Die Gebrüder Grimm und der Minister Hassenpflug
Als ich vor etwa vierzig Jahren die Universität Göttingen bezog, war dort noch Allen der Verfassungsbruch, welchen der König Ernst August am 1. November 1837 begangen, in lebhaftem Gedächtniß. Das Schicksal der sieben Professoren, welche gegen den Verfassungsbruch protestirt, in Folge dessen ihre akademischen Aemter verloren hatten und aus der Stadt getrieben worden [10] waren, hielt noch immer die Gemüther in Erregung und Spannung, und unter den Sieben waren bei den Studenten am populärsten die Gebrüder Wilhelm und Jacob Grimm, welche erst acht Jahre vorher von Kassel herüber gekommen waren und in der kurzen Zeit alle Herzen erobert hatten, Jacob durch seine tiefe und ausgebreitete Gelehrsamkeit, welche das gesammte germanistische Wissen umfaßte, Wilhelm durch seine milde und liebenswürdige Persönlichkeit. Selbst solche Studenten, welche, wie das in dem damaligen Göttingen fast die Regel war, sich sonst strenge auf ihr Fachstudium beschränkten, pflegten doch wenigstens bei Jacob Grimm ein germanistisches Collegium zu hören, und der Abgang der beliebten und berühmten Gebrüder hatte der Hochschule sehr an Frequenz und Ansehen geschadet. König Ernst August freilich wußte sich darüber zu trösten mit der leichtfertigen Phrase: „Professoren und Courtisanen sind immer wieder zu haben.“
Alle jene Erinnerungen werden in mir lebhaft wieder wachgerufen durch den vor einigen Wochen erschienenen, von dem verdienten Gelehrten Dr. Camillus Wendeler herausgegebenen „Briefwechsel des Freiherrn Carl Hartwig Gregor von Meusebach mit Jacob und Wilhelm Grimm“ (Heilbronn, Gebr. Henniger, 1880), welcher uns namentlich über die Berufung der Grimm nach Göttingen (1829), über deren Vertreibung von da (1937) und über deren Wiederanstellung durch König Friedrich Wilhelm den Vierten (1840) neue durch Correspondenzen und Actenstücke unterstützte Auskunft giebt. Das Buch Wendeler’s wird seiner Natur nach nicht weit über die Kreise der Gelehrten hinausdringen. Dagegen darf ich wohl mit Grund annehmen, daß das gesammte deutsche Volk sich sowohl für seine Lieblinge, für das durch Wissenschaft und politische Ueberzeugungstreue so leuchtend hervorragende Brüder-Paar, für deren persönliche Schicksale interessirt und daher einer Darstellung mit Aufmerksamkeit folgen wird, welche den Zweck hat, aus den Meusebach’schen Papieren das Allgemein-Interessante zusammenzustellen und durch eigene Erinnerungen zu ergänzen.
Vorausschicken will ich nur einige Notizen über die Persönlichkeit des Herrn von Meusebach.
Derselbe war in den ersten achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Nassauischen geboren und befand sich am Anfang des neunzehnten in Diensten des Fürsten von Oranien-Nassau und dann des von Napoleon aufgerichteten Großherzogthums Berg, welches der Cavallerie-General Murat unter dem Namen Joachim der Erste zum Geschenk erhielt. Als es im Jahre 1813 mit dem französischen Großherzogthum Berg zu Ende ging und die der Fremdherrschaft wieder entrissenen Länder im Namen der hohen Alliirten von dem Generalgouverneur Justus von Gruner verwaltet wurden, übertrug man Meusebach die Leitung der Justizverwaltung in Trier und ernannte ihn später zum Vorsitzenden des Revisionshofes in Coblenz. So ist er in preußische Dienste gekommen, in welchen er, da er sich während der Fremdherrschaft eine gründliche Kenntniß des französischen Rechtes angeeignet hatte, vorzugsweise auf dem Gebiete des rheinischen Rechtes verwendet und schließlich als Geheimer Ober-Revisionsrath Mitglied des später, im Jahre 1853, mit dem Obertribunal verschmolzenen rheinischen Revisions- und Cassations-Hofes in Berlin ward. Die letzten Tage seines Lebens brachte Meusebach auf seinem schönen Landsitze bei Berlin zu, von wo er seine Briefe datirt: „Zwischen Potsdam und Baumgartenbrück, wo der Thurm auf dem Hause steht“. Da ist er denn auch am 22. August 1847 an Gehirnerweichung im siebenundsechszigsten Jahre seines Lebens gestorben, mit Hinterlassung einer sehr reichen und werthvollen Sammlung von Büchern und Manuscripten, welche die königliche Bibliothek in Berlin von seinen Erben erworben hat.
Der officielle Meusebach war französischer, oder wie man später sagte, „rheinischer“ Jurist, der nicht officielle, der Privat-Meusebach, war deutscher Romantiker und literarischer Forscher, als welcher er vorzugsweise den höchst eigenthümlichen Schriften des etwas grotesken Humoristen Fischart, des deutschen Rabelais, seine Aufmerksamkeit zuwandte. Vielleicht war er mehr Sammler als Forscher. Aber jedenfalls hat er Verdienste um die germanistische Wissenschaft, und sein Briefwechsel bietet uns einen ebenso klaren wie charakteristischen Einblick in die Werkstätte dieser damals noch jungen Wissenschaft; seine Briefe zeigen uns, wie dieselbe aus kleinen Anfängen zu einem mächtigen Baume emporwuchs.
Mit den Gebrüdern Grimm ist Meusebach wahrscheinlich durch den großen Juristen von Savigny bekannt geworden, der damals Professor in Marburg war, von welcher kleinen Universität so viele große Geister ausgegangen. Meusebach besuchte die Grimm’s 1819 in Kassel. Seitdem entspinnt sich die Correspondenz, welche von da ab über ein Vierteljahrhundert, allerdings mit zeitweiligen Unterbrechungen, mehr oder weniger lebhaft fortgedauert hat. Der letzte Brief von Wilhelm Grimm datirt von einem Jahre vor Meusebachs Tod. Meusebach ist aus anderem Holze geschnitten als die beiden großen Gelehrten. Ein knorriger, seltsamer und schwer zu behandelnder Charakter, cultivirt er mehr seine „Eigenheiten“ als seine „Eigenschaften“, im Gegensatze zu dem Rathschlage Goethe’s, welcher lautet:
„Cultivirt eure Eigenschaften!
Eigenheiten werden von selber haften.“
Bei ihm ist Alles mehr Liebhaberei als Studium. Deshalb kommt er in der Regel zu keinem Abschluß, sondern bleibt im Sammeln kleben. Dabei steckt er voll bureaukratischer Marotten und koboldartiger Tücken. Es macht ihm ein „spitzbübisches“ Vergnügen, den guten Lachmann und andere Gelehrte zu mystificiren und mit allerlei Schabernack in die Irre zu führen. Bekanntlich hat jeder Mensch das Bedürfniß, zur Zeit aus seiner Haut zu fahren, oder wenigstens sich ein Steckenpferd zu halten, welches mit seinem officiellen Paraderoß wenigst möglich Verwandtschaft hat. Friedrich der Große blies die Flöte, und der preußische Finanzminister Bitter schreibt musikalische Bücher. Meusebach hatte seinen Fischart.
Wie Meusebach in großherzoglich Bergischen so war auch Jacob Grimm vormals in Königlich Westfälischen Diensten. Er war Privatbibliothekar des Königs Jérome und genoß, da der Faschings-König von literarischen Bedürfnissen ziemlich frei war, hinreichende Muße für seine Studien. Nach der Rückkehr des alten Kurfürsten, welcher die Zöpfe wieder herstellte, die Generale zu Fähnrichs zurückavanciren und sich von seiner Schildwache auf der Löwenburg 1814 rapportiren ließ, es sei seit der letzten Ronde von 1809 „Nichts Neues vorgefallen“, wurde das anders. Grimm mußte – sehr gegen seinen Geschmack, der ihn an seine Bücher fesselte – kurfürstlicher Legationssecretär im Hauptquartier der Verbündeten werden, und später wurde er zwar wieder Bibliothekar in Kassel, aber nur Unterbibliothekar, während Wilhelm Grimm nur Bibliotheksecretär war. Im Jahre 1829 schreibt Jacob Grimm an Meusebach:
„Hier in Kassel habe ich es nach dreiundzwanzig Dienstjahren bis auf sechshundert Thaler und mein Bruder Wilhelm hat es bis auf die Dreihundert gebracht. Letztes Frühjahr bekam Jeder von uns hundert Thaler Zulage, allein gleichzeitig bezeichnet man diesen Gehalt als den äußersten Punkt, über welchen hinaus wir es hier zu Lande niemals bringen würden, und darin liegt etwas Hartes; denn wir brauchen jährlich zwei- bis dreihundert Thaler mehr, und wir müssen diese sonst woher schaffen, entweder durch andern Erwerb oder durch Aufopfern der Ueberreste unseres Vermögens.“
Dies war die Lage zweier großer Gelehrten, welche die Vierzig schon seit einigen Jahren hinter sich hatten.
Gleichwohl hätten sie in ihrem bescheidenen Sinne nicht daran gedacht, ihre Lage zu verbessern, wenn nicht persönliche Kränkungen hinzugekommen wären, worüber wir aus dem Briefe von Jacob Grimm an C. von Meusebach, datirt Kassel den 15. November 1829, Folgendes vernehmen:
Oberbibliothekar, also Vorgesetzter der Gebrüder Grimm, war bis 1829 Herr Völkel. Dieser interessirte sich mehr für Antiken und Münzen und widmete sich ganz dem Museum, indem er die Bibliothek den Gebrüdern Grimm zur selbstständigen Verwaltung überließ. Nach dem Tode Völkel’s glaubte Jacob Grimm einen Anspruch darauf zu haben, daß man ihm die Stelle eines Oberbibliothekars, welche er schon seit zehn Jahren hinsichtlich der Pflichten ausgefüllt hatte, auch hinsichtlich des Titels, der Rechte und der Besoldung übertrage. Allein man überging ihn und machte den Professor Rommel zum Oberbibliothekar, obwohl dieser schon Archivdirector war. Es ist wahrhaft rührend, die Klagen Jacob Grimm’s über diese Mißhandlung zu hören, welche ihn zwang, sein geliebtes Kassel zu verlassen.
„Ein ehemaliger Professor aus Marburg,“ schreibt er, „der sich hierher als kurfürstlicher Historiograph hat versetzen lassen, weil er dort als Professor keinen Beifall fand, und der später auch Archivdirector geworden, obwohl er bis zur Stunde noch keine Urkunde ordentlich lesen kann – ein reichlich besoldeter wohlhabender [11] Mann – kurz, Herr Rommel, oder etwas weitläufiger: „Herr von Rommel“ genannt (weil er sich, mir auch ein Greul, vor einigen Jahren adeln ließ), warb um die Stellen, zu deren keiner er durch Kenntnisse befähigt war, und erlangte sie, mit Beibehaltung seiner früheren, weil er keinen der hier üblichen Wege verschmähte. Wir (die beiden Grimm) wurden mit einer schnöden Zulage abgespeist. Das war mir doch zu arg. Wir haben seitdem bis heute vor vierzehn Tagen diesem Oberbibliothekarn alle Bücher, deren er nicht wenige für seine „Geschichte“ forderte, suchen und herausgeben müssen, da er sie selber nicht finden kann.“
Kurz, die beiden Grimm, bisher wirkliche Bibliothekare, wurden zu Amanuenses und Expedienten heruntergedrückt von einem Manne, welchem sie wissenschaftlich weit überlegen waren. Bei dem Minister von Meysenbug fanden sie kein Gehör. Der Name des Herrn war eigentlich Rivalier. Er war mit „Roi Jérome“ in das Land gekommen und mit einem hessischen Rittergute Meysenbug beschenkt worden. Er spielte à deux mains. War es Deutsch, dann war er der Baron Meysenbug. War es Französisch, dann war er wieder der Chevalier Rivalier.
Da entschlossen sich denn die Brüder, einem Rufe nach Göttingen Folge zu leisten, obgleich die ihnen von dorther angetragene Stellung auch nicht gerade sehr glänzend war; Jacob wurde ordentlicher Professor und Bibliothekar mit tausend, Wilhelm Bibliothekar mit fünfhundert Thalern.
„Dieser Ausgang und diese neue Einrichtung sind mir fatal,“ schreibt Jacob Grimm an Meusebach. „Ich hänge mit allen Geschwistern von Kindheit auf gewaltig an Hessen. Wir hatten das so von Eltern und Großeltern geerbt. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen, einem ‚abtrünnigen Nassauer‘, das so recht fühlbar machen kann. Wir betrachteten noch als Jungen die benachbarten Fuldaer, Mainzer und Ysenburger wie wildfremde Menschen, mit denen wir keine Gemeinschaft haben mochten. Ferdinand copirte sich die Landkarte der Gegend und vergrößerte sichtbar alle hessischen Flüsse und Städte, damit sie mächtiger erschienen. Später ist mir noch lange ganz undenkbar vorgekommen, in einem anderen Lande zu leben, und meine Eltern hätten es nie zugegeben. Den größten Theil meines Lebens habe ich hier zugebracht, und alle meine Phantasie und Erinnerung bleibt in Hessen zurück.
Unsere gute Schwester Lotte (damals schon verheirathet) hat, seitdem sie wußte, daß etwas im Werke war, mir, ohne dabei etwas zu sagen, alte Halstücher und Ueberreste von wohlbekannten Kleidungsstücken unserer seligen, über Alles geliebten Mutter, die hier begraben liegt, gleichsam heimlich abmahnend vorgelegt. Aber auch sie muß aufgegeben werden. Es ist nun einmal unabänderlich. Der Ende des vorigen Monats geforderte Abschied wurde uns auf der Stelle verwilligt. Man eilte sich damit so, damit die Besoldung schon vom 1. November an aufhören könne. Montag den 2. dieses, auf Allerseelen-Tag, habe ich alle Schlüssel und Siegel – darunter auch eins, das ich mit besonderer Genugthuung abgab, nämlich das eines zwölf Jahre lang umsonst bekleideten Censor-Amtes – ausgehändigt und gedenke ich, nun nie wieder den langen Saal (der Bibliothek) zu betreten, dessen viele Fenster mich wie wehmüthige Augen ansehen, wenn ich vorüber gehe, und zwischen denen ich selbst von außen her die Bücher weiß, wie sie stehen.
Diese Woche reisen wir, drei Mann hoch, nämlich Dortchen (die Frau Wilhelm Grimm’s), Wilhelm und ich, über den Lütternberg (nach Göttingen), um uns dort ein Haus (Wohnung) zu suchen, kehren nach einigen Tagen zurück und werden gegen Neujahr endlich mit Sack und Pack abziehen. Dies ist also mein letzter Brief aus Kassel an Sie.
Der ‚Professor‘ gemahnt mich immer noch seltsam. Aber die Dienstmädchen Lieschen und Lisbeth, die Beide mitziehen, werfen schon ganz fertig damit herum, und meine Schwägerin Dortchen kommt mir ordentlich wie meine Frau vor, weil ich nach der ‚Frau Bibliothekarin‘ und nicht mehr nach der ‚Frau Secretärin‘ fragen höre. Hermännchen (Wilhelm’s Sohn, jetzt Professor an der Berliner Universität) gedeiht vortrefflich und macht uns alle Tage Freude mit seinem Geschwätz.“
Soweit Jacob Grimm in seinem Briefe vom 15. November 1829. (Bekanntlich ist Jacob Grimm Junggeselle geblieben, hat aber mit seinem verheiratheten Bruder Wilhelm stets einen gemeinsamen Haushalt geführt.) Kann man ein besseres Bild geben von dem selbstlosen, arbeitsfreudigen, bescheidenen deutschen Gelehrten?
Von Kassel nach Göttingen war damals allerdings noch eine Art von Tagereise, heute ist es eine Nachmittagsspazierfahrt von einer Stunde. Und wie schwer ist es dem guten Manne geworden, diese kleine Strecke zurückzulegen und seinen theueren kattischen Boden mit niedersächsischem zu vertauschen! Was ihn an jenen fesselt, das ist durchaus nicht politischer Particularismus, gegen den er sich noch in der Widmungsvorrede zu seiner „Geschichte der deutschen Sprache“, datirt „Frankfurt am Main (Paulskirche), den 11. Juni 1848“, mit der größten Entschiedenheit ausspricht, indem er „jene Gesinnungslosen“ verdammt, „welchen es im höchsten Grade einerlei ist, ob vor hundert Jahren Friedrich der Große Preußen erhoben habe, und welche jetzt eben dieses Preußen mit allen Mitteln erniedrigen möchten, da doch unsere Stärke und Hoffnung nur auf ihm beruht“.
Also nicht der politische Particularismus, welcher willkürliche Grenzen zieht und, wie dies Jacob Grimm an dem angeführten Orte gerade an dem hessischen Volksstamme so überzeugend und so schön nachweist, die deutschen Stämme theilt und nicht zusammenfaßt und vereinigt – sondern die Liebe zur Heimath ist es, was ihm die Trennung von dem kattischen Boden so schwer macht – die Trennung von dem schönen Kassel, welches damals noch, seiner Schönheit unbewußt, schlief, wie die Prinzessin Dornröslein im Märchen, und das erst in unseren tiefbewegten und geräuschvollen Tagen zum vollen Leben und zu reichster Blüthe erwacht ist.
Gerade aber diese Liebe zu seiner Heimath, an welcher er mit der ganzen Kraft seines kindlich-reinen und doch so männlich-tapferen Herzens hing, hat ihn zu einzelnen seiner besten Leistungen befähigt. Nur bei diesem innigen Zusammenhang mit dem Land und den Leuten des Bodens, dem er entsprossen, war es ihm möglich, z. B. ein so bewundernswerthes Werk zu vollbringen, wie die „Kinder- und Hausmärchen“, welche er in Gemeinschaft mit seinem Bruder Wilhelm gesammelt, ein Werk, um welches uns die übrigen Nationen Europas beneiden.
Selbst die Anhänglichkeit an seine Kasseler Bibliothek, die es ihm mit ihren „schönen Augen“ angethan hat, hat etwas Rührendes. Das Rührendste aber ist die Anhänglichkeit an seine Schwester Lotte und an seine selige Mutter.
Es ist dieselbe Schwester, welcher er in Gemeinschaft mit seinem Bruder Wilhelm während der Zeit ihres Aufenthaltes in Berlin auf dem alten Friedhof in Kassel ein Denkmal gesetzt hat.
Die Inschrift, welche die eherne Tafel trägt, enthält ein Stück deutscher Geschichte. Sie ist ebenso vielsagend wie einfach. Sie lautet:
Unserer hier in Gott ruhenden lieben Schwester |
Ich habe diesen Leichenstein, der nur Wenigen bekannt ist,
noch vor einigen Jahren auf dem alten Kasseler Friedhofe aufgesucht
und die Inschrift so, wie sie oben steht, abgeschrieben. Sie
sind nun Alle todt, die darauf genannt sind: sowohl die Gebrüder
Grimm, die ihn gesetzt haben, wie auch Hassenpflug, der ihn hätte
setzen sollen. Denn die Schwester Lotte war die erste Gemahlin
dieses Ludwig Hassenpflug, oder mit vollem Namen Hans Daniel
Ludwig Hassenpflug, des bösen Genius des letzten Kurfürsten von
Hessen, welcher Letztere – und das ist vorzugsweise Hassenpflug’s
Werk – zugleich der Letzte aller Kurfürsten der Welt wurde.
Heute „kürt“ man nicht mehr den deutschen Kaiser. Es giebt
wohl noch Fürsten, aber keine Kurfürsten.
Ueber diesen Leichenstein will ich dem Leser in meinem nächsten und letzten Artikel über die Gebrüder Grimm berichten.
[26]
Hassenpflug, der fast zwei Decennien lang von allen reactionären Romantikern in Deutschland, mochten sie auf den Thronen und den Thrönchen, in den Ministerial- und Regierungsbureaux, in den Pfarrhäusern oder den Dorfschenken sitzen, als „der große Staatsmann“, als „der Einzige, welcher uns von der Revolution erretten und vor dem Untergange bewahren kann“, bewundert und gepriesen wurde, hat ein recht klägliches Ende genommen.
Leugnen kann man es nicht: Er war ein Mann von Geist und von Kenntnissen. Aber er ging unter an seinem herrischen Wesen und seiner Selbstüberschätzung. Der Unabhängigkeitssinn, welcher ihn in seiner Jugend verleitete, gegen Alles Opposition zu machen, schlug um in Größenwahnsinn und Herrschsucht, welche letztere ihm nicht erlaubte, irgend eine andere Meinung neben der seinen zu dulden.
Schon Hassenpflug’s Vater, der Regierungspräsident in Kassel gewesen, war so unpopulär, daß die Diemelbauern in einer ehrlich gemeinten und nicht allzu höflichen Adresse an den alten Kurfürsten denselben als einen „jener bösen Rathgeber“ bezeichneten, „welchen der gnädigste Herr sein Haus und sein Ohr verschließen müsse, wenn er in Frieden mit seinem Volke leben wolle“.
Der junge Hassenpflug, der übrigens nicht, wie ihn seine conservativen Verehrer zu benennen pflegen, „Daniel“, sondern „Louis“ gerufen wurde, schien anfangs eine andere Richtung einschlagen zu wollen, als sein Vater. Als junger Mann von neunzehn Jahren machte er die Befreiungskriege gegen Frankreich mit. Nach Deutschland zurückgekehrt, schloß er sich den burschenschaftlichen Bestrebungen für die Einheit und Freiheit des Vaterlandes an. Es war in Göttingen, wo er ein Exemplar der niederträchtigen Denunciation, welche der Berliner Geheimerath Schmalz wider den deutschen Geist und die damaligen Hauptträger desselben, die deutschen Universitäten, hatte im Druck ergehen lassen, mit eigener Hand öffentlich an den Pranger annagelte. Als Studirender der Rechte lag er zugleich mit großem Eifer den historischen und philosophischen Wissenschaften ob, und es waren vornehmlich seine literarischen und germanistischen Studien, welche ihn mit den (etwa um ein Jahrzehnt älteren) Gebrüdern Grimm zusammenführten. Es darf übrigens nicht unerwähnt bleiben, daß sehr Viele der damaligen romantisch gesinnten Studien- und Stimmungsgenossen Hassenpflug’s sich später der äußersten Reaction, sowohl auf politischem wie auf religiösem Gebiete, in die Arme warfen. Der bedeutendste unter denselben, der vor Kurzem in geisteskrankem Zustande verstorbene Professor Heinrich Leo in Halle, hat uns eine ebenso aufrichtige wie lehrreiche Schilderung jener Zeiten nach den Befreiungskriegen und des Verhaltens der deutschen Jugend während derselben hinterlassen, welche unter dem Titel: „Aus meiner Jugendzeit“, 1880, bei F. A. Perthes in Gotha im Drucke erschien. Ich kann dabei die weitere Bemerkung nicht unterdrücken, daß Louis Hassenpflug und Heinrich Leo congeniale Naturen waren vermöge ihres unbändigen Trotzes und ihrer Selbstüberhebung, welche Beide dahin führten, sich auf der Haller’schen Weltanschauung einen ultrareactionären Trutzwinkel aufzubauen, van welchem aus sie die ganze moderne Culturentwickelung und Weltordnung negirten und bekämpften, obgleich doch diese Ordnung der Dinge nicht minder, als die mittelalterliche, „ein Werk Gottes“, ist. Der Unterschied zwischen Beiden ist nur der, daß Heinrich Leo Historiker war und blieb und als solcher (abgesehen, von seinen letzten Schriften, welche schon Spuren der Geistesstörung tragen) höchst Bedeutendes geleistet hat, das auch seine politischen und kirchlichen Gegner zu schätzen wissen, während Louis Hassenpflug vom Juristen zum Rabulisten herabsank und seinem Fürsten und seinem Lande gleich verderblich gewordenen.
In seiner Jugend zeichnete sich Hassenpflug also durch einen gewissen störrischen, aber sehr ehrenwerthen Rechtssinn aus, wovon uns Professor Fr. Müller in seinen 1879 unter dem Titel „Kassel seit siebenzig Jahren“ erschienenen Denkwürdigkeiten, einem unterhaltenden und interessanten Buche, welches uns manches Wissenswerte erzählt, das wir in den dicken Geschichtswerken vergeblich suchen, ein Beispiel überliefert:
Nach seiner Rückkehr von der Universität 1817 wurde Hassenpflug als Assessor bei dem Justizsenat der Regierung in Kassel angestellt, bei welchem sein Vater Präsident war. Bei dieser Regierung hatte Kurfürst Wilhelm der Erste seinen letzten Willen deponirt. Kaum war Wilhelm der Erste todt, so schickte der Nachfolger einen Hofbediensteten auf die Regierung, um das Testament herauszuverlangen. Hassenpflug-Vater und seine Räthe waren schon im Begriff, die ihrer Obhut anvertraute Urkunde kurzhandig auszuliefern, weil sie auch in Justizsachen keinen anderen höchsten Willen kannten, als den des regierenden Herrn. Hassenpflug-Sohn dagegen hatte in Güttingen ein anderes Recht gelernt, nämlich daß der Richter (und jener „Justizsenat“ hatte richterliche Functionen) das seiner Obhut anvertraute Testament Niemandem, wäre es auch der Landesherr, auszuliefern, sondern nach dem Tode des Testamentserrichters zu eröffnen und zu publiciren und den Interessenten zwar Einsicht und Abschrift zu gewähren, aber nicht das Original herauszugeben hat. Dies stellte der pflichttreue jüngste Assessor den alten Richtern so eindringlich vor, daß nach hartem Kampfe seine Meinung siegte, der Hofbeamte des neuen Kurfürsten unverrichteter Dinge abziehen mußte, das Testament zuvor nach Recht und Gesetz publicirt und erst dann dem regierenden Herrn eine Abschrift vergönnt ward.
Louis Hassenpflug wurde 1821 Assessor und etwas später Rath des kurfürstlichen Ober-Appellationsgerichts. In dieser Stellung vollzog sich bei ihm die Wandlung, welche bestimmend war für sein späteres Leben und namentlich auch für seine verhängnißvolle ministerielle Thätigkeit in Kurhessen. Ich habe schon erwähnt, wie der Uebergang von der Romantik zur Reaction damals in der Luft lag. Bei Hassenpflug aber kam noch ein besonderes psychologisches Moment hinzu. Ich verdanke diese Mittheilung einem nun schon verstorbenen ausgezeichneten hessischen Richter, welcher gleichzeitig mit Hassenpflug Mitglied des obersten Gerichtshofes in Kassel gewesen.
Hassenpflug war lange Zeit hindurch der jüngste der Richter. Er hatte Geist und Kenntnisse. Das konnte ihm Niemand bestreiten. Aber er war sich dessen in einem Grade bewußt, daß er seinen älteren Collegen gegenüber einen Ton anschlug, welchen diese sich nicht gefallen lassen wollten. Alle klagten über seine höchst anmaßliche Selbstüberhebung; so entstand zwischen ihm und den Anderen eine Differenz, welche sich auch sachlich immer mehr erweiterte; da die älteren Herren einer durch reiche Lebenserfahrung gewonnenen gemäßigt liberalen Gesinnung huldigten und neben dem strengen Recht auch die Billigkeit walten ließen, so stellte sich Hassenpflug auf die entgegengesetzte Seite des abstracten und abstrusen veralteten Rechts, das nach dem Sprüchworte „Summum jus summa injuria“ zuweilen auch das größte Unrecht ist. Er verritt sich in seiner Erbitterung und Rechthaberei immer mehr, und da er von Natur ein leidenschaftlicher und gewaltthätiger Charakter war, so gelangte er bald so weit, daß er sich nicht scheute, öffentlich zu verkündigen, die soeben vereinbarte kurhessische Verfassung von 1831 sei „in politischer Beziehung ein Werk der Revolution und in religiöser Beziehung ein Werk des Teufels“.
Diese Ansicht empfahl ihn. Er wurde alsbald, im März 1832, Ministerialrath, und schon im Mai desselben Jahres trat er an die Spitze der beiden wichtigsten Ministerien, der Justiz und des Innern. Er begann alsbald den Kampf auf Leben und Tod, „den Kampf gegen die Opposition“, wie er sagte, „den Kampf gegen die Verfassung“, wie die Andern sagten – seinen Kampf, in welchem er schließlich unterlag. Ich will die Geschichte dieses Kampfes hier nicht erzählen. Sie ist bekannt, und noch kürzlich hat uns Friedrich Oetker im zweiten Bande seiner „Lebens-Erinnerungen“ ein anschauliches Bild desselben entworfen.
Durch diesen Kampf hat sich Hassenpflug schon 1833 die Herzen seiner rechtschaffenen und getreuen Schwäger, der Gebrüder Grimm, vollständig entfremdet. Politiker waren Jacob und Wilhelm Grimm eigentlich gar nicht; jedenfalls waren sie im höchsten Grade tolerant gegen jede andere politische Meinung.
[27] „Meine Vaterlandsliebe,“ schreibt Jacob Grimm am 16. Januar 1838 (Siehe Meusebach’s Briefwechsel S. 259), „habe ich niemals hingeben mögen in die Bande, aus welchen zwei Parteien einander anfeinden … ich traue jedem dieser Gegensätze einen größeren oder kleineren Theil Wahrheit zu und halte für möglich, daß sie schließlich in voller Einigung aufgehen.“
Es war nicht Parteigeist, sondern die ethische, die sittliche und moralische Seite der Sache, welche 1833 Grimm seinem Schwager Hassenpflug entfremdete, welcher in seinen politischen Kämpfen auch unehrliche Mittel nicht verschmähte, wenn er sie für tauglich hielt, den Zweck zu erreichen, und welche 1837 ihn zwang, gegen den hannoverschen Verfassungsbruch zu protestiren. Aus Anlaß des letzteren schreibt er:
„Was ist es denn für ein Ereigniß, das an die abgelegene Kammer meiner einförmigen und harmlosen Beschäftigungen schlägt, eindringt und mich herauswirft? … Der Grund ist, weil ich eine vom Land, in das ich aufgenommen worden war, ohne alles mein Zuthun, mir auferlegte Pflicht nicht brechen wollte, und als die drohende Anforderung an mich trat, das zu thun, was ich ohne Meineid nicht thun konnte, nicht zauderte der Stimme meines Gewissens zu folgen. Mich hat das, was weder mein Herz noch die Gedanken meiner Seele erfüllte, plötzlich mit unabwendbarer Nothwendigkeit ergriffen und fortgerissen. Ich sehe mich in eine öffentliche Angelegenheit verflochten, der ich keinen Fuß breit ausweichen darf, nicht erst lange umblicken, was Hunderttausende thun oder nicht thun, die gleich mir zu ihrer Aufrechthaltung verbunden sind.“
In demselben Jahre 1833, also in dem ersten Jahre des Hassenpflug’schen Kampfes gegen Gesetz und Verfassung, gegen das öffentliche Recht und das öffentliche Gewissen, ist denn auch Lotte Grimm in jungen Jahren verstorben. Ohne Zweifel dachte sie über Hassenpflug’s verhängnisvolles Thun und Treiben nicht anders, als ihre Brüder Wilhelm und Jacob. Gesprochen hat sie darüber zu Niemand; denn es ist nicht edler deutscher Frauen Art, bei Dritten den eigenen Gemahl zu verklagen; lieber tragen sie stumm ihren Gram und gehen schweigend zu Grabe. Und die Vorsehung hat es ohne Zweifel gut mit ihr gemeint, indem sie dieselbe bei Zeiten abrief und ihr ein langes Leben voll Angst, Pein und Gewissensqualen ersparte. Hassenpflug aber ist alsbald zu einer zweiten Ehe geschritten und hat darüber vergessen, seiner edlen Gemahlin ein Denkmal zu setzen.
Bis zehn Jahre nach dem Tode ihrer Schwester Lotte haben Jacob und Wilhelm Grimm gewartet. Dann haben sie ganz im Stillen derselben auf dem Kasseler Gottesacker den in einem vorigen Artikel (vergleiche Nr. 1 d. J.) erwähnten Denkstein errichtet und damit nachgeholt, was der Gemahl versäumt hatte.
Es ist uns nicht erlaubt, die Schatten, welche das Trauerspiel von Kurhessen bis in die intimsten Familienkreise hinein warf, zu erörtern; denn es ziemt sich nicht, an das Licht der Oeffentlichkeit zu ziehen, was die Betheiligten selber lieber verschleiern. Beschränken wir uns daher auf das, was die Brüder selbst dem Leichensteine der Schwester eingegraben. Die Schwester, etwa acht Jahre jünger als die Brüder, hat im dreißigsten Jahre den gleichalterigen Louis Hassenpflug geheirathet. Der Tod trennte nach zehn Jahren die Ehe in derselben Zeit, da der Gemahl jene eigentümliche Laufbahn einschlug, welche seinen Namen auf die Nachwelt gebracht hat, aber nicht als einen Namen des Segens und des Friedens, sondern als einen solchen, welcher den Untergang einer vormals glorreichen Dynastie bedeutet — jener Dynastie, welche anhebt mit dem „Kinde von Brabant“. Und abermals nach zehn Jahren, während deren Hassenpflug wohl Zeit gehabt hätte, seiner verstorbenen Gemahlin zu gedenken, ließen Jacob und Wilhelm den Stein setzen, auf welchem sie sich, selbst in ihrem Schmerze noch maßvoll, darauf beschränkten zu sagen, daß es nicht der überlebende Gemahl war, sondern die Brüder, welche nach zehn Jahren noch der todten Schwester gedachten.
Deshalb durfte ich in meinem eben erwähnten Einleitungsartikel wohl mit Recht behaupten: Diese Inschrift ist ebenso vielsagend, wie einfach.
Was Hassenpflug selbst anlangt, so diente er seinem Kurfürsten und anderen Fürsten in seiner Art zwar treu und ergötzte sie mit den dialektischen Künsten und juristischen Rabulistereien, durch die er, unter Mißbrauch der öffentlichen Gewalt, die Opposition eine Zeitlang niederzuhalten wußte; als man aber später sah, daß man mit seinen Zauberkünsten keinen Hund mehr aus dem Ofenloche locken konnte, wurde er vollständig vernachlässigt und – ich glaube nicht zuviel zu sagen, denn ich spreche aus eigener Anschauung – der Verkommenheit preisgegeben.
Man hat Hassenpflug der Hab- und Bereicherungssucht geziehen, und sein Greifswalder Conflict sowie auch das, was uns Friedrich Oetker, nach eigener Beobachtung, in seinen „Lebens-Erinnerungen“, Band 2, Seite 107 und ff. erzählt, sprechen scheinbar dafür. Allein in diesem Punkt that man ihm Unrecht; er ist arm aus dem Amte geschieden. Freilich war es auch schwer, sich unter einem so außerordentlich sparsamen Herrn, wie der Kurfürst war, zu bereichern.
Im Grunde genommen war der Kurfürst seinen Ministern stets nicht allzu gewogen. Er sah in Jedem derselben einen Beschränker der absoluten Gewalt, für welche er schwärmte. Einst hatte ihm ein neues Ministerium ein Programm vorgelegt. Als darauf die Minister in das kurfürstliche Palais entboten wurden, fanden sie in dem Vorzimmer auf dem runden Tisch ihr Programm liegen. Es war sauber eingebunden, und auf dem Umschlag stand von des hohen Herrn eigener Hand geschrieben: „Dienst-Instruction für Friedrich Wilhelm. NB ist aber kein Diener, sondern der Herr!“
Der Kurfürst amüsirte sich, wenn er seine Minister ein wenig ärgern oder ihnen sonst wie in die Quere kommen konnte, wie er überhaupt seine Freude daran hatte, wenn ihnen etwas Unliebsames passirte.
Am liebsten hätte er Alles selbst und Alles allein gemacht, da er aber Alles einer wiederholten minutiösen Prüfung unterzog und überhaupt nur schwer zu einem Entschlusse kommen konnte, so wuchs ihm die Arbeit über den Kopf und daraus entstand dann das, was man die „kurfürstliche Geschäftsstockung“ nannte. Hassenpflug, der ein eifriger und arbeitsamer Geschäftsmann war, kam darüber oft in Reibung mit seinem Fürsten, der noch weit herrschsüchtiger war, als Hassenpflug selber. Der Kurfürst mochte eigentlich den Hassenpflug noch weit weniger, als seine übrigen Minister, und so oft er glaubte, ihn entbehren zu können, gab er ihm die Entlassung. Leider aber wußte sich Hassenpflug dadurch, daß er den Riß zwischen dem Fürsten und dem Lande immer mehr erweiterte, immer unentbehrlicher zu machen, und so führte das Verhängniß beide Männer immer von Neuem zusammen – zu ihrem eigenen Verderben.
Namentlich in kirchlicher Beziehung bestand ein diametraler Gegensatz zwischen dem rationalistischen Fürsten und seinem hyperorthodoxen und frömmelnden Diener, und des letzteren Vorschläge zu Gunsten seiner mystischen Freunde fielen meistens in’s Wasser.
Einst beantragte Hassenpflug für einen höheren Geistlichen vier Dienstpferde für seine Inspectionsreisen. „Geistlicher Hochmuth,“ sagte der Kurfürst. „Wird nichts daraus. Unser Heiland hatte nur einen Esel.“
Hassenpflug hatte es zwar fertig gebracht, daß die Geistlichkeit der Diöcese Kassel den Consistorialrath Vilmar, den bekannten Vertheidiger der Hexenprocesse, welcher versicherte, er habe mit seinen eigenen leiblichen Augen gesehen, wie der Teufel gegen ihn (Vilmar) die Zähne gefletscht habe, zum Superintendenten wählte, allein es gelang ihm nicht, die Bestätigung des Kurfürsten zu erwirken. Daraufhin verlangte Hassenpflug seinen Abschied und – erhielt ihn, gegen alle Vermuthung. Er hätte eher den Einsturz des Himmels erwartet. Seitdem harrte er Tag für Tag und Jahr für Jahr, daß ihm das Ministerium wieder angetragen werde. Er wartete vergeblich.
Endlich reichten seine Mittel nicht mehr, um in Kassel auf dem alten Fuße zu leben. Er entschloß sich, nach dem billigen Marburg, dem Sitze der gestürzten Günstlinge und gefallenen Größen, überzusiedeln. „Als aber die Möbelwagen schon gepackt waren“, erzählt uns Professor Fr. Müller in seinem „Kassel seit siebenzig Jahren“, Band II, Seite 330, „legte sein Hauswirth Beschlag auf das Ganze, weil die europäische Berühmtheit, Großkreuz und Ritter des hessischen Löwen-Ordens und des österreichischen Leopold-Ordens, mit dem Miethzins noch rückständig war.“ – –
In Marburg ist denn Hassenpflug gestorben, ohne daß die Sonne der Gnade ihn jemals wieder beschienen. Er hatte dort ebenso wenig Gelegenheit, seinen Herrschertrieb zu befriedigen, als sein hoher Herr später in Horsowitz. Beide hatten dem Moloch der Herrschsucht über das dem Sterblichen gestattete Maß hinaus [28] gehuldigt und waren ihm zum Opfer gefallen, der Kurfürst immerhin mit einer gewissen Würde, sein Diener ohne solche.
In dem kleinen Marburg war der einst allmächtige Minister von Allen gekannt und bei Allen verrufen. Früher hatte seine Gewalt, sowie die rücksichts- und schrankenlose Art, wie er Gebrauch davon machte, die Leute geschreckt und ihm unterworfen. Jetzt war es vorbei damit. Kein Mensch grüßte ihn beim Begegnen, und Viele gaben ihm ihren Abscheu nur allzu deutlich zu erkennen. Sein stolzes Herz konnte das nicht ertragen. Er verschloß sich in seine Wohnung, suchte Trost in dem Becher und fand darin nur Krankheit und Betäubung.
So ist er verdorben und gestorben.
Das Alles fiel mir ein, als ich das einsame Grab der Frau Lotte Grimm auf dem alten Todtenhofe wieder aufsuchte.