Die Sitze in den Eisenbahnwagen

Textdaten
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Autor: Otto Knille
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Titel: Die Sitze in den Eisenbahnwagen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 18–19
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Nochmals die Sitze in den Eisenbahnwagen
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Die Sitze in den Eisenbahnwagen.

Ich fahre ganz allein in einem Eisenbahn-Coupé zweiter Classe, blicke müßig und müde auf die Dinge, welche mich umgeben, und spinne einen langen Erinnerungsfaden. Ich schaukele wieder wie vor dreißig Jahren in der Postkutsche. Mancher gedenkt wohl noch jener an den Fensterseiten innerhalb des Wagens angebrachten Ledergurten, in welchen während der Fahrt und zumal während der Nachtfahrt vier müde Eckpassagiere zu baumeln pflegten. Damals war ein Eckplatz begehrt und beneidet. Die Nr. 5 und 6, gurtenlos, wie sie waren, sahen sich zu einem kerzengeraden Sitz verurtheilt, wenn sie nicht, von Schlummer übermannt, gleich abgebrochenen Bleisoldaten auf ihre Nachbarn fallen wollten.

Die Eisenbahn ist eine Erlösung für die fahrende Menschheit und würde es noch vollständiger sein, wenn die constructiv technische Seite dieser großen Erfindung nicht fast ausschließlich die Phantasie der Erbauer in Anspruch genommen hätte. In der That ist von Anfang an für die innere Einrichtung der Wagen kaum ein schöpferischer Gedanke zu Tage getreten, vielmehr lediglich das alte Postkutschensystem herübergenommen worden. Man kann behaupten, daß wir, namentlich was die Bequemlichkeit des Sitzens betrifft, keine wesentlichen Fortschritte gemacht haben. In meinem Wagen hängen sogar noch jene historischen Gurten, wahrscheinlich kaum mehr bemerkt oder benutzt, aber doch pietätvoll bewahrt als ehrwürdige Reste aus dem abgestorbenen Kutschenzeitalter.

Es herrscht noch heute auf den Bahnen der ererbte Postverpackungs-Modus: reihenweises, ermüdend einförmiges Gegenübersitzen und bei weiten Reisen die Qual einer ungenügenden, ja grundverkehrten Körperstütze.

Ich fühle, hier angelangt, eine gewisse Beklemmung. Denn ich stehe im Begriff, der höchst verdienstvollen Tapezierer-Innung eine Vorlesung über die Gesetze der Polsterei zu halten. Das wird mir schwer bei dem großen Respect, den ich im Allgemeinen vor den Leistungen dieses Handwerks habe, und bei der Erwägung, daß dasselbe wesentlich mitgewirkt hat, um unser Zeitalter auf die Civilisationsstufe der sitzenden Lebensweise zu erheben. Ist es nicht wahrscheinlich, daß wir heutzutage ohne den Segen der Sessel noch unstät in den Wäldern umherlaufen würden? Ja, diese humanen Polsterkünstler sind es, die uns bei den Pferdehaaren zur Cultur herangezogen haben!

Auch muß ich mir sagen, daß die bisher üblichen Grundsätze der Polsterung dieselben sind, auf welchen die größten Weisen aller Zeiten mit Erfolg geruht haben. Selbst von den verwöhntesten Tyrannen ist nicht bekannt, daß einer derselben einen Tapezierer wegen unbequemen Sitzens je habe köpfen lassen. Kopflose Tapezierer sind geschichtlich nicht nachzuweisen.

Durch Vorauschickung dieser Bemerkungen glaubte ich mich einigermaßen salviren zu müssen, denn, daß Praktiker empfindlich sind und sich ungern ein Dreinreden von Theoretikern gefallen lassen, ist eine wohl bekannte Thatsache. –

Der Satz ist wohl unanfechtbar, daß, wer mit der Außenseite des menschlichen Körpers zu thun hat, diesen kennen muß: der Schuhmacher das Knochengerüst des Fußes, der Sesselmacher das des ganzen Körpers. Und doch ist es erst in der Neuzeit und erst theilweise gelungen, z. B. das ehrenwerthe Schuhmachergewerbe zur Anerkennung dieses Satzes und zur Reform einer traditionell geübten widersinnigen Fußbekleidung zu veranlassen. (Vergl. „Gartenlaube“ Jahrgang 1877, S. 333 [WS 1] und Jahrgang 1883, S. 55.)

Bei den Tapezierern ist noch heute eine derartige Kenntniß durchschnittlich nicht vorhanden, und insbesondere wird sie auf den Bänken der Eisenbahnwagen hartnäckig verleugnet. Dieses dem reisenden Leser nachzuweisen – und welcher Leser wäre heutzutage nicht ein reisender! – ist nicht schwer; möglicher Weise gelingt mir auch, seine Geduld, mit welcher er Jahr für Jahr unbequem zu reisen pflegt, zu erschüttern. Aber darum hoffe ich doch kaum, daß meine kleine Predigt zu einer Besserung auf diesem Gebiete verhelfen könne. Denn der Nachweis einer Verkehrtheit und deren Beseitigung liegen manchmal ein Jahrhundert auseinander.

Wenn der Mensch sich setzt, so übernimmt statt der unteren Extremitäten das Becken die alleinige Function, den Oberkörper zu tragen. In das Becken ist die Wirbelsäule eingesenkt, und zwar nicht wie ein gerader Stock, sondern in einer förmigen Linie (vergl. Skizze a.) Der Schwung dieser Linie erhöht die Bewegungsfähigkeit unseres Rumpfes, nöthigt denselben aber zugleich zu einer fortwährenden Balance, denn der Schwerpunkt wechselt, je nachdem der Brustkorb mit seinen Anhängseln und der Kopf hierhin oder dorthin lasten.

Die Balance ist eine Thätigkeit und jede Thätigkeit Anstrengung. Soll der Oberkörper wirklich der Ruhe genießen, so bedarf er der Stützpunkte für Rücken, Schultern und Kopf, und werden ihm diese auf die Dauer nicht gewährt, hält ihn zugleich die Willenskraft nicht länger aufgerichtet, so sinkt er allmählich nach vorn, was bis zu dem Grade geschehen kann, daß die Stirn auf den Knieen aufzuliegen kommt. Hier ist also der Sitzende, wenn er nach hinterwärts und seitwärts keinen Halt fand, auf die Hülfsmittel angewiesen, welche ihm der Mechanismus seines eigenen Körpers gewährt.

Anders und günstiger wird das Verhältniß beim Vorhandensein einer Lehne. Der Oberkörper „lehnt sich an“, das heißt die Rückenwirbel, die Schulterblätter, womöglich auch der Kopf finden Stützpunkte. Je entschiedener die Rückwärtsneigung, je stumpfer der Winkel zwischen Oberschenkel und Rumpf, um so entschiedener die Ruhebefriedigung. Die modernen Sessel, sogenannte Faulenzer, Schlummerstühle etc. sind in diesem Sinne vorzügliche Leistungen. Eine derartige Bequemlichkeit kann nun freilich aus räumlichen und wohl auch aus Anstandsgründen den Eisenbahnreisenden nicht gewährt werden. Aber es erscheint deshalb nicht geboten, denselben bei ihrem einförmig aufrechten Sitz die Wohlthat einer geeigneten Rücken- und Schulterstütze vorzuenthalten.

Fig. b. Fig. c.

Zur Erläuterung des Gesagten diene der Umriß eines bequem sitzenden, angelehnten Menschen. Das Rückenkissen unterstützt ihn insbesondere unter dem Schulterblatt, wölbt ihm den Brustkasten und bringt den Oberkörper in eine freie gesunde Lage. (Vergl. Abbildung b.)

Skizze c zeigt dieselbe Person mit rückwärts geneigtem Kopfe. Die Stellung beider Figuren entspricht genau dem Polsterprofil. Es ist dasjenige, welches mir für die Eisenbahncoupés geeignet scheint.

Dagegen habe ich in Skizze d das in unsern heutigen Coupés zweiter Classe übliche Profil gezeichnet. Dasselbe nöthigt, wie Figura zeigt, zu einer durchaus gezwungenen, unschönen und weniger gesunden Stellung.

Fig. d. Fig. e.

In Skizze e wird ersichtlich, in welch steifer Lage der Kopf verharren muß, wenn er angelehnt wird.

Skizze f endlich wiederholt die zweckmäßig angelehnte Figur c und giebt zugleich das heutzutage übliche Normalprofil des Rückenpolsters. Bei Vergleichung beider Profile, des unserer Figur und des Polsters, ergeben sich für letzteres folgende Mängel:

1) Die Lehne ist zu senkrecht;

2) sie läßt zwischen den Lendenwirbeln und dem untern Rande der Schulterblätter - genau an der Stelle, wo man, wie der Ausdruck heißt, ein Kissen „in den Rücken“ zu legen pflegt - einen hohlen Raum bestehen; 3) sie ist mindestens um etwa 1/2 Fuß zu hoch (sie pflegt die Scheitelhöhe einer aufrecht sitzenden Person mittlerer Größe zu haben) und macht dadurch dem Kopfe jede, auch die geringste Rückwärtsneigung unmöglich.

Bei so beschaffenen Sitzverhältnissen pflegt dann der Reisende, wenn er schlummert, alsbald zu einem Häufchen Elend zusammen zu sinken. Er wird nach und nach so weit hinunter rutschen, bis der untere Rand seiner Schulterblätter - da wo die Unterstützung am erwünschtesten - die größte Kissenausladung gefunden hat, und diese findet in unsern Waggons gerade an der unnöthigsten Stelle, in der Beckengegend statt. Der Kopf endlich wird nach vorn oder gar zur Seite pendeln, sofern es ihm nicht gelingt, sich in die Weste einzugraben (vergl. Skizze g).

Ich erblicke auf meiner einsamen Fahrt vor mir die leere Sitzfaçade. Unzählige Reisende haben an dieser selben Stelle gesessen, stundenlang

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Fig. g.

das ungeheuerliche Polsterwerk vor Augen gehabt und wahrscheinlich – nichts gesehen! Die Einsamkeit wird wohl meine Betrachtung geschärft haben. Hier das gezeichnete Resultat derselben. Wir sehen das Wandpolster gegenüber in der Mitte getheilt und zwar in Kopfhöhe durch eine Art von überzogenem Prellstein, welcher für die Wange je eines Passagiers bestimmt ist.[1] Man sollte meinen, der Erbauer dieses Werkes müßte sich erinnert haben, daß die Wange nur ruhen kann, wenn auch die Schulter ruht, müßte also vor Allem für eine Schulterstütze gesorgt haben.

Aber nein, für die Schulter ist der leere Raum unter dem Prellsteine bestimmt. Dafür aber hat die Phantasie des Schöpfers weiter unten – etwa eine Handbreite über dem Sitze – eine Art von Pilz tellerartig aus der Wand herauswachsen lassen, auf welchem von jeder Seite ein Ellbogen oder vielmehr ein halber aufliegen soll (vergl. Skizze h und i). Es giebt kaum ein ergiebigeres Feld für „Anrempelung“, als dieses, und es gewährt mir eine belustigende Vorstellung, wenn ich mir zwei neben einander reisende Minister oder Gesandte, einen deutschen und einen französischen, vergegenwärtige, welche auf diesem Berührungsfelde eine Grenzstreitigkeit in Scene setzen und sich brüskiren könnten.

Fig. h.


Fig. i.

An der Fensterseite ist für die Schulter wieder nichts da, als die senkrecht ansteigende Seitenwand, eventuell das Fenster.

Hier ist noch hinzuzufügen, daß das in der zweiten Classe übliche unangemessene Polsterprofil in den beiden andern Classen seine Ergänzung findet, weniger erkennbar allerdings bei den weichen Sammetpolstern der ersten Classe und in der dritten Classe durch eine fast senkrechte Holzwand ersetzt, welche wohl geeignet scheint, um daran ein Placat, nicht aber einen Menschen festzunageln.

Was nun die ästhetische Seite der vor mir aufgebauten Façade betrifft, so seien mir auch darüber ein paar Worte erlaubt.

Die Zeit ist nachgerade vorüber, wo man die Wohlgefälligkeit einer Form als den Tod von deren Zweckmäßigkeit anzusehen pflegte. Tritt doch der Staat jetzt durch entsprechende Anstalten für künstlerische Schulung des Handwerks ein. Kann angesichts dessen ein Grund bestehen, um innerhalb der Tausende von Eisenbahnwagen, welche ununterbrochen durch unser Vaterland rollen, den Ungeschmack – ich möchte sagen – schulmäßig zu pflegen? Würden nicht wenigstens auf den Staatsbahnen Versuche mit einer verständigeren und wohlgefälligeren Tapezierung anzustellen sein? –

Während ich in dieser Weise innerlich raisonnirte, war es ganz dunkel geworden und die Lampe noch nicht in die Decke eingelassen. Da sah ich plötzlich einen Schatten mir gegenüber sitzen und erkannte deutlich den guten alten Schlendrian, genau wie ihn die „Wespen“ gezeichnet. Er trug Zipfelmütze und Tabaksdose und nickte mir schelmisch zu.
Otto Knille.     

  1. Ein künstlerisch geschulter Decorateur hätte an dieser Stelle die Anwendung der Voluten-Form nicht umgehen können.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: 33