Die Jungfernrede des deutschen Kronprinzen

Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Die Jungfernrede des deutschen Kronprinzen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 107
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
siehe auch Erklärung in Heft 12 dieses Jahrganges
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[107] Die Jungfernrede des deutschen Kronprinzen. Bei seiner letzten Anwesenheit in dem altehrwürdigen Cöln besuchte der deutsche Kronprinz in Begleitung des Oberbürgermeisters Dr. Becker den bekannten Isabellensaal im Gürzenich. Als der Kronprinz in den Saal eintrat, schaute er sich um, und auf eine Stelle hinweisend, wandte er sich an Dr. Becker mit den Worten:

„Sehen Sie, Herr Oberbürgermeister, an dieser Stelle habe ich einmal im schwersten Sinne des Wortes Blut geschwitzt.“

„Wieso, Kaiserliche Hoheit?“ fragte Dr. Becker, erstaunt darüber, daß ein so hoher Herr gleich anderen Sterblichen auch „Blut schwitzen“ könne, wie man zu sagen pflegt, wenn man sich in einer fürchterlichen Verlegenheit befindet und vergeblich Alles aufbietet, sich aus derselben zu befreien.

In seiner liebenswürdigen, jovialen Weise, die ihn überall so außerordentlich beliebt gemacht hat, erzählte der Kronprinz sodann Folgendes:

„Es war während der ersten Zeit meines Bonner Universitätbesuches, als mir mein Vater einst in einem Briefe unter Anderem schrieb, daß ich zu einer Feierlichkeit in Cöln, welche hier im Isabellensaale stattfinden solle, eingeladen werden würde, und daß ich dieser Einladung würde Folge leisten müssen. Nun kenne ich meinen Vater und weiß, daß, wenn er in einem solchen Tone redet, dies einem Befehle gleich kommt und er keinen Widerspruch duldet. Ich nahm daher, als die Einladung kurz darauf an mich erging, dieselbe an und sagte mein Erscheinen bei dem Feste zu. Es war dies die erste Festlichkeit, welcher ich officiell als Repräsentant meines Hauses beiwohnte, und da ich voraussichtlich als solcher von den Festgebern begrüßt werden würde, so setzte ich mir eine Rede auf, die ich als Antwort aus jene Begrüßung halten wollte. Ich lernte diese Rede auswendig, und bald konnte ich sie zu meiner Freude den Wänden meines Studirzimmers ganz flott und ohne zu stocken vordeclamiren. So vollständig auf die Dinge, die da kommen sollten, gerüstet und vorbereitet, reiste ich am Tage des Festes seelenvergnügt nach Cöln, begab mich zur festgesetzten Stunde in den Isabellensaal und wurde hier mit Herzlichkeit empfangen. Das Fest nahm seinen frohen Verlauf, und als die erwartete feierliche Ansprache an mich vorüber war, erhob ich mich von meinem Platze und begann: ‚Meine Herren!‘ – Aber so ausgezeichnet ich auch vorher meine Rede konnte, so ohne Anstoß ich sie auch kurz vor dem Eintritt in den Isabellensaal mir noch einmal recapitulirt hatte – jetzt, wo ich Aller Augen auf mich gerichtet sah, jetzt konnte ich den Anfang nicht finden. Vergeblich suchte ich mich in der Eile auf denselben zu besinnen – umsonst, umsonst! Der Faden war wie völlig abgeschnitten. ‚Meine Herren!‘ begann ich nochmals, einen neuen Anlauf nehmend, hoffend, daß ich nunmehr den Anfang der Rede treffen würde – eitles Bemühen! Denn auch jetzt wollte sich meine so schön einstudirte Rede vor dem geistigen Auge nicht aufrollen. Und doch hingen Aller Blicke an meinem Munde, meiner Rede erwartungsvoll entgegensehend; Todtenstille herrschte im ganzen Saale. Heiße Angst überfiel mich, dicke Schweißtropfen perlten an meiner Stirn; tausend Gedanken flogen blitzschnell durch mein fieberndes Hirn: sollte ich, ein Hohenzoller, mir das Armuthszeugniß geben müssen, keine freie Rede halten zu können? Ein Armuthszeugniß, mir selbst ausgestellt vor Leuten, die womöglich meine Unterthanen werden würden, wenn – was Gott noch recht lange Zelt hinausschieben möge – ich einst König geworden? Nein, das konnte, das durfte nicht sein, und mit einer Verzweiflung, die nur derjenige kennt, der sich in ähnlicher Lage befunden, erhaschte ich ein Wort, welches, als in der Mitte meiner Rede stehend, mir einfiel, sprach es aus, erinnerte mich jetzt der nächstfolgenden Worte und – ich hatte den Faden meiner Rede. Zwar hatte ich diesen nur von der Mittel an, allein ich wurde jetzt sicher, verflocht gelegentlich die Gedanken des ersten Theiles der Rede mit denen des zweiten Theiles, damit Logik, sowie der richtige Sinn der Rede herauskäme, und schloß dieselbe sodann genau mit den Worten, die ich mir als effectvolle Schlußworte in dem Concepte meiner Rede niedergeschrieben hatte. Wie froh, wie glücklich war ich, als ich mich wieder niedersetzte! Und mit heiterem Sinne, wie ihn nur innere Selbstzufriedenheit zu schaffen vermag, wohnte ich sodann dem Feste bis nahe zum Schlusse bei. Sehen Sie, lieber Herr Oberbürgermeister, das war meine Jungfernrede, und nun glauben Sie bei den dieselbe begleitenden Umständen mir wohl, wenn ich vorhin sagte, daß ich damals Blut geschwitzt habe.“

Und lachend zeigte er Dr. Becker nochmals die Stelle, von welcher aus er damals die Rede gehalten und an der er „Blut geschwitzt“ hatte – letzteres vielleicht zum ersten und letzten Male in seinem Leben, trotz der vielen Schlachten, die er später siegreich schlug und in denen er oft sein Leben den feindlichen Kugeln aussetzte, wo also minder Tapfere als er wiederholt Gelegenheit zum „Blutschwitzen“ gehabt hätten. –

Welcher Redner erinnerte sich bei dieser Erzählung nicht an seine eigene Jungfernrede, bei der er vielleicht, gleichwie der künftige deutsche Kaiser, ebenfalls „Blut geschwitzt“ hat?