Die Prophezeiung des Jacques Cazotte

Textdaten
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Autor: Alfred Meißner
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Titel: Die Prophezeiung des Jacques Cazotte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 200–203
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[200]
Die Prophezeihung des Jacques Cazotte.
Von Alfred Meißner.


Die Schicksalstragödie ist verdientermaßen in die Acht erklärt; dessenungeachtet giebt es Geschichten von erfüllten Weissagungen. Manchem schon hat eine Ziffernreihe geträumt, die er setzte und die herauskam, nicht weil er sie geträumt, sondern weil es ja auch im Kreis des Möglichen lag, daß sie gezogen wurde. Solchen Nummerngruppirungen sind die Angaben mancher Prophezeiungen gleichzuachten. Als eine der merkwürdigsten und bestbeglaubigten[1] erscheint mir die des Jacques Cazotte, und ich erzähle sie, nicht nur, weil sie weniger bekannt ist, sondern auch, [201] weil die Persönlichkeit, von der sie ausging, eine interessante und sympathische ist.

Im Spätherbst 1788, kurz vor dem Zusammentritt der französischen Reichsstände, war zu Paris, in der Rue du Bac, im Hause eines Akademikers, eine glänzende Gesellschaft, aus schönen Frauen, Hofleuten, Philosophen und Schöngeistern bestehend, bei einem großen Diner versammelt. Da war der ehemalige Minister Malherbes, da Condorcet, der Freund d’Alembert’s, der berühmte Mathematiker und Verfasser des Lebens Voltaire’s, da Chamfort, Mirabeau’s Freund, anwesend, der herbe, kalte, schneidende und doch so unterhaltende Misanthrop, dessen jegliches Wort ein Epigramm war, der Mann der wie Scheidewasser brennenden Aphorismen. Neben der schönen Herzogin von Gramont saß Cazotte, der wunderliche Greis, von reckenhafter Statur, der mit seiner ehrwürdigen Miene und seinem schneeweißen Haare mehr einem Patriarchen als dem Verfasser des Diable amoureux ähnlich sah.

Es ging lebhaft zu. Man sprach von den Fortschritten der Vernunft, von der herannahenden großartigen Epoche, welche die Rechte des Menschen und Bürgers zur Geltung bringen und die Könige ihrer Pflichten eingedenk machen werde, von den Ereignissen, welche sich bereits ankündigten. Alle begrüßten das herannahende Reich des von den Fesseln der Vorurtheile befreiten Menschengeistes.

Bei diesem Einklang der Meinungen blieb Cazotte allein still. Als man sich deshalb an ihn wandte, behauptete er: daß er in der Zukunft nur schreckliche Dinge, Blut und wüsten Kampf sehe. Die Epigramme Beaumarchais’ und Voltaire’s würden sich in Beile verwandeln. Und als Condorcet über diese pessimistische Anschauung der Dinge spottete, erwiderte er:

„Lachen Sie nicht, Herr Condorcet, Sie greifen noch einmal zum Gift, um dem Scharfrichter zu entgehen!“

Mehrere lachten, darunter Chamfort, Bailly, Malherbes und Roucher. Cazotte sah sie der Reihe nach eine Weile an, dann sagte er: „Meine Herren, ich sehe Sie Alle auf dem Schaffot. Nur Sie, Chamfort, fallen, dem Beil zu entgehen, durch eigene Hand!“

„Zum Mindesten bleibt doch unser Geschlecht verschont?“ fragte die Herzogin von Gramont.

„Ihr Geschlecht?“ antwortete Cazotte. „Sie selbst werden, die Hände auf den Rücken gebunden, im Karren zur Richtstätte fahren –“

Während Cazotte so sprach, hatte sich sein Gesicht, wie Laharpe, der dabei gewesen sein will, erzählt, ganz geändert. Sein hohes Alter, sein weißes Haar, der hingerissene Ausdruck seiner Züge wirkten mit, den finsteren Worten doppelte Macht zu geben. Die vorhin noch so heiteren Gäste überlief ein Schauer.

„Cazotte hat kein Erbarmen!“ rief, sich gewaltsam zum Scherze stachelnd, die Herzogin. „Er wird mir doch meinen Beichtvater lassen?“

„Nein! Sie werden keinen haben,“ sagte Cazotte, „der Letzte, der mit einem Beichtvater zur Richtstätte gehen wird, ist –“

Er verstummte.

„Wer? Wer?“ fragten Alle im Kreise.

„Der König von Frankreich!“

Von einer unwiderstehlichen Bewegung gepackt, erhoben sich alle Gäste mit einem Schlag. Cazotte wollte sich zurückziehen, die Herzogin aber wandte sich an ihn und fragte: „Und Sie, Herr Prophet, was wird Ihr Loos sein?“

Cazotte blieb eine Weile gesenkten Kopfes stehen; endlich sagte er: „Während Jerusalem belagert ward, umkreiste durch sieben Tage ein Mann die Stadt und rief klagend: Weh über Dich, Jerusalem! In diesem Augenblick fiel ein römisches Geschoß und zerschmetterte den Mann.“

Nachdem Cazotte so gesprochen, verbeugte er sich und verließ das Haus.

Kurz darauf ging die Gesellschaft auseinander. Man hatte die Absicht gehabt Faro zu spielen, aber die gute Laune war wie weggeblasen.

Wenn Cazotte, wie er gewohnt war, um Mitternacht aus den Salons, die er besuchte, nach Hause kam und in seine stille traute Wohnung trat, da saß Dom Chavis, ihn erwartend, schon im Lehnstuhl vor dem Kamin. Dom Chavis war ein alter maronitischer Mönch aus dem Kloster Mar-Hanna’s, d. h. Johannes des Täufers, auf dem Gebirge Kesruan am Libanon, welcher nichts besaß als eine Handschrift des Elf-Karafa, das ist „Tausend und eine Nacht“. Was er Cazotte davon mitgetheilt, hatte diesen so entzückt, daß er eine Uebersetzung davon zu liefern unternahm. Dom Chavis, seine Blätter in der Hand, gab in seinem halb italienischen, halb französischen Kauderwelsch die Umrisse dieser lieblichen Erzählung, die „mit einer Fußspitze die Erde, mit der anderen eine goldschimmernde Wolke berühren“; Cazotte, mit rascher Feder sich seiner Phantasie überlassend, füllte die Umrisse aus. Fast ebenso viele Nächte schon, wie Sultan Schachriar und Sheherezade, hatten die Beiden mit einander zugebracht. Umsonst bat die schöne Elisabeth den Vater, sich doch endlich Ruhe zu gönnen. Cazotte ging meist erst, wenn der Morgen dämmerte, zu Bette. Dafür sollten aber auch „Tausend und eine Nacht“ demnächst schon complet erscheinen.

Schon seit langer Zeit war Cazotte’s Name in Paris ein vielgenannter, wenn auch nicht eben als Dichter. Er hatte durch seinen Proceß gegen die Gesellschaft Jesu viel von sich sprechen gemacht. Ursprünglich Beamter im Marine-Departement, hatte Cazotte als Controleur in Martinique große Plantagen erworben und sich dabei um Frankreich sehr verdient gemacht. Seinem Muthe war es besonders zu danken, daß der Angriff der Engländer auf St. Pierre zurückgeschlagen worden war. Als ihn später eine Erbschaft in den Stand setzte, seiner Stelle zu entsagen und nach Frankreich zurückzukehren, hatte er seine Ländereien dem Superior Lavalette, der an der Spitze der großen jesuitischen Handelsgesellschaft stand, überlassen und wurde in Wechseln ausgezahlt, die nach langem Processiren, welches endlich die Aufhebung der Jesuiten zur Folge hatte, das Ordenshaus in Paris nur zum Theil einlöste.

Cazotte, welcher bei der Sache 50,000 Thaler eingebüßt, seinen Proceß aber mit großer Mäßigung geführt hatte, lebte seitdem mit dem Reste seines Vermögens bald in Paris, bald auf seinem Gute bei Epernay. Mit zunehmendem Alter hatte sich die Liebe zum Wunderbaren seines ganzen Gemüthes bemächtigt. Er hatte den portugiesischen Juden Martinez de Pasquallis kennen gelernt, der einer Illuminaten-Loge vorstand und war bald ganz in den Anschauungen dieses Mystikers aufgegangen.

Die Secte, welche Martinez de Pasquallis gestiftet, hatte von der Freimaurerei ihre Sprache, Zeichen, Chiffern geborgt. Sie erwartete die Ankunft eines neuen Heilands, welcher der heilige Geist in Menschengestalt sein werde. Es war die Zeit, in welcher Schröpfer, Saint Germain, Cagliostro eine große Rolle spielten und Mall vom Schlüssel Salomonis, von der Kabbala sprach. Swedenborg, Lavater und St. Martin, ein Schüler Martinez de Pasquallis’, bildeten eine andere Trias. Waren jene freche Betrüger, welche sich mit Geisterbeschwörungen, der Universalmedicin, der Goldmacherei und der Kabbala beschäftigten, so suchten diese eine mystische verständliche Philosophie zu gestalten, von der uns in den Büchern Saint-Martin’s die Umrisse entgegenleuchten.

Allmählich erst, als das Illuminatenthum durch die unlauteren Elemente, die sich hier einmischten, immer bedenklicher wurde, fingen Cazotte die Augen aufzugehen an. Er vermied die Logen und warf sich dafür mit ganzer Neigung auf den Orient und seine Sagenschätze. Er mußte nun einmal schon im Element des Wunderbaren leben, um sich befriedigt zu fühlen. Aber trotz des tiefen Ernstes, der sein Wesen beherrschte, blieb er ein Weltmann, nicht selten schalkhaft, ironisch, der über seinen eigenen Wunderglauben wie über eine angeborene Schwäche spöttelte.

Als einige Tage nach dem Diner in der Rue du Bac Condorcet unserm Cazotte begegnete und darauf zu reden kam, wie dessen Prophezeiung die Gesellschaft alarmirt habe, sagte der Alte: „Opium, Opium! Ihr werdet Euch doch nicht durch Cazotte’s Tollheit in Schrecken setzen lassen? Cazotte, ich sage es Ihnen, ist toll, Cazotte weiß nicht, was er sagt. Wenn Licht, Wein, Parfüms, der Glanz von Edelsteinen, der Anblick schöngeputzter Frauen zusammenwirken, um seine Phantasie zu erhitzen und ihm die alten Sinne zu entzünden, da redet er in geistiger Trunkenheit das Wirrste durcheinander.“

„Nein, nein,“ sagte Condorcet, „das erklären Sie damit nicht! Es war, als spräche aus Ihnen ein fremdes Wesen heraus, ein Wesen, das wir bisher Alle nicht gekannt. Es war uns nicht geheuer, Cazotte! Wenn Sie an der Wand Zeichen hingemalt hätten, die plötzlich zu brennen anfangen, es wäre nicht unheimlicher gewesen.“

[202] „Bah! bah!“ sagte Cazotte. „Ich bin kein Prophet! Ueber dem Haupte der Propheten schweben Kronen, Strahlen, Sterne, vor den Propheten bücken sich die Thiere, es sind fleckenlose Menschen, die im Traum auf Leitern emporsteigen und die tiefsten Geheimnisse des Schöpfers sehen und hören. Ich bin nur der alte Cazotte, den die Menschen bestehlen, prellen und verlachen. Ich kann wohl, wenn ich schwarze Wolken am Himmel sehe, sagen: das giebt ein tüchtiges Wetter, das manchen Baum entwurzeln und manche Schindel vom Dache tragen wird, doch wenn ich die einzelnen Bäume, die fallen sollen, und die einzelnen Schindeln mit Kreide bezeichne, da mögt Ihr mich wohl für unzurechnungsfähig halten. Uebrigens, fürchtet Ihr den Sturm, erschrecken Euch meine Worte, warum macht Ihr Euch nicht auf und davon? Wozu sonst hättet Ihr Beine?“

„Sie erinnern sich doch,“ meinte Condorcet, „daß Sie sich selbst in der nahenden Katastrophe ein gewaltsames Ende ankündigten. Folgerichtig sollten auch Sie dem Verhängnisse auszuweichen suchen.“

„Das thue ich auch!“ erwiderte der Alte. „Ich sehe Paris sobald nicht wieder. Der Sturm, der Euch Andere erquickt, nimmt mir den Odem, daher verstecke sich mich. Adieu, Freund, adieu auf lange!“

Er eilte so rasch, wie die alten Glieder es zuließen, davon.

Das Jahr verging in wilder Aufregung. Aber nach der Erstürmung der Bastille und der Uebersiedelung des Hofes von Versailles nach Paris kehrte eine verhältnißmäßige Ruhe ein und Paris blieb fast zwei Jahre von blutigen Auftritten frei.

Die Nationalversammlung regierte. Sie hatte den Erbadel abgeschafft, Wappen und Livreen proscribirt, die Güter der Kirche als Nationaleigenthum eingezogen. Da starb Mirabeau, die geheime Stütze der Monarchie. Der König, der sich durch seinen Fluchtversuch aus der Gewalt der Assemblée zu befreien versucht, hatte seine Lage damit nur verschlimmert. Er war thatsächlich, wenn auch nicht eingestanden, ein Gefangener.

Der constituirenden Versammlung war die gesetzgebende gefolgt. Die Girondisten, Anhänger des Königthums, und die Jacobiner standen sich gegenüber; der Hof erwartete, um die Revolution niederzuschlagen, das Einschreiten der fremden Mächte. In dieser Zeit hatte Cazotte, der ganz zurückgezogen auf seinem Landgute unfern Epernay lebte, den unglückseligen Einfall, seine Gedanken, wie der Fortgang der Bewegung wohl zu hindern sein dürfte, seinem Freunde Pontrau, dem Secretair der Civilliste, mitzutheilen.

Es war acht Tage nach dem Sturme auf die Tuilerien, am 10. August, als bewaffnete Männer an Cazotte’s Thür klopften und ihm hießen, ihnen zu folgen. Sein Brief an Pontrau, das unselige Blatt, war im Bureau des Königs aufgefunden worden. Man brachte den Greis zuerst in das Gefängniß von Epernay, dann nach Paris. Seine Tochter folgte ihm.

Wie fand Cazotte Paris wieder, als er es passirend durch die vergitterten Fenster des Gefangenwagens blickte! Auf dem Stadthause und von den Thürmen der Notre Dame wehte die schwarze Fahne, als Banner des Bürgerkrieges. So hell die Sonne auch flammte, die Straßen öde, wie ausgestorben, kein Wagen zu sehen, Fenster und Thüren verschlossen, die Menschen in Kellern versteckt! Von Zeit zu Zeit Züge bewaffneter Horden, Marseiller und Brester mit Piken und Trommeln, das „Ça ira“ oder die Marseillaise spielend. Der Schrecken!

Die Nachricht von der Einnahme von Longwy und Verdün, die Nähe des Feindes, der Verrath in der eigenen Armee, der Aufstand in der Vendée, die Agitation der Emigranten, die Auflösung der Assemblée – das Alles zusammen hatte die Sachen so weit gebracht. Frankreich schien der Auflösung nahe. In diesem Chaos stand nur noch die „Commune“ von Paris aufrecht, Danton regierte. Seine Losung war: man müsse die Gefängnisse säubern, den Verräthern ein Ende machen und freien Rücken haben, wenn man an die Grenze marschire.

Die Gefangenen erfuhren erst nach und nach, was ihrer wartete. Zwölf Blutmenschen saßen in der Abbaye St. Germain um einen Tisch, wo Acten und Waffen durcheinander lagen. Maillard, die Feder in der Hand, den Säbel zur Seite, präsidirte. Die Gefangenen wurden einzeln vorgeführt, jedem waren nur wenige Minuten zur Vertheidigung gestattet. Wurde Einer schuldlos erkannt hieß es: „Wird freigelassen“ (qui’ on élargisse Monsieur). Wurde er verurtheilt, so hieß es: „à la Force!“ Man stieß den Unglücklichen einfach in den Hof, wo beim Schein der Fackeln die Henkerschaaren standen, die das Opfer niederstießen oder niederschossen.

Cazotte’s Name war doppelt markirt. Er verschmähte es auch, sich zu vertheidigen. „A la Force!“ hieß es und er wurde hinausgestoßen.

In diesem furchtbaren Augenblicke warf sich die Tochter über den Verurtheilten her, schlang ihre Arme um ihn und rief den Henkern zu: „Ihr werdet das Herz meines Vaters nicht durchbohren, ohne vorher das meinige zu treffen!“

Beim Anblick der holden, jugendlichen Erscheinung senkten sich die erhobenen Waffen, das Volk rief: „Gnade! schont sie!“ und die Henker ließen ihr Schlachtopfer los.

Außer sich vor Freude, führt die Tochter den geretteten Greis davon und hinaus ging es aus dem entsetzlichen Hof über Leichen und durch breite Lachen Blutes. Es war ein Bild, wie wenn Ophelia ihren Vater davonführt. War das ein Jubel! Das Kind hatte den Vater, der Vater sein Kind wieder!

„Wer sind Deine Feinde?“ fragte ein Marseiller den Alten. „Nenne sie uns, sie sollen es büßen!“

„Ach,“ erwiderte Cazotte, „wie sollte ich Feinde haben? Habe ich doch Niemandem etwas zu Leide gethan!“

Es schien, als habe seine Prophezeiung Unrecht gehabt: er war frei. Aber die Richter der damaligen Zeit waren noch entsetzlicher, als die Septembristenhorden. Auf Befehl Pethion’s wurde Cazotte neun Tage später abermals verhaftet und in die Conciergerie gebracht. Seiner Tochter wurde der Eintritt dort nicht gestattet.

Im Verhör antwortete Cazotte diesmal mit der größten Gelassenheit und einer überlegenen Ironie. Er erklärte, daß ihn das Volk schon einmal freigesprochen habe und daß man der Volkssouveränetät Hohn spräche, wenn man ihn derselben Sache wegen zum zweiten Male zur Verantwortung ziehe.

Auf diese Einwendung wurde kein Gewicht gelegt. Als das Todesurtheil ausgesprochen war, sagte der öffentliche Ankläger: „Warum muß ich Euch nach einem zweiundsiebenzigjährigen Leben strafbar finden? Aber es genügt nicht, ein guter Sohn, Gatte und Vater, man muß auch ein guter Bürger sein.“

Indeß war die Tochter – es steckte etwas von einer Charlotte Corday in ihr – unermüdlich in ihren Versuchen, den Vater zum zweiten Mal zu retten. Sie hatte eine Schaar von Weibern zusammengebracht, die ihre Bitten bei den Richtern unterstützen sollten, doch ehe sie noch ihren Zweck erreichen konnte, wurde sie von den Schergen Pethion’s ergriffen und in’s Gefängniß geführt.

Der Alte, im Begriff, auf’s Schaffot zu steigen, verlangte Feder und Papier und schrieb: „Mein Weib, meine Kinder, beweint mich nicht, aber vergeßt mich auch nicht.“ Auf dem Blutgerüst, das er festen Fußes betrat, ließ er sich sein weißes Haar abschneiden, legte es zusammen und bat, es seiner Elisabeth einzuhändigen; dann, sich zu dem versammelten Volke wendend, sagte er: „Ich sterbe, wie ich gelebt, Gott und dem Könige treu!“ Einen Augenblick später war sein Haupt gefallen.

So starb Cazotte, der Dichter der Feenmärchen, der Dichter des diable amoureux. Bei ihm war die Prophezeiung zuerst eingetroffen. Bald darauf ging sie auch am König von Frankreich in Erfüllung, der in der That das letzte Opfer war, dem man einen Beichtvater mitgab; an der Herzogin von Gramont, welche wirklich, die Hände auf den Rücken gebunden, zum Schaffot fuhr; endlich kamen Roucher, Bailly und Malherbes an die Reihe. Wie aber erging es Condorcet und Chamfort, denen er in einem Augenblicke seltsamer Ekstase geweissagt, daß sie, um dem Henker zu entgehen, selbst an sich Hand anlegen würden?

Condorcet war der Sache der Revolution treu geblieben. Er hatte nach dem 10. August die Adresse an die Mächte Europas abgefaßt, worin die Gründe für die ausgesprochene Suspendirung des Königthums dargelegt wurden. Als Mitglied der Nationalversammlung hatte er mit den Girondisten gestimmt, und im Convent, als dieser über Ludwig den Sechzehnten zu Gericht saß, die härteste Strafe, welche nicht die Todesstrafe wäre, beantragt.

Als Mitglied des ersten Wohlfahrtsausschusses hatte er einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet, den man anzunehmen im Begriff stand, als der Aufstand vom 31. Mai ausbrach und den Sieg [203] der Bergpartei entschied. Der Convent, vom zerlumpten Volke umlagert, saß jetzt in den Tuilerien. Condorcet gehörte Anfangs nicht zu den proscribirten Abgeordneten, da er sich aber ohne Schonung gegen die Constitution von 1793 aussprach, wurde er denuncirt, vorgefordert und am 3. October als Mitschuldiger in Anklagestand versetzt.

Genöthigt sich zu verbergen und bald für „außer dem Gesetze“ erklärt, fand er acht Monate lang bei einer großmüthigen Freundin ein Asyl, in welchem er sich wieder mit schriftlichen Arbeiten beschäftigte. Da bewog ihn ein neues Decret, das Allen, welche außer dem Gesetze befindliche Personen aufnähmen, mit dem Tode drohte, seinen Zufluchtsort zu verlassen, um seine Wohlthäterin nicht noch größerer Gefahr auszusetzen. Vergebens suchte diese ihn zurückzuhalten. Er verließ Paris um die Mitte März 1794 ohne Paß, mit der Absicht auf dem Landhause eines Freundes sein Unterkommen zu finden. Er traf diesen nicht an und war genöthigt sich mehrere Nächte in verlassenen Steinbrüchen zu verbergen. Vom Hunger getrieben, trat er endlich in ein Wirthshaus, wo er sich für einen Bedienten ausgab, dessen Herr vor Kurzem gestorben sei. Sein langer Bart, seine Unruhe, sein schlechter Anzug veranlaßte die Wirthin zu fragen: „ob er auch bezahlen könne?“ und er zog eine Brieftasche hervor, deren Eleganz gar sehr mit seinem Aeußeren contrastirte. Ein zufällig anwesendes Mitglied des revolutionären Comités des Ortes ließ ihn sogleich arretiren und nach Bourg-la-Reine transportiren. Dort warf man ihn in’s Gefängniß. Am anderen Tage sollte er zum Verhör geführt werden, aber man fand ihn todt; er hatte von dem Gifte Gebrauch gemacht, das er schon lange, um sich der Hinrichtung zu entziehen, bei sich trug.

Kurz vorher war Chamfort, dem Minister Roland eine Scriptorstelle an der Nationalbibliothek verschafft hatte, wegen einiger erbitterter Aeußerungen über die Revolutionsgräuel verhaftet worden. Wiewohl er bald wieder in Freiheit gesetzt wurde, hatte ihn doch die kurze Haft mit solchem Abscheu erfüllt, daß er, als er einen Monat später wieder festgenommen werden sollte, sich zu tödten versuchte. Er hatte sich die Adern geöffnet; neben ihm lag ein Blatt mit folgenden Worten: „Ich, Sebastian Nicolaus Chamfort, habe als freier Mann sterben wollen, statt mich als Sclaven in’s Gefängniß geführt zu sehen.“

Die Hülfe der Kunst und die Sorgfalt der Freunde hielten ihn am Leben zurück, doch er starb bald darauf, im April 1794. „Ach, Freund,“ sagte er im Sterben zu Sieyès, der an seinem Bette saß, „so verlasse ich endlich diese Welt, in welcher das Menschenherz brechen oder versteinern muß!“

So waren Alle, denen Cazotte’s Prophezeiung gegolten, hinübergegangen, und wenn Todte im Jenseits zusammenkommen, konnten sie den Jahrestag der zufällig eingetroffenen Weissagung feiern. „Sie sind,“ sagte ein Zeitgenosse, „hinübergegangen in ihren Thränen, mit ihren Wunden, Typen der Menschheit, die, wie sie es auch anfange, sich ihrem Verhängniß nicht entziehen kann.“

„Es mußte so kommen, es war vorherbestimmt!“ erwiderte Dom Chavis.




  1. V. Laharpe (des Augenzeugen) Olmo d. Jacq. Cazotte p. XXI.