsche ich – –“ Er bezwang seine Aufregung und schloß: „Ihnen wünsche ich – wohl zu schlafen!“

Als Doctor Michaelis die Hausthüre hinter sich zuwarf, trat ihm Scybylski in den Weg.

„Was haben Sie zur Antwort? Was wird aus Fräulein Günther?“

Der Arzt wollte den Zudringlichen barsch abfertigen, doch ein Blick auf den angstvollen Ausdruck des Gesichts, das vom Schein einer Straßenlaterne beleuchtet wurde, hielt ihn zurück. „Das Schlimmste,“ erwiderte er kurz, „man hat mich abgewiesen.“

„Abgewiesen?“ rief Jener erblassend. „Der Pastor bricht sein Wort? … O!“ Nach einer kurzen Pause schüttelte der Schreiber zornig seine Faust gegen das Predigerhaus. „Wenn ich nie wieder in die Kirche gehe, so sind die Zwei dort schuld! – Adieu, Herr Doctor, und ich danke Ihnen, daß Sie an der Tochter meines – ja, meines Freundes so gut und edel – –“ Er sprach nicht weiter; die Thränen liefen ihm über die Backen.

„Mein guter Scybylski!“ sagte der Doctor gerührt.

„Es weht eine scharfe Luft,“ sprach der Schreiber nach einer Weile, indem er die Thränen mit dem Zipfel seines Mäntelchens rasch abwischte.

„Wohin gehen Sie?“ fragte Michaelis.

„Ich gehe in den Gasthof. Dort treff’ ich den Cantor. … Dem will ich ein Licht aufstecken, was für einen Pastor wir haben! Gute Nacht, Herr Doctor!“

„Gute Nacht!“

Während Michaelis seinen Weg fortsetzte, ging der Mond auf. Sein sanfter Schein fiel auf die Fenster des Rendantenhäuschens.

„Sie hat Licht,“ dachte Michaelis. Er trat in den Garten, lüftete den Hut und fuhr mit dem Taschentuch über die Stirn. „Der schwerste Gang meines Lebens!“ Die Thüren waren offen, aber die Zimmer still und menschenleer. Mondenglanz lag auf Wänden und Geräthen; der Geruch von Wachskerzen erfüllte noch den Raum.

„Amanda!“ rief der Doctor.

Niemand antwortete.

Aengstlicher wiederholte er den Ruf. Alles still. Da traf sein Blick Brief und Schmuck. Hastig machte er in einer Taschenlaterne, die er für nächtliche Krankenbesuche bei sich trug, Licht. Der Brief war an ihn.

„Liebster, bester Doctor!“ las Michaelis. „Als ich vorgestern Abends im dunkeln Zimmer neben dem todten Vater allein saß und von aller Welt verlassen schien, da traten plötzlich Sie herein und sprachen so gut und liebreich, daß ich meinte, der heilige Christ selber habe Ihre Gestalt angenommen und sei zu mir Aermsten vier Wochen früher denn Weihnachten gekommen. Sie gaben mir Ihre gute, ehrliche Hand und gelobten mir, Vater zu sein. Da that ich Ihnen im Geist fußfällige Abbitte, weil ich früher auch in das blinde, dumme Geschrei eingestimmt und Sie hart und unchristlich gedacht hatte; und als Sie fort waren, that ich den Schwur, Ihnen ewig gehorchen zu wollen, wie eine Magd, und Sie zu lieben wie eine Tochter.

Und nun wag’ ich heute schon einen Schritt, der sich zur Unterwürfigkeit und Demuth einer Magd gar übel schickt; wag’ ich etwas, um dessen willen mich alle Welt ein leichtsinniges, ehrvergessenes Mädchen nennen wird. Aber, glauben Sie mir, liebster, bester Doctor, gerade weil ich meine Ehre hoch halten will, verlass’ ich die Heimath!

Sie wollten heute zu Reinhold’s gehen. Ich ahn’ es, welche Antwort Sie bringen werden. Er muß mir entsagen, das sagt [50] mir mein Verstand, aber mein kindisches, schwaches, eitles Herz will nicht daran glauben, und wenn ich mir’s vorstelle, wie Sie hereintreten und „Es ist aus“ sagen werden, zittere ich an allen Gliedern und das Blut steigt mir zu Kopf, und kurz, ich fühle und weiß es, daß ich das Nein nicht erwarten und hören und darnach noch weiter fortleben kann! Das Unglück der letzten Tage war zu groß; auch noch den Schlag vor den Augen der kalten Welt hinnehmen zu müssen, das würde mich an Gott verzweifeln lassen, und ich fürchte, ich würde etwas thun, was die Schmach unserer Familie nicht verringerte! Darum will ich lieber davongehen, wo mich und meine Traurigkeit Niemand kennt. Das gutmüthige Herz kann so noch immer hoffen und sich überreden: man holt Dich zu Reinhold zurück! der gute Freund, der Verstand, aber gewinnt Oberhand.

In der Residenz lebt eine Schwester meiner Mutter; zu der will ich gehen; sie wird mir einstweilen Unterkunft, Arbeit und Verdienst schaffen. Ich lege ihre Adresse bei.

Und nun verzeihen Sie mir, liebster, bester Doctor. Sei Ihnen noch tausendmal die gute Hand geküßt und Ihnen gedankt! Gott segne Sie und sei mit

Ihrer Amanda Günther.

P. S. Warum ich den Schmuck zurücklasse und was Sie damit thun sollen, brauche ich nicht zu sagen. Ach, daß ich Alles ersetzen und gut machen könnte! Die Finger wollte ich mir wund arbeiten. Das Geld, das ich zur Reise brauche, nehme ich vom Pathengeschenk der Frau Fürstin – aus meiner Sparbüchse. Das Uebrige verwenden Sie, bitte ich, wie den Schmuck. Leben Sie wohl! Gott segne Sie! Gott segne Herrn Reinhold – Theodor!“

Lange starrte Michaelis das Papier an. Es mußte wohl auch in der Stube eine kalte Luft wehen, denn der Doctor wischte sich die Augen und schüttelte sich. „Blitzkind!“ sagte er dann. „Läuft mir davon! – Trotzdem gefällt’s mir. Sie hat Ehrgefühl und steht auf eignen Füßen. – Aber, Donnerwetter, sie soll ja nicht schon selbstständig handeln! Wozu bin ich Vormund? – Wenn das die Stadt erfährt, giebt es ihrem Ruf den Rest. Ich muß eine Ausrede finden.“

Er verschloß Zimmer und Haus. Im Garten blieb er stehen. Es fehlte ihm etwas. Plötzlich schlug er sich ärgerlich vor die Stirn. „Richtig, den Hans hab’ ich vergessen! Nun läuft er in der Stadt umher. Ah, Alles geht schief! Am liebsten ging’ ich auch davon.“


7.

Der Weihnachtsabend brach an. Ein Duft von Tannen, ein geschäftiges Hin- und Hergehen und geheimnißvolles Treiben in allen Straßen und Häusern der Hauptstadt. Für Amanda schmückte Niemand den Christbaum. Still saß sie über ihre Arbeit gebückt in der Tante Wohnstube. Frau Schunke – so hieß die Tante – war eine kleine, corpulente Pastorswittwe, voll der seltsamsten Widersprüche im Innern und Aeußern. Schneeweißes Haar rahmte ein volles Gesicht von lebhafter Hautfarbe, mit hervorquellenden grauen Augen ein. Trotz ihrer sechzig Jahre trug sie beständig helle Kleider und war in ihren Bewegungen hastig und ruhelos, wie ein ungezogenes Mädchen. Jetzt aufgelöst in Schwermuth und Sentimentalität, loderte sie im nächsten Augenblick wegen eines Nichts grimmig auf und schrie und schimpfte wie ein Fischweib. Gutmüthig und boshaft, keck und schlau, hatte sie etwas von einer Katze, die nach Laune schmeichelt oder kratzt. Kinder hatte sie nie gehabt. Seit ihres Mannes Tod ertheilte sie jungen Mädchen Gesangunterricht, und obwohl alle Welt ihre geringen Fähigkeiten dazu kannte und schmähte, benutzte und zwang sie nichtsdestoweniger alle Welt, ihr jährlich eine Anzahl von Schülerinnen zu schaffen.

Als Amanda am Morgen ihrer Ankunft sich der Tante vorstellte, die traurigen Ereignisse erzählte und um Rath bat, riß Frau Schunke sie enthusiastisch an ihr Herz, vergoß Ströme von Thränen und schwur bei den Manen ihres Gatten sowohl, als ihrer Schwester, Amanda wie eine Tochter zu halten. Sie räumte ihr ein Stübchen zum Arbeiten ein und gab ihr Nachts ein Bett neben ihrem eigenen. Am dritten Tag schon änderte sich ihre Laune und blieb die folgenden Wochen gleich schlecht. Sie hatte tausend Dinge an ihrer Nichte auszusetzen, hielt zornige Reden über schlechte Erziehung, beweinte die Heirath ihrer Schwester und schmähte den Rendanten; kurz, Amanda hatte schwere, kummervolle Stunden. Sie sollte das Hauswesen in Ordnung halten, nähen, sticken und gleichwohl immer bei der Tante und für deren Unterhaltung besorgt sein; sie mußte in ihrer Trauer singen und Clavier spielen, was Frau Schunke jedesmal Gelegenheit gab, über die Talentlosigkeit ihrer Nichte sich die Haare zu raufen. Allabendlich waren die Sünden des Rendanten das Gesprächsthema, und wenn Amanda um Schonung bat, ward ihr versteckter Hochmuth und eitle Verblendung vorgeworfen. Amanda ertrug alle Launen, Nachts aber weinte sich ihr gepreßtes Herz aus. Dann wachte nicht selten Frau Schunke, die einen leisen Schlaf hatte, auf und schrie das arme Mädchen an, daß sie seinetwegen die ganze Nacht nicht schlafen könne. –

Am Weihnachtsabend war Amanda müde, denn vom frühsten Morgen an hatte sie der Magd beim Scheuern und Gardinenaufziehen geholfen. Trotzdem ließ sie, sobald die Lampe brannte, sich zu neuer Arbeit am Stickrahmen nieder, während die Frau Schunke bequem auf dem Sopha lag und gähnend bald in der Bibel, bald in Modejournalen und Notenheften blätterte.

„Es thut mir leid,“ begann die Tante, „es thut mir leid, daß ich Dich heute allein lassen muß. Aber sage selbst, ob ich Deinetwegen die Einladung der Baronin Großkopf refusiren konnte? – Du kennst die Baronin?“

„Nein, Frau Tante.“

„Du kennst sie nicht? Das wundert mich. Sie besucht mich doch sehr oft!“

„Sie vergessen, Tante, daß ich bei Ihren Besuchen nie zugegen sein darf.“

„Nicht darf?! Als ob ich es Dir je verboten hätte! Gott, ich bin ja so gut! Aber ich kenne die Aristokratie. Adelige werden durch die Gegenwart armer, bürgerlicher Wesen, wie Du, genirt. Deshalb lobe ich es, daß Du Dich nicht zu meinen Bekannten drängst.“ Sie bückte sich nach einem Notenhefte und sang, ihre schrille Stimme dämpfend, einige Take. Dann wandte sie sich wieder an Amanda. „Wo hast Du den heiligen Abend im vorigen Jahr zugebracht?“

Amanda’s Augen schimmerten feucht, als sie antwortete: „Beim Vater –“

„Hm, hm, kann mir’s denken: Weihnachten, das war ein Tag für Herrn Günther! da konnte er großthun, Einkäufe machen, Geld hinauswerfen!“

Amanda preßte die Hand auf’s klopfende Herz. „Tante!“ flüsterte sie bittend.

„Nun, nun, ich will Dir nicht wehe thun. Aber ich bin eine offene, ehrliche Natur, ich nenne die Dinge beim wahren Namen. Und so behaupte ich denn bis an’s Ende meiner Tage, daß Dein Vater ein Verschwender war, der uns Alle in’s Unglück stürzte.“

„Liebe Tante, schmähen Sie nicht heute meinen Vater, nicht heute, wo mir die Erinnerung an die entschwundene Zeit schier das Herz abdrückt! Wenn Sie ihn gesehen hätten, wie er an diesem Tag den Christbaum schmückte, Abends dann unsere Magd, die armen Nachbarskinder und mich zur Bescheerung führte, wie ihm das Glück zu geben aus allen Zügen strahlte, und wie er über unsere Freude jubelte – Sie würden den armen Todten im Grabe ruhen lassen!“

Frau Schunke trommelte mit den kurzen, fetten Fingern auf dem Tisch und schob ungeduldig die Spitzenhaube auf’s Ohr, welche immer lose auf ihrem Kopf saß.

„Dahinter steckt wohl der Vorwurf, daß ich Dir keinen Weihnachtsbaum aufputze, daß ich meine Nichte und Crethi und Plethi zu keiner Bescheerung einlade?“

„Aber, Tante –“

„Schweig! Ich erwartete den Vorwurf, weil ich menschliche Undankbarkeit kenne. Also Kind und Magd und die ganze Nachbarschaft hat er beschenkt? an mich, die arme, alleinstehende Frau, an seine Schwägerin hat er nie gedacht; mich lud er nie zu seinem Christabend, für mich hatte er nicht einen rothen Pfennig! Freilich hätte ich vom windigen Scribenten auch nicht Pfennigswerth genommen!“

Amanda stand rasch auf. „Tante,“ sprach sie zitternd vor Aufregung, „wenn ich im Zimmer bleiben soll, so sprechen Sie nicht also wieder!“

„In meinen vier Wänden kann ich reden, wie und was ich will, und Du bleibst!“

„Wenn Sie meinen Vater lästern, nein.“

Die kleine Frau warb dunkelroth; ihre Haube vom Kopfe [51] reißend, sprang sie mit einem Satz vom Sopha auf und zur Stelle, wo das Mädchen stand. „Nein!“ rief sie und ballte die Faust vor Amanda’s Gesicht. „Also trotzig, verstockt und boshaft? Nun, das ist mir ein Muster von Erziehung! Bravo, Herr Scribent! Freilich, wie sollte Dich der Vater Gehorsam lehren, da er doch selber gegen Gottes Gebot ungehorsam war! Doch ich lästere ihn, ich lüge, ich verleumde! Er hat meine Familie nicht in Schande gebracht, die Cassenbücher nicht gefälscht, er war kein gemeiner, heuchlerischer – –“

„Halt!“ bebte Amanda und faßte krampfhaft den Arm der Tante. Ihre Augen blitzten im blassen Gesicht, und ihre Stimme klang furchtlos und entschieden. „Ich spreche jetzt das letzte Wort,“ fuhr sie mit fliegender Rede, aber furchtlos fort. „Sie haben kein Recht, den Todten vor seinem Kind zu schänden, denn des Weibes Amt und Vorrecht ist allein Vergebung. Was Sie sagten, war ein Diebstahl an meiner Seele, denn die Erfahrung, welche ich durch Sie gewann, die Erfahrung, daß die Welt grausam und niedrig ist, raubt mir das Letzte, was mir noch das Leben des Lebens werth machte, den Glauben an das Herz der Menschen! Ich bin nicht undankbar, bei Gott, nicht undankbar, allein diese Stunde trennt mich auf immer von Ihnen! Leben Sie wohl!“

Das Aussehen des Mädchens war so streng und gebieterisch, daß Frau Schunke es für gut hielt, in Ohnmacht zu fallen. Aber Amanda ging trotzdem. Sie unterrichtete die Magd vom Uebelbefinden der Herrin und verließ die Wohnung.

Im Hofgebände wohnte eine arme, bejahrte Frau, von welcher Amanda wußte, daß sie ein Gelaß zu vermiethen habe. Zu ihr begab sie sich. Nach kurzer Unterhandlung war Amanda in der kalten, kahlen Stube, ihrem neuen Asyl, allein.

Das Geräusch der Stadt drang nicht hierher. Die Kammer lag rückwärts; ihr Fenster ging nach einem öden, verschneiten Garten. Hinter dem letztern zogen sich neuangelegte Straßen hin, in denen vereinzelt und spärlich hohe, frischgetünchte Gebäude mit rothen Seitenmauern emporstiegen. Rechts war der Fluß.

Amanda setzte sich auf den einzigen Stuhl, das Haupt kraftlos gesenkt, die Hände auf dem Schooß verschlungen. Im Zimmer nebenan rückte zuweilen die alte Frau ihren Lehnsessel und schürte im Ofen. Sonst blieb Alles still.

„So soll ich denn einsam bleiben, eine verlassene Waise!“ sagte sich Amanda. „In dieser Stunde schlagen Millionen Herzen in Lieb’ und Freude, mein aber gedenkt Niemand außer Einem. Und diesem ist die Erinnerung an mich Kummer und Pein. Ach, wär’ ich von je an des Lebens Ernst gewöhnt! Die Welt erschien mir früher so rosig und freudevoll. Nun ist das Traumgold ausgegeben, und wie ein Märchen däucht es mir, daß ich einst fröhlich war. In dieser unermeßlichen Welt von aller Welt verlassen – – Nur nicht von Dir, o Gott,“ sagte sie dann und blickte zum gestirnten Himmel auf. „Du siehst meinen Schmerz, meine Reue. Da ich Alles verloren, gewinne ich Dich!“

Langsam ließ sie sich auf die Kniee nieder und betete.

Nennt das Gebet Wunsch, Gewohnheit, Aberglauben: Eines ist es für das Weib und den Armen – Trost!


8.

Vier Monate später saß Doctor Michaelis in einer eleganten Villa der Residenz als Gast beim Dejeuner. An seiner Seite hatte die Dame, ihm gegenüber der Herr des Hauses, General von M…, Platz genommen. Die reiche Ausstattung des Zimmers, das silberne Tafelzeug verriethen Geschmack und Wohlstand. Die Glasthüre, welche zum Garten führte, stand offen und ließ die duftgetränkte Frühlingsluft herein, denn laue, sonnige Tage hatten im angrenzenden königlichen Park überall Knospen und Grün hervorgelockt.

Der Arzt saß theeschlürfend im Sammtfauteuil, unbeengt durch die kalte Majestät der Baronin. Ihm war der General vom Fürstenschloß her ein alter, lieber Bekannter, dessen geraden Sinn in rauher Form er wohl zu schätzen wußte. Eines nur störte ihn in seiner Behaglichkeit. Seit seiner Anwesenheit übten in der Wohnung über ihnen offenbar Schülerhände ein und dasselbe Clavierstück.

„Hätt’ ich doch nimmer geglaubt,“ sagte der General, „daß Sie sich von Ihrem lieben Schlesien trennen und nach der Residenz ziehen würden!“

„Vor zwei Jahren noch,“ erwiderte Michaelis, „dachte ich auch nicht daran, meine Stellung zu verlassen. Allein der Neffe des Fürsten, der Majoratserbe, der von seinen Reisen zurückgekehrt ist, hat seinen eigenen Medicus mitgebracht. Zwei Aerzte auf dem kleinen Flecken Erde sind zu viel. Weil aber mein Rivale jung, geschickt und arm ist, entschloß ich mich, ihm das Feld zu räumen, empfahl ihn meinem guten Herrn und erbat für mich selbst den Abschied. Gestern am frühen Morgen sagte ich dem Fürstenpaar das letzte Lebewohl – ich gestehe, mit schwerem Herzen.“

„Dann sind Sie also gestern erst angekommen?“

„Ja, gestern Abends.“

„Und Sie fühlen kein Heimweh nach Ihrer Schloßeinsamkeit?“ fragte die Baronin mit ihrer harten, unmelodischen Stimme.

„Im Gegentheil, gnädige Frau,“ antwortete der Doctor. „Das rauschende Leben der großen Stadt erfrischt mich wie ein kaltes Bad.“

Vraiment! Aber nach Allem, was mir der General vom Fürstenschloß erzählte, muß Ihr Aufenthalt dort unendlich poetisch gewesen sein. Die Stille des Landes, die patriarchalischen Sitten müssen Sie doch hier schmerzlich vermissen! Ich denk’ es mir himmlisch, auf immer vom Wagengerassel, Rauch, von Politik und andern Horreurs der Hauptstadt befreit, unter einfachen Menschen ungezwungen wie die Vöglein leben zu können.“

Die wasserblauen Augen der Generalin starrten, während sie sprach, entsetzlich kalt und nüchtern gegen die Zimmerdecke.

„Entschuldigen Sie, meine Gnädigste,“ entgegnete der Arzt, „wenn ich Ihre Romantik nicht theile. Nirgends, glaube ich, sind wir weniger einsam und unbeschränkt, als in kleinen Landstädten, auf Dörfern und Schlössern.“

Vouz m’étonntez!

„Zugestanden!“ rief der General, „zugestanden, lieber Doctor, ich kenne das Landleben aus meinen Garnisonerinnerungen! Schrecklich langweilig! die Jagdsaison ausgenommen, schauderhaft langweilig!“

„Ich gebe mich dem großartigen Wechsel ganz und gerne hin,“ fuhr Michaelis fort. „Die Tausende, die an mir vorüberziehen, kennen mich eben so wenig, als ich von ihnen weiß; ihre Begegnung erregt mir nicht sofort eine Reihe unbeqemer Gedanken an ihren Charakter, ihre Geschäfte und häusliche Noth. Doch im großen Ganzen sehe ich die schöne Wirkung dieser verschiedenen Kräfte und fühle wieder nach langer Zeit, daß die Welt vorwärts schreitet. Der feine Rauch in den Straßen ist mir Wohlgeruch, das Geräusch des Handels und der Fabriken Musik.“

C’est drôle,“ sagte die Baronin.

„Nur einem Uebel kann man nirgends entfliehen,“ fuhr Jener mit gutmüthigem Lächeln fort, „es verfolgt uns in Dorf und Stadt: der Clavierdilettant. Wie genußvoll z. B. ist dieser Morgen, in reizender Umgebung, an der Seite meines würdigen Freundes und Gönners – da martert sich und uns irgend eine schöne Mitbewohnerin Ihres Hauses, indem sie mit grausamer Consequenz die Scalen leiert.“

Der General brach in ein Gelächter aus, so herzlich, daß ihm Thränen in die Augen traten; seine Gemahlin dagegen schoß einen wüthenden Blick auf den armen Michaelis.

„Kostbar!“ rief der Erste, immer auf’s Neue lachend. „Kostbar! Pardon, bester Doctor – aber Ihrer Kritik stimme ich aus ganzer Seele bei, obwohl die unglückliche Flügelspielerin – meine – meine eigne Tochter ist.“

„Donnerwetter!“ fuhr Michaelis heraus. „Entschuldigen Sie, Excellenz,“ stotterte er verlegen, „ich wußte nicht –“

„Daß ich eine Tochter habe und daß nur wir das Haus bewohnen,“ unterbrach ihn gutmüthig der Baron. „Warum haben Sie nicht früher schon bei uns angepocht! Uebrigens, mein gelehrter Freund, wenn auch meine Nerven gegen das nothwendige Uebel bereits abgestumpft sind, so soll, wenn Sie kommen, keine Taste –“

„Ich werde Mademoiselle Günther befehlen die Lection zu beenden,“ sagte die Baronin kalt und erhob sich.

„Um Himmels willen nicht!“ bat Michaelis. „Verrathen Sie meine Barbarei nicht weiter! Nannten Sie die Lehrerin nicht Günther? Fräulein Günther?“

„O,“ fiel der General ein, „Sie müssen sie kennen; sie ist aus B…“

Michaelis stand rasch auf und machte einen Schritt gegen die Thür hin. „Aus B…?“ rief er. Der General bejahte es und setzte hinzu, daß dieser Umstand ihn, den musikalischen Ignoranten, bestimmt habe, das Mädchen zu seiner Tochter Lehrmeisterin zu wählen.

[52] „Ein Heer von Candidaten,“ erzählte er mit Humor, „stellte sich nach unserm Zeitungsinserat. Unter ihnen besagte Günther. Auf meine Frage, woher sie sei, erhielt ich die Antwort: aus B… Das rief mir natürlich die Erinnerung an das benachbarte Fürstenschloß wach, wo ich als Gast so manche herrliche Woche verlebte. Mit dem Städtchen selbst zwar und seinen ehrsamen Bewohnern kam ich niemals in Berührung, aber das Mädchen war nun einmal aus der lieben Gegend, hatte ein ehrliches Gesicht – enfin, ich theilte ihr die Stunde zu.“

Doctor Michaelis, der sich wieder gefaßt und Platz genommen hatte, reichte unwillkürlich über Theegeschirr und Silberaufsätze hin dem treuherzigen Graubart die Hand.

Eh bien, Herr Doctor,“ sagte die Baronin. „Sie sehen, daß ich im Hause keine Stimme habe. Meine Wahl war es nicht.“

„Sind Sie mit dem Mädchen unzufrieden?“ fragte Michaelis betroffen.

„Ja.“

„Aber liebste Emma!“

„Ich bleibe dabei,“ entgegnete die Baronin. „Bevor Mademoiselle Günther Lehrerin ward, spielte unsere Marie einige Piècen aus Martha und Stradella allerliebst, jetzt hör’ ich nie mehr eine Melodie, sondern immer und ewig die Scala und andere bloße Uebungen. Außerdem ist mir der Mademoiselle Charakter nicht sympathisch. Sie ist für Marie eine zu passive Natur. Ihre Melancholie, fürchte ich, steckt mein Kind an.“

„Aber Emma! Sie spricht ja in den wenigen Stunden nur, was Bezug auf’s Clavier hat.“

Eh bien, warum spricht sie so wenig? Für ein Mädchen ohne Familie und Vermögen paßt es sich nicht, die Schwermüthige zu spielen.“

„Wir wissen nicht, welchen Kummer sie hat.“

„Eine Person ihres Standes muß ihren Kummer zu Hause lassen können. Die zweite Hälfte der Stunde ist dem Gesang gewidmet. Wie oft habe ich Mademoiselle gebeten, meine Tochter französische Lieder zu lehren, wie selten erfüllt sie meine Wünsche! Sie hat Ein Lied, das mich zur Verzweiflung bringt, das sie fast in jeder Stunde – da – c’est ça!“ Die Baronin unterbrach sich plötzlich und wies nach oben.

Das Exercitium im ersten Stock hatte aufgehört, und eine geübtere Hand spielte. Dann sang eine Mädchenstimme:

Noch nichts von winterlicher Trauer!
Noch einmal warmer Sonnenschein
Und düftetrunkne Ahnungsschauer,
Noch einmal laß es Frühling sein!

Die schwergebeugten Wipfel warten
Der Hand noch, die die Früchte bricht;
Die Sonnenblume kehrt im Garten
Ihr Antlitz sehnend noch zum Licht.

Noch immer hör’ ich den gewohnten
Gesang der Vögel im Geheg,
Und Schatten gaukeln wie vor Monden
Auf dem verlaßnen Waldesweg.

Und geh ich Nachts im Sternenscheine
An Deinem Hause still vorbei,
Regt sich die Sehnsucht, und ich meine,
Daß es noch immer Frühling sei!

„Arme Amanda!“ flüsterte Michaelis, als die beseelte Klage verstummt war.

Der gutmüthige Baron aber sagte gerührt: „Parbleu – entschuldige, Emma! – mir gefällt das Lied, und das Mädchen hat einen Vortrag, der mich alten Soldaten zum Weinen bringen könnte!“

Die Generalin zuckte die Achsel. „Kennen Sie Mademoiselle Günther vielleicht näher?“ wandte sie sich gleichgültig an Michaelis.

„Zu dienen, meine Gnädigste,“ erwiderte dieser mit seinem feinsten Lächeln um den Mund. „Fräulein Günther ist meine Mündel.“

Nun war es an der Baronin, verlegen zu werden.

Aber der Arzt brachte sofort das Gespräch auf einen andern Gegenstand und schien für die Fortsetzung der Gesangsübungen über ihnen keine Aufmerksamkeit zu haben. Bald darauf empfahl er sich. –

Ein Garten trennte das Haus von der Straße. Diese zog sich den königlichen Park entlang. Wenige Schritte vom Gartengitter mündete eine der zahlreichen Querstraßen. An dieser Ecke machte Doctor Michaelis Halt.

Er harrte nicht lange. Bald wandelte ihm die wohlbekannte, zierliche Mädchengestalt entgegen. Ihre Kleidung war von dunkeln Farben und ärmlich; das Gesicht verdeckte der Hutschleier. Sie schritt ohne Hast, aber auch ohne Interesse am Straßengetriebe dahin.

Michaelis trat ihr in den Weg.

„Amanda!“ sagte er tief bewegt und hielt dem Mädchen die Hand entgegen. Ihre Augen blickten erschrocken unter dem Schleier auf, dann hörte man einen lauten Aufschrei, ein leises Weinen, und schluchzend küßte Amanda die Hand des Greises.

[66]
9.

Seit jenem Abend, jenem unglücklichen Abend nach Günther’s Begräbniß, war der Friede aus dem Pastorhause gewichen. Nicht daß heftige Auftritte zwischen Mutter und Sohn erfolgten! Mit stillschweigender Uebereinkunft ward Amanda’s Name nie mehr genannt. Aber trotzdem lag ein Bann auf dem Hause, ein Schatten auf Allen, welche darin aus- und eingingen. Wer früher kummerbeladen die Schwelle betrat, verließ sie wohlberathen, getröstet und erheitert. Das war vorüber! Wohl übte Reinhold mit demselben Eifer seine Pflicht, aber nicht mehr mit dem gleichen Segen! Ach, wie schwer auch erschienen ihm jetzt diese Pflichten! Er mußte zum Gebet, zur Frömmigkeit ermahnen, während sein eigen Gebet vergiftet war. Denn ob er vor der Gemeinde oder in Einsamkeit den Geist zu Gott erhob, immer blieb es beim ohnmächtigen Versuch. Die Lippen beteten, allein die Gedanken stürzten vom Himmel zurück und irrten mit verzweiflungsvoller Hast auf Erden und suchten und verfolgten ein Mädchenbild; nicht das liebliche, heitere Mädchen, das einst seine Stunden versüßte, sondern ein Weib, arm, heimathlos, Kummer und Elend preisgegeben – von ihm.

Von der Kanzel herab starrten seine Augen auf den leeren Platz, wo sie einst lauschend saß, und sein Geist zauberte die blasse, abgehärmte Gestalt hin. Wenn er den Bund eines jungen, glücklichen Paares segnete und sie zur Treue in Freud’ und Leid, im Glück und Unglück, im Leben und Tod ermahnte, brannte ihn der Gedanke an seine Treue, die Leid und Unglück nicht überdauerte! Wenn er Jemanden begrub, führte der Weg am Grab des Mannes vorüber, dessen Tochter er das Herz brach und die zu lieben er dennoch nicht aufhören kann. Sein Amt, ehedem sein Stolz, war jetzt sein Fluch; er wurde blaß und elend unter diesen Qualen, wie das Mädchenbild, das ihn bei Tag und Nacht verfolgte.

Niemand in der Stadt wußte von Amanda’s Schicksal seit ihrem räthselhaften Verschwinden, Niemand sprach von ihr in Reinhold’s Gegenwart. Doctor Michaelis, der nach der erzählten Unterredung das Pastorhaus und seine Bewohner hartnäckig mied, zog im Frühling für immer von hinnen, und Reinhold sah in seiner Abreise – seit Günther’s Tod im trägen, glatten Fluß des Kleinstädterlebens das einzige Ereigniß! – nicht die Befreiung von einem unbequemen Widersacher, sondern das Hinschwinden der letzten [67] Hoffnung, die Geschichte seines Herzens jemals versöhnungsvoll zu schließen. Die Superintendentin jedoch, die kluge, stolze Frau, verlor trotz der blassen Wangen, trotz der zunehmenden Düsterkeit ihres Sohnes die Zuversicht zur Heilkraft der Zeit nicht. Was sind ihr unsichtbare, unblutige Wunden! Warum soll der Schmerz um ein armes, kindisches Mädchen nicht zum Schweigen gebracht werden können? Hat sie selbst doch Eltern und Gemahl verloren und ist aufrecht geblieben! Manchmal blickte sie ihren gramgebeugten Sohn fast höhnisch an, indem sie daran dachte, wie anders sie einen so nichtssagenden, erbärmlichen Fall wie Herzweh zu verwinden wußte!

Die Schatten, welche auf dem Pfarrhaus ruhten, wurden immer finsterer. Selbst der Kanarienvogel in Reinhold’s Wohnstube schien von der Schweigsamkeit angesteckt. Er sang nur selten mehr, verstummte zuletzt ganz und lag eines Morgens todt im Bauer. „Du hast ihn in der letzten Zeit zu füttern vergessen!“ sagte trocken die Superintendentin.

Des Rendanten Sterbetag jährte sich. Frau Reinhold saß wie gewöhnlich am Fenster, las in der Bibel oder blickte auf den stillen Platz hinab. Ihr Sohn aber ließ sich durch die Magd entschuldigen, schloß sich in seine Stube ein und erschien nicht zu Tisch. „Wegen der Günther!“ dachte sich die Greisin, voll Entrüstung über die Sentimentalität der Männer.

Er saß über Actenbündeln, welche Gemeindesachen betrafen. Doch bemühte er sich vergebens, seine schwermüthigen Gedanken durch Arbeit fern zu halten. In der vierten Stunde des Nachmittags warf er die Feder fort und eilte in’s Freie.

Noch war in diesem Jahr kein Schnee gefallen. Heute wirbelten die ersten Flocken, zergingen jedoch, sowie sie den Boden berührten. Ein stürmischer Wind wehte über die kahlen Gefilde, und ruhlos flogen die Wolken. Auf Feldwegen umging Reinhold die Stadt, um den Krümmungen des Flusses nachzuschreiten, bis zum Hügel, welchen das fürstliche Schloß krönt. Auf der Heerstraße kehrte er zurück. Auch auf ihr war es menscheneinsam wie auf den Feldern, einsam, aber nicht friedevoll. Im Windesbrausen ächzten die Alleebäume und raschelte das dürre Laub, hungrige Elstern hüpften über den Weg oder saßen auf dem Geäst; ein Schuß klang vom fernen Wald her, und sie flogen kreischend feldeinwärts.

Reinhold gedachte der Nacht, da er mit dem Doctor diesen Weg zum kranken Günther eilte. „Das war der Dunkelheit Anbruch,“ sagte er. „O, was ist des Menschen Selbstvertrauen und Zuversicht auf geistige Errungenschaften, wenn des Lebens Stürme über ihn kommen! Wie ruhig in der Gewißheit meines Glaubens folgte ich früher den Speculationen des Verstandes! wie belächelte ich das vergebliche Mühen der Philosophen, die letzte Frage nach des Weltlaufs Urgrund und Ziel zu lösen! Jetzt drängt mir das lebendige Schicksal die Fragen auf: Was ist Glück und Unglück, Recht und Schuld? und meine Glaubensseligkeit schwindet, mein Herz schwankt in Zweifeln! – Priester müssen glücklich sein. – Ja, wenn mein Schmerzenskampf nur eine Prüfung wäre! Aber ich habe bereits gewählt. Recht oder falsch – mein Herz ist fürder nicht mit meiner Pflicht.“

Er näherte sich dem Kirchhof. Nach kurzem Zaudern schlug er den Seitenpfad dahin ein. Schon war die Nacht angebrochen, und am Himmel kämpfte das Mondlicht mit dem Gewölk. In raschem Wechsel huschten Licht und Schatten über das Todtenfeld, das der Pastor gesenkten Hauptes jetzt langsam durchschritt. Günther’s Grab lag am Ende des Todtenackers, am eingrenzenden, altersgrauen Gemäuer. Schon stand Reinhold dicht dabei, da riß wieder der Wolkenschleier, und in der Mondeshelle sah Jener plötzlich eine verhüllte Gestalt sich erheben und ihm abwehrend den Arm entgegenstrecken.

„Scybylski!“ rief Reinhold überrascht.

„Ja, Scybylski,“ erwiderte der einsame Friedhofsgast. „Ich habe ein Recht, heute an diesem Grabe zu knieen. Was aber wollen Sie hier?“

„Mit Ihnen gemeinschaftlich beten,“ sagte der Pastor verwirrt und niedergeschlagen.

„Ich habe keine Gemeinschaft mit Ihnen,“ versetzte der Andere, „und auch der hier unten hat nichts mehr mit Ihnen gemein. Sie sind hier dem Todten wie dem Lebendigen ein Aergerniß.“

„Scybylski – –!“

„Gehen Sie!“ rief dieser unwillig aus. „Sie trennten sich von diesem Mann, von seinem Kind und seinem Unglück. Es ist kein Platz für Sie an Günther’s Grab.“

Ein Seufzer entrang sich Reinhold’s Brust. „Wenn Sie wüßten!“ sagte er und fuhr mit der Hand über die feuchten Augen.

„Herr!“ fuhr Scybylski heraus. „Sie reden sich wohl ein, Sie seien der Unglückliche? Amanda hat wohl Sie gekränkt, Sie verlassen? In der warmen Stube, in Hülle und Fülle sitzend den Märtyrer spielen, das kann Jeder. Ein Mann aber – hören Sie, ein Mann! – würde gegen das Unglück ankämpfen, würde trotz Mutter und Consistorium dorthin gehen, wo dieses Todten Tochter ist, und des Vaters Schuld als sein besserer Sohn vergessen machen. So lange Sie das nicht thun, haben Sie kein Recht, hier zu knieen und zu weinen. Ich wiederhol’ es, kein Recht! Ihre Mutter hat vor Jahresfrist meine gutmüthige Schwäche ausgebeutet und verrathen; Dank dieser Lehre, bin ich jetzt kalt und hart geworden. Verlangen Sie also nicht Mitleid von mir, sondern gehen Sie!“

„Scybylski,“ sagte der Pastor erregt, aber ohne Zorn; „leicht wär’ es mir, mein Recht, hier eines Jeden Recht, zu behaupten; aber die Ruhe der Todten ist mir heilig. Freiwillig trete ich daher zurück; versöhnt einst, hoffe ich, werden Sie mir über diesem Hügel die Hand reichen. Leben Sie wohl!“ Er ging.

Scybylski sah dem Prediger finster nach, bis er zwischen den Grabmälern entschwunden war, dann beugte er wiederum sein Haupt zu Günther’s Grab nieder.

„Ich,“ flüsterte er, „ich habe Dein Kind geliebt.“


10.

Es klingelte.

„Das ist Amanda,“ sagte der Arzt und kehrte an seinen Arbeitstisch zurück.

Es war der zweite Weihnachtsabend seit Günther’s Tod. Konnte Doctor Michaelis vor Jahresfrist von seinem Gemach frei über weite, stille Schneefelder blicken, an deren Horizont nur als schmaler, dunkler Streif mit wenig Lichtpunkten sich ein Städtchen erhob: so sah er heute dagegen in eine engbegrenzte, aber um so lichtere, bunte Welt. Unter seinen Fenstern dehnt sich mit schneebedeckten Lindenreihen der Hauptplatz der Residenzstadt aus. Die Gaslaternen und glänzend erleuchteten Schauläden verbreiten Tageshelle. Im Gegensatz zu der stillen Weihnacht auf dem Lande wogt und rasselt es hier rastlos dahin. Kein Augenblick läßt die Luft unerschüttert; tausendfältige Töne durchkreuzen sie; das Summen der durcheinander schwirrenden Fußgänger, das Gekreisch der Verkäufer, das Rollen der Wagen wächst zum sinnbetäubenden Getös an, das in der Höhe wieder in einem gewissen, eintönigen Rhythmus zusammenschlägt, wie der Wellengesang des Meeres.

Den greisen Gelehrten stört es nicht. Eine laue, leicht gewürzte Luft wallt durch’s erhellte Zimmer, das nicht so groß und hoch wie jenes auf dem Schloß, dafür aber wohnlicher und einheitlicher ausgestattet ist. Zu den Ecken steigen aus breitblätterigen Pflanzengruppen weiße Statuen empor, Schränke und Spinden sind spiegelblank, und das mannigfache Kunst- und Nutzgerät geordnet und geschmackvoll vertheilt; gestickte Kissen schmücken Sopha und Stühle; allüberall thut sich das mondenlange Walten eines sinnigen Frauenwesens kund. Wachskerzen brennen auf dem Tisch, der Schein der Studirlampe aber fällt auf den alten, unverbesserlichen Schreibtisch, unter dem der Pudel schläft.

Das Zimmer hat zwei Ausgänge, einer führt auf den Flur, die zweite Thür in eine Flucht von Zimmern. Im Hintergrund der Stube befindet sich ein Alkoven, er ist durch einen schweren, braunen Vorhang verdeckt.

Geräuschlos trat Amanda aus dem anstoßenden Gemach ein, zögerte an der Schwelle ein Weilchen und betrachtete – Verehrung und Kindesliebe im Blick – den greisen Mann, der ihr ein zweiter Vater ward. Dann trat sie näher und legte sanft die Hand auf seine Schulter. „Darf ich Sie stören?“ fragte sie.

Es war ein anderer Mensch, der jetzt aus seiner gebückten Haltung sich aufrichtete und zum Mädchen emporsah; die Denkerfalten aus der Stirn glätteten, die Augen belebten sich, und ein wahrer Lichtstrom von Güte und Behagen verjüngte sein Gesicht. „Du störst mich nie, mein Kind,“ sagte er und nahm die Hand, die auf seiner Schulter ruhte, eine Hand, welche nicht immer so [68] weiß und fein, sondern von harter Arbeit und Frost einst roth und rauh gewesen war. „Kommst Du vom Dome schon zurück?“

„Ja, Väterchen.“

„Heute also ist Weihnacht,“ sagte er lächelnd. „Hast Du in unserer Nachbarschaft schon Christbäume brennen sehen?“

„Es ist noch zu früh.“

„Ja, ja, es ist noch zu früh.“ Er lächelte wieder. „Später sollst Du auch Deinen Christbaum haben.“

„Mein guter, guter Vater,“ rief sie und strich über sein emporstehendes, schneeweißes Haar. „Ich habe für Sie eine kleine Arbeit gemacht, aber die lege ich unter den Christbaum.“

„Ja, wir legen unsere Geschenke unter den Christbaum,“ erwiderte Michaelis und lachte.

„Väterchen,“ fragte Amanda mit unschuldiger Neugier, „wo haben Sie denn den Weihnachtstisch gerüstet?“

„St!“ sagte er geheimnißvoll und wies nach dem Alkoven; „dort! – Gehe jetzt und mache das Abendbrod und den Thee zurecht. Notabene, ich habe heute Hunger für Zwei. Währenddessen zünde ich den Christbaum an.“

„O Vater,“ rief sie gerührt, „ich wollte, ich könnt’ es der ganzen Welt erzählen, wie gut Sie sind!“

„Und ich wollte, Du könntest Reinhold’s darüber fragen. Die sind anderer Meinung als Du. Er ist ein Egoist, ein gräulicher Egoist, würde der Pastor sagen.“

„Nein, Er nicht! Er nicht!“ rief Amanda.

„Aber, liebes Kind, ich war’s; wahrhaftig, ich war der größte Egoist, als ich Dich zu mir nahm! Welch ein trauriger Winter stand mir ohne Dich bevor! Wenn ich jetzt daran denke, wie schrecklich einsam ich früher lebte, fühle ich mit mir selber Mitleid! Als junger Bursch ohne Vermögen mußte ich mit Entbehrung und Niedertracht aller Art kämpfen. Das machte mich frühzeitig alt, herb und verschlossen. Als die Mittel kamen, das Dasein zu genießen, fehlten mir daher Lust und Anregung. Menschenscheu, bis an den Hals zugeknöpft, lebte ich vierzig Jahre nur meinem Beruf. Vormittags Kranke, Nachmittags Kranke; Abends meine Bücher und Hans, den Pudel! Hans ist gut und treu und hat sein genügend Theil Verstand, aber ein Pudel bleibt er doch. Da, in meinem siebenzigsten Jahr, führt mir der Zufall Dich entgegen.“

„Kein Zufall,“ unterbrach ihn Amanda, „mir hat Gott Sie gegeben! Ohne Sie schlug das Unglück über mich zusammen. Sie retteten und läuterten mich, wurden mir Vater und Lehrer.“

„Nicht doch, Amanda! das Unglück war Deine Schule. Es erhob Dich über das Gewöhnliche und über Dich selbst. Ich that Nichts, als daß ich Dir im Kampf die Losung gab: Sei stark und still!“

„Ach, theuerer Vormund,“ sagte das Mädchen traurig, „ich bin eine schwache Streiterin. Meine Thränen wollen nicht versiechen. … Ach,“ rief sie und barg, plötzlich aufschluchzend, ihr Antlitz in beide Hände, „ich kann, kann Reinhold nicht vergessen!“

Als sie sich wieder gefaßt und ihre Thränen gestillt hatte, fragte sie mit leiser, schüchterner Stimme:

„Sie erhielten heute einen Brief aus B…?“

„Von meinem fürstlichen Gönner,“ antwortete Michaelis.

„Schreibt er über – über Reinhold?“

„Wenig, aber Seltsames. Der Pastor will B… verlassen. Er kam hier um seine Versetzung ein.“

„Es ist doch kein Unglück, was ihn aus seiner Heimath treibt?“ fragte sie hastig.

„Hm, ich glaube nicht,“ brummte der Alte; „vielleicht sucht er eine neue Braut …“

„Wer und wo sie sei, Gott segne sie!“ rief Amanda mit einer Stimme, die aus tiefstem Herzen kam. Michaelis zog das edle, entsagende Mädchen zu sich hernieder und küßte ihm die Stirn.

„Amanda,“ sagte er bewegt, „Du verdienst geliebt zu werden; Amanda – –“

Ein kurzes Pochen an der Thür unterbrach ihn.

„Herein!“ rief Michaelis verwundert.

Die Thür wurde geöffnet – der unerwartete Besuch war Frau Reinhold!

„Ich bin’s,“ sagte sie kurz.

Der Arzt, der sich erhoben hatte, murmelte etwas zwischen den Zähnen und lud den Gast mit einer Handbewegung ein, sich niederzulassen. Sie setzte sich. Dann ruhte ihr Blick lang und forschend auf Amanda, die vor Ueberraschung und Schrecken wie versteinert stand. Das Antlitz des Mädchens war verändert; es hatte jetzt seine Geschichte, eine Geschichte von Kummer und Herzeleid.

„Auch sie hat nicht vergessen!“ murmelte die Greisin und triumphirte, daß ihr Sohn nicht allein leide. Hierauf wandte sie sich zum Doctor.

„Ihren Diener traf ich auf dem offenen Flur; er wollte mich abweisen; entschuldigen Sie, daß ich ohne seine Erlaubniß eintrat.“

Michaelis verneigte sich blos.

„Sie wissen,“ fuhr Jene fort, „daß ich keine Freundin von vielen Worten bin. Also ohne Präambulen zur Sache, die mich hierher geführt! Wir sind doch unter uns?“ setzte sie mit einem Blick aus den verdeckten Alkoven hinzu.

„Hm, ja – freilich sind wir unter uns.“

Sie schwieg eine Weile, im Kampf mit ihrem Stolz. Endlich begann sie: „Doctor, seit Sie den Fürsten und unsere Stadt verließen, kam schweres Elend über mich. Anstatt mich einen ruhigen Sonnenuntergang erleben zu lassen, schickt mir der Herr harte, fast zu harte Prüfung und Heimsuchung. Um Ihnen meinen Gram mit Eins zu nennen: Mein Sohn ist mir untreu geworden. Seine Seele hängt an der Tochter des ungetreuen Knechtes, an Jener dort, und ihretwegen und aus Verzweiflung über die Trennung vergißt er seiner Mutter und, was wehevoller ist, vergißt seines Amtes, seiner Gemeinde, seiner Kirche. Ich kann mit Hiob sagen: Man hörete mir zu, und schwiegen und warteten auf meinen Rath. Nun aber lachen meiner, die jünger sind denn ich, welcher Väter ich verachtet hätte, zu stellen unter meine Schafhunde.“

Sie seufzte tief.

„Kamen Sie zu uns, um uns dies zu sagen?“ fragte trockenen Tones Michaelis.

„Hören Sie mich zu Ende! Wider meinen Willen hat Theodor das göttliche Amt in seiner Heimath fremden Händen übergeben, das Haus, wo ich ihn gebar und großzog, verlassen. Er eilte hierher mit dem trotzigen Entschluß, nie mehr in seine Vaterstadt zurückzukehren. Das Schlimmste zu verhüten, gürtete ich mich in meinen alten Tagen noch zur Reise und folgte ihm hierher, an den verhaßten Schauplatz weltlicher Lust und modernen Unglaubens.“

„Und was belieben Sie das Schlimmste zu nennen?“

„Doctor, hier steht die Zauberin, die mir meines Sohnes Herz entwendete … brauche ich Ihnen das Unglück, das mein graues Haupt bedroht, noch zu nennen? Gut, hier bin ich! Aug’ in Aug’ stehe ich meinem bösen Schicksal gegenüber und wiederhol’ es: Theodor darf dieses Mädchen nicht freien! er darf es nicht, oder ich sage mich in meinen letzten Lebenstagen noch von meinem einzigen Sohne los, eingedenk der heiligen Schrift. Es ist besser, ein frommes Kind, denn tausend gottlose, und ist besser, ohne Kinder sterben, denn gottlose Kinder haben.“

„Sollte Ihr Sohn wirklich die Absicht haben?“ begann der Doctor mit schneidender Kälte, allein die aufbrausende Superintendentin unterbrach ihn.

„Sollte? Mir hat er es nicht gesagt, aber ich weiß es, daß er kommen wird, vielleicht jetzt schon auf dem Wege ist! In seinen Augen las ich seinen Kampf. Und wenn er auch heute noch den Dämon der Leidenschaft niederringt, morgen unterliegt er dennoch, und alle seine Gedanken, alle Wege in dieser verhaßten Stadt führen ihn zu ihr! Ich aber duld’ es nicht; nicht von der Stelle weiche ich, bis mir das Mädchen dort mit Hand und Schwur, bei ihrem zeitlichen und ewigen Heil gelobt hat, ihn nicht zu sehen, von ihm zu lassen, für alle Ewigkeit zu lassen! Mein Vermögen will ich opfern, mich zur Bettlerin und sie reich machen, wenn sie heute noch geht, von hier entflieht, weit, weit, wo mein Sohn sie nie und nimmermehr findet!“

Doctor Michaelis sprang auf. Unfähig, seinen Zorn länger zu bändigen, stellte er sich dicht vor die stolze Frau und rief: „Madame, Sie müssen entschuldigen, wenn meine Meinung derb zu Tage kommt; aber wenn Sie eine Kaiserin wären und ich ein geborener Hofmarschall, verlöre ich jetzt die Geduld – darum entschuldigen Sie, wenn ich – Kreuz Millionen Donnerwetter, Madame, mit Einem Wort: Sie sind verrückt!“

Da trat Amanda rasch dazwischen. „Nicht also, mein Vater!“ bat sie mit ruhigem Ton. „Frau Reinhold ist Mutter. Sie hat das Recht, jene zu hassen, die an ihres Sohnes Kummer schuld ist. Auch verlangt sie ja nicht, daß ich von meiner Liebe scheide, nur, daß ich dem Glück entsage. Das that ich längst und will es jetzt auf’s Neue.“

[69] „Bei meiner Liebe, nein, Amanda!“ rief plötzlich eine Stimme, deren Klang beide Frauen im tiefsten Herzen schauern machte. Der Vorhang, welcher den Alkoven verdeckte, rauschte zurück, und Reinhold stürzte zu Amanda’s Füßen.

„Die Liebe kam Ihnen zuvor,“ sagte triumphirend Michaelis zur sprachlosen Superintendentin. „Ich versteckte Ihren Sohn dort zur Bescheerung. Er hat Sie und mich gehört und – entschieden.“

Frau Reinhold wollte entgegnen, aber ihr Sohn sah ihr ernst und fest in’s Auge.

„Mutter,“ sagte er, „ich war ein schwacher, feiger, treuloser Mensch bisher. Die Qualen dieser Zeit waren meine Buße. Jetzt endlich stehe ich über Kampf und Zweifel, fest, unbeugsam fest, und meine Worte sollen ein Schwur vor Gott und Menschen sein: Amanda, wenn Du mir verzeihen kannst, schließ’ mich ein in Dein Herz, fester denn je, als meine Braut, mein Weib!“

„O Theodor –“ flehte Amanda, denn noch immer bebte sie vor ihrem Glück zurück. „Bedenke …“

„Ich habe bedacht ein langes, banges Jahr hindurch! Des Zweifels Ende war der Entschluß, Dich aufzusuchen und Deine Vergebung, Deine Hand zu erflehen! Stoße meine Reue zurück, wenn Du kannst! Fluche mir, Mutter, wenn Du darfst!“

Frau Reinhold sah ihren Sohn mit großen, starren Augen an; ihre Brust athmete schwer, ihre Hände falteten sich krampfhaft. Dann wankte sie kraftlos nach einem Stuhl und sank auf ihm zusammen. „Er, mein Sohn,“ schluchzte sie, „mein einziger Sohn verlangt, daß ich ihm fluche. Gott, Gott! war ich denn wirklich so wenig Mutter, daß mein Kind einen Fluch von mir erwartet!“ – Und sie, die harte, stolze Frau, weinte, weinte wie ein hülfloses Kind. Frau Reinhold war Mutter! Die Flügel des Einen allmächtigen Naturgefühls hoben selbst diese kühle, starre, spröde Seele über Familienstolz und Vorurtheil, Verbitterung und Feindschaft.

Sogar der Arzt ward vom jähen Gefühlsausbruch der Greisin erschüttert. „Verzeihen Sie mir,“ sprach er, indem er ihre Hand ergriff, „was ich Ihnen vorhin sagte; wir haben gegenseitig zu vergeben und zu vergessen! Danken wir dem Geschick, daß wir uns am Glück der Jugend sonnen können! Und nun eine Eröffnung: Amanda ist kein armes Mädchen. Ich betrachte sie als mein Kind. Außerdem aber befanden sich im Nachlaß des Rendanten Lotterieloose. Ich spielte eines davon im Interesse meiner Mündel fort. Das Loos kam mit einem nicht unbedeutenden Gewinn heraus.“

„Dieser gehört nicht mir, sondern meinem Vater,“ sagte rasch Amanda. „Nicht wahr, Theodor, meinem Vater?“ Reinhold drückte statt aller Antwort einen Kuß auf ihre Lippen.

Doctor Michaelis betrachtete mit freudeglänzenden Augen seine Mündel. „Sehen Sie, lieber Reinhold, dies Jahr ist über Ihre Braut dahingegangen, wie der Hauch einer Frühlingsnacht, der die Blüthen weckt. Aber die Knospe, in der wir ein recht luftig rothes, keckes Röslein vermutheten, ist eine schöne weiße Rose geworden. Ja, lacht nur, mich alten Bücherwurm hat sie noch zum Poeten gemacht. Gott segne sie!“


  1. Verfasser des an vielen Bühnen mit Beifall aufgeführten Dramas: „Marfa“.