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Titel: Die Kunst des Sehens
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aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 343
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[343] Die Kunst des Sehens. Jacques Arago, der bekanntlich blinde Reisende und Bruder des vor einigen Monaten verstorbenen berühmten Astronomen und Naturforschers, erzählt in seinem neuesten Werke: „Die beiden Oceane,“ folgende merkwürdige Geschichte.

Daniel Davidson, der Sohn eines reichen Kaufmanns in London, hatte das Augenlicht in einem Lebensalter verloren, wo man diese unermeßliche Wohlthat noch nicht würdigt. Er hatte kaum angefangen zu sehen, als sich die Sonne für ihn verschleierte und die Wissenschaft bot später vergebens alle ihre Bemühungen auf, um ihm das wiederzugeben, was der Himmel ihm geraubt hatte.

Auf den Arm Sir Davy’s, seines Hausarztes, gestützt, ging er eines Tages durch Regentstreet in der Nähe des Cirkus, als er, durch die wiederholte Warnung eines Kutschers erschreckt, sich von dem Arme seines Führers losriß und nach dem Trottoir hineilt.

Der Wagen rollt heran und stößt Davidson über den Haufen. Er zerschlägt sich die Stirn an einem hervorragenden Steine, springt wieder auf und stößt ein wahnsinniges Geschrei aus. Sir Davy eilt schnell herbei.

„Was fehlt Ihnen, mein Freund?“ fragte er ihn im Tone der Besorgniß.

„Ich werde wahnsinnig! Ich bin wahnsinnig!“ antwortet ihm Davidson, indem er die blutigen Hände vor die Augen hält.

„Beruhigen Sie sich, Daniel, diese Wunde ist durchaus nicht gefährlich.“

„Das ist es auch nicht, was mich beunruhigt und schreckt; ich fürchte zu träumen, ich wage nicht, die Augen aufzuschlagen!“

„Warum nicht?“

„Gott ist Gott – ich sehe, ich sehe! Hier ist etwas, ganz nahe bei mir – ich berühre, was ich berühren will; meine Sinne verwirren sich; ich fürchte mich!“

„Beruhigen Sie sich und preisen Sie den Ewigen,“ sagt der Doctor, indem er ihm mit seinem Taschentuche die Augen verbindet; „rühren Sie diesen Schleier nicht an, er wird Ihr zweiter Retter sein. Kommen Sie, mein Freund, kehren wir nach Hause zurück; die Menge, welche uns umgiebt, betet für Sie; hier ist ein Wagen, steigen wir ein.“

Einige Augenblicke später betete Davidson’s Familie auch; nur der Doctor allein fürchtete, daß blos ein rascher Blitz an den Augen seines Freundes vorübergezuckt sei und auf alle Fälle rief er die Wissenschaft zu Hülfe, deren der Himmel doch nicht bedurfte.

Sobald Sir Davy sich überzeugt hatte, daß Davidson in der That das Augenlicht wieder erhalten, verzehnfachte er die angelegten Binden, sperrte seinen Freund in ein dem Lichte verschlossenes Gemach und gewöhnte ihn ganz langsam und allmälig an die Strahlen des Tages.

Endlich war der Tag der großes Prüfung angebrochen. Davy versammelte in einem Salon die gleichzeitig zitternde und glückliche Familie Davidson’s und einige seiner gelehrten Collegen, die ihm im Nothfalle beistehen und die von ihm vorausgesehenen Phänome studiren sollten.

Tiefes Schweigen herrschte in dem von einem gedämpften Lichte erhellten Gemach.

„Nehmen Sie meinen Arm,“ sagte der Doctor zu Daniel, „und setzen Sie sich neben mich in einen Sessel. Sie zittern, mein Freund, Sie sind aufgeregt; wenn Sie nicht die Kraft haben, sich zu beruhigen, wenn Sie nicht den Muth besitzen, die unerwartete Wohlthat zu empfangen, womit der Allmächtige Sie beschenkt hat, so will ich lieber noch warten; versprechen Sie mir, ruhig zu sein?“

„Ja, mein Freund; aber dieser Augenblick ist so feierlich, daß ich erst Gott um Kraft dazu bitten muß.“

„Beten Sie und beruhigen Sie sich.“

„Mein Gott, stehe mir bei,“ betete Davidson, „und Dein Wille geschehe! Wer ist denn bei mir?“

„Ihre Mutter, welche auf ihren Knien liegt und betet,“ antwortet der Doctor, „Ihre Schwestern, Ihr Vater und einige Ihrer besten Freunde.“

„Gut, gut! Gott möge sprechen, ich unterwerfe mich.“

„Wohlan! Aber gehorchen Sie; thun Sie genau, was ich Ihnen befehlen werde; wenden Sie den Kopf weder rechts noch links, sehen Sie gerade vor sich hin, wo ich Ihnen sagen werde hinzusehen.“

„Ihr Schüler wird Ihnen gehorchen,“ antwortete Daniel mit einem wehmüthigen Lächeln; „reden Sie.“

„Sie wissen, mein Freund, was ein Tisch ist, ein Hund, ein Kind?“

„Ja.“

„Wohlan! Zwei Schritte von uns habe ich auf einen Tisch einen Hund und ein Kind gesetzt; sie sind da und die ersten Gegenstände, welche Sie betrachten, welche Sie sehen sollen. Aber nur nicht zu viel Gemühsbewegung, sonst verzögere ich noch die Prüfung; Muth, Daniel, hier ist das Licht.“

Davidson ward kreideweiß und augenblicklich ward ihm die Binde wieder angelegt.

„Ich bitte um Verzeihung, mein Freund, ich bitte um Verzeihung,“ rief Daniel schluchzend; „wenn ich bedenke, daß ich morgen, ja vielleicht heute noch meiner Mutter entgegengehen kann, daß es mir verstattet sein wird, meine Brüder aufzusuchen, ein Lächeln durch ein Lächeln zu erwiedern, dann schwindelt mir der Verstand und ich fürchte mich vor dem Lichte fast eben so sehr, wie vor der Finsterniß.“

„Entfernen Sie sich, entfernen Sie sich,“ sagte Sir Davy in strengem Tone; „entfernen Sie sich, meine Freunde; Daniel hat keinen Muth. Er leide demnach die Folgen seiner Feigheit.“

„Nein, Doctor, jetzt bin ich ganz ruhig; meine Thränen haben mir wohlgethan, jetzt gehorche ich, befehlen Sie nur.“

„Ich glaube Ihnen. Eben fragte ich Sie, ob Sie wüßten, was ein Kind und was ein Hund ist und Sie haben mir geantwortet, Sie wüßten es. Hier auf diesen Tisch habe ich das Kind und den Hund gesetzt. Betrachten Sie nur diese, ich bitte Sie darum.“

Die Binde ward zum zweiten Male weggenommen.

„Mein Gott, wie seltsam!“ rief Davidson; „was ist das, was sich da bewegt?“

„Es ist ein Kind und es ist ein Hund, alle beide auf einem Tische.“

„Welches ist aber das Kind? – Welches ist der Hund? Ich kann es nicht wissen, denn ich sehe sie nicht mit meinen Fingern; so kann ich sie auch nicht unterscheiden.“

„Gut, so wollen wir sie Ihnen auf Ihre Art zeigen.“

Die Binde ward wieder um Davidson’s Augen geschlungen, er that zwei Schritte und unterschied durch Betasten mit leichter Mühe die beiden ihm vorgelegten Gegenstände.

„Nun kehren Sie auf Ihren Platz zurück,“ sagte der Arzt.

Und während er sich setzte, ließ man das Kind und den Hund die Plätze wechseln.

„Wohlan,“ fragte Sir Davy, „jetzt werden Sie sich wohl nicht irren; bezeichnen Sie das Kind und bezeichnen Sie den Hund.“

„Das ist nicht schwer,“ sagte Davidson; „der Hund sitzt links und das Kind sitzt rechts.“

Er hätte aber gerade das Gegentheil sagen sollen.

Ich sage es noch einmal, man lernt sehen, wie man lesen und gehen lernt, das Kind bedarf des Gängelbandes, denn es versteht die Entfernungen eben so wenig zu berechnen, als die Gefahren und Davidson war wieder ein Kind geworden; man zeigte ihm die Flamme einer Kerze und er verbrannte sich den Finger, als er darauf zeigen wollte. Auf der Straße ging er immer mit vor sich hingestreckten Armen, weil er fortwährend gegen etwas anzustoßen fürchtete, was noch weit von ihm entfernt war und eines Abends, als er zum ersten Male den Mond am Himmel stehen sah, fiel er rücklings nieder und sagte zu dem Arzte: Gott wolle ihm eine feurige Kugel auf den Kopf werfen.

Indessen machte er doch stete Fortschritte in der für ihn so neuen Fähigkeit; die glückliche Familie Davidson’s belächelte die Bemerkungen des Neulings und ohne Furcht vor der Zukunft versuchte man, ihm die Wirkungen der Perspektive begreiflich zu machen, von denen er sich keine Rechenschaft zu geben vermochte.

Sechs Monate lang sah Davidson die Sonne aufgehen, die Wälder grünen, den Strom fließen, die Blumen blühen, er bewunderte die regelmäßige Aufeinanderfolge des Tages und der Nacht; er begriff die Uebereinstimmung des Blickes mit dem Worte und alle Morgen und Abende drückte er einen Kuß auf die Stirn seiner Mutter.

Eines Morgens erwacht er.

„John, warum öffnest Du die Fensterläden nicht?“

„Mein Herr, sie sind längst geöffnet.“

„Ist das wahr? O ewiger Gott, dann bin ich wieder blind geworden.“

Ein Jahr später begrub man in dem Garten von Bedlam einen Wahnsinnigen Namens Daniel Davidson, der sich mit einer Gitterstange seiner Zelle die Halsadern aufgerissen hatte.