Die Jungfraubahn
Die Jungfraubahn.
Der kühne Gedanke, eine Eisenbahn auf den Gipfel der Jungfrau zu führen, erscheint auf den ersten Blick so verwegen, daß er naturgemäß bei seinem ersten Auftreten gerechtes Aufsehen erregte. Da zugleich einige der ersten Konzessionsgesuche den Stempel einer überschwenglichen Phantasie und einer vollständigen Unkenntnis des Hochgebirges zur Schau tragen, so war es nur begreiflich, daß sich gerade die Bergkundigen dem Projekte gegenüber sehr skeptisch verhielten und es zum Teil geradezu mit Mißtrauen aufnahmen.
Und doch hat die Idee einen gesunden Kern: sie ist durchführbar und keine leere Phantasterei. Nach langer Prüfung der Frage und eingehendster Erwägung aller Faktoren erteilten denn auch die schweizerischen Behörden im Dezember vorigen Jahres Herrn Guyer-Zeller in Zürich die Konzession zum Bau und Betriebe der Bahn. Und damit ist wohl die Bahn selbst so gut wie gesichert, denn Guyer-Zeller ist ein so zielbewußter und energischer Kopf, daß ihn die Größe der Aufgabe eher reizen als abschrecken dürfte. Wenn Artikel 8 der Konzession für die letzte Strecke „Eiger - Jungfrau“ der Regierung eine spätere Genehmigung der Detailpläne vorbehält und dieselbe von dem Nachweis abhängig macht, daß Bau und Betrieb der Bahn „in Bezug auf Leben und Gesundheit der Menschen keine ausnahmsweisen Gefahren nach sich ziehen werde“, so ist auch hierin kein Hindernis zu erkennen.
„Aber wir haben doch genug Bergbahnen - wozu nun noch eine neue!“ wird der geneigte Leser vielleicht denken, und nicht mit Unrecht, denn wir haben nicht nur genug, sondern viel zu viel Bergbahnen. Aber alle diese Bahnen zeigen uns ein und dasselbe Bild, denn ob wir den Rigi befahren oder die paar Dutzend anderen Bahnen, die seither nach der Schablone der Rigibahn erbaut wurden, so bietet sich uns immer nur ein und dasselbe Thema in etwas anderer Variation: es eröffnen sich stets auch Voralpenrundsichten, nie aber intimere Einblicke in die Hochgebirgswelt. Selbst die Wengernalpbahn führt nur am Hochgebirge vorbei, aber nicht in dieses hinein.
Und doch giebt es Tausende und aber Tausende, die sich danach sehnen, einmal einen offenbarenden Blick in die geheimsten Tiefen der Hochwelt zu gewinnen, denn ihre Kräfte und ihre Mittel reichten bisher hierfür nicht aus. Wenn nun hier die Technik in den Riß tritt und durch ein kühnes Werk Bahn bricht, so erfüllt sie nichts anderes als ein Gebot des Zeitgeistes.
Daß wir es mit keinem Hirngespinste, sondern mit einer technisch vollständig reifen Frucht zu thun haben, wird ohne weiteres aus folgendem klar. Schon heute führt bis in die halbe Höhe der Jungfrau eine bereits gut rentierende Eisenbahn, die Wengernalpbahn. Es war deshalb eine treffliche Idee Guyer-Zellers, die oberste Station dieser Bahn, die Scheidegg mit 2066 Metern Meereshöhe, als Ausgangspunkt für die Jungfraubahn zu benutzen. (Siehe oben unsere Kartenskizze.) Von hier aus führt die Bahn mit ganz mäßigen Steigungen bis zum Gipfel empor. Die größte Steigung beträgt bloß 26%, also nicht einmal die Hälfte der Maximalsteigung der Mürrenbahn (60%) oder der Bahn von Territet-Glion (57%).
Bis zum Eigergletscher fährt die Bahn oberirdisch, von dort an durchweg im Tunnel bis zum Gipfel. Dort wird die Aussicht durch Zwischenstationen derart erschlossen, daß die ganze Majestät des Hochgebirges zu vollster Entfaltung gelangt. Diese Zwischenstationen sind 1. Eigergletscher, 2280 Meter, 2. Eiger, 3221 Meter, 3. Mönch, 3623 Meter, 4. Jungfrau, 4100 Meter.
Von der Station Jungfrau bis zum allerhöchsten Gipfel, 4166 Meter, wird für alle Freunde der Bequemlichkeit ein „Lift“ in den Fels gesprengt; für solche Passagiere aber, die lieber gehen wollen, soll eine Wendeltreppe um den Aufzug herum emporführen.
Studieren wir nun aber vorerst der Reihe nach die Zwischenstationen: 1. Station Eigergletscher, 2280 Meter. Während wir auf der Scheidegg noch inmitten der Grasregion stehen, sehen wir uns hier angesichts der furchtbaren Dolomitwände des Eigers. Riesige Moränen und ein wundervoll zerklüfteter Gletscher umgeben uns in nächster Nähe – unmittelbar von der Station aus beginnt eine der dankbarsten Gletscherwanderungen. 2. Station Eiger, 3221 Meter. Sie liegt auf der Südseite des Eigers, nördlich der Bergliklubhütte, und erschließt einen Blick in den unteren Grindelwaldgletscher, wie er bisher nur Touristen ersten Ranges vergönnt war. Der untere Grindelwaldgletscher ist nicht nur einer der größten Gletscher der Gesamtalpen, sondern überhaupt der großartigste und schönst aufgebaute aller Gletscher ohne Ausnahme. Gleichzeitig ist seine Gipfelumrandung unvergleichlich. Die Schreckhörner, 4080 Meter, die Viescherhörner, 4049 Meter, das Finsteraarhorn, 4275 Meter, der Eiger, 3975 Meter, der Mönch, 4105 Meter, das Lauteraarhorn, 4043 Meter, etc. sind alles Gipfel allerersten Ranges, und sie alle liegen in unmittelbarster Nähe. - Noch interessanter aber wird 3. die Station Mönch, denn hier, bei ungefähr 3600 Metern Meereshöhe, sind wir gerade auf der Wasserscheide von Rhein und Rhone. Wir sehen einerseits ins Wallis, anderseits ins Berner Oberland hinunter. In mächtigem Abstürzen sehen wir den Guggigletscher zu unsern Füßen seine Eislabyrinthe zu Thal ergießen, indes uns der große Aletschgletscher spielend zum Eggishorn hinübergeleitet. Jungfrau, 4166 Meter, Mönch, 4105 Meter, Trugberg, 3933 Meter, Roththalhorn, 3946 Meter, sind von dieser Station aus zu Fuß leicht in etwa 11/2 Stunden zu ersteigen, und es ermöglicht uns diese Station somit, die interessantesten Hochgipfelbesteigungen mit einem Minimum von Anstrengung auszuführen. Gerade darin, daß die Jungfraubahn nicht nur auf einen Hochgipfel führt, sondern die Besteigung einer ganzen Reihe von Hochgipfeln ersten Ranges zu einer in höchstem Grade genußreichen und anstrengungslosen gestaltet, liegt ihr tieferer Wert und eine gewisse Garantie für ein gesundes Gedeihen des Unternehmens, denn die Station „Mönch“ ist geradezu ein Dorado für mittelmäßige Bergsteiger und ermöglicht es, einige Hochgipfel ersten Ranges ohne Ueberanstrengung zu bezwingen und Hochgipfelrundsichten bei ungeschwächtem Körper auf sich einwirken zu lassen.
4. Die Station Jungfrau liegt 66 Meter unter dem höchsten Gipfel der Jungfrau. Auch sie wird wie alle früheren Stationen direkt als eine Art „Rathauskeller“ in den Fels eingesprengt. Von ihr aus führt noch 66 Meter höher direkt ein „Lift“ (ähnlich jenem Aufzug des Eifelturms) zum höchsten Gipfelpunkte. Dieser erhält Wirtschaftsräume und ein wissenschaftliches Observatorium. Beide werden aber so eingerichtet, daß sie in keiner Weise den Berg verunstalten. Von unten wird man sie daher kaum bemerken können. Diese Gipfelstation wird nun ein überwältigendes Hochgebirgsbild entrollen, ein Bild, das um so ergreifender wirken wird, weil es uns völlig unvermittelt entgegentritt. Wir werden eben nicht wie bei einer Besteigung allmählich an die Abgründe und die Böschungen gewöhnt und dagegen abgestumpft, sondern wir treten völlig frisch und eindruckskräftig vor das urgewaltige Bild, und die Wirkung muß daher wahrhaft erschütternd sein.
[317] Aus unsern Ansichten läßt sich leicht ein genügend klares Bild der Bahn gewinnen. Die obere zeigt das Bahnprojekt von der letzten Station Scheidegg der Wengernalpbahn bis zum Gipfel, die untere veranschaulicht des Näheren den Anschluß der Bahn an die bestehende Wengernalpbahn; die ausgezogene Linie auf beiden zeigt das oberirdische Stück, die punktierte Linie den im Tunnel geführten Teil der Bahn. – Was die technische Seite des Unternehmens betrifft, so ist diese in den Grundzügen schon ziemlich abgeklärt. Nördlich von Lauterbrunnen, in der Nähe der „Hunnenfluh“ werden zwei Turbinenanlagen hergestellt und dadurch einige tausend Pferdekräfte gewonnen. Die Lütschine führt überreich Wasser dazu. Die so erzielte Kraft wird mittels elektrischer Stromleitung bergauf geleitet und dort zum Bau, zur Bohrung, zum Betriebe etc. verwendet.
Die Steigungen sind so gering, daß sie ohne Drahtseil überwunden werden können. Sie betragen im Maximum bloß 26 % und elektrische Firmen ersten Ranges verbürgten sich bereits für vollständig gefahrlose Anlage und Betriebsweise der Bahn.
Die Gesamtlänge der Tunnels erreicht nur etwa zwei Drittel jener des einzigen großen Gotthardtunnels – technisch sind also schon wesentlich größere Arbeiten ausgeführt worden.
Aus diesen kurzen Notizen ist daher leicht ersichtlich, daß die Aufgabe keine unmögliche ist. Der Schlüssel zur Lösung der ganzen Aufgabe liegt natürlich in einer genauen Vermessung des Baugebietes; aber auch eine solche wird entschieden durchführbar sein, wenn auch ihre Durchführung ganz außerordentliche Anstrengungen und Strapazen mit sich im Gefolge führen wird.
Ich betone darum ausdrücklich, daß die Gipfelpartie der Jungfrau noch keineswegs so eingehend studiert ist, um schon jetzt zu gestatten, auch nur annähernd etwas Sicheres über die Spur der Bahn für die Strecke von der Station Mönch bis zum Jungfraugipfel zu sagen. Genaue Vermessungsresultate und [318] zuverlässige Kostenberechnungen sind noch abzuwarten, denn die vorläufigen Schätzungen scheinen jedem Kenner wesentlich zu niedrig gegriffen.
Von der Höhe der Bausumme wird aber in erster Linie die Rentabilität abhängen, und nach den bisherigen Erfahrungen läßt sich in Bergbahnangelegenheiten nicht vorsichtig genug sein.
Die Gesamtfahrzeit von der Scheidegg bis zum Jungfraugipfel soll ungefähr zwei Stunden betragen. Wie die wissenschaftliche Untersuchung ergab, erleidet bei passiver Beförderung der menschliche Organismus auch in der Höhe von 4000 Metern keine Störung, so daß jedermann, der eine längere Eisenbahnfahrt erträgt, auch diese Fahrt unbedenklich wagen darf. Nur hat in seinem Gutachten Professor Kronecker (Bern) allen „bergungewohnten“ Reisenden abgeraten, länger als zwei bis drei Stunden auf der Gipfelstation zu bleiben, um so jeder Gefahr, von der „Bergkrankheit“ befallen zu werden, vorzubeugen.
In etwa fünf Jahren soll der Bau durchgeführt werden und die erste Strecke, Scheidegg bis Eigergletscher, womöglich schon dieses Jahr gebaut werden. Damit würden den weitesten Touristenkreisen, selbst der zarten Damenwelt, die großartigsten Offenbarungen des Hochgebirges erschlossen.
Interlaken. S. Simon, Ingenieur.