Die Handschriften der „Istorie pistolesi“

Textdaten
<<< >>>
Autor: Ludwig Zdekauer
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Handschriften der „Istorie pistolesi“
Untertitel:
aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 7 (1892), S. 319–323.
Herausgeber: Ludwig Quidde
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung J.C.B. Mohr
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Freiburg i. Br
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[319] Die Handschriften der „Istorie pistolesi“. In meinen „Studi pistoiesi“ (Siena, 1889) habe ich mich eingehend mit den „Istorie pistolesi“ beschäftigt, jenem auch für Florentinische und Reichsgeschichte wichtigen Geschichtswerke des 14. Jahrhunderts, dessen Verhältniss zur übrigen Toscanischen Historiographie bisher wenig aufgeklärt war. Man kennt weder den Autor noch das Jahr der Abfassung dieser Chronik, deren hohe Zuverlässigkeit ich erwiesen habe und deren sprachliche Vorzüge allgemein anerkannt sind. Von ihrem materiellen Inhalt ganz abgesehen, haben die „Istorie pistolesi“ (ein Name, den ihnen Vincenzo Borghini beigelegt hat) angesichts des Streits um Dino Compagni’s Florentiner Chronik noch ein ganz besonderes Interesse dadurch, dass sie zweifellos vor das Jahr 1348 zurückgehen und sohin, neben Giov. Villani, das älteste Italienische Geschichtswerk im modernen Sinne vorstellen.

In meiner oben genannten Schrift konnte ich feststellen, dass der Text der Chronik auf eine einzige Papierhandschrift (Cod. Magliab. cl. XXV. cod. 28) zurückgeht, die Vincenzo Borghini, dem Prior der Innocenti, einem der vorzüglichsten Humanisten von Florenz, gehört hat, welcher sie denn auch selbst mit einer dieses trefflichen Mannes durchaus würdigen Einleitung im Jahre 1578 bei den Giunti in Florenz herausgegeben hat. Alle späteren Ausgaben[1] gehen bloss auf diesen Druck zurück; die Handschrift Borghini’s galt für verschollen[2]. Dieselbe findet sich heute, wie gesagt, in der Nationalbibliothek zu Florenz unter der Signatur cl. XXV cod. 28. Sie ist durchwegs von einer einzigen Hand geschrieben, welche dem Ende [320] des 14., spätestens Anfang des 15. Jahrhunderts angehört und zum Schluss unter dem Datum des 22. Dezember 1396 einen Vermerk beigefügt hat, der einen Jacopus Franceschini de Ambrosiis als Schreiber (Ego – – – scripsi) nennt. Es ist niemals jemandem eingefallen, diesen Jacopo für den Autor der Istorie pistolesi zu halten. Doch ist der Vermerk interessant, weil er beweist, dass die Handschrift schon am Ende des 14. Jahrhunderts in Pistoia selbst abgeschrieben worden ist. Die Ambrogi sind eine alte Pistoieser Patrizierfamilie, welche auf der Sala, dem Marktplatz, einen ihrer Thürme[3] und in der Cappella Sancti Anastasii ihre Häuser[4] hatte. Ser Piero di Alessandro de’ Ambrogi war, den Angaben der Prioristen nach, Gonfaloniere im Jahre 1348[5]. – Die Ausgabe, welche auf Grund dieser einzigen Handschrift Vincenzo Borghini veranstaltet hat, ist im Ganzen vortrefflich zu nennen; doch entspricht sie natürlich nicht den heutigen Anforderungen der Kritik, insbesondere desshalb, weil indessen neue Handschriften des Werkes zum Vorschein gekommen sind, von denen ich im Folgenden Rechenschaft geben will.

Unter den Codices palatini der Nationalbibliothek zu Florenz, welche im Auftrag der Regierung catalogisirt werden[6], hat man eine bis jetzt unbekannte Handschrift der „Istorie pistolesi“ gefunden, welche unter Nr. 683 beschrieben ist. Dieselbe ist verhältnissmässig jung, denn sie stammt aus dem 16. Jahrhundert, und zwar höchst wahrscheinlich aus dem Jahre 1561, lohnt aber reichlich die Mühe einer Vergleichung mit dem Borghini’schen Texte, weil sie, wie ich im Folgenden zu zeigen versuchen will, auf eine von diesem verschiedene Handschrift zurückgeht.

Auch der Copist des Palatinischen Codex nennt sich selbst und unterrichtet uns über seine Persönlichkeit. Er hiess Magni und ist Geistlicher in einem Flecken der Montagna pistoiese gewesen, Pupiglio, einem heute noch blühenden Städtchen, das an der Provinzialstrasse liegt, welche von S. Marcello nach den Bädern von Lucca führt. Allein auch er kennt den Autor der Schrift nicht. Der Name desselben war sohin in Pistoia selbst um die Mitte des 16. Jahrhunderts verschollen; [321] eine auffallende Thatsache, wenn man bedenkt, dass Giovanni Villani höchst wahrscheinlich und Giannozzo Manetti sicherlich die „Istorie pistolesi“ gekannt haben[7]. „L’autore di esso“ (nämlich des Breve comentario de la divisione di Pistoia), sagt unser Copist, „non m’è noto; ma l’ho ritratto da un libretto d’un cittadino Pistorese, quale era la compositione stessa e scritto in penna“.

Das Auffallende an der Handschrift des Magni, deren Vorlage sich somit in Pistoia befand, liegt nun darin, dass dieselbe ein Anfangscapitel enthält, welches im Codex Borghini – und sohin in allen Ausgaben – fehlt; während sie bereits auf S. 211 des Borghini’schen Textes endet, also weder das Schlusscapitel über die Aerzte von Paris, noch jenes über den Tod des Papstes Bonifaz enthält, welche Jacopo de’ Ambrogi seinem Texte zugefügt hat, ohne dass dieselben mit den „Istorie pistolesi“ das Geringste zu thun hätten.

Es lässt sich nun weiter mit Sicherheit darthun, dass die „Istorie pistolesi“ den gelehrten Annalisten des 16. und 17. Jahrhunderts, welche die Geschichte von Pistoia geschrieben haben, eben in der Form des Codex palatinus vorlagen, und dass derselbe auf einer besseren Ueberlieferung ruht als die Handschrift Borghini’s.

Das Eingangscapitel, von dem oben die Rede war, berichtet von grossen Erdbeben, die im Anfang des Jahres 1300 acht Tage lang gedauert haben sollen. Die Bevölkerung verliess die Wohnungen und übernachtete vor der Stadt auf der Piazza San Francesco. Das Gewölbe über dem Altar Sanct Martin’s im Dome stürzte ein; in ihrer Todesangst versöhnten sich alte politische Gegner und gaben sich auf offener Strasse, auf den Knieen, den Friedenskuss. Kaum aber war die Gefahr vorüber, so gingen die Parteiungen von Neuem an. – An diesem Punkte angelangt, knüpft die Erzählung an den Text Borghini’s an. „Passato il pericolo, in che s’erano trovati, poco sterono li Pistoiesi, che ritornarono a cozzarsi insieme, non obstante li segni, che Dio haveva lor mostrati. Ne la ditta città erano assai nobili e possenti cittadini, fra quali era una schiatta, quali si chiamavano de’ Cancellieri“ und so fort.

Der Text des Borghini hat eine von dieser ganz verschiedene Einleitung, welche dem Werk einen besonderen Charakter aufzudrücken sucht, indem sie erklärt, dass in den „Storie di questo scrittore“ eben der Ursprung und die Geschichte der Parteiung der Weissen und Schwarzen solle beschrieben werden. Der Ton dieses ersten [322] Capitels verräth m. E. die spätere Hand. Der Autor spricht in dritter Person von sich selbst, und trachtet zusammenzufassen, was er im Folgenden sagen will. Er führt sich nicht selbstredend ein, wie Dino Compagni und Giovanni Villani es thun; und was er als den angeblichen Inhalt seines Buches ankündigt, entspricht bloss dem Inhalt der ersten Capitel, während der Rest sich mit ganz anderen Dingen beschäftigt; vermuthlich desshalb, weil die Nachkommen sich für den Ursprung der Parteiung in Bianchi e Neri am meisten interessirten.

Die Eingangsworte des Palatinischen Codex können keine Erfindung des Magni sein. Es finden sich die darin berichteten Thatsachen Wort für Wort schon in dem Annalisten Pandolfo Arfaruoli († 1636) dessen „Historie“ sich handschriftlich im Capitelarchiv befinden[8]; und auf ihn gehen Salvi (l. c. vol. I, pag. 259–260) und Fioravanti (Memorie storiche della città di Pistoia. Lucca 1758. pag. 244, zum Jahre 1298) zurück. Die Sprache ist durchaus alterthümlich und das Wort „bastò“ hat dem Magni selbst zu denken gegeben. („Questo flagello bastò otto dì interi“ etc.) Die Einleitung der Palatinischen Handschrift entspricht auch besser dem Charakter des Werkes, das keineswegs bloss eine Geschichte der Bianchi e Neri, sondern der politischen Parteien überhaupt sein will, und folglich der Entstehung der ersteren vorgreift. Sie knüpft besser an die Erzählung der Geschehnisse an als der Borghini’sche Text, und während das Eingangscapitel des letzteren, eben weil es eine allgemeine Einleitung der ganzen Schrift sein will, Zweifel erregt, trägt jenes der Palatinischen Handschrift alle Merkmale der Ursprünglichkeit.

Eine Vergleichung der beiden Handschriften bestärkt diese Beobachtungen. Der Copist des Palatinischen Codex hat den ihm vorliegenden Text vielfach missverstanden, absichtlich geändert, und falsch corrigirt. An der Stelle, wo es heisst, Messer Bertacca sei ein cavalier gaudente gewesen, hat er aus diesem einen consigliere grande gemacht. Dennoch geht er auf einen Text zurück, der vollständiger und in mancher Beziehung besser gewesen sein muss, als die Vorlage der Borghini’schen Handschrift. Auf pag. 5 Zeile 2 v. u. hat Borghini mit Recht in seiner Handschrift eine Lücke vermerkt; und in [323] der That geben die Worte dort schlechterdings keinen Sinn. Diese Lücke hilft nun unsere Handschrift in zufriedenstellender Weise ausfüllen, indem sie liest: „de la cui morte [nämlich des Bertino dei Vergiolosi, der von der Hand des Vanni Fucci gefallen war] ne fu gran danno, perochè era di quelli a cui dispiaceva la cosa mal fatta per l’una parte e per l’altra. Li rettori fecono il processo contro a coloro, che l’uccisono“ und so fort. Die gesperrt gedruckten Worte fehlen in der Handschrift des Borghini, finden sich dagegen im Texte des Magni.

Diese wenigen Beispiele genügen um zu zeigen, dass die Vorlage des Magni, welcher um 1560 copirte, besser war als jene des Jacopo de’ Ambrogi, der um 1396 schrieb.

Es ergibt sich somit, dass in Pistoia selbst eine Handschrift der „Istorie pistolesi“ geblieben sein muss, welche von Generation zu Generation überliefert worden ist und eine von dem Borghini’schen Codex durchaus verschiedene Einleitung hatte.

Der Text der Chronik hat sohin eine Entwicklung durchgemacht, von welcher uns der Borghini’sche Text die letzte Phase vorstellt. Das erste Capitel desselben ist nämlich ganz neu hinzugefügt, die Geschichte des Erdbebens und der Friedensschlüsse weggelassen; dagegen ist zum Schlusse mancherlei hinzugefügt, was in der Vorlage des Magni nicht stand: und eben in dieser Form hat Jacopo de’ Ambrogi die Chronik abgeschrieben, welche so den Charakter einer literarischen Arbeit angenommen hatte.

Aus alledem geht schliesslich hervor, dass beide Redactionen auf einen gemeinsamen Urtext zurückgehen, der uns verloren ist. Bedenken wir die Umwandlung, welche der Text schon vor 1396 erlitten hatte, die Veränderung der Einleitung und die mannigfachen Zusätze zum Schluss, so werden wir gegen die Mitte des Jahrhunderts hingeführt als gegen den Zeitpunkt der Abfassung der Schrift, welche mit dem März 1348 abbricht.

Hiermit wäre die handschriftliche Ueberlieferung der „Istorie pistolesi“ festgestellt, soweit sich dies ohne eingehende Erörterung des historischen Inhalts thun lässt. Auch dieser zeigt indessen, wie ich schon oben angedeutet habe, verschiedene Hände und verschiedene Redactionen; und ich behalte mir vor, auf die innere Bildung und auf die Autoren der Chronik bei anderer Gelegenheit zurückzukommen.

Ludwig Zdekauer.     

Anmerkungen

  1. Firenze, Tartini e Franchi. 1733 in 4°; Muratori, Scriptores Rerum Italicarum, tom. XI; zuletzt: Prato, Guasti. 1835 in 8°.
  2. Letztgenannte Ausgabe, Prefazione p. III: „è perduta oggi dì del tutto la notizia di quel testo, il quale, capitato in mano di persona non conoscitrice del suo pregio, sarà stato per avventura lacerato o dato in preda alle fiamme“ – – –.
  3. Catasto del 1415, Archivio del Comune di Pistoia, filza 699. c. 118: „in sulla Sala, sotto la torre delli Ambrogi“.
  4. Ibidem c. 109: „Una bottega o traffico nel presto della Nave posto sotto casa delli Ambruogi nella cappella di S. Nastazio“.
  5. Im Allgemeinen vgl. über die ältere Geschichte der Familie: Michelangelo Salvi, Delle historie di Pistoia, tom. 2. (Pistoia, Fortunati. 1657), tavola di nomi, pag. 26 und besonders 164.
  6. I Manoscritti della R. Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze. Codici Palatini, vol. 2, fasc. 3.
  7. Vgl. die Ausgabe von Prato (1835) auf pag. viij ff. der Einleitung. Machiavelli möchte eine uns verlorene Pistoieser Chronik vorgelegen haben, da er von den Storie pistolesi unabhängige Angaben macht. S. meine Studi pistoiesi, pag. 34.
  8. In einer andern Handschrift des Arfaruoli, welche historische Notizen als Vorbereitung zu den Pistoieser Annalen enthält, und welche aus der Sammlung Conversini in den Besitz meines Freundes, des H. Guido Maccio in Pistoia, übergegangen ist, finden sich bereits zum Jahre 1300 die Angaben des Palatinischen Codex. – Die älteren Pistoieser Schriftsteller, wie Dondori, Della Pietà di Pistoia, (Pistoia 1666) behaupten, dass eine Handschrift der Istorie pistolesi bis zum Jahre 1500 im Stadthause zu Pistoia aufbewahrt wurde. Von derselben findet sich im städt. Archiv keine Spur mehr.