Die Grossen Wasser im Garten von Versailles
Alles macht Fortschritte und steigt höher; so auch Versailles. Demgemäß nimmt das Wasser dort ab, der Besuch aber zu. Da liegt der Titane Enceladus unter einem Felsblock und bemüht sich noch immer, Jupiter mit Steinen zu werfen, allein seiner Riesenkehle entsteigt nur ein dünnes Wasserfädchen. Durch einen Wasserstrahl der Latona in Frösche verwandelt, umgeben die lydischen Bauern fortwährend den Rand ihres Beckens und richten ihre Schmähungen in Gestalt von Wasser gegen die Göttin; aber kaum vermögen sie ihr den Kopf zu benetzen. Wie prachtvoll sandte früher die Schlange Python ihre verwegene Wassergarbe gen Himmel empor; jetzt ist sie alt, matt, erschöpft und hat nicht mehr die Hälfte ihrer frühern Lungenkraft. Im Neptunsbecken finden selbst Meerkälber und Tritonen nicht Wasser genug, um Nüstern und Muscheln zu füllen, denn Amphitrite mißt ihnen ihr Element allzu karg zu. Auch Apollo’s Wagen an dem schönen Wiesengrunde, nach dem der Baumgang des Grünen Teppichs benannt ist, entstieg höher dem Wasser und Saturn wäre nicht mehr so kühl gebettet, läge nicht hinter seinem Becken ein großer Canal, der, 186 Fuß breit, 4674 Fuß lang, zwei Arme von 3000 Fuß Länge ausstreckt.
Schon zur Zeit des Begründers begann Versailles aufs Trockene zu gerathen. Trotz aller Anstrengung der Maschinen und der Canäle sah Ludwig XIV. das Wasser unter den Füßen seiner Meergötter schwinden. Ganze Seen strömten in den Vorrathsbehältern zusammen, aber der Bedarf war zu groß, und alle Millionen, die man hineinstreckte, vermochten nicht, das Wasser über dem Sand- und dem Sumpfboden zu erhalten.
Sind aber auch diese Wunderwerke in Versailles nicht ganz mehr wie sie gedacht oder was sie gewesen: unvergleichlich bleiben sie immer. Daß man jetzt weniger von ihnen spricht, hat einen andern Grund: sie sind alltäglich geworden. Einst strahle dort Ludwig XIV. wie die Sonne, die er sich zum Sinnbild gewählt; goldglänzende Höflinge wandelten in den Laubgängen; rauschende Feste belebten den Park und beim Plätschern des Springquells ruhte auf weichem Rasenteppich die Liebe. Diese Welt der Hoheit, der Pracht und der Ueppigkeit ist dahin. Ein Geschlecht von andrer Statur erfüllt ihre Anlagen. Mit feuerschnaubenden Rossen führt die Eisenbahn in einer Viertelstunde Tausende von Bürgern aus Paris nach den unabsehbaren Buchsbaumalleen, wohin noch die Königin Marie Antoinette in 35 Minuten nicht fahren konnte, ohne den allgemeinen Unwillen über die zu Tode gejagten Pferde und Reitknechte zu erregen. Nie traf Ludwig XIV. so geräuschvoll dort ein. Selbst Napoleon’s Kaisergefolge vermochte die weite Einsamkeit dieses Parks nicht ähnlich zu füllen. Nur das Volk war groß genug, Versailles zu bevölkern!
Versailles ist jetzt ein Volksbelustigungsort. Und warum sollte es nicht? Wäre der grüne Rasen, der schneeweiße Marmor etwa zu gut? Hätten Schatten und Kühle dort edleren Zweck? Das Volk hat die Bäume gepflanzt, das Volk hat die Wasserleitungen angelegt, das Volk hat die Lasten getragen. Die sieggekrönte Infanterie von Rocroy und Freiburg starb dort beim Sumpfgraben; 3600 Arbeiter fielen für die Ausführung dieser Königslaune. „Jede Nacht,“ sagt die liebenswürdige Briefstellerin Frau v. Sevigny, „wurden Karren voll Siecher oder Todter weggefahren.“ Und nachdem das Volk Versailles erbaut, hat es dasselbe auch noch erobert. Das Blut der Leibwache färbte die Mauern, als es sein Werk in Besitz nahm. Bedarf es einer weitern Begründung des Rechts als Arbeit und Sieg?
Poetische Gemüther, welche die Einsamkeit lieben, besuchen Versailles an Werkelttagen, und träumen in seinen stillen Laubgängen von der ehemaligen Pracht und Herrlichkeit, als der Dichter hier mit dem König ging. Ihre Phantasie belebt den Hain mit verliebten Schatten und glänzenden Traumbildern. In den Wipfeln der Bäume hören sie Racine’s und Molière’s Verse rauschen, und der funkelnde Wasserspiegel strahlt ihnen den Prunk des Hofes wieder. Diese Erscheinungen zeigen sich nur in der Einsamkeit. Sobald die Gegenwart in die Buchsbaumalleen tritt, entweicht die Vergangenheit und mit ihr entfernen sich ihre stillen Verehrer.
Am ersten Sonntag eines jeden Sommermonats spielen die sogenannten Kleinen Wasser. Dann eilt der ehrsame Bürger mit seiner Familie hin. Er träumt nicht im Schatten der Bäume; ihm zaubert die Phantasie keine Erinnerungen ins Leben; seine geschichtlichen Kenntnisse reichen nicht über 1789 hinaus; höchstens hat er von den Schändlichkeiten des Hirschparks gehört. Geht er mit Frau und Kindern in der herrlichen Wasserallee, denkt er nicht der Dubarry, die den Schatten dort so liebte, daß sie täglich mit ihrem kleinen Neger Zamor hinkam, von dem sie sich die Schleppe tragen ließ. Er will nur in dem herrlichen Grün die anmuthige Kühle genießen und die schnurgeraden Buchsbaumhecken, die prächtigen Vasen, die zahllosen Statuen, die Wunderwerke aller Art anstaunen. Versailles ist ihm ein Zauberpalast, das kühnste Gebilde der schöpferischen Phantasie. Je finsterer und kümmerlicher er gewöhnlich lebt, desto tiefer ergreift ihn an solchen Festtagen die Pracht und die Schönheit dieses Feenschlosses.
Kommen dann aber die Tage, wo die „Großen Wasser“ springen, so entsteht eine wahre Völkerwanderung. Alle halbe Stunden gehen auf beiden Ufern der Seine Eisenbahnzüge von Paris nach Versailles ab; jede Fahrt gießt einen neuen Menschenstrom dort aus. Zuerst werden die weiten Säle des Schlosses durchwandert, in denen der Kunstsinn, die Baulust, die Prachtliebe und die Menschenkenntniß des Königs eine Gemäldesammlung aufgestellt hat, die sich eben so sehr durch einzelne Meisterwerke, wie durch die Menge der Darstellungen und ihr Streben nach Verherrlichung des Nationalruhms auszeichnet. Aus den Steinwänden geht’s in die Baumgänge und unter das Laubdach. Während dort Einige im „Garten der Königin“ den Duft der Blumen athmen, Andere sich auf dem weichen Rasen tummeln, Manche mit geschlossenen Augen geradeaus zu gehen versuchen: rauschen plötzlich die Springbrunnen, verbreitet sich eine angenehme Kühlung in der Luft, beginnt ein feuchter Luftzug das Laub zu bewegen, erwachen die geschwätzigen Undinen und murmeln die Wellen – strepit lympha loquax. Erst rieselt es leise im Boden, dann hört man einzelne Töne, endlich hebt es an zu rauschen. Jetzt scheint von jedem Baum eine murmelnde Quelle umschlossen, hinter jedem Dickicht eine seufzende Najade versteckt, in jede Vase ein silberstimmiges Zwerglein gebannt. Diese sanften Laute durchdringen bald die kräftigeren Stimmen der großen Behälter mit tieferen Tönen. Funkelnd schleudern sie ihre Wassersäulen in die Luft und schäumend zerstieben die schimmernden Tropfen im Sonnenschein. Neu belebt sich der ganze Park. Die alten Heldengestalten scheinen ihre Stirn zu entrunzeln und der lachende Faun über
die allgemeine Heiterkeit zu erstaunen, die plötzlich von allen Seiten zum Ausbruch kommt und die Luft mit Jauchzen erfüllt. Alles drängt jetzt und eilt. Athemlos rennen die Erwachsenen umher. Mit Gewalt müssen die Kinder fortgezogen werden, denn sie können sich nicht satt sehen und doch haben sie nur eine Stunde, eine einzige Stunde, um all die Herrlichkeiten zu bewundern. Ein Blick nach dem Titanen und seiner Felslast, nach der Wassergarbe des Drachen, nach dem Saturnusbecken und dem Musenplatz: dann eilt man zu den Hauptpunkten. Da ist zunächst Latona mit ihren Kindern Apollo und Diana. Sie fleht Jupiter an um Rache für die Beleidigung der groben Bauern. Mit einem majestätischen Wasserstrahl bringt sie die Frechen zum Schweigen, und statt ihrer Schmähungen erheben sich anmuthiggeformte Wasserbogen aus Fröschen zu ihr. Dann folgt Apollo mit seinem Viergespann, umgeben von Delphinen und Tritonen. Drei prachtvolle Wassersäulen steigen vom Wagen aus 50 – 60 Fuß hoch in die Lüfte empor, und hinter ihrem hellleuchtenden Schleier erglänzt der Gott des Lichts in seiner ganzen Schönheit, ein würdiges Sinnbild der Sonne, die ihn von oben bestrahlt und jeden Wassertropfen mit allen Farben des Regenbogens schmückt. Dieser Himmelsfahrt müde, ruht der Gott weiterhin im Gebüsch des Apollobades aus. Frei weiden die wiehernden Rosse neben ihm; er selbst lehnt, von Nymphen bedient, in einer Felsgrotte am Eingange des Palastes der Thetis. Endlich geht es zum größten und schönsten Punkt: dem Drachenstück und Neptunsbecken. Auf den immer grünen Rasen gelagert, der das Meisterwerk Gaspard de Marsy’s umgiebt, schwelgt man in dem prachtvollen Anblick der in gewaltigen Säulen majestätisch aufsteigenden und in glänzenden Tropfen anmuthig zurücksinkenden Wassermassen. Neptun und Amphitrite in der Mitte, Proteus zur Linken, Oceanus zur Rechten, ein Drache mit Amor an jeder Seite des Beckens, Najaden, Tritonen, Seepferde, Wasserkühe – Alles wirkt zusammen und liefert Ströme von Wasser. Aus 22 Metallvasen steigen Wassersäulen auf; zahllose Springquellen erheben sich aus dem Becken selbst; schäumend fließt Alles darin zusammen und es rauscht wie ein sturmgepeitschtes Meer.
Plötzlich wird Alles still, jedes Geräusch hört auf; die Ungethüme verstummen; wie ein Feuerwerk erlöschen die Wassersäulen; die ganze Zaubererscheinung verschwindet; nur die Zuschauer bleiben zurück und starren mit offenem Munde nach der Stelle, wo das Wasserspiel war.
Jetzt beginnt Alles an die Rückkehr zu denken, man will jedoch vorher noch den Abend im Park genießen. Erst sieht man von der großen Treppe aus die Sonne untergehen und in ihren letzten Strahlen die Wasserfläche wie ein Goldspiegel erglänzen. Dann geht’s wieder zum Rasen hinab, um die Fenster des Schlosses von der scheidenden Sonne beleuchtet zu sehen, während über dem grünen Hügelrücken bereits der Abendstern untergeht. Statt des Rauschens der Wasser hört man nun die Nachtigall flöten, und der Park erscheint im Abenddunkel noch erhabener und großartiger, als da am Tage das Wasser dort Feenpaläste aus funkelnden Säulen errichtete. Wahrlich, der Park ist jetzt schöner als zu Ludwig XIV. Zeit! Das Wasser nahm ab, die Bildsäulen wurden schwarz, aber die Bäume wuchsen und ihr Laub gewährt kühlere Schatten.