Geschichte und Sage Die Sage (1908) von Karl Wehrhan
Mythologie und Sage
Die mythischen Wesen der Sage


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VIII. Mythologie und Sage.

Die Gebiete der Mythologie und Sage haben mancherlei Berührungspunkte. Wenn die Mythologie als Wissenschaft des Mythus, d. h. sowohl der von Göttern handelnden Erzählung [54] als auch des in konkreter Erzählung auftretenden religiösen Glaubens, sich einerseits mit all jenen Erzählungen von Göttern, Dämonen und Halbgöttern und andererseits mit der Lehre von den Vorstellungen der Völker über ihre Götter, deren Wesen, Tun und Treiben und deren Kult beschäftigt, so geht schon daraus hervor, daß die Sage eines ihrer vornehmsten Fundamente sein muß, das nicht nur ein gut Teil Bodens, sondern auch eine Menge vorzüglichsten Baumaterials für die Mythenforschung bietet. Das Gebiet der Sage geht aber weiter; es umfaßt nicht allein mythische Sage im engeren Sinne. Doch davon hier nicht weiter. Nur kurz soll die Frage gestreift werden, welchen Wert die mythische Sagenwelt für die mythologische Wissenschaft hat, da in dieser Beziehung besonders von Sagensammlern und Erklärern viel gesündigt worden ist.

Vor einigen Jahrzehnten, etwa vor einem halben Jahrhundert und später, träumte die vergleichende Mythologie einen schönen Traum. Verleitet durch die Erfolge der vergleichenden Sprachwissenschaft, der es gelang, viele Sprachen auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen, und eingewiegt durch die nahe Verwandtschaft von Sprache und Mythologie glaubte man imstande zu sein, einen gemeinsamen Urbestand in der Mythologie vieler Völker herauslesen und so eine Art ursprünglicher, für eine Reihe von Völkerschaften gleichartiger Mythologie finden zu können und auch gefunden zu haben. Der Ähnlichkeiten, die sich vor allem in der Sagen- und Märchenwelt vom Götterglauben und Götterkultus fanden, waren allerdings so zahlreiche, daß ein Zufall ausgeschlossen oder aber geradezu als Wunder erscheinen mußte. Diese Ähnlichkeiten in der Mythologie verschiedener Völker, die schon Jahrtausende ihren Weg getrennt gewandelt sind, stehen fest auch für uns, nur sehen wir sie jetzt von anderer Seite aus an. Die frühere Forschung[1] betrachtete sie als ursprüngliches Stammgut oder gemeinsames Erbe der prähistorischen Zeit, aus der alten Heimat stammend; heute dagegen sieht man in dem vielen Gleichartigen oder Ähnlichen meistenteils nur Entlehnungen. Im allgemeinen steht man ferner auf dem Standpunkte, daß jene bemerkenswerte Übereinstimmung [55] in den religiösen und sonstigen Anschauungen, in den Sitten, Gebräuchen und Überlieferungen weit auseinanderliegender Völker und Stämme nicht etwa auf irgend welche verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den betreffenden Menschengruppen zurückzuführen sei, sondern vielmehr darauf beruhe, daß mit eiserner Notwendigkeit, wie die Pflanze je nach den Phasen des Wachstums Zellgänge oder Milchgefäße bildet, Blätter hervortreibt oder Blüten entfaltet, so auch zufolge den die Entwickelung der Menschengattung beherrschenden Gesetzen gewissen Lebensbedingungen und äußeren Verhältnissen gewisse mythologische Erscheinungen entsprechen[2].

Von den vielen Parallelen, die zwischen diesen und jenen Völkern in mythologischer Beziehung aufgestellt wurden, und die alle eine gemeinsame Urmythologie nachweisen wollten und auch gefunden zu haben vermeinten, und in denen man besonders einen indogermanischen Götterglauben glaubte erschlossen zu haben, hat sich auch nach den neueren Forschungen fast keine einzige als haltbar erwiesen. Die Sagen- und Mythenzüge sind so viele und ihre historische Entwickelung ist meistens eine noch so zweifelhafte, daß allgemeine Folgerungen gewagt sind. Nur der langjährige Forscher und Fachmann auf dem Gebiete der Mythologie kann hier maßgebend sein. Es ist noch immer notwendig, mehr Stoff herbeizuschaffen, zu sammeln und festzuhalten, was noch zu retten ist. Zu bedauern ist, daß schon so manche Perle des alten Volksglaubens im Laufe der Jahrhunderte verloren ging und wohl unrettbar verloren bleibt.

Von Karl dem Großen berichtet eine alte Chronik, er habe durch seine Schreibermönche all die alten Sagen und Lieder der deutschen Volksstämme niederschreiben und sammeln lassen – was für eine unschätzbare Fundgrube würden wir heute für Wissenschaft und Volksleben daran haben! – aber plötzlich sei ein Brausen entstanden, die Mauern erzitterten und helle Glut loderte zum Himmel. All die Lieder voll vom reinsten Sagengold, in vielen Jahren gesammelt, ergriff der Feuerkreis von Wodans wildem Heer, und eine Stimme voll Wehklagen rief: „Du hast unser Volk erschlagen, das freie Gericht der Sachsen vernichtet, uns aber sollst du ewig nicht in deinem Joche bannen!“ – Wir wissen allerdings, [56] daß Ludwig der Fromme der Wodan war, der die alten Sachsensagen zu heidnisch fand und sie dem Feuertode übergab; doch auch er konnte die alten Götter nicht verbannen, sie lebten noch lange fort, wenn auch unter anderen Namen; die alte Göttermythe fand in der Volkssage eine sichere Zufluchtsstätte.

So ist zwar manches erhalten geblieben, aber unter einer Gestalt, die die ursprüngliche Form oft kaum noch im entferntesten verrät.


Literatur: A. Kuhn, Über das Verhältnis märkischer Sagen und Gebräuche zur altdeutschen Mythylogie (Märkische Forschungen. I. 1841. S. 115–146). – F. Nork, Mythologie der Volkssagen und Volksmärchen … Stuttgart 1848. [=J. Scheible, Das Kloster. Bd. IX]. – W. G. Beyer, Erinnerungen an die nordische Mythologie in Volkssagen und Aberglauben Mecklenburgs (Jahrb. d. V. f. mecklenb. Geschichte und Altertumsk. XX. 1855. S. 140–207). – W. v. Waldbrühl, Die Wesen der niederrhein. Sage. Elberfeld 1857. – Elard Mülhause, Die Urreligion des deutschen Volkes in hessischen Sitten, Sagen … Cassel 1860. – F. L. W. Schwartz, Der Ursprung der Mythologie, dargelegt an griechischer und deutscher Sage. Berlin 1860. – K. Weinhold, Schlesien in mythologischer Hinsicht (Schlesische Provinzialblätter N. F. I. 1862. S. 193–197). – J. Braun, Naturgeschichte der Sage. Rückführung aller religiösen Ideen, Sagen, Systeme auf ihren gemeinsamen Stammbaum und ihre letzte Wurzel. 2 Bde. Leipzig 1864. 1865. – Karl Landsteiner, Reste des Heidenglaubens in Sagen und Gebräuchen des niederöstr. Volkes. Krems 1869. – Märchen, Mythe u. Sage und ihre Beziehung zueinander (Die Biene. 1869. Nr. 26). – Elard Mülhause, Die auf urgermanische Kulturzustände hinweisenden Sagen in der Umgegend von Rauschenberg (Zeitschrift d. V. f. hess. Gesch. N. F. V. 1874). – Aug. Witzschel, Kleine Beiträge zur deutschen Mythologie, Sitten und Heimatkunde in Sagen und Gebräuchen aus Thüringen. Wien 1878. – H. Göll, Illustrierte Mythologie, Göttersagen und Kulturformen der Hellenen, Römer, Ägypter, Indier, Perser und Germanen. 4. Aufl. Leipzig 1879. – Henne-Am-Rhyn, Die deutsche Volkssage im Verhältnis zu den Mythen aller Zeiten und Völker, mit über 1000 eingeschalteten Originalsagen. 2. Aufl. Wien 1879. – Tito Vignoli, Mythos und Wissenschaft. Leipzig 1880. – J. A. Sepp, Die Religion der alten Deutschen und ihr Fortbestand in Volkssagen … mit durchgreifender Religionsvergleichung. München 1890. – B. Saubert, Germanische Welt- und Gottanschauung in Märchen, Sagen und Festbräuchen … Hannover 1895. – H. Wolf, Mythus, Sage, Märchen. Progr. von Düsseldorf 1896. – J. Mähly, Märchen, Sage, Mythus (Zeitschrift f. Kulturgeschichte. VI. 1899. S. 447–466). – G. Zinck, Die mythischen Volkssagen des sächsischen Erzgebirges (Saxonia. I. 1903. S. 97–103). Vgl. außerd. d. Mythologien.


  1. Vgl. Jakob Mähly, Mythus, Sage, Märchen (Zeitschr. f. Kulturgeschichte von Georg Steinhausen. VI. Weimar 1899. S. 447–466).
  2. Ad. Bastian, zitiert nach Jakob Mähly, a. a. O.


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