Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Die Marienburg
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aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 84–87
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Die Marienburg.

Die Nummer 30 des vorigen Jahrganges der „Gartenlaube“ brachte aus der Provinz Preußen die Abbildung und Beschreibung einer der kühnsten und sehenswerthesten Bauten der Gegenwart: der Gitterbrücke über die Weichsel bei Dirschau. Heute sei es uns vergönnt, die Leser zu einem Bauwerke zu führen, welches in seiner Art nicht minder kühn und sehenswerth, ja vielleicht ohne Gleichen ist und dabei eines so großartigen historischen Hintergrundes sich erfreut, wie nur wenig andere: zur Marienburg. In noch nicht voll drei Viertelstunden trägt von Dirschau das Dampfroß uns zur Stadt Marienburg, unmittelbar neben welcher die Burg gleichen Namens sich erhebt, welche anderthalb Jahrhunderte hindurch die Residenz jener Priesterfürsten war, welche unter dem Namen der „Hochmeister des Deutschherren-Ordens“ einen Staat beherrschten, welcher manches heutige Königreich an Größe übertraf und in den Zeiten seiner höchsten Blüthe vom Ostufer der Oder bis zum esthischen Strande des baltischen Meeres sich erstreckte.

Nordfaçade des Mittelschlosses Marienburg.

Im Jahre 1230 setzten die „Deutschen Herren“ – der dritte unter den drei geistlichen Ritterorden, welche zu den Zeiten der Kreuzzüge im gelobten Lande gestiftet wurden – zuerst den Fuß in das Land der heidnischen Preußen, das ihnen der Papst und der Herzog Conrad von Polen-Masowien (die es aber beide nicht besaßen) geschenkt hatten.

Um sich vor Ueberfällen zu schützen, ließ der Landmeister Conrad von Thierberg 1276 dicht neben dem Flecken Marienburg eine Burg erbauen, mehr fest, als wohnlich, die er die „Marienburg“ nannte und welche fortan die Residenz der Landmeister war und den Ort Marienburg somit zur Hauptstadt Preußens machte. Er nannte sie auch das „Hochschloß“ oder „hohe Schloß“, und dasselbe bildet den ältesten Theil der Marienburg. Die beiden andern Theile sind das „Mittelschloß“ und die „Vorburg“. Diese entstanden in folgender Weise.

Mit dem Aufhören abendländisch-christlicher Herrschaft im gelobten Lande und Syrien durch die Erstürmung von Akkon oder Ptolemais (heutzutage „St. Jean d’Acre“), im Jahre 1291, durch die Saracenen, hatten die Hochmeister ihre (ohnehin stets nur unbedeutenden) Besitzungen im Morgenlande verloren und nahmen nun ihren Wohnsitz in der alten Dogenstadt Venedig. Jedoch schon der dritte dort lebende Hochmeister, Ritter Siegfried von Feuchtwangen, der überdies vor seiner Wahl zum Hochmeister „Landmeister in Preußen“ gewesen war, fand es unpassend, fern von dem Lande, über welches er gebot, als einfacher Bürger, ja als Flüchtling, zu leben. Er beschloß deshalb, seinen Wohnsitz mitten in das Herz des Landes, das ihm und dem Orden gehorchte, nach der Marienburg, zu verlegen. Da aber die dort vorhandenen Räumlichkeiten nicht genügend und nicht geeignet waren, den Herrscher eines Staates aufzunehmen, der schon damals einen Umfang hatte, wie etwa heutzutage Hannover, Oldenburg und Braunschweig zusammengenommen, so ließ Hochmeister Siegfried dem Hochschlosse das „Mittelschloß“ Marienburg als fürstliche Residenz und die „Vorburg“ als Wohnung der niederen Hofbeamten, der Knechte und des Trosses erbauen. In diese neu geschaffenen Räume hielt er dann am 14. September des Jahres 1309 seinen prunkvollen Einzug. Nach ihm haben noch sechzehn Hochmeister hier gethront und sind zum größeren Theile auch hier begraben; unter ihnen Werner von Orselen, der durch Meuchelmord fiel; Luther, Herzog zu Braunschweig-Wolfenbüttel, ein Minnesänger; Ludolph von Weitzau, welcher den größten Dom des Preußenlandes, die „Marienkirche“ zu Danzig, zu erbauen begann; Winrich von Kniprode, unter welchem der Deutschherren-Orden seine höchste Blüthe erreichte, und Conrad von Rothenstein, unter dem er diese behauptete; Ulrich von Jungingen, welcher die Niederlage bei Tannenberg (am 15. Juli 1410) erlitt und damit das Sinken seines Ordens sah; Heinrich, Graf Reuß zu Plauen aus der Linie Greiz, der männliche Held, des Ordens Retter in bedrängter Zeit und dann dessen Gefangener; endlich Ludwig von Erlichshausen, welcher am 6. Juni 1457 bei Nacht und Nebel als Flüchtling die Marienburg verlassen mußte, in welcher seine Vorgänger anderthalb Jahrhunderte hindurch als Fürsten regiert hatten. Sic transit gloria mundi!

[85] Nicht durch offene kühne Eroberung, sondern durch schnöden Verrath böhmischer Söldner-Häuptlinge war in dem großen Kriege, welchen (von 1451 bis 1466) der Deutschherren-Orden gegen die eigenen Stände (die Städte und den eingebornen landsässigen Adel) und das ihnen verbündete Polen führte und in welchem er zuletzt den Kürzeren zog, die Marienburg in die Hände Polens gekommen und sank nun von der Residenz eines königgleichen Fürsten zum Wohnsitze polnischer Starosten herab, die, zumeist um ihrer Bequemlichkeit willen, den Prachtbau des Schlosses durch Ein-, An- und Nebenbauten verzwickten und zerstückten. Doch muß ein billiges Urtheil den Ordensfeinden nachsagen, daß sie weniger zerstörten, als durch geschmacklose Zuthaten verunzierten, und daß sie stehen ließen, was nicht gerade einstürzen mußte.

Die „Residenz“ des Schlosses Marienburg.

Schlimmer ward’s, als 1770 mit ganz Westpreußen – das nun diesen Namen wieder annahm, während es bisher „Polnisch-Preußen“ geheißen – auch die Marienburg an Friedrich II. kam. Dieser große Monarch hatte auch nicht die kleinste romantische Ader; was nützte, stand bei ihm obenan, und so wurde denn in Folge des im Cabinet waltenden Utilitäts-Systems in einem einzigen Decennium mehr zerstört, als die dreihundertjährige polnische Herrschaft verdorben hatte. In den oberen Sälen schlugen Weber ihre Werkstätte auf; der größte Saal des Untergeschosses wurde in ein Exercirhaus, später in eine Reitbahn, und die Hauptküche des Schlosses gar in einen Pferdestall verwandelt; ja der Minister von Schrötter hatte 1803 sogar den Befehl zur gänzlichen Abtragung der „alten unnützen Burg“ bereits erlassen, als, so zu sagen, „noch in der elften Stunde“, dem alten Prachtbau die Retter nahten. Es waren Max von Schenkendorf, der begeisterte Sänger altdeutscher Herrlichkeit, und Heinrich Theodor von Schön, der in so mannichfacher Weise um ganz Preußen, namentlich um dessen gleichnamige Stammprovinz, verdiente Staatsmann. Sie waren es, die auf die große historische wie architektonische Bedeutsamkeit der Marienburg hinwiesen; dem Ersteren verdankt man die fernere Erhaltung dessen, was dem Zahne der Zeit, den Bequemlichkeits-Rücksichten der Starosten und dem Utilitäts-Principe des großen Friedrich noch nicht zum Opfer gefallen war; dem Zweiten die Wiederherstellung eines großen Theiles der verbliebenen Burgreste in ihrer früheren Pracht. Denn nur von Resten können wir bei der Marienburg noch reden; denn von dem umfangreichsten, aber freilich auch architektonisch unbedeutendsten der drei Theile des Ordenssitzes, von der Vorburg, ist fast so gut als nichts mehr übrig geblieben, und auch die beiden anderen Theile weder in ihrer Totalität mehr völlig vorhanden, noch das Erhaltene vollständig restaurirt. Gleichwohl ist das Werk der Restauration wohl als vollendet zu betrachten; wie Manches auch noch fehle: was wir sehen, ist groß und genügend, auf die Erhabenheit und Herrlichkeit der Burg in der Zeit ihrer Glanzperiode uns einen Schluß ziehen zu lassen; so daß man wohl den Wunsch zu dem seinigen machen kann, den Preußens kunstsinniger König Friedrich Wilhelm IV. am 20. Juni 1822, damals noch Kronprinz, im neu hergestellten, wieder in alter Pracht erglänzenden, fürstlichen Remter aussprach: „Alles Große und Würdige erstehe wieder, wie dieser Bau!“

Derselbe steht einzig da in seiner Art; nur im fernsten Südwesten unseres Welttheils, da, wo die Sierra Nevada ihre Schneegipfel zum Himmel hebt, findet sich in der weltberühmten Alhambra Granada’s ein der Marienburg analoger, nämlich den kirchlichen mit dem profanen Charakter vereinigender Bau, wobei aber freilich der große Unterschied obwaltet, daß die Alhambra ein Prachtbau im maurischen, die Marienburg ein solcher im gothischen Style ist. Mag der Laie durch den Glanz von modernen Königsschlössern vielleicht mehr bezaubert, mag des Frommen Gemüth in unseren herrlichen Domen tiefer ergriffen werden, – die Prachtburg der Hochmeister hat ihren eigenen Geist; eine tiefe Idee geht durch sie: die Idee der Versöhnung des Irdischen mit dem Himmlischen. –

Gehen wir nun zur Besprechung der einzelnen Theile des Prachtbaues über und beginnen wir hier, wie’s die chronologische Ordnung mit sich bringt, mit dem Hochschlosse. In diesem ältesten Theile der Marienburg waltet der Charakter der mit Einfachkeit gepaarten Stärke vor. Zu einer Zeit erbaut, wo die Herrschaft des Deutschherren-Ordens über das von ihm beanspruchte Land noch keineswegs außer Frage gestellt und selbst in der schon seit Decennien dem Orden gehorchenden Umgegend Marienburgs [86] noch keineswegs die Gefahr eines Aufstandes allzufern lag; erbaut ferner zu dem Zwecke, nicht den Hochmeister und seinen fürstlichen Hofhalt, sondern nur des Hochmeisters Stellvertreter und eine Anzahl wehrhafter, aber einfach lebender Ritter zu beherbergen, ward bei der Hochburg mehr auf Festigkeit, als auf Bequemlichkeit der Einrichtung gesehen; ihre Architektur aber war demungeachtet eine schon von hoher Vollendung zeugende, wie noch jetzt sich deutlich ersehen läßt, wo doch durch den Materialismus einer gewinnsüchtigen Zeit das Hochschloß in ein plumpes Magazin verwandelt und im Inneren und Aeußeren vielfach verunstaltet worden ist.

Wir betreten den geräumigen Burghof, und vor uns liegt im Hintergrunde das imposante Gebäude. Dasselbe bildet ein längliches Viereck von 200 Fuß Länge und 168 Fuß Breite. Das 70 Fuß hohe Haus, ehemals ringsumher mit starken Zinnen und an jeder Ecke mit kleinen viereckigen Thürmchen verziert, erhob sich in vier bis unter das Dach kunstvoll gewölbten Stockwerken und umschließt einen Hof von 102 Fuß Länge und 86 Fuß Breite, in dessen Mitte sich ein tiefer Brunnen befindet. Das Erdgeschoß der Hochburg war früher zur Vertheidigung des Wallganges mit Schießlöchern versehen. Auf den inneren Seiten der Burg liefen ehemals durch zwei Geschosse übereinander kunstvoll gewölbte Kreuzgänge herum, auf welche die einzelnen Gemächer ihre Ausgänge hatten. Jetzt ist alle Pracht, die diesen Theil der Marienburg schmückte, längst dahin; wir beschreiben daher hier minder, was jetzt ist, als vielmehr, was einst war. Da ist es denn zuvörderst der große „Capitelsaal“, welcher unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Hier hielt der Landmeister mit seinen Rittern Rath, hier ward auch manches frohe Gelage abgehalten. Derselbe hat eine Länge von 69 und eine Breite von 31 Fuß und ist gegenwärtig in drei Getreide-Schüttböden von je 23 Fuß Länge getheilt. Die Gewölbe waren hier sehr schön, was noch heutigen Tages aus den Kragsteinen zu ersehen ist.

Ein anderer, noch merkwürdigerer und sehenswertherer Bestandteil dieses Theiles der Marienburg ist die Schloßkirche, welche sich der „Hochburg“ an ihrer Ostseite anschließt und im größten Theile ihrer Pracht erhalten worden ist. Treten wir in das „Schiff“ der Kirche, so haben wir den vortheilhaftesten Standpunkt zur Betrachtung ihres herrlichen Gewölbes. Von zehn hohen, reich mit Stuccatur-Verzierungen geschmückten Bogenfenstern erleuchtet, ist der innere Raum gefällig und heiter anzuschauen, nur der Hintergrund ist mehr in ernstes Halbdunkel gehüllt. Ueberall, wohin man blickt, verkündet Kunst und Zierlichkeit die alte Zeit mit ihrem eigenen Geiste. Und an die alte Zeit mahnt’s uns um so mehr, wenn wir erwägen, daß unter dem granitnen Estrich der Kirche die Todtengruft der Hochmeister, die sogenannte „St. Annen-Capelle“, sich befindet. Schon der Eingang derselben bereitet den Eintretenden zu ernster innerer Sammlung vor, wenn er hinsieht auf die bildlichen Darstellungen dieses düsteren, an Tod und Vergänglichkeit mahnenden Inhaltes und auf die sinnigen Blumen und Laubgewinde aus Stuck und Stein, die wie ein Trauerkranz den gewölbten Portaleingang umgeben.

Zwölf Hochmeister – von Dietrich von Altenburg, dem Begründer dieser Fürstengruft (starb 1341), bis Conrad von Erlichshausen (starb 1449) – schlummern hier den ewigen Schlaf. Aber nur drei von den zwölf Grabsteinen haben die Zerstörungen der Zeit und der Menschen überdauert. Der Zufall ist selten gerecht; hier ist er’s einmal gewesen. – Die drei Grabsteine, welche verschont geblieben, sind gerade diejenigen, welche die Gebeine des Gründers dieser Ruhestätte und die der beiden größten Hochmeister bedecken: Dietrich’s von Altenburg, des ritterlichen Heinrich Reuß von Plauen, und vor Allem des großen Winrich von Kniprode, unter dem der Deutschherren-Orden sein goldenes Zeitalter feierte.

In einer hohen Mauernische an der äußeren Ostseite der Kirche steht die 29 Fuß hohe kolossale Bildsäule der heiligen Jungfrau mit dem (8 Fuß hohen) Christuskinde im Arm, in der vorgestreckten Rechten ein vergoldetes Scepter haltend. Sie hat ein faltenreiches goldglänzendes Untergewand an, über diesem einen Purpurmantel und auf dem Haupte eine goldene Krone, von welcher ein weißer Nonnenschleier herabwallt. Das Bild in seinen weit über menschliche Größe hinausgehenden Dimensionen macht einen imponirenden, aber nicht den die Seele zur Andacht hinreißenden Eindruck, den der Anblick von Gemälden oder minder kolossalen Statuen der Himmelskönigin sonst in dem Beschauer hervorruft. Das ganze Bild ist aus Stuck geformt, doch überzogen mit Pasten von farbigem und unten vergoldetem Glase, welche in die frische Stuckmasse kunstvoll eingedrückt worden. Alles daran ist mithin Mosaik, ein Kunstwerk, auf dessen Vorbilder zwar dunkle Nachrichten hindeuten, das aber gegenwärtig in Europa schwerlich noch seines Gleichen hat. An dasselbe knüpfen sich manche Legenden; so namentlich auch die, daß zwei polnische Geschützmeister, die bei der Belagerung des Schlosses durch die Polen und Litthauer, im Jahre 1410, nach einander ihre „Donnerbüchsen“ unter frechem Spott auf das für ein Palladium geachtete Bild der Jungfrau[WS 1] gerichtet, durch ein Wunder ihr Augenlicht verloren, und (wie der Chronist hinzufügt) „blind blieben bis an ihren letzten Tag;“ was insofern eine etwas auffällige Aeußerung ist, als, wie er bemerkt, im zweiten Falle das Geschoß auf der Stelle platzte und seinen Meister, wie Alle, die es bedient, in Stücke zerriß. Dieser zweite Frevler ist also jedenfalls nicht lange blind gewesen.

Gehen wir nun zum zweiten Theile der Marienburg, zum Mittelschlosse, über. Dasselbe, der Wohnsitz des Hochmeisters, nachdem derselbe seine Residenz in das Ordensland verlegt, ward in der ersten Hälfte des 14. Säculums (genau läßt sich die Zeit nicht angeben) erbaut. Es umgibt mit drei Flügeln – einem nördlichen, östlichen und westlichen – einen weiten, fast viereckigen Platz, welcher im Süden offen und von einem Graben begrenzt ist. Von den drei Flügeln – von denen der westliche 306, der östliche 276, der nördliche aber nur 256 Fuß lang ist – betrachten wir diesen letzteren zuerst. Die Nordfaçade, die unser Bild hier zeigt, mit ihren langen Reihen hoher gothischer Fenster und mit stolzen Zinnen geschmückt, imponirt durch ihre Hoheit. An beiden Seiten steigen stattliche Giebel auf, mit gothischen Thürmchen, Bogenblenden und Stuccaturverzierung reich versehen. Davor steht links ein altersgrauer Wartthurm, rechts ein schlanker achteckiger Thurm, über die vielzinnige Schloßmauer sich erhebend. Ueber eine breite Brücke gelangt man in das zum Schloßhof führende Durchgangsthor, dessen Portal ebenfalls mit Zinnen und zwei gothischen Spitzthürmen verziert ist. Zwischen ihnen leuchtet, von der rothen Schloßwand herab, das hochmeisterliche Wappen: ein schwarzes Kreuz mit goldener Einfassung und schwarzem Adler innen, auf grauem Steinschilde. Im oberen Geschosse dieses Schloßflügels befand sich einst das Krankenhaus der Ordensritter (die „Herren-Firmarie“, also genannt zum Unterschied von der „Diener-Firmarie“, welche die kranken Knechte und Reisigen aufnahm, und auf der „Vorburg“ sich befand), sowie die Wohnung des Großcomthurs, eines der vornehmsten Ordensbeamten, aus zwei prachtvollen, von Säulen getragenen Sälen und mehreren anderen Gemächern bestehend. Gegenwärtig dient dieser Flügel des Schlosses zur Unterbringung verschiedener Dikasterien und zu Wohnungen der bei ihnen angestellten Beamten.

Unmittelbar an den nördlichen schließt sich der Ostflügel an. Einen guten Theil desselben nahmen ehemals die „Gastkammern“ ein, welche zur Beherbergung von Gästen, an denen es dem Orden nie fehlte, dienten. Jetzt dient dieser ganze Flügel zu einem Kornmagazin, und nichts ist von seiner ehemaligen Pracht geblieben.

So bleibt denn vom „Mittelschlosse“ nur noch der westliche Flügel, der sich in einer Länge von ca. 150 Schritten an der rechten Seite des Schloßhofes hinzieht, und in dem Obergeschosse seines Haupttheils die ehemalige hochmeisterliche Wohnung, kurzweg die „Residenz“ genannt, enthält, die jetzt in ihrer Herrlichkeit durch die patriotischen Bemühungen von Corporationen, fürstlichen und Privatpersonen wieder hergestellt ist. Dieser Haupttheil dieses Flügels, diese „Residenz“, erstreckt sich von Norden nach Süden in einer Breite von 110, und von Osten nach Westen in einer Länge von 170 Fuß. Auf der Hofseite hat dieses herrliche Gebäude nur eine Höhe von 36 Fuß und liegt hier mit zwei Geschossen 28 Fuß tief in der Erde; die äußere oder Nogat-Seite dagegen erhebt sich von dem Grunde des trockenen Grabens, der es umgibt, bis zu den Zinnen 76 Fuß hoch, und auf dieser Seite liegen die Kellergeschosse über der Erde. Die Seite 85 stehende Abbildung stellt die Marienburg auf dieser Seite dar.

Doch kehren wir zur „Residenz“ zurück. Durch das Gemach des Thorwart, in welches wir vom Schloßhofe schreiten, führt eine breite steinerne Treppe in das obere Prachtgeschoß. Wir gelangen zunächst in den sogenannten „obern Gang“, eine hohe Bogenflur mit mächtig emporstrebenden schlanken Säulen. In der Breite seiner äußeren Mauer geht ein runder Brunnen, aus Stein gemauert, [87] 55 Fuß tief hinab durch alle Stockwerke, so daß man in allen schöpfen kann. Links tritt man in „Meisters großen Remter“, einen Prachtsaal von 45 Fuß Länge und 30 Fuß Breite, in welchem der Hochmeister fremde Fürsten und Gesandte empfing und fürstlich bewirthete. Die helle Beleuchtung des Saales an drei Seiten durch die doppelte dicht über einander befindliche Fensterreihe, die reizende Architektur mit den schlanken Granitpfeilern zwischen den Fenstern, das hohe Gewölbe, getragen von einem einzigen, nur 1 ½ Fuß dicken Granitpfeiler, endlich die freundliche, lachende Aussicht über die Nogat weithin in die ihrer Fruchtbarkeit wegen berühmten Niederungen: Alles dies muß einstens nicht wenig dazu beigetragen haben, zur Lust und Freude zu stimmen in diesem der Lust und Freude geweihten Raume. An eine ernste Episode jedoch mahnt eine über dem mächtigen Kamine eingemauerte Steinkugel.

Es war im Spätsommer des Jahres 1410, wenige Wochen nach der unglücklichen Schlacht bei Tannenberg, welche – eine der bedeutendsten, welche die Weltgeschichte kennt, indem hier mehr denn 200,000 Menschen im blutigen Kampfe einander gegenüberstanden, und fast 80,000 mit ihren Leichnamen die Wahlstatt bedeckten – der Deutschherren-Orden gegen die zwiefache Uebermacht der Polen, Litthauer und Tataren verloren hatte, als des Ordens Hauptfeste, die „Marienburg“, in die der tapfere Comthur, Graf Heinrich Reuß von Plauen, mit 5000 Mann sich geworfen, von 100,000 Polen und Litthauern unter dem Könige Wladislaw Jagello belagert ward. Täglich donnerten die Geschütze des Feindes gegen die gewaltigen Mauern der Burg, und schreckvoll schallte der wilde Kriegsgesang der Barbaren über die Nogat herüber; aber das Häuflein der Ordenskrieger zagte nicht und die Mauern wankten nicht. An eine Aushungerung der wohlverproviantirten Burg war auch nicht zu denken; im Heere des Königs aber brach, baldigen Aufbruch bedingend, die Pest aus, und so beschloß Jagello denn, um nicht unverrichteter Sache abziehen zu müssen, durch Verrath der Burg sich zu bemächtigen, da er sie nicht durch Tapferkeit zu nehmen vermochte. Der Verräther fand sich in der Person eines der Diener Plauens, welcher dem Könige zu wissen that, daß an einem bestimmten Tage, einem Festtage des Ordens, die Gebietiger und Ritter alle im „großen Remter“ mit einander bankettiren würden, und der zugleich durch eine ausgehängte rothe Mütze den Geschützmeistern des Königs, die jenseit der Nogat bereit standen, die Richtung angab, in der sie den das ganze Deckengewölbe des Saales tragenden Pfeiler treffen könnten. Donnernd fuhr zur verabredeten Stunde die gewaltige Steinkugel durch ein Fenster, verfehlte aber ihr Ziel: um wenig mehr als Handbreite ging sie an dem Pfeiler vorüber und schlug in den steinernen Kamin, wo sie, eingemauert zum ewigen Wahrzeichen, noch heutigen Tages zu schauen ist. Der schändliche Plan, mit einem Schlage alle Häupter des Ordens zu vernichten, war somit vereitelt, und den Verräther traf die wohlverdiente Strafe; der Polenkönig aber zog bald darauf spott- und schmachbeladen ab.

Zehn von der königlich preußischen Familie geschenkte Fenster mit prächtiger Glasmalerei, Scenen aus der Geschichte des Ordens und der Marienburg darstellend, erhellen den Saal. Der Fußboden ist mit bunten Thonfließen belegt, und an den Wänden ziehen sich Steinbänke hin, mit rothen Decken verziert. Aus den Mauerblenden aber blinken die ganz neuerdings (1855–56) von renommirten Künstlern al fresco gemalten Bildnisse von zehn Land- und Hochmeistern, an eine große Aera der Weltgeschichte mahnend, auf den Beschauer herab. Verweht ist längst der Staub dieser Helden, doch ihr Name, ihr Gedächtniß ist es nicht!

An die Ostseite dieses Saales stößt „des Meisters kleiner Remter“, wo das herrliche Gewölbe ebenfalls von einem einzigen Pfeiler getragen wird. Hier speiste der Hochmeister mit den höchsten Würdenträgern und den Comthuren, öfter auch mit den Abgeordneten der Städte des Ordenslandes und des eingeborenen Adels. Es ist ein traulicher Raum, dessen Wände ehemals mit den Portraits der hier residirenden Hochmeister geschmückt waren, während jetzt nur noch deren Wappen auf den Fenstern in Glasmalerei prangen. Eine schmale, niedrige Thür führt von hier in „des Meisters Stube“, deren Wände grün und deren Fußboden mit rothen und weißen Fließen schachbretartig ausgelegt ist. Ein sanftes, mildes Licht fällt durch vier hohe Fenster in diesen traulichen Raum, an welchen das etwas größere, aber minder ansprechende „Gemach“ des Meisters stößt. Aus diesem gelangt man in den Flur, und durch eine Vorhalle in „des Meisters Hauscapelle“, die 35 Fuß lang, 19 Fuß breit und 20 Fuß hoch ist. Ein lichtes Sternengewölbe schwebt hier über dem Altar; jeder Bogen aber, jedes Fenster, jede Verzierung stimmt das Herz zur Andacht, wenn man sich erinnert, wie an dieser Stätte weitgebietende Fürsten vor dem König aller Könige, dem Herrn aller Herren ihre Kniee beugten und bei ihm Trost und Rath suchten, wenn Kummer und Sorge ihr Herz beschwerte. Aber auch eine schaurige Erinnerung knüpft sich an dieses Betgemach. An dieser gottgeweihten Stätte ward nämlich – es war am 16. des vorletzten Monats des Jahres 1330 – Werner von Orselen, der siebzehnte in der Reihe der Hochmeister und der dritte der auf der Marienburg residirenden, von Johann v. Endorff, einem tiefgesunkenen Ordensbruder, gräuelvoll ermordet.

Aus der anstoßenden (jetzt waffenleeren) „Rüstkammer“ führt eine steinerne Treppe zu dem 97 Fuß langen, 48 Fuß breiten und 29 Fuß hohen „Conventsremter“, wohl dem herrlichsten unter den Prachtsälen der Marienburg. Andachtsschauer durchrieseln Jeden, der diesen großartigen Raum betritt[WS 2] , den vierzehn hohe Spitzbogen-Fenster, von farbigem Glase und mit sinniger Malerei geziert, erhellen. Die Kunst und Harmonie, die hier herrscht, die schöne Idee, die in diesem Bau sich ausspricht, ist ein glänzendes Zeugniß von hoher Bildung des unbekannten Baumeisters wie des Ordens, und ein Beweis, daß es zur Zeit des Mittelalters doch nicht so traurig um Kunst und Wissenschaft gestanden, und überhaupt nicht so dunkel ausgesehen haben kann, als man gewöhnlich annimmt. In diesem Prunksaal verbrachten die auf der Marienburg wohnenden Ordensbrüder, vom Comthure abwärts, ihre Mußestunden; hier speisten, zechten, plauderten und sangen sie; hier empfingen sie Ankömmlinge aus „dem Reich“, aus Welschland, Dänemark und Frankreich; hier gedachten sie der fernen Heimath; hier sahen sich Freunde nach Jahre langer Trennung wieder, hier schieden Andere für ewig. Von den Fenstern dieses langgestreckten Saales überschaute man den „Herren-Parcham“, den Begräbnißplatz der Ritter. Welch’ eine Fülle von Erinnerungen! Sie werden noch tiefer empfunden, wenn wir auf die hohen, buntgemalten Bogenfenster schauen, welche neuerdings von den Städten Westpreußens in ihrer alten Pracht wieder hergestellt worden sind.

Mit der fragmentarischen Schilderung dieses Prachtsaales enden wir unsere Beschreibung des „Mittelschlosses“, und überhaupt der „Marienburg“, da der dritte Haupttheil derselben, die „Vorburg“, welche einst eine Längenausdehnung von 440 und eine Breite von 296 Schritt hatte, bis auf wenige Mauerüberreste und den „Buttermilchsthurm“ vom Erdboden verschwunden ist.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Junfrau
  2. Vorlage: betrittt