Die Sitten der guten Gesellschaft

Textdaten
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Titel: Die Sitten der guten Gesellschaft
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 643–644
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[643] Die Sitten der guten Gesellschaft sind nicht immer so einfach, daß es für jemand, der noch nicht Gelegenheit hatte, gesellschaftliche Erfahrungen zu sammeln, stets leicht wäre, das Richtige zu treffen. Bei den verschiedenen Völkern und in den verschiedenen Ländern weichen die bei den gleichen Gelegenheiten üblichen Bräuche und Formen oft weit von einander ab, ja verkehren sich in das gerade Gegentheil – und nicht einmal eine Wanderung in die Fremde braucht man anzutreten: im eigenen Vaterlande sind nach der Eigenart der Stämme und Gegenden die [644] geselligen Formen grundverschieden, ja sie ändern sich vielfach schon, wenn man aus den Städten nur in die benachbarten Orte kommt. Da giebt es denn gerade für diejenigen, die am eifrigsten bemüht sind, Verstöße gegen das Uebliche zu vermeiden, der Sorgen genug, und die Redaktionskorrespondenz der „Gartenlaube“ könnte von ergötzlichen Verlegenheiten berichten.

Eine junge glückliche Braut fragte elf Monate vor ihrer Hochzeit an, welchen Platz an der Seite ihres Bräutigams sie bei der Trauung einzunehmen habe – an der rechten oder an der linken Seite; ihr „sehr verständiger“ Bräutigam behaupte: an der rechten, als der Ehrenseite, ihre Mutter aber: an der linken, um schon mit dem Platze die Stellung der Frau ihrem Gatten und Herrn gegenüber anzudeuten. Ein junger Norddeutscher fragte ganz empört kurz an: „Ist es erlaubt, Spargeln mit den Fingern zu essen? Das ist ja barbarisch!“ Und eine kleine neugebackene Hausfrau verlangte Entscheidung, ob sie ihr Dienstmädchen mit „Du“ oder „Sie“ anreden solle.

Wir wollen diesen Dreien den Gefallen thun, ihre Fragen an der Hand eines hübschen Buches von Marie Calm, das den Titel „Die Sitten der guten Gesellschaft“ (Stuttgart, J. Engelhorn) führt, kurz zu beantworten. Der vorsorglichen und etwas ehrgeizigen Braut giebt Marie Calm den Trost, daß die Braut in den meisten Gegenden bei der Trauung an der rechten Seite des Bräutigams stehe; eine feste allgemeingültige Regel aber giebt es nicht, und man thut deshalb gut, sich vorher nach dem besonderen Brauch der Gegend an geeigneter Stelle – am besten vielleicht bei dem Geistlichen, der die Trauung vollziehen soll – zu erkundigen. – Der Spargelfreund mag sich beruhigen: die Sitte erlaubt es allerdings, die köstlichen Stangen mit den Fingern zu essen. Der Gebrauch stammt aus England, wo man die langen dünnen Spargeln nicht ißt, sondern nur aussaugt. Unsere dicken, fleischigen Braunschweiger Spargeln, die man wirklich verspeist, gestatten auch die Benutzung der Gabel und selbst des Messers. – Die „Dienstmädchenfrage“ löst unsere Beratherin mit der energischen Erklärung: „Die Herrin wird das Mädchen mit ,Sie‘ anreden und nicht mit dem ,Du‘, das noch in vielen Häusern Sitte ist und welches, da das frühere familienhafte Verhältniß nicht mehr damit verbunden ist, das Mädchen unter die Bettlerin stellt, die uns um ein Almosen anspricht und die wir doch ,Sie‘ nennen.“

Wir möchten glauben, daß selbst gesellschaftlich Bewanderte noch manches Belehrende in dem anziehend geschriebenen Buche finden dürften, wenngleich Takt und Erfahrung bei älteren Personen die Theorie ja vielfach grau erscheinen lassen. Vor allem aber möge das junge Volk, das eben erst in die Gesellschaft eingetreten ist oder eingeführt werden soll, sich die Rathschläge einer erfahrenen und feinfühligen Dame gefallen lassen; es fährt dabei nur gut, lernt manches, was es noch gar nicht näher beachtet hat, und – spart das Porto für umständliche Briefe an die gefälligen, aber auch recht viel beschäftigten Redaktionen!**