Die Offenbarung Johannis/Die ältesten Ausleger der lateinischen Kirche

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2.Die ältesten Ausleger der lateinischen Kirche.

Der erste Schriftsteller der lateinischen Kirche, der einen Kommentar zur Apk schrieb, ist der ca. 303 als Märtyrer gestorbene Bischof Victorin v. Pettau[1]. Es gab bis jetzt zwei Rezensionen seines Werkes[2]: a) eine kürzere in „Theophylacti enarrationes in Pauli epistolas et in aliquot prophetas minores“ ed. Io. Lonicerus fol. 252-58[3], b) eine längere bei Gallandi Tom IV. Daß die erstere die relativ ursprüngliche sei, hat Haußleiter (241) bewiesen. Derselben steht ein Prologus des Hieronymus voran, in dem dieser angibt, daß er auf den Wunsch eines gewissen Anatolius den Kommentar des Victorin bearbeitet habe, was, da V. Chiliast sei, ein besonders gefahrvolles Unternehmen gewesen sei[4].

Es ist jetzt glücklicherweise eine Erörterung darüber, wie weit die Bearbeitung des Hieronymus in den Kommentar des Victorinus eingegriffen hat, überflüssig geworden, da aller Wahrscheinlichkeit nach nunmehr der echte Victorinkommentar gefunden ist. Haußleiter war so glücklich, denselben in dem Codex Ottobonianus lat. 3288 A. zu entdecken, und wird hoffentlich demnächst seine Ausgabe des Victorinkommentars folgen lassen. Vorläufig[5] hat Haußleiter den ursprünglichen chiliastischen Schluß des Kommentars veröffentlicht, der durch die Bearbeitung des Hieronymus verdrängt war[6]. Ehe[54] der Kommentar nunmehr in seiner neuen Gestalt veröffentlicht ist, muß ich mich auf einige feststehende Hauptdaten beschränken[7].

V. vertritt bereits eine geschlossene Auslegungstheorie, die von allergrößtem Einfluß geworden ist: die Rekapitulationstheorie, d. h. die Anschauung, daß die Apk nicht eine Reihe auseinander folgender Ereignisse schildert, sondern in gewissen Partien das vorher bereits Gesagte rekapituliere. Nur bis zum sechsten Siegel (Apk 6) sieht er einen fortschreitenden geschichtlichen Verlauf, mit dem sechsten Siegel ist bereits seine Zeit, die Zeit der novissima persecutio erreicht[8]. Dann folgen in den sieben Posaunen die in letzter Zeit an den Ungläubigen vollzogenen Strafen. In den sieben Schalen aber wird der Inhalt der sieben Posaunen rekapituliert: et licet repetat per phialas non quasi bis factum dicitur: sed quoniam semel futurum est, quod est decretum a deo, ideo bis dicitur. quidquid igitur in tubis minus dixit, hic in phialis est. nec aspiciendus est ordo dictorum, quoniam saepe spiritus s., ubi ad novissimi temporis finem percucurrerit, rursus ad eadem tempora redit et supplet ea, quae minus dixit. nec requirendus est ordo in apocalypsi, sed intellectus. (de la Bigne 1256C cf. 1254D u. ö.). Es ist beachtenswert, daß gleich an der Schwelle der gesamten Auslegungsgeschichte der Apk dieser Grundsatz steht, die Theorie von der Recapitulatio, d. h. eigentlich der Verzicht, die Reihe der apokalyptischen Visionen in einem einheitlichen Verlauf zu begreifen. Bemerkenswert ist auch, daß gleich der erste Ausleger mit dem sechsten Siegel bis in die letzte Zeit hinunter geht.

Besonders interessant aber ist der Kommentar des V. für uns, weil sich in ihm die Deutung des Tieres auf Nero noch erhalten hat. Nach V.s Meinung ist der Kommentar unter Domitian[9] geschrieben, dem sechsten Herrscher von Galba an gerechnet. Der siebente, der nur kurze Zeit regieren wird, ist Nerva. Nach diesem, natürlich in der Anschauung V.s nicht [55] mehr unmittelbar nach ihm, soll dann Nero der Selbstmörder als achter aus der Unterwelt wiederkehren. Außerdem verbindet V. in sehr interessanter Weise mit dieser Nerodeutung die auch ihm geläufige Tradition vom Antichrist. Nero redivivus wird nach ihm unter falschem Namen und mit heuchlerisch veränderten Sitten als König der Juden auftreten (hunc ergo suscitatum Deus mittet regem dignum dignis Iudaeis). Er wird das Gesetz pflegen und die Christen zur Beschneidung zwingen. Und das zweite Tier, der falsche Prophet, wird bewirken, daß die goldne Statue des Antichrist im Tempel von Jerusalem aufgestellt werde. Die beiden Zeugen deutet er entgegen aller Tradition nicht auf Elias und Henoch, sondern auf Elias und Jeremias. Die 144 000 Gläubigen sind die in der Endzeit bekehrten Juden, Elias ist der Prediger der Endzeit, der die Juden bekehrt. Die zweite Hälfte von Kap. 12 bezieht V. mit allen Einzelheiten auf die Flucht der Gläubigen in der Zeit des Antichrist (die Wasser auf die verfolgenden Heere, die Hülfe der Erde auf plötzliche wunderbare Errettung, die beiden Flügel des Weibes auf die beiden Propheten). Kap. 14,14-20 wird auf die Engelschlacht, in welcher der Antichrist mit seinen Führern besiegt wird, gedeutet. Von Einzelheiten[10] erwähne ich, daß sich in Apk 11,1 ein sehr interessantes Symbolum (des Victorin) findet. Eine Spur der bis jetzt verschollenen und neuerdings erst wieder entdeckten chiliastischen Deutungsweise zeigt sich in der Auslegung zu Apk 1,15: adoramus, ubi steterunt pedes eius, quoniam (l. statt dominum) primum ubi illi steterunt et ecclesiam confirmaverunt i. e. in Judaea, ibi (st. ubi) omnes sancti conventuri sunt et dominum suum adoraturi.

Der Kommentar des Victorin ist ein sehr interessantes Dokument in der Geschichte der Auslegung der Apk. Er zeigt noch reichliche Spuren einer alten Tradition und eines richtigen Verständnisses der Apk. Der die Apk beherrschenden Stimmung ist Victorin der Märtyrer noch kongenial, er lebte selbst noch in der Erwartung des ganz nahen Endes. Mit seiner Rekapitulationstheorie beherrscht er die Zukunft und macht auf ein in der Komposition der Apk vorliegendes Problem aufmerksam.

Lactanz’ eschatologisches Gemälde in den Instit. div. VII 14ff. ist kaum eine Auslegung der Apk. zu nennen, sondern eher eine aus allen möglichen Quellen zusammengewürfelte neue Apk[11]. Auch Lactanz ist Chiliast, er meint, daß die Welt 6000 Jahre bestehen werde und dann der Sabbath des tausendjährigen Reiches komme. Nach seiner Berechnung (VII 25) werden [56] den höchstens noch 200 Jahre[12] bis dahin vergehen. Das Ende wird mit dem Verfall des Römerreiches beginnen. Zehn Könige werden am Ende herrschen. Ein König von Norden wird[13] sich erheben, der drei Könige in Asien besiegen wird[14], danach werden die Vorzeichen der letzten Dinge eintreten. Dann wird ein Prophet (VII 17) auftreten, der in Anlehnung an Apk XI geschildert wird. Danach wird ein zweiter Herrscher kommen — alter rex orietur ex Syria — und wird jenen ersten besiegen und vernichten, aber auch den Propheten töten. Dieser letztere tritt dann als Antichrist auf und beansprucht göttliche Ehre: jubet ignem descendere de coelo et solem a suis cursibus stare et imaginem loqui. Seltsam jüdisch klingt die weitere Schilderung: tum eruere templum Dei conabitur et iustum populum persequetur. Die Gläubigen werden auf die Berge flüchten und der König sie verfolgen, bis der von Gott gesandte Messias in vierfacher Schlacht den Antichrist besiegen wird. — Bei Lactanz kann man, wie gesagt, eigentlich nur von einer phantastischen Weiterbildung apokalyptischer Hoffnung und nicht mehr von einer Auslegung der Apk. reden. [Zum Verständnis der Lactanzweissagung vgl. Buttenwieser, d. hebräische Eliasapokalypse 1897, 80-82.]


  1. Über ihn vgl. Hieronymus de vir. ill. c. 74, (vgl. c. 18), epistola ad Vigilantium 61,2 (75), in Ezechielem XI. c. 36. Vallarsi V 422; Cassiodorus, Instit. div. litt. 9.
  2. Vgl. über den Kommentar Haußleiter: die Kommentare des Victorin etc. Ztschr. f. kirch. Wissensch. u. Leben, VII 239ff.
  3. Nach Haußleiter. Die Ausgabe war auf der hiesigen Bibliothek nicht vorhanden, ich benutzte de la Bigne ed. 2. Paris 1589. Tom I, p. 1244-1262. Nach Haußleiter wäre eine Handschrift von Troyes bei einer neuen Ausgabe dieser Rezension zu Grunde zu legen. In den gedruckten Texten ist die Auslegung zu Apk 11,1-12,4 vor diejenige zu Apk 7-10 geraten.
  4. Die wichtigste Stelle des Prologs lautet: sed ne spernerem precantem majorum statim libros revolvi, et quod in eorum commentariis reperi, Victorini opusculis sociavi. ab jota inde quae ipse secundum literam senserit; a principio libri usque ad signum crucis, quae ab imperitis erant vitiata scriptoribus, correximus, exinde usque ad finem voluminis addita esse cognosce (vgl. noch die Einleitung des Kommentars des Ambrosius Ansbertus [Hausleiter 243]).
  5. Theolog. Literaturblatt 1895, 194ff.
  6. Es stellt sich überhaupt, wie mir scheint, heraus, daß die Überlieferung des Victorin-Kommentars eine beständig fließende war. So haben wir in der ersten Rezension als Ersatz der chiliastischen Ausführungen V.s einige kurze Sätze des Hieronymus, in der zweiten Rezension finden wir längere Ausführungen, die nachweislich WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt aus Augustin stammen, diese wiederum bald allein (so in dem Kopenhagener Apringiuscodex s. u. bei Apringius), bald mit denen des Hieronymus vermengt. Ebenso zeigt die Auslegung zu 13,18 mannigfache Stufen in der Überlieferung.
  7. Sehr interessant ist die Mitteilung Haußleiters (a. a. O. Sp. 194), daß in dem ursprünglichen Text des V. die Deutung der vier Tiere, Apk 4,7, auf die vier Evangelisten noch dieselbe ist wie bei Irenäus (Joh. der Löwe, Mk. der Adler), vgl. ferner die interessante Berührung V.s mit Papias in seinen Angaben über das Markusevangelium (Haußleiter ebend.).
  8. Dies ist zugleich ein Beweis für die Abstammung des Kommentars von Victorin. Ebenso verrät die überall sich findende Betonung der Einheit und Zusammengehörigkeit des alten und neuen Testaments einen Schriftsteller der älteren Periode (s. die Auslegung zu Apk 4,8; 10,1; 12,1 u. ö.), nicht am wenigsten auch die historische Deutung des Tieres (s. u.). Auch ist im Kommentar die Rede von den fortwährenden Dekreten des Senats contra verae fiaei praedicationem. Der Kommentar wurde also vor Konstantin geschrieben (Lücke 977). Hervorzuheben ist endlich, daß (in Apk 1,20) bei der Aufzählung der sieben Gemeinden, an die Paulus schreibt, die Annahme der paulinischen Abfassung des Briefes an die Hebräer ausgeschlossen ist.
  9. In Apc. 10,11. Johannes schrieb nach V. den Kommentar auf Pathmos von Domitian dorthin verbannt; nach seiner Befreiung schrieb er dann auf Bitten seiner Gemeinden sein Evangelium gegen die damals entstandenen Sekten des Valentin, Cerinth und Ebion.
  10. Haußleiter teilt mir mit, daß im echten Victorin-Kommentar sich die Berechnung der Zahl 666 überhaupt noch nicht findet. Die ältere Rezension, in der Victorins Werk vorliegt, bringt die Namen Αντεμος und Γενσηρικος (!), die jüngere daneben das Irenäische Τείταν und die Lösung mit lateinischen Ziffern Diclux. Das in den Text des Apringius (s. u.) aufgenommene Stück bringt nur Teitan und Diclux. Hiernach läßt sich auch die Zeit der Bearbeitungen festlegen.
  11. L. benutzt die Sibyllinen, die Weissagungen des Hystaspes, den λόγος ἀληθτής des Hermes, vor allem eine sibyllenartige Apokalypse vom Antichrist, welche sich vielfach mit der in Commodians carmen apologeticum benutzten Quelle berührt.
  12. Er nimmt also wie Hippolyt für die Geburt Jesu das Jahr 5500 an und rechnet von da 500 Jahre bis zum Weltende.
  13. „Tum repente adversu eos hostis potentissimus ab extremis finibus plagae septentrionalis orietur“ (VII 16).
  14. Auch von ihm wird, wie von dem Nero redivivus bei Victorin eine Namensänderung vorgenommen.
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