Die Glaubwürdigkeit der Wunderheilungen in Lourdes und Marpingen

Textdaten
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Autor: Jakob Frohschammer
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Titel: Die Glaubwürdigkeit der Wunderheilungen in Lourdes und Marpingen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 164–167
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Glaubwürdigkeit der Wunderheilungen in Lourdes und Marpingen.
Von J. Frohschammer.

Aus dem französischen Lourdes wie aus dem deutschen Marpingen wird noch immer die Mär von wunderbaren Heilungen, die daselbst geschehen sollen, in allen Blättern der päpstlichen Kirche eifrig verbreitet, um die Gläubigen theils anzulocken, theils in ihrem Glauben zu bestärken, der ungläubigen Wissenschaft und dem bösen Liberalismus aber Trotz zu bieten und wider ihre Angriffe und ihren Unglauben die wunderbare Offenbarung der „Mutter Gottes“ zu behaupten. Die Ultramontanen verfahren von ihrem Standpunkte aus richtig, indem sie dieses thun. Denn die sogenannten Wunderheilungen sind es einzig und allein, durch welche sie versuchen können, wenigstens indirect dem Volke Beweise beizubringen für die wirkliche Erscheinung der „Mutter Gottes“ und deren Wirksamkeit an den betreffenden Stätten. Die directen Zeugnisse dagegen bestehen nur in Angaben von Kindern über eine Erscheinung, die Niemand controliren konnte, da die übrigen Anwesenden nur die krankhaft erregten Visionärinnen sahen, nicht die Erscheinung selbst, und somit bezüglich derselben lediglich auf kindisches Behaupten angewiesen waren. Läßt sich also zeigen, auch den sogenannten wunderbaren Heilungen wohne in keiner Weise die Beweiskraft inne, daß sie wirklich und nothwendig von einer übernatürlichen Macht stammen, kann vielmehr erwiesen werden, daß sie ganz wohl von natürlichen, wenn auch ungewöhnliche Ursachen veranlaßt sein können - dann ist auch der Beweis geliefert, daß die vermeintliche Erscheinung der „Mutter Gottes“ ein Trug- oder Wahngebilde sei und daß das Volk durch eine falsche Vorspiegelung beschwindelt werde.

Schwindel ist ein Unternehmen, das, als auf fester, sicherer Grundlage beruhend, dem Volke angepriesen wird, um es zur Theilnahme anzulocken, während jene versicherte Festigkeit doch nur Schein und Trug ist. Läßt sich nun darthun, daß die Behauptung einer Erscheinung der „Mutter Gottes“ keinerlei sichere Begründung hat, wie keine directe, so auch keine indirecte, dann ist auch gezeigt, daß das ganze Thun und Treiben an diesen sogenannten Wunder-Orten der soliden Grundlage entbehrt, und mit Fug und Recht nach allen Beziehungen, sowohl was die Ursache wie was die Wirkungen (die Heilungen) betrifft, als Schwindel bezeichnet werden kann. Doch soll damit nicht gesagt sein, was sich mit voller Bestimmtheit noch nicht beweisen läßt, daß nämlich der Schwindel mit vollem Bewußtsein und mit klarer Absicht eingeleitet sei und fortgesetzt werde, da die Acteurs vielleicht selbst in dem Wahne befangen sind, den sie Anderen beizubringen suchen. Gewiß bleibt nur, daß die Heilungen als der sicherste Beweis der Anwesenheit der „Mutter Gottes“ und ihrer wunderthätigen Kraft angenommen wurden und die (in Lourdes) erfolgte kirchliche Approbation sich im Grunde ebenfalls auf nichts Anderes stützen konnte. Alles kommt also darauf an, ob wirklich wunderbare Heilungen stattfanden und ob Zeugnisse dafür, daß solche stattgefunden haben, genügen, um die Uebernatürlichkeit und Göttlichkeit solcher Geschehnisse zu beweisen.[1]

Wenn man auch nicht selber Augenzeuge war, kann man doch vollständig gelten lassen und braucht nicht zu bestreiten, daß in [165] Lourdes wie in Marpingen wirklich auffällige Heilungen sich zugetragen haben. Damit aber ist noch nicht im mindesten eine übernatürliche Wunderkraft erwiesen, welche dabei im Spiele sein soll; der Vorgang ist ganz wohl auf andere Weise erklärbar. Verhältnißmäßig sind solcher Heilungen doch nur sehr wenige. Dies geht schon daraus hervor, daß man so viel Aufhebens davon macht, offenbar zum Behufe der Reclame, während man alles Uebrige verschweigt. Man sieht sogleich, daß es sich um Ausnahmen handelt und daß der größte Theil der ankommenden Kranken ungeheilt von dannen geht. Einzelne Curen zunächst, die wie ein Wunder erscheinen, gelingen auch Aerzten, gelingen Pfuschern, Hirten, alten Weibern etc., welche gewisse Mittel kennen und manchmal mit Nutzen anwenden. Aehnliches geschieht an solchen Wundercurorten. Abgesehen vom Gebrauche des Wassers, ist die durch den Glauben an die Nähe einer übernatürlichen Macht erregte Phantasie, ist die hochgespannte Erwartung, insbesondere aber die Glaubenszuversicht wohl geeignet, bedeutende Wirkungen im körperlichen Organismus hervorzubringen und dadurch manchmal ein Uebel zu heben oder zu erleichtern – oder wenigstens für den Augenblick oder für kurze Zeit die Einbildung oder Täuschung hervorzubringen, als ob das Uebel beseitigt wäre. Von dieser letzteren Art mögen wohl die meisten der sogenannten Wunderheilungen sein. Dann werden sie registrirt und ausposaunt, als wären es wirkliche, dauernde Heilungen. Stellt sich aber alsbald das Uebel wieder ein oder hört die Erleichterung auf und erweist sich somit die wunderbare Heilung als trügerisch, so wird dies eben verschwiegen und nicht weiter beachtet. Die Betheiligten selbst werden es meistentheils nicht bekannt machen, theils aus Scham darüber, daß sie nicht wirklich unter die Begnadigten gehören, theils aus Furcht vor der fanatisirten, wundersüchtigen Menge und vor den Geistlichen, oder auch um dem Gedeihen des Wundercurortes keinen Eintrag zu thun; endlich wohl auch, weil sie die „Mutter Gottes“ etwa zu beleidigen fürchten, wenn sie öffentlich kund thun, daß sie nicht ernstlich geheilt worden seien. Die Seelen der Gläubigen sind eben in solchen Fällen schon so gefangen und in Banden, daß ein unbefangenes Ueberlegen und freies Handeln von ihnen nicht mehr zu erwarten ist.

Neben den verhältnißmäßig nur Wenigen, die wirklich Heilung finden, und zwar auf jene ganz natürliche Weise, ohne dazu einer übernatürlichen Macht oder einer realen „Mutter Gottes“ zu bedürfen, da die Einbildung davon schon genügt, bleibt der weitaus größte Theil der Kranken ungeheilt und unerleichtert. In Frankreich hat man sogar eine besondere Phrase erfunden, um diese Ungeheilten zu trösten. Man sagt ihnen, wenn sie in Lourdes auch nicht Heilung ihrer leiblichen Gebrechen erlangt, so hätten sie doch wenigstens den Frieden ihrer Seele gefunden, der ja weit mehr werth sei, als die Gesundheit des Leibes. Gewiß! Aber dies ist doch kein Wunder, und nur um der Wunder willen wird ja der Ort gepriesen und nur durch sie – die wunderbaren leiblichen Heilungen – will man beweisen, daß eine übernatürliche Macht, daß Maria, die „Unbefleckte Empfängniß“, hier sei und hier wirke.

Um erlangten Seelenfriedens willen entsteht wahrlich kein berühmter Wallfahrtsort! Eben um der geringen Zahl der Heilungen willen, während die Mehrzahl ungeheilt bleibt – beweisen diese Heilungen nichts, da sie zufällig sind und aus natürlichen Ursachen stammen können, also nicht nothwendig eine übernatürliche Macht voraussetzen. Außerdem aber müssen auch die Nichtheilungen in Betracht gezogen werden, da sie direct gegen die Wirksamkeit einer übernatürlichen Kraft Zeugniß geben. Zwar möchte man geneigt sein hier einzuwenden, daß es doch wohl im Belieben oder im Ermessen der „Mutter Gottes“ stehen müsse, den Einen zu helfen und den Uebrigen die Hülfe zu versagen, sodaß immerhin die Wenigen übernatürlich geheilt sein könnten und die größere Zahl der Nichtgeheilten kein Zeugniß, keine Instanz gegen die Thatsächlichkeit einer wirkenden Wunderkraft wäre. Vergeblich! Da die wenigen sogenannten Wunderheilungen keine unbedingte Beweiskraft für das Wirken einer übernatürlichen Macht besitzen, weil sie auch auf andere, auf natürliche Weise erklärt werden können, so hat man kein Recht mehr, den Nichtheilungen eine bloße, gänzlich unbewiesene Möglichkeit der Wunderwirkung entgegen zu stellen. Außerdem aber: wozu denn eine so große Veranstaltung mit der Erscheinung der „Mutter Gottes“ selbst, wozu die Erfindung des Wunderwassers etc., wenn doch nur Einige geheilt werden sollten, während man die allerkolossalste Reclame macht und von überall her Pilger und Kranke zusammentrommelt! Alles, damit ein paar Schaustücke geliefert werden, wie von einem Tausendkünstler auf einem Jahrmarkte, während die Mehrzahl der Hülfsbedürftigen vergeblich Zeit, Mühe und Kosten angewendet hat? – Im Uebrigen ist dem noch beizufügen, daß die wenigen Geheilten oder Erleichterten selbst den vielen Ungeheilten gegenüber kaum ernstlich glauben dürften, daß sie wirklich direct durch Wundermacht geheilt seien, während den Anderen dies versagt geblieben – wofern sie nur einigermaßen noch gesunden Sinn und Bescheidenheit bewahrt hätten und nicht durch falsche Vorspiegelungen schon ganz verblendet und verbildet wären.

Doch nehmen wir einmal an, die Zeugnisse über die verhältnißmäßig wenigen wirklichen Heilungen gelten in der That für eine vorhandene göttliche oder übernatürliche Wunderkraft, oder speciell für eine thatsächliche Wirksamkeit der „Mutter Gottes“, – dann muß man doch billiger Weise ähnliche Zeugnisse für erlangte wunderbare Hülfe von Seiten der Gottheit auch bei anderen Religionen, insbesondere bei den sogenannten heidnischen Völkern gelten lassen. In neuerer Zeit wurden z. B. auf der Stätte des alten Carthago Tausende von Dankeszeichen frommer Menschen ausgegraben, Dankeszeichen für wunderbare Hülfe, die sie von der Göttin Tanoth oder dem Gotte Baal-Hammon erlangt haben wollen. Könnte diese Sache nun überhaupt durch solche Zeugnisse entschieden werden gegenüber vernünftigem Denken und wissenschaftlicher Einsicht, dann müßte angenommen werden für’s Erste, daß z. B. Tanoth wirklich eine Göttin oder eine übernatürliche Macht war ähnlich der wunderthätigen Madonna, und zweitens, daß durch sie wirklich manchen Menschen durch wunderbares, direct göttliches Eingreifen Hülfe gebracht wurde; denn menschliche Zeugnisse von den Betheiligten selbst liegen doch hier so gut vor, wie von den Wunderheilungen etc., die an christlichen Wallfahrtsorten oder Wunderstätten geschehen sollen.

In den Tempeln des Aeskulap in Epidauros und Pergamos, wo die Kranken schlafen mußten, um auf übernatürliche Weise im Traume vom Gotte das Heilmittel zu erfahren, waren Tausende von Votivtafeln aufgehängt, welche Zeugniß für die vom Gotte erlangten Heilungen enthielten. Haben also solche Zeugnisse wirklich ein Gewicht, so muß angenommen werden, daß Aeskulap (Asklepios) wirklich ein Gott war und wirkliche Wunderheilungen vollbrachte an seinen Verehrern. Freilich wurden nicht Alle, die kamen, geheilt, und schon aus dem Alterthume wird berichtet, daß, als einst der Priester einen Fremden auf die vielen Votivtafeln aufmerksam machte als Zeugnisse für die Wunderkraft des Gottes, dieser einfach entgegen fragte, wo denn die Tafeln Derer seien, die nicht geheilt wurden. Die Nichterfolge pflegte man damals ebenso zu verschweigen, wie jetzt an den Wunderorten.

Allerdings hatte man in früherer Zeit einen leichten Ausweg aus dieser Klemme. Die „Rechtgläubigen“ behaupteten einfach, die Wunder bei den Heiden seien durch den Teufel geschehen, dem ja nach christlichem Glauben auch die übernatürliche Kraft zukomme, in den Lauf der Natur ändernd einzugreifen. Wir zweifeln nicht, daß es auch jetzt noch viele Fromme oder Kluge giebt, die sich auf diese Weise aus der Schwierigkeit zu ziehen suchen. Allein dem ist einfach zu entgegnen, daß dies eben nur eine menschliche und unbewiesene Behauptung ist, welcher die Behauptung des Gegentheils von Seiten anderer Menschen mit gleichem Rechte gegenüber treten kann. Und jene „rechtgläubigen“ müssen es sich gefallen lassen, daß, wenn sie ihrerseits die bei anderen Religionen angenommenen Wunder für Teufelswerk erklären, die Bekenner dieser wiederum die von ihnen geglaubten Wunder ebenfalls als solches bezeichnen. Es sind beiderseits nur menschliche und unbewiesene Behauptungen, die als solche gleich berechtigt oder gleich unberechtigt sind. Wollte man dies nicht gelten lassen, so müßte man auf Seite der Rechtgläubigen annehmen, daß den Andersgläubigen nicht die gleichen Menschenrechte zukommen, daß sie also nur als untergeordnete, gleichsam untermenschliche Wesen zu betrachten und zu behandeln seien, als Wesen, die durch Geistesschwäche und Herzensbosheit Kinder des Teufels geworden, und die man entweder wie Narren oder wie Verbrecher behandeln und in aller Weise unterdrücken oder geradezu vernichten müsse.

Die Religionsgeschichte, insbesondere auch die Geschichte des Christenthums zeigt, daß die Menschen und Völker verschiedenen [166] Glaubens auch wirklich fast überall mehr oder minder so gegen einander gedacht und gehandelt haben. Es hat schweres Ringen gekostet, diesen Standpunkt der Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit zu überwinden, und er wird doch wohl überwunden bleiben trotz des Kampfes, den die Orthodoxen und Wundergläubigen aller Orten gegen den Sieg der Humanität unterhalten.

Fehlt so den wirklichen oder scheinbaren Heilungen, die an den fraglichen Wunderorten geschehen, alle Beweiskraft, daß daselbst wirklich eine höhere übernatürliche Macht thätig sei, so fehlt auch den Aussagen der Kinder über eine Erscheinung der „Mutter Gottes“ alle Gewähr und Glaubwürdigkeit. Es sind dieselben daher nur als Producte kindischer Einbildung und krankhafter Erregung zu betrachten, auf die man selbst in gewöhnlichen menschlichen Verhältnissen nicht das Mindeste bauen möchte, geschweige denn, daß ihnen in den höchsten und ernstesten Angelegenheiten menschlichen Daseins irgend ein Gewicht beigelegt werden könnte. Wie die vermeintlichen Wunderheilungen sich zur Genüge aus erregter Phantasie, gespannter Erwartung und hingebendem Vertrauen erklären lassen, so auch und noch mehr sind jene Erscheinungen, Visionen oder Hallucinationen aus krankhaften körperlichen Zuständen und aus regelwidriger Thätigkeit der Einbildungskraft zu erklären.

Die Erscheinungen sind nicht wirkliche, gegenständliche Dinge oder Personen, sondern Gebilde der eigenen Phantasie, die so ungemein lebhaft sind, daß sie auf die Sinne wirken und von diesen wahrgenommen werden, als wären sie äußerlich dastehende oder sich bewegende Erscheinungen. Daß die sogenannten Erscheinungen der „Mutter Gottes“ in Lourdes wie in Marpingen nur Product der krankhaft erregten Einbildungskraft der Mädchen selber waren, geht aus vielen Umständen hervor. In Lourdes erscheint die Mutter Gottes als „Unbefleckte Empfängniß“, denn damals war diese eben zum Dogma erklärt worden, und man war durch Unterricht in den Schulen und Predigt in den Kirchen eifrig bemüht, das neuverkündete Dogma einzuführen. Die Kinder wurden beständig damit beschäftigt, deren Phantasie davon angefüllt, sodaß, wo Anlage vorhanden war, das Bild vielfach im Traume erschien und, wo die Krankhaftigkeit stärker wurde, in ähnlicher Weise auch im Wachen erscheinen konnte, oder in einem abnormen oder „verklärten“ Zustande, der vom Traum sich nicht viel unterscheidet. Besonders auf die Gestalt und namentlich auf die Toilette der Erscheinung muß geachtet werden. Es gleicht dieselbe dem damals nach dem Traume einer französischen Nonne verfertigten und allgemein verbreiteten Bilde der „Unbefleckten Empfängniß“.

Die kleine Bernadette Soubirous in Lourdes war also ganz wohl auf die Erscheinung vorbereitet, als sie dieselbe gesehen haben wollte, und diese mußte dem verbreiteten Bilde und überhaupt einer vornehmen französischen frommen Dame gleichen, mit allen Attributen einer solchen, mit Rosenkranz, schönen Kleidern, andächtiger Gebährde etc. ausgestattet sein und außerdem „Unbefleckte Empfängniß“ heißen. Es scheint fast, als ob Bernadette sich noch besonders auf die Erscheinung vorbereitet hätte, denn obwohl sie damals nur zum Holzsuchen ausging, hatte sie doch den Rosenkranz bei sich und blieb angesichts des Felsens hinter ihren Gefährtinnen zurück. Wir wollen indeß hier ihr selbst keinen Betrug zur Last legen sondern nur unabsichtliche Täuschung. Thatsache aber ist, daß sich sogleich Leute fanden, welche die Sache in die Hand nahmen, ausbildeten und keinen Widerspruch mehr aufkommen ließen.

Auch in Marpingen wollen wir den Beginn nicht einem eigentlichen geplanten Betrug zuschreiben, obwohl besonders hier Manches auf einen solchen hindeutet, z. B. daß die erste Erscheinung gerade an jenem 3. Juli stattfand, wo in Lourdes die priesterliche Gründung durch eine großartige Festfeier abgeschlossen wurde. Sehr auffallend ist ferner die Abwesenheit des Pfarrers zu dieser Zeit, das späte Verweilen der achtjährigen Mädchen im Freien und fern vom Hause, sowie auch der Umstand, daß sich ganz in der Nähe bereits eine alte Capelle nebst einer Quelle befand. Indeß davon abgesehen – jedenfalls indirect war die Wundererscheinung reichlich vorbereitet. Schon die Gegend in der Nähe des bekannten Echternach disponirt zu Marien-Erscheinungen, die daselbst im Traume bei vielen Leuten vorkommen sollen; dann die starke Pflege des Marien-Cultus von Seite des Pfarrers, die Erzählungen und Wundergeschichten aus Lourdes etc. Daß es der Mädchen eigene Phantasie war oder eines derselben, welches das Wort zu führen pflegt, zeigt sich sehr deutlich an einer Verbesserung in der Antwort der erscheinenden „Mutter Gottes“. Sie sagt nicht mehr wie in Lourdes: „Ich bin die ‚Unbefleckte Empfängniß‘“, sondern: „Ich bin die unbefleckt Empfangene“. Dies kommt vom besseren Schulunterricht der Mädchen. Ohne Zweifel ist ihnen bemerkt worden, daß man die heilige Jungfrau nicht die „Unbefleckte Empfängniß“ nennen dürfte, daß man (ein wenig correcter, wenngleich noch incorrect) sagen müsse: „die unbefleckt Empfangene“. Dies macht sich also auch in der Vision oder Hallucination der Mädchen geltend, da ja eben auch die Antwort auf ihre Frage nur von ihnen selbst kam – in ähnlicher Weise wie im Traume der Träumende Fragender und Antwortender zugleich ist, ja sich noch mehr spalten kann, z. B. in zwei oder mehrere Schüler, und er allenfalls als der Eine oder er selbst (Ich) die gestellte Frage nicht zu beantworten vermag, die er als Anderer beantworten kann. Daß die Phantasie der Kinder selbst das ganze Spiel der Erscheinungen hervorbrachte, zeigt dann insbesondere die Erweiterung der Erscheinungen, in Folge deren endlich das ganze Repertoire der biblischen Scenen, welche die Kinder aus Schule und Kirche inne hatten, sich abspielte und zuletzt auch der Teufel nicht ausblieb. Daß bald noch andere Personen die Erscheinung sahen oder zu sehen glaubten, wird man leicht erklärlich finden, wenn man die Macht der Ansteckung in Betracht zieht, welche solchen krankhaften Zuständen innewohnt.

Bei den religiösen Erweckungsversammlungen (Revivals) in Nordamerika wurden Manche, die nur als Zuschauer dabei sein wollten, von der Tanzwuth der hier Tobenden ergriffen und mitgerissen. In einem französischen Kloster fing eine Nonne wie eine Katze zu miauen an und bald folgten alle anderen nach und miauten jeden Tag ganze Stunden lang. Das Miauen hörte nicht eher auf, als bis man eine Compagnie Soldaten schickte, mit der Drohung, jede zu peitschen die wieder miauen würde. In einem anderen Kloster soll nach Cardanus’ Bericht eine Nonne die anderen mit der Lust zu beißen angesteckt und von hier aus sich diese Sucht von einem Kloster zum anderen verbreitet haben. Aus dem Alterthum erwähnt Plutarch einer epidemischen Selbstmordmanie der Mädchen von Milos. Diese fingen zu toben an ohne alle erkennbare Ursache, so daß man sie durch die Luft vergiftet glaubte, verlangten zu sterben und führten trotz aller Vorstellungen und aller Vorsicht ihr Vorhaben durch Erhängen aus. Da alle Mittel dagegen sich wirkungslos erwiesen, wurde endlich verkündet, daß die Leiche jeder, die sich tödte, nackt durch alle Straßen geschleppt werden solle. Dadurch wurde der Epidemie rasch ein Ende bereitet – offenbar deshalb, weil die Vorstellung der schmachvollen Bloßstellung ihrer Leiber sich so lebhaft in ihrer (subjectiven) Phantasie gestaltete, daß dadurch der krankhafte Drang zum Selbstmord überwunden wurde, der jeder vernünftigen Mahnung widerstanden hatte. Auch sonst ist der ansteckende Charakter körperlich-seelischer Krankheiten durch viele Beispiele bezeugt. Selbst die sogenannte Besessenheit wirkt ansteckend auf dazu disponirte Personen. In Betreff der Ansteckung der krankhaften Sucht, Visionen zu haben, fehlt es nicht an manchen Beispielen. In Deutschland zeigen sich in der That schon jetzt Spuren von Ansteckung oder Nachahmung des visionären Treibens in Marpingen, und es droht diesem Orte starke Concurrenz zu entstehen, was natürlich dort mit Ingrimm vernommen und dem Teufel oder der Betrügerei zugeschrieben wird. In Lourdes war man klüger, indem man die krankhafte Person möglichst bald entfernte und in ein Kloster that, um vor den Wandlungen ihrer Stimmung sicher zu sein. Nicht einmal zu den großen Festlichkeiten hat man sie dankbar herangezogen.

Um übrigens dergleichen Erscheinungen wenigstens einigermaßen richtig zu würdigen, ist es nothwendig, Wesen und Bethätigung jener Seelenkraft näher zu untersuchen, die man als Phantasie bezeichnet. Hier indeß muß ich mir versagen, näher auf diesen Gegenstand einzugehen, doch möge gestattet sein, diejenigen Leser, die ein tieferes Interesse an der Sache nehmen, auf mein Werk zu verweisen, das der Untersuchung desselben gewidmet ist: „Die Phantasie als Grundprincip des Weltprocesses“ (München. Th. Ackermannn 1877). Inn demselben wird nicht blos die gewöhnlich so genannte Phantasie nach allen Beziehungen untersucht, sondern es wird deren Begriff erweitert und zu zeigen [167] versucht, daß die ganze Natur von einer Macht durchdrungen sei, die in ihrem Wesen und ihrer Thätigkeit sich am entsprechendsten mit Wesen und Thätigkeit der menschlichen Phantasie vergleichen läßt, und daß diese Macht oder Gestaltungskraft es sei, durch welche im unendlichen Proceß der Natur endlich auch der Mensch und insbesondere der Menschengeist seinen Ursprung genommen hat.

Sehr verwundern, ja schmerzlich berühren muß es, wahrzunehmen, mit welch leichtgläubiger oder abergläubischer Begierde sich das katholische Volk und selbst auch Leute aus dem gebildeten oder wenigstens vornehmen Stande zu solchen Wunderorten hindrängen und wie nichts so abenteuerlich, widersinnig und abgeschmackt sein kann, daß es nicht blinden und fanatischen Glauben findet. Indeß muß man bedenken, daß in der menschlichen Natur ein ungemein starker Hang zum Aberglaube liegt, wie die ganze Religionsgeschichte zeigt und wie selbst sonst aufgeklärte Menschen in lächerlichen Kleinigkeiten so oft bekunden. Dazu kommt noch, daß das katholische Volk von früher Jugend an leider gerade in dieser Beziehung durch religiösen Cultus und Unterricht zu besonderer Empfänglichkeit ausgebildet wird. Ueber dies haben die Menschen ein natürliches Verlangen, einen Blick in das dunkle Jenseits zu thun oder wenigstens auf leichte Weise aus demselben wunderbare Hülfe in der Noth ihres Lebens zu erlangen oder (bei vornehmeren Ständen) sich die Langeweile vertreiben zu lassen. Wie die Noth oder die Habsucht die Menschen verblendet, daß sie in ihrer Begierde nach Hülfe oder reichlichem Gewinn die gewöhnlichste Ueberlegung außer Acht lassen, selbst die offenbarste Unmöglichkeit nicht wahrnehmen und blindlings dem Schwindel zum Opfer fallen, so ist dies auch bezüglich der Vortheile der Fall, welche sie durch Wunder zu erreichen hoffen. Außerdem aber kommt endlich noch ein Umstand in Betracht. Schon im Alterthume haben die Völker sich die heilsamen, beglückenden, segnenden Kräfte und Gaben der Natur durch ihre lebendige Phantasie persönlich vorgestellt und sich nahe gebracht. So ward die erquickende oder heilende Kraft der Quellen zum Beispiel in Nymphen, Göttinnen etc. in ähnlicher Weise vorgestellt, wie jetzt die heilende Kraft derselben als Gabe ober Wirkung der Madonna der Volksphantasie vorschwebt. Es verdient ernste Erwägung, wie bei einer Neugestaltung der Religion, welche den wissenschaftlichen, sittlichen und ästhetischen Fortschritten der Zeit Rechnung trägt, dieser Gabe und diesem Drange der menschlichen Natur eine der Vernunft entsprechende, wahrhaft hebende und veredelnde Befriedigung gesichert werden kann. Die Schule aller Stufen hat hier unbedingt eine große Rettungsaufgabe, und es darf mit der Vollführung derselbe wahrlich nicht gesäumt werden, wenn man den verdammenswürdig frevelhaften und schamlosen Eifer sieht, welcher von der clerikalen Presse jetzt so beharrlich auf die Pflege und Förderung des haarsträubendsten Gespensterglaubens, des tollsten und rohesten Wunder- und Teufelsspuks verwendet wird.

  1. Da die „Gartenlaube“ in den Nummern 36, Jahrg. 1876 und 40 des letzten Jahrgangs bereits ausführlichere Berichte über die Vorgänge in Lourdes und Marpingen mitgetheilt hat, glauben wir die Kenntniß des rein Thatsächlichen bei unsern Lesern voraussetzen zu dürfen. Eine solche Kenntnis aber reicht noch nicht aus zur Gewinnung eines vollen Urtheils über diese für unsere Zeit so beschämend traurigen und doch mit so unverschämtem Geräusche in’s Werk gesetzten Erscheinungen. Zur besonderen Freude gereicht es uns daher, das, Herr Professor Frohschammer in München auf unser an ihn gerichtetes Ersuchen die obigen kritischen Beleuchtungen den Leserkreisen unseres Blattes, darbietet. Es spricht also hier über die Sache eine namentlich auf diesem Gebiete anerkannt bewährte Autorität, ein durch Wissen, Geist und Scharfsinn ausgezeichneter Gelehrter und Schriftsteller, der als katholischer Priester schon mehr als ein Jahrzehnt vor dem vaticanischen Concil und vor der Entstehung des Altkatholicismus in vereinsamter Stellung entschieden den Kampf des deutschen Gedankens und der freien Wissenschaft wider Rom aufgenommen und trotz aller Verfolgungen bis zum heutigen Tage mit unentwegtem Mannesmuthe und immer frischer Geisteskraft geführt hat.
    D. Red.