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als auch des in konkreter Erzählung auftretenden religiösen Glaubens, sich einerseits mit all jenen Erzählungen von Göttern, Dämonen und Halbgöttern und andererseits mit der Lehre von den Vorstellungen der Völker über ihre Götter, deren Wesen, Tun und Treiben und deren Kult beschäftigt, so geht schon daraus hervor, daß die Sage eines ihrer vornehmsten Fundamente sein muß, das nicht nur ein gut Teil Bodens, sondern auch eine Menge vorzüglichsten Baumaterials für die Mythenforschung bietet. Das Gebiet der Sage geht aber weiter; es umfaßt nicht allein mythische Sage im engeren Sinne. Doch davon hier nicht weiter. Nur kurz soll die Frage gestreift werden, welchen Wert die mythische Sagenwelt für die mythologische Wissenschaft hat, da in dieser Beziehung besonders von Sagensammlern und Erklärern viel gesündigt worden ist.

Vor einigen Jahrzehnten, etwa vor einem halben Jahrhundert und später, träumte die vergleichende Mythologie einen schönen Traum. Verleitet durch die Erfolge der vergleichenden Sprachwissenschaft, der es gelang, viele Sprachen auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen, und eingewiegt durch die nahe Verwandtschaft von Sprache und Mythologie glaubte man imstande zu sein, einen gemeinsamen Urbestand in der Mythologie vieler Völker herauslesen und so eine Art ursprünglicher, für eine Reihe von Völkerschaften gleichartiger Mythologie finden zu können und auch gefunden zu haben. Der Ähnlichkeiten, die sich vor allem in der Sagen- und Märchenwelt vom Götterglauben und Götterkultus fanden, waren allerdings so zahlreiche, daß ein Zufall ausgeschlossen oder aber geradezu als Wunder erscheinen mußte. Diese Ähnlichkeiten in der Mythologie verschiedener Völker, die schon Jahrtausende ihren Weg getrennt gewandelt sind, stehen fest auch für uns, nur sehen wir sie jetzt von anderer Seite aus an. Die frühere Forschung[1] betrachtete sie als ursprüngliches Stammgut oder gemeinsames Erbe der prähistorischen Zeit, aus der alten Heimat stammend; heute dagegen sieht man in dem vielen Gleichartigen oder Ähnlichen meistenteils nur Entlehnungen. Im allgemeinen steht man ferner auf dem Standpunkte, daß jene bemerkenswerte Übereinstimmung


  1. Vgl. Jakob Mähly, Mythus, Sage, Märchen (Zeitschr. f. Kulturgeschichte von Georg Steinhausen. VI. Weimar 1899. S. 447–466).
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Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/62&oldid=- (Version vom 31.7.2018)