Die Mechanik des Tischrückens

Textdaten
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Autor: C. Brandegger
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Titel: Die Mechanik des Tischrückens
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 84-85
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[084]
Die Mechanik des Tischrückens.

Es war gegen Ende vorigen Jahres, als mein Töchterchen ganz erregt aus der Schule zurückkehrte und ausrief: „Papa, der Tafelständer in unserer Schule läuft im Zimmer umher und sogar sammt der darauf gestellten Tafel, wenn man ihn nur mit den Fingern berührt.“

Ich lächelte zuerst ungläubig über diese Mittheilung, ließ mich aber doch bestimmen, die Sache selbst anzusehen, und siehe da, es verhielt sich in der That so, wie mir erzählt worden war. Der betreffende Wandschultafelständer bestand in einem gewöhnlichen staffeleiartigen Gestell aus weichem Holze, circa zwei Meter lang und ein Meter breit und hatte nach rückwärts keinen dritten Fuß, weil das Gestell nur dazu diente, mittelst desselben die große Schultafel an die Wand anzulehnen. Wie mir mitgetheilt wurde, hatte eine Schülerin den leeren Ständer von der Wand weggerückt, als sich derselbe unter der Berührung plötzlich in Bewegung setzte und gegen das vor Schreck zurückweichende Kind vorwärts rückte, bis dieses das Gestell voll Angst fallen ließ und davon lief. Ich machte nun den Versuch ebenfalls, indem ich den Tafelständer ungefähr in der Mitte seiner Länge und unter einer Neigung nach rückwärts von zehn bis fünfzehn Grad mit der Verticalfläche mit den Fingerspitzen an beiden Seiten nur so weit unterstützte, daß er nicht umfallen konnte und die obige Neigung beibehielt. Sofort gerieth das Gestell, nachdem ich ihm vorher auf der einen Seite einen ganz leichten Anstoß gegeben, in rasche pendelartige Schwingungen und bewegte sich, indem sich die Füße abwechselnd hoben und senkten, unter einem klopfenden Geräusche vorwärts. Der leiseste Druck der aufgelegten Fingerspitzen rechts oder links genügte, um den wandelnden Ständer willkürlich eine Schwenkung nach der einen oder andern Richtung machen zu lassen oder ihn nach Belieben im Kreise umherzuführen. Die Bewegung dauerte unausgesetzt so lange fort, wie der Rahmen in der angegebenen Neigung unterstützt blieb und kein besonderes Hinderniß. z. B. ein Nagel, Holzstückchen etc. oder die zu große Unebenheit in den Fugen des Fußbodens sich hemmend entgegenstellte.

Da mich diese jedenfalls auffallende Erscheinung, welche bei der Sensation, die sie in unserer Stadt erregte, noch von vielen Anderen ebenso hervorgerufen und beobachtet wurde, sehr interessirte, so ließ ich ein zweites solches Gestell mit einigen Abänderungen anfertigen, und ich hatte die Genugthuung, daß dasselbe noch besseren Dienst leistete und in der Minute gegen dreihundert Schwingungen machte, wobei es in dieser Zeit mit einem Geräusche, wie es ein auf dem Zimmerboden einherrollender Kinderwagen verursacht, um über anderthalb Meter vorrückte.

Bei einem weiteren Experimente verband ich die beiden Seitentheile des Ständers durch eine Schnur, in deren Mitte ich eine andere, über die ganze Länge des Locals reichende Schnur anknüpfte und letztere horizontal in der geeigneten Höhe, um die richtige Neigung des Gestelles zu unterhalten, mit ihrem Ende über eine Rolle führte, an dem ein entsprechend schweres Gewicht angehängt war. Wurde nun denn in dieser Weise unterstützten Rahmen ebenfalls ein leichter Anstoß gegeben, so kam er ohne alles weitere Dazuthun in dieselbe Bewegung, welche so lange andauerte, bis das Gewicht durch das Nachrücken des Ständers abgelaufen war und auf dem Boden aufsaß.

So viel ich weiß, ist die oben beschriebene physikalische Erscheinung [085] anderwärts noch nicht beobachtet worden, und ich wollte mir deshalb nicht versagen, in weiteren Kreisen darauf aufmerksam zu machen. Wie ich die Sache als Laie erkläre, so ist nach technischem Ausdrucke die „federnde“ Construction des Gestelles, in Verbindung mit der ihm gegebenen Neigung besonders geeignet, Vibrationen zu erzeugen, welche durch die kleinen Unebenheiten des Fußbodens fortgesetzt und abwechselnd von dem einen auf den anderen Schenkel des Rahmens übertragen werden, während das Fortrücken selbst nach dem Gesetze des Parallelogramms der Kräfte geschieht. Wie weit die Verhältnisse des Rahmens verändert werden können, um denselben Effect oder noch mehr zu erreichen, müßten weitere Versuche darthun. Diese aber, sowie die wissenschaftliche Begründung, will ich Competenteren, als ich bin, überlassen.

Ohne Zweifel läßt sich annehmen, daß durch diesen einfachen Apparat, den ein glücklicher Zufall geschaffen hat, für die rein mechanische Wirkung des Tischrückens, das ja seiner Zeit die absurdesten Auslegungen hervorgerufen hat, und ebenso für anderen Hokuspokus, wie er beinahe unglaublicher Weise noch jetzt von einem Slade und den Spiritisten getrieben wird, die natürlichste und anschaulichste Erklärung gegeben ist.

Es würde mich freuen, wenn sich die auch den Unterrichteten überraschende Kraftäußerung, wie sie der oben bezeichnete Apparat hervorbringt, vielleicht in irgend einer Weise für Theorie oder Praxis verwerthen ließe, und ich bin deshalb mit Vergnügen bereit, allen Denen, welche sich für die Sache interessiren, den gleichen Apparat, wie ich ihn besitze, herstellen zu lassen.

Ellwangen, im Januar 1878.
C. Brandegger.

Nachschrift der Redaction. Wir haben vorbeschriebenes Experiment mittheilen wollen, weil es besonders klar zeigt, wie leicht den Herren Geistern durch einfache physikalische Gesetze die Möbelinspirationen oftmals gemacht werden. Die Erklärung ist natürlich sehr einfach. Wenn ich ein Brett schräg gegen die Wand lehne, so rutscht es unten nach vorwärts, während es hinten an der stützenden Wand herabgleitet. Wenn ich aber jenes Fallen immer wieder durch Höherheben der rückwärts liegenden Theile ausgleiche, so kann ich das Brett wer weiß wie weit rutschen lassen, namentlich wenn ich die Rutschfläche geglättet oder mit zwei Rollen versehen habe. Ueber einen so „einfachen Zauber“ würde sich nun freilich Niemand wundern, und doch geschieht dabei im Wesentlichen dasselbe, wie bei dem wandelnden Tafelgestell, bei welchem die Mitwirkung der Rollen dadurch erspart wird, daß man eine abwechselnde, pendelnde Bewegung der beiden Füße begünstigt, wodurch die Schultafel in die Lage versetzt wird, ihren kleinen zweifelhaften Verehrern förmlich nachzulaufen, wie jene „wandelnde Glocke“ in dem bekannten Goethe’schen Gedichte. Es kann sich durch diese pendelnde Bewegung der linke und der rechte Fuß abwechselnd etwas vorschieben, und so kommt, während sich der Schwerpunkt der Erde zu nähern sucht, ein förmliches Gehen zu Stande, wie beim Menschen, dessen Laufen ja auch ein beständiges Fallenlassen und Wiederaufraffen ist, nur daß es in letzterem Falle nach vorwärts geschieht.

Was das Tischrücken betrifft, so hat bekanntlich der große englische Physiker Faraday seiner Zeit durch besonders construirte Kraftmesser gezeigt, daß dasselbe durch völlig unbewußt ausgeübten und doch sehr wenig ätherischen Muskeldruck hervorgerufen wird, der sich mit der Länge der Sitzung bei einer kleinen Gesellschaft bis zu Centnern steigert, während schon ein richtig verwendeter Druck von zehn Pfund unter Umständen genügt, den Tisch durch ein großes Zimmer zu schieben. Es ist mißlich, solche Versuche immer von Neuem erwähnen zu müssen, aber der geneigte Leser darf sich versichert halten, daß nach den Ergebnissen der vor dreißig Jahren veröffentlichten Versuche Faraday’s die Thatsache, daß ein richtig behandelter Tisch nicht rückt, viel erstaunlicher ist, als wenn er Sturm läuft. Die fliegenden Tische sind natürlich immer Betrug und werden jetzt sehr häufig von unseren herumreisenden Taschenspielern gezeigt. In der Regel handelt es sich dabei nur darum, daß das Medium, während es die Hände ganz leicht aufzulegen scheint, aus den unteren Theilen der Rockärmel ebenso zurückschnellende Tragbügel unter die Tischkante springen läßt, um so den Tisch zum blassen Schrecken aller Gläubigen höchst graziös an seinen Fingerspitzen kleben zu lassen.