Die Sitze in den Eisenbahnwagen (Die Gartenlaube 1892/15)
[481] Die Sitze in den Eisenbahnwagen. Im Januar 1884 wurde in der „Gartenlaube“ eine Betrachtung über die Sitze in den Eisenbahnwagen veröffentlicht. Dieselbe sollte die Verbesserungsbedürftigkeit der damaligen Einrichtungen erweisen und über die Mittel zur Abhilfe Vorschläge machen.
Sie ging davon aus, daß die Wirbelsäule, welche dem menschlichen Rücken seine Haltung bestimmt, nicht einem geraden Stocke gleicht, sondern eine gestreckt ~förmige Linie bildet, und daß aus diesem Grunde nur eine solche Rückenstütze bequem sein kann, welche sich dieser Linie möglichst anschmiegt.
Leider hatte jene Betrachtung nicht den gewünschten Erfolg. Nach wie vor wird den Reisenden die Wohlthat eines natur- und vernunftgemäßen Sitzes vorenthalten. Der rollende Eisenbahnwagen wird vom Ingenieur und Maschinisten gelenkt, im Departement des Innern aber herrscht der Tapezierer, und zwar mit jener treuen Anhänglichkeit an das Verkehrte, welche bekanntlich der Kulturgeschichte immer neuen Stoff liefert und den philosophischen Betrachter mit einer Mischung von Entrüstung und Humor erfüllt.
Wenn der Verfasser nunmehr auf seine damaligen Erörterungen zurückkommt, so geschieht es aus einem gewissen Gerechtigkeitsgefühl: er hat getadelt und möchte nun auch loben. Hierzu bietet sich heute eine Gelegenheit. Es sind ihm nämlich im Verlauf der Zeit zweimal Verbesserungsversuche für die gerügten Mängel zu Gesicht gekommen.
Vor einigen Jahren erhielt er durch die Redaktion der „Gartenlaube“ die Profilzeichnung eines von der Firma C. Fischmann in Nordhausen für die 3. Wagenklasse entworfenen Sitzes zur Beurtheilung eingesandt. Dem erläuternden Prospekt lagen offenbar des Verfassers Rathschläge zu Grunde. In der Zeichnung (Fig. 1) war die Rückenkurve, wenn auch etwas zaghaft – die punktierte Linie deutet die angemessene Verstärkung dieser Kurve an – doch im wesentlichen richtig ausgeführt, auch die Elasticität von Lehne und Sitz bedeutete im Gegensatz zu den in der 3. Klasse üblichen senkrechten und wagrechten Brettern eine entschiedene Verbesserung. Der eigentliche Sitz, dies sei hier beigefügt, ist von gut geschwungener, nach vorn aufsteigender Linie, welche bekanntlich bei zweckmäßigen Ruhsesseln längst ebenso verwerthet, wie auf den Bänken unserer Fahrklassen hartnäckig versäumt wird. Die vortrefflich geschwungene, allgemein bekannte, in allen civilisierten Ländern verbreitete Gartenbank (Fig. 3) hat sicher jedem, der einmal auf ihr gesessen, den Beweis geliefert, daß sich das Problem eines zweckmäßigen Sitzes auch ohne Polster, schon allein mit Holzlatten und Eisen lösen läßt.
Eine zweite noch angenehmere Ueberraschung ward dem Verfasser zu Theil, als er beim Betreten eines „Abtheils“ II. Klasse (Nr. 757 Berlin-Kreiensen-Frankfurt) in diesem – zum ersten Male in Deutschland! – eine leidlich gelungene Rückenkurve vorfand (Fig. 2). Hier war ersichtlich begriffen, worauf es ankommt, nämlich 1) daß die Hauptstütze der Rückenlehne unter dem Schulterblatt liegt; 2) daß dem Kopf die Möglichkeit zur genügenden Rückwärtsneigung bleibt: 3) daß der Kopf alsdann einen Ruhepunkt findet, was im besagten Wagen zweckmäßig durch eine Art von Rolle erstrebt wurde, nur daß diese Rolle nicht so weit als wünschenswerth zurück lag, wie denn überhaupt das ganze Profil noch nicht energisch genug herausgearbeitet war; 4) daß jedes Polstern der Wand oberhalb der Augenhöhe sich als durchaus überflüssig erweist (siehe die punktierte Linie auf Fig. 2).
Dem Leser mag zur Veranschaulichung die aus dem früheren Aufsatz entnommene Figur 4 erwünscht sein, welche den hergebrachten Eisenbahnsitz sowie die durch denselben erzwungene Körperhaltung zeigt, sodann Figur 5 mit zweckmäßiger Rückenkurve und einem entsprechend bequemen Sitz. Die Vergleichung ergiebt, daß sich die Figuren 2 und 5 in der Hauptsache decken. –
Es sei hier nebenbei bemerkt, daß sich auch Holz- und Rohrstühle, um bequem zu sein, der gegebenen Rückenlinie anzupassen haben. Der Verfasser konnte im Sommer, vorigen Jahres die Beobachtung machen, daß kannn einer der unzähligen in Berliner Lokalen verwendeten eisernen Gartenstühle dieser Anforderung entsprach. Alle ohne Ausnahme zeigten eine Lehne, welche thörichterweise nach innen statt nach außen geschwungen war. Auf solchen Stühlen aber sitzt man entweder mit hohlem Rücken oder reibt sich bei gerader Körperhaltung mit dem Schulterblatt an der oberen scharfen Kante. Durchaus verunglückt sind auch die sogenannten Wiener Stühle, deren Lehne – wenn man die Rohrwurst, welche sie bildet, so nennen will – hartnäckig da ein Loch zu haben pflegt, wo am allernothwendigsten etwas sein müßte.
Nur an ein mit der II. Klasse, wie es scheint, unausrottbar verwachsenes Ding hat sich der sonst lobenswerthe Neuerer, welchem wir jenen Wagen Nr. 757 verdanken, nicht herangewagt: an den gepolsterten Prellstein, welcher je einen der beiden Wagensitze in zwei Hälften zu theilen pflegt. An dieses „hervorragende“ Opus versuchen täglich Tausende von Reisenden ihre Wange zu lehnen, um dann immer aufs neue zu der Wahrnehmung zu gelangen, daß man den Kopf seitlich überhaupt nicht stützen kann, wo keine Schulterstütze vorhanden ist.
Ob wohl der alte Schlendrian als blinder Eisenbahnpassagier noch in das kommende Jahrhundert mit hineinfahren wird? Otto Knille.