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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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5. Heft. Preis 10 cents. 14. März 1899.



Max Well & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

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Inhalt.
Seite
Das Schweigen im Walde. Roman von Ludwig Ganghofer (4. Fortsetzung) 133
Ueber den Schwindel. Von Nervenarzt Dr. Otto Dornblüth. 142
Eugenie John-Marlitt. Mit bisher ungedruckten Briefen und Mitteilungen. Von Moritz Necker. 144
Elen- und Säbel-Antilopen mit Jungen. Von Paul Matschie. Mit Abbildungen 152
Didiers Braut. Novelle von A. Noël (Anfang) 154
Blätter und Blüten: Graf Leo Caprivi †. (Mit Bildnis.) S. 162. – Der Friedenauer Schulgarten. (Zu dem Bilde S. 133.) S. 162. – Deutschlands merkwürdige Bäume: der Weißdorn zu Soest. (Mit Abbildung.) S. 163. – Das kurfürstliche Schloß in Mainz. (Mit Abbildung.) S. 163. – Am Hofe des Tiberius. (Zu dem Bilde S. 136 und 137.) S. 163. – Altdeutscher Hochzeitszug. (Zu dem Bilde S. 145.) S. 163. – Anton van Dyck. (Mit Bildniß und zu unserer Kunstbeilage.) S. 164. – Belauscht. (Zu dem Bilde S. 149.) S. 164. – Gudrun am Meere. (Zu dem Bilde S. 161.) S. 164. – Die Weidenpfeife. Gedicht von W. Schulte vom Brühl. (Zu dem Bilde S. 157.) S. 164.
Illustrationen: Im Gemeindeschulgarten zu Friedenau bei Berlin. Von E. Thiel. S. 133. – Am Hofe des Tiberius. Von E. Forti. S. 136 und 137. – Spottvögel. Von E. Beauduin. S. 141. – Altdeutscher Hochzeitszug. Von A. Brunner. S. 145. – Belauscht. Von J. R. Sylvestre. S. 149. – Abbildungen zu dem Artikel „Elen- und Säbel-Antilopen mit Jungen“. Von A. Matschie-Held. Säbel-Antilopen. S. 152. Elen-Antilopen. S. 153. – Die Weidenpfeife. Von O. Piltz. S. 157. – Gudrun am Meere. Von Ferd. Leeke. S. 161. – Graf Leo Caprivi †. S. 162. – Deutschlands merkwürdige Bäume: der Weißdorn zu Soest. S. 163. – Das kurfürstliche Schloß in Mainz. S. 163. – Selbstbildnis Anton van Dycks in den Uffizien zu Florenz. S. 164.


Hierzu Kunstbeilage V: „Die Kinder Karls I von England“. Von Anton van Dyck.




Kleine Mitteilungen.


Amalie Joachim †. Eine Sängerin ersten Ranges, welche sich um die Pflege des Liedergesangs hervorragende Verdienste erworben hat, ist in Amalie Joachim dahingegangen, die am 3. Februar in Berlin schwerem Leiden erlag. Sie war eine Oesterreicherin; in Marburg in Steiermark kam Amalie Schneeweiß am 10. Mai 1839 als Tochter eines kaiserlichen Rates zur Welt. Für die Ausbildung ihrer schönen Altstimme bot die kleine Provinzialstadt nur unzulänglich Gelegenheit. Aber der häufige Besuch der guten Oper in Graz, der dem heranwachsenden Mädchen gewährt ward, ermöglichte es ihm wenigstens, aus eigenem Antrieb sich nach tüchtigen Mustern zu bilden. Sehr früh regte sich in ihr der Drang zur Bühne; ihr erstes Auftreten erfolgte in Troppau. Ihre seltene Begabung entwickelte sich hier schnell, und als sie im folgenden Jahr in Wien vor Cornet, dem Direktor des Operntheaters am Kärntner Thor, Probe sang, beeilte sich dieser, sie für seine Bühne zu engagieren. 1862 erhielt sie einen Ruf an das hannoversche Hoftheater als erste Altistin, wo sie mit glänzendem Erfolg wirkte.

Ihre Verheiratung mit dem berühmten Geigenvirtuosen Joseph Joachim wurde jedoch schon im folgenden Jahre zum Anlaß, daß sie ihre Kunst dem Theater entzog und sich hinfort auf den Konzert- und Oratoriengesang beschränkte. Und auf diesem Gebiete entfaltete sich ihr reiches Können erst in seiner ganzen machtvollen Eigenart. Die seelenvolle Auffassung, die innige Durchgeistigung, mit der sie die herrlichen Lieder Franz Schuberts, Robert Schumanns, Felix Mendelssohns und ihrer Nachfolger zum Vortrag brachte, fanden überall enthusiastische Aufnahme. Auch im Ausland erlebte ihre edle Liederkunst begeisterte Anerkennung; namentlich in England gewann sich Frau Joachim als Lieder- und Oratoriensängerin eine große treue Gemeinde. Für einen Cyklus von Sonderkonzerten, der vier Abende umfaßte, stellte sie sich ein Programm „Das deutsche Lied“ zusammen, das in geschmackvollster Auswahl eine Uebersicht über die Entwickelung des deutschen Liedes darbot; die Kraft der Nachempfindung, mit welcher sie dem Reichtum der hier sich folgenden Stimmungen gerecht zu werden vermochte, erregte allgemeine Bewunderung.

Auch als Lehrerin ihrer Kunst hat Amalie Joachim sich große Verdienste erworben; zahlreiche Schüler und Schülerinnen trauern ihr nach und lohnen ihr mit treuer Anhänglichkeit die Fülle von Belehrung und Anregung, welche sie ihrem Unterricht und ihrer Kunstbegeisterung zu danken haben. Zu ihren erfolgreichsten Schülerinnen gehört auch eine ihrer Töchter, welche heute am Kasseler Hoftheater als erste Altistin wirkt. Seit 1868 lebte Frau Joachim in Berlin, wo ihr Gatte damals die Direktion der neuerrichteten Hochschule für Musik übertragen erhielt. Ihren Wohnsitz hatte die Künstlerin zuletzt in Charlottenburg.

Niveauschwankungen großer Binnenseen als barometrische Erscheinungen. Daß der Wind Schwankungen des Wasserspiegels von Binnenseen sowohl als auch von wirklichen Meeren herbeiführen kann, ist eine bekannte Thatsache, und wohl fast jedermann weiß, daß die häufig so verderblichen Sturmfluten ihren Grund darin haben, daß, wie schon der Name sagt, ein heftiger Sturm, längere Zeit aus einer und derselben Richtung kommend, auf das Wasser drückt. In unsern deutschen Meeren ist es vorgekommen, daß deren Niveau infolge solchen Sturmes an der Küste vier und mehr Meter höher als gewöhnlich stieg und ihr Wasser sich verderbenbringend über die Dämme in das offene Land ergoß.

Aehnliches läßt sich auch auf großen Binnenseen, so namentlich den nordamerikanischen, beobachten, wo bei Orkanen, hauptsächlich in der Zeit der Nachtgleichen, Oberflächenschwankungen von mehr als 41/2 m vorkommen sollen. Ein solches Nachgeben, eine solche Reaktion der Wasserfläche, wird man bei dem ungeheuren Druck, den diese mit einer Geschwindigkeit von mehr als 40 m in der Sekunde, doppelt so schnell also als unsere besten Eisenbahnzüge einherbrausenden Stürme ausüben, begreiflich finden, merkwürdig sind aber die ganz geringen Schwankungen des Wasserspiegels um höchstens 8 bis 10 mm, die neuerdings an den amerikanischen Seen nachgewiesen sind. Dieselben halten höchstens eine halbe Stunde an und verschwinden dann scheinbar ebenso grundlos, wie sie gekommen sind.

Ein amerikanischer Beobachter hat nun den Nachweis erbracht, daß diese kleinen Oberflächenänderungen nichts anderes sind als Folgen des Wechsels des Luftdrucks, wie ihn ja auch unsre Barometer registrieren, Wechsel, die wir sonst gar nicht empfinden würden. Merkwürdig dabei ist nur, daß eine solche Riesenwasserfläche, von der wir doch gewöhnt sind anzunehmen, daß eben auch nur eine Riesenkraft sie aus ihrer Lage bringen könne, durch solch schwachen Wechsel im Luftdruck, auf den die Quecksilbersäule des Barometers kaum reagiert, bewegt werden kann. –<tt>t</tt>.     

Indische Erdbeere. Erdbeeren sieht man im allgemeinen nur im Garten, wenn man sich nicht gerade das Vergnügen machen will, einige Erdbeertöpfe im Winter zu treiben, um auch mal im Winter Erdbeeren ernten zu können. – Es giebt aber auch eine Erdbeere, die fast ausschließlich im Zimmer gezogen werden muß, es ist die indische Erdbeere Fragaria indica. Sie giebt eine ganz hübsche Ampelpflanze ab und wirkt zierend durch ihre kleinen Erdbeerblüten und durch die Früchte, welche etwa die Größe unserer Walderdbeeren haben. Die indische Erdbeere ist ziemlich anspruchslos. Sie verlangt nur guten kräftigen Boden und, wenn sie rasch wächst, viel Wasser. Wo sie trocken gehalten wird, da färben sich die Blätter rot. Sind die Pflanzen alt geworden, dann kann man leicht neue schaffen. Jede Ranke bewurzelt sich.

Schneeglöckchen. Das gewöhnliche Schneeglöckchen Galanthus nivalis ist allbekannt, wenigstens behauptet jedermann, es zu kennen. Wenn wir aber die Probe darauf machen, so stellt sich sehr häufig heraus, daß das echte Schneeglöckchen doch nicht immer der Vorstellung entspricht, die wir uns von ihm machen. Das Schneeglöckchen hat einen Nebenbuhler, der zwar verwandt mit ihm ist, aber gar nicht den Namen Schneeglöckchen führt. Es ist die Frühlingsknotenblume Leucojum vernum. Das Aussehen dieses Frühlingsblühers, der mit dem echten Schneeglöckchen zu gleicher Zeit erscheint, ist oberflächlich betrachtet das eines besonders gut ausgebildeten Schneeglöckchens. Die Blüte ist langstengliger, größer, vollkommen in allen ihren Teilen. Betrachten wir uns beide Blumen genauer, so finden wir die Unterschiede ziemlich rasch. Die Frühlingsknotenblume hat mehr Blumenblätter, im ganzen sechs, das Schneeglöckchen dagegen nur drei, während letztere vollständig weiß sind, haben die ersteren eine kleine grüne Spitze.

Vom Schneeglöckchen besitzen wir allerdings auch ein Riesenschneeglöckchen, das aus Kleinasien stammt, Galanthus Elwesi. Es ist noch wenig verbreitet, ist aber sehr empfehlenswert und blüht im Freien noch etwas früher als die gewöhnliche Art. – Alle Schneeglöckchen, auch die Leucojum, lassen sich treiben. Man darf aber nicht die einzelnen Zwiebelchen in Töpfe setzen, wie es bei den Hyacinthen und Tulpen geschieht, sondern muß aus dem Garten heraus sich ganze Büsche graben und sie so zusammenhängend wie sie sind einpflanzen. Im Herbst und Winter kann dies jederzeit geschehen. Das Treiben ist nur bei mäßiger Wärme möglich. Im kalten Zimmer am Fenster aufgestellt, entwickeln sich die Blüten allmählich, im warmen Zimmer giebt es keine Blüten.

Immerblühender Goldlack. Wenn man längst nicht mehr an den Goldlack im Freien denkt, bringt der immerblühende Goldlack im Zimmer am sonnigen Fenster noch fortwährend seine duftenden Blumen. Sie sind nicht so prächtig dunkelgelb wie die des alten Goldlacks, ihre Farbe ist ein Hellgelb, aber was schadet das im Winter, wo wir so wenig Blumen besitzen und dankbar für jede sind! Den immerblühenden Goldlack kann man zu verschiedenen Zeiten aussäen, einmal sehr früh, im Februar, März, das giebt Pflanzen, welche schon im Hochsommer, oft noch früher zu blühen beginnen und, wenn die abgeblühten Blumen abgeschnitten werden, bis zum Herbste im besten Flor bleiben. So herangezogen, ist der immerblühende Goldlack eine ganz gute Pflanze für unsere Blumenbeete. Aus Samen, der im Mai oder Juni ausgesäet wird, erhält man Pflanzen, die mit dem Eintritt des Frostes, also gerade zur rechten Zeit mit der Blüte beginnen. Man kann dazu die Pflanzen auf Beete aussetzen und nachher eintopfen. Man kann sie aber auch schon klein in Töpfe pflanzen und sie im Freien pflegen. Letztere Art der Anzucht macht mehr Mühe, ist aber insofern erfolgreicher, als die Pflanzen sich im Winter besser halten und besser entwickeln.

[132 e]

Photographie im Verlag von Braun, Clément & Cie. in Dornach i. Els. und Paris.

DIE KINDER KARLS I VON ENGLAND
Nach dem Gemälde von Anton van Dyck

[133]

Halbheft 5.   1899.


Das Schweigen im Walde.
Roman von Ludwig Ganghofer.
(4. Fortsetzung.)


Ettingen und der Förster hatten einen grünen Staketenzaun erreicht, welcher, gleichlaufend mit einer gestutzten Holunderhecke, einen kleinen Besitz umschloß, der sich zwischen den anderen Häusern und Gehöften ausnahm wie ein schöngefaßter Schmuckstein neben den grauen Kieseln der Straße. Das einstöckige Haus, welches tief im Garten stand, war früher wohl ein bescheidener Bauernhof gewesen – das verriet noch die an den Wohntrakt angebaute Tenne; aber es hatte größere Fenster und ein grünliches Schieferdach bekommen, dessen Kanten und Firste geschmückt waren mit wunderlichen Tierzieraten. Das Unterdach und die vorspringenden Balken, das Tennenthor, die Kreuzstöcke und Fensterläden waren blaugrün bemalt und mit weißen und blaßroten Linienornamenten ausgezeichnet.

Vor allen Fenstern, durch deren spiegelnde Scheiben die schneeweißen Vorhänge herausleuchteten, waren zierlich gegitterte Blumenbretter mit blühenden Stöcken angebracht, und daneben verschwanden die weißen Mauern völlig unter dem Grün der sorgsam gezogenen Obstspaliere, deren Zweige von der Erde bis zum Schatten des Daches mit reifenden Früchten behangen waren. Heiter und farbig, schmuck und freundlich, erhob sich das kleine Haus wie auf einem breiten Sockel blühender Blumen.

Im Gemeindeschulgarten zu Friedenau bei Berlin.
Nach dem Leben gezeichnet von E. Thiel.

[134] Geranienbüsche zogen sich am Fuß der Mauer hin, und der Vorgarten war in vier große Beete geteilt, mit Rosen, Levkojen und Nelken in allen Farben. Zwei schmälere Blumenbeete zogen sich zu beiden Seiten des Hauses gegen den weiten Hintergarten, zwischen dessen Obstbäumen und langgestreckten Gemüsebeeten eine große schattige Laube und ein luftiges Sommerhäuschen stand, welches ganz aus wunderlich gewachsenen Aesten geschränkt und geflochten war. Silberweiße Kieswege schieden die Beete voneinander und umzogen in der Mitte des Vorgartens ein mit bizarr geformten Tropfsteinen ausgelegtes Wasserbassin, in welchem zwei murmelnde Brünnlein über eine moosige Felsgruppe niederrannen. Aus diesen Felsen erhob sich ein hoher, buntbemalter Balken und trug das Taubenhaus, das mit seinen Türmchen und Erkern sich ansah wie das Modell einer gotischen Burg. Ueberall in den Kronen der Bäume und auf schlanken Stangen waren Starenhäuschen und Meisenkästen angebracht.

Wie einen Gedanken schließend, der ihn auf dem Wege begleitet hatte, schüttelte Ettingen den Kopf und murmelte: „Nein! So wohnt kein Verzweifelter! So wohnen nur zufriedene Menschen, die ihr Glück gefunden, die über die stille Schönheit ihres Lebens hinaus keinen Wunsch mehr haben.“

Der Förster wollte in den Garten treten. Aber da blieb er noch einmal stehen und sagte: „Ich bitt’ schön, Duhrlaucht … wenn die Frau Petri daheim is … thun S’ das Frauerl net viel um ihren Seligen fragen. Da kommt ihr ’s Reden ein bißl hart an, ja, da laufen ihr gleich die Bacherln über.“ Er ging auf das Haus zu und sprach eine Magd an, die mit eisernem Rechen die Wege ebnete. Dann kam er wieder. „Es is kein Mensch net daheim … die Dirn bloß. Aber Sie können schon ’rein!“ Er öffnete seinem Herrn das grüne Gitter, „’s Fräul’n is in der Früh vom Sebensee heim’kommen, aber sie is schon wieder fort, in d’ Fischzucht ’nüber. Und d’ Frau is heut’ auf Innsbruck ’nunter, ihr Studenterl heimholen in d’ Vakanzi.“

„Fräulein Petri hat einen Bruder?“

„Ja! Ein dreizehnjähriges Bürscherl. Gustl heißt er. Der is schon den dritten Winter auf ’m Gymnasi drunt. Ein liebs Mannderl und dem Herrn Petri wie aus ’m G’sicht g’schnitten. Und g’sund, sag’ ich Ihnen! ’s richtige Gebirgsblut, ja! Is ein Leutascher! Gleich nach ’m ersten Jahr is er ’kommen, wie s’ heraußen waren. Wie das Büberl den Wald schon gern hat! Allweil draußen mit der Schwester! Und kaum sieht er ein’ von uns Jager, da hängt er ei’m schon am Kittel: ‚Ich bitte schön, Herr Förster, darf ich mit?‘ Und anschauen thut er ein’ dabei mit seine Guckerln … da kannst net Na sagen, das bringst net fertig.“ Sie hatten das Haus erreicht, und der Förster sprach die Magd an: „So, Nanni, gelt, jetzt thust mir den Herrn recht schön herumführen im ganzen Haus und zeigst ihm jedes Taferl!“

„Wohl, wohl!“ sagte das Mädchen und lehnte den Rechen an das Spalier. Es war eine derbe Bauerndirne mit unschönem, grobknochigem Gesicht, aber mit hellblauen Augen, welche gutmütig und zufrieden blickten.

Der Förster verabschiedete sich mit dem Versprechen, seinen Herrn in einer Stunde abzuholen, und eilte davon.

Neben der Schwelle streifte die Magd ihre Schuhe ab, klopfte den Sand von den blauen Strümpfen, schlüpfte in ein Paar Strohpantoffel, und die Hausthür öffnend, sagte sie: „So, Herr, kommen S’!“

Als ihr Ettingen in den Hausflur folgen wollte, gewahrte er über der Thür, schon halb von den Zweigen des Spaliers überwachsen, eine lateinische Inschrift – drei Worte: Hic rideo ego! – „Hier lache ich!“ Welch eine Stunde reiner und tröstender Freude mußte es für jenen Weltflüchtigen gewesen sein, als er auf der Schwelle dieser schönen Heimstatt sich sagen konnte: „Das Lachen der anderen, das mich marterte, ist fern und ich hör’ es nicht mehr! Hier lacht nur einer. Ein Glücklicher, der die Ruhe fand! Und der bin ich!“

Ettingen nahm den Hut ab und trat ins Haus.

Schon im Flur hing bis an die Decke hinauf eine Leinwand neben der anderen, jede von einer schmalen, braungebeizten Holzleiste umzogen. Aber das waren zumeist nur planlose Skizzen, unvollendete Studien und leicht untermalte Entwürfe, die oft kaum das Motiv des Bildes erkennen ließen, das hier entstehen hätte sollen. Blumenstudien wechselten mit Luftstimmungen, Felspartien mit Waldscenen, naturtreue Tierskizzen mit mythologischen Träumereien. Manche Leinwand zeigte deutlich, wie geduldig und liebevoll sich der Künstler in das kleinste Detail eines Modells vertieft hatte – oft war die gleiche Blume ein dutzendmal nebeneinander gemalt, in verschiedenem Licht, frisch erblühend mit Knospen, dann mit entblättertem Kelch, im Beginn des Welkens, mit gebrochenem Stengel. Man sah, wie genau der Künstler die Natur beobachtet hatte, um sie seinen Phantasiegebilden dienstbar zu machen. So war auf einer Leinwand ein schwarz und rot gefleckter Bergsalamander abgebildet, wie er mühsam aus dem Gras auf eine Steinscholle klettert – und daneben, größer, doch ganz mit der gleichen Körperbewegung, suchte ein fetter Triton, welcher triefend dem Meer entstiegen, ein Riff zu erklimmen. Eine andere Skizze zeigte eine graue Hauskatze, welche mit gekreuzten Pfoten liegt und funkelnden Blickes eine grüne Mücke verfolgt, die ihr um die Nase summst – daneben der Entwurf einer Sphinx, die aus der Waldschlucht einen Wanderer kommen sieht, den es nach Rätseln gelüstet. Dieser tragische Vorwurf war in einer Ecke der Leinwand lustig parodiert: die Sphinx, und vor ihr, klein wie die Mücke, ein grüner Polizist mit der Pickelhaube, der auf eine Tanne kletterte, um dem lächelnden Ungeheuer einen Polizeibefehl vor die Nase zu halten.

Langsam ging Ettingen von einer Leinwand zur anderen, und inzwischen stand die Magd geduldig und still in einer Ecke und zog immer wieder den Saum der Schürze durch die Finger. Als Ettingen das letzte Bild betrachtet hatte, öffnete sie vor ihm die Thür eines Zimmers. „Der Frau Petri ihr Stüberl.“

Ein bescheidener Raum mit schlichtem Gerät. Durch eine offene Thüre sah man in das Nachbarstübchen, das den jungen Feriengast, das „Studenterl“, zu erwarten schien, denn auf weiß gedecktem Tischlein stand ein herrlicher Rosenstrauß und ein mandelgespickter Kuchen, von einem Kranz frischer Bergblumen umschlungen. Auch hier, in beiden Räumen, waren alle Wände mit Bildern bedeckt: tanzende Nymphen, spielende Najaden; ein Faun, der die Zotten seiner Bocksfüße kämmt und dazu ein Liedchen pfeift; ein Tritonweibchen, das in eine Fischreuse geraten ist und den Ausweg nicht mehr findet; auf weißer Marmorsäule ein Hermeskopf, dem eine Natter auf die Schulter kriecht – aber der von Ekel geschüttelte Gott ist festgewachsen auf dem Stein und kann nicht fliehen, er hat keine Arme, um die giftige Häßlichkeit von sich abzuwehren. Ein gewaltiger Centaur, der von einem schroffen Fels mit ernstem Sinnen ins Thal hinunterschaut, fesselte lange den Blick des Fürsten. „Solchene Roßmanner giebt’s fein,“ sagte die neben ihm stehende Magd, „ja … im Griechenland drunten! Das hat mir der Herr Petri selm verzählt. Aber gelten S’, da sind S’ noch nie net hinkommen?“

„Doch!“

Die blauen Augen der Magd erweiterten sich. „Und haben S’ solchene Roßmanner g’sehen?“

„Nein. Aber dein Herr hat sie gesehen. Und ihm glaub’ ich auch, daß sie leben.“

„Gelten S’, ja? Der hat net lügen können!“

„Der? Und lügen? Nein! Hätte er lügen können … er wäre in der Stadt geblieben und hätte gute Geschäfte gemacht.“

„So? Meinen S’?“ Die Magd überlegte – aber sie gab die Mühe, das Rätsel dieses Wortes zu lösen, gleich wieder auf. „Jetzt geben S’ acht, jetzt kommt erst ’s Allerschönste, ja!“ Sie ging in den Flur voran und öffnete die Thür des Wohnzimmers. „Da herin, da haben wir die heiligen Sachen … wissen S’, weil der Herr Pfarrer diemal zuspricht in der Stuben.“

Ettingen trat in einen hellen freundlichen Wohnraum, dessen trauliches Gerät dem Gaste zu sagen schien: Hier fühle dich wohl, und ruhe! In der Herrgottsecke hing statt des Kreuzes ein Bild: auf weißem Grund der Kopf des Erlösers, ohne Dornenkrone und Heiligenschein, ein schmales, bleiches, kummervolles Gesicht, die Wangen halb bedeckt von den schlicht fallenden Haarsträhnen, mit großen und tiefen Augen, die mit Schmerz in weite Ferne zu blicken schienen. Sonst hingen im Zimmer nur noch drei Bilder. Zwei kleinere, die nicht vollendet schienen, waren an den Pfeilern zwischen den Fenstern angebracht: eine „Flucht nach Egypten“, von stiller und rührender Stimmung – Maria sitzt erschöpft an einen Baum gelehnt, und während Josef mit Anstrengung das harte Brot [135] zerbricht, zieht das mit Schaum bedeckte Maultier grasend in den Wald, und eine „Heilige Nacht“ – Maria mit dem Kindlein im Stall bei Kuh und Esel, denen ein alter Hirte gedankenlos das Futter vorschüttet, während die Tiere doch nicht an Fraß denken, sondern die Köpfe vom Barren abkehren und ihre staunenden Glotzaugen auf das von Schimmer umflossene Kindlein richten.

Ein drittes, größeres Gemälde füllte die ganze Wand zwischen dem Ofen und der Thür einer Nebenstube. Beim Anblick dieses Bildes glitt ein leiser Ausruf der Bewunderung über Ettingens Lippen – so jäh und tief ergriff ihn der Gedanke, der aus dieser Leinwand redete und mit naiver Allegorie zu ihm sagte: Wahrhafte Liebe kann nicht verdammen und fühlt Erbarmen auch für die häßlichste Mißform des Lebens – mildes Denken und reine Güte versöhnen sich auch mit aller Roheit der ungezügelten Natur!

Das Bild stellte eine von wüstem Dorngestrüpp umzogene Wiese dar, in der Blüte des Frühlings. Mitten in leuchtenden Blumen sitzt ein Knabe, das nackte zarte Körperchen wie Silber schimmernd; aus einer Wolkenlücke des Himmels fällt ein breiter Strahl der Sonne auf ihn nieder; zwei verflochtene Dornzweige des nächsten Busches ragen in diesen Glanz und schweben wie ein schimmerndes Kränzlein über dem Scheitel des Knaben; kein anderes Zeichen sonst – nur diese krönenden Dornen sagen: das ist Jesus, welcher leiden wird um seiner Liebe willen. Und diese Liebe redet schon aus dem Blick und Lächeln des Kindes, welches seltsame Gesellschaft fand. Aus den Dornbüschen, aus Erdlöchern und Sumpftümpeln ist eine Schar von Faunkindern hervorgekrochen, kleine häßliche Bürschlein mit plumpen, unentwickelten Bocksfüßen und schmutzig wie Ferkel, die sich im Schlamm gewälzt. In Schreck oder Neugier starren die einen auf das holde Wunder des göttlichen Knaben, andere greifen nach Steinen und heben sie zum Wurf – nur einer sitzt von den erregten Brüdern entfernt, sucht eine Dornranke von sich abzulösen, die ihm ihre Stacheln in die Hüfte bohrte, und der Schmerz, der aus seinem verzerrten Gesichte redet, macht ihn gleichgültig gegen alles andere. Diesem Leidenden gilt der gute Blick des Knaben, während er den anderen, die ihn fürchten oder bedrohen, herzlich die Arme öffnet: „Kommet zu mir, ich will euch lieben!“

Keines von all den anderen Bildern, welche Ettingen gesehen, hatte so klar wie dieses in ihm die Frage geweckt: „Wie war es möglich, diesen Künstler zu verkennen?“ Oder hatte sich der Genius dieses Künstlers erst nach seiner Weltflucht so reich entwickelt, aus der Bitterkeit seines Schicksals heraus, in der stillen sonnigen Ruhe, die er in diesem Winkel der Berge gefunden, im Schweigen des Waldes? Hatte er in früheren Jahren denen, die ihn verlachten, nichts anderes zu bieten vermocht als die Form ohne den Kern, ohne die Gedankenfülle, die alle Wunderlichkeiten seiner Technik übersehen ließ? Denn freilich bei all der tiefen Wirkung, welche Ettingen fühlte, mußte er zugestehen, daß die Mehrzahl dieser Bilder für den ersten Blick etwas Befremdendes hatte, eine naive Ausdrucksweise, die mit dem dargestellten großen Gedanken sich oft in einem Widerspruch befand, über den man wohl den Kopf schütteln oder lächeln konnte. Auch lag ein bläulich grüner Hauch wie zarter Schleier über allen Farben, auch über dem hellsten Licht – wie über einem Spiegelbild in grünem Wasser – und das gab den Bildern etwas Fremdartiges und Altertümliches. Wollte das der Künstler so, gerade so – oder konnte er nicht anders? Hatte er Augen, welche anders organisiert waren, als es sonst die Augen der Menschen sind? Oder sah er richtig – er kannte und verstand doch die Natur wie keiner – und ging mit dem Geschauten, bevor es durch seine Seele den Weg auf die Leinwand fand, diese seltsame Wandlung vor sich, bei der alles Häßliche sich verschönte und alles Wirkliche die Form des Niegewesenen und des Erträumten gewann.

Aber wie man über all diese äußerliche Seltsamkeit auch denken mochte – der gute, reine, tief empfindende Mensch, den man aus der wunderlichen Sprache dieser Linien und Farben reden hörte, war denn nicht der die Hauptsache? Die klare Schönheit seiner Gedanken, die Wärme seines Herzens, dieses Träumen und Lächeln, dieses Stille und Schlichte, dieses rührend Kindliche – mußte das nicht jeden überzeugen, gewinnen und bezwingen? Oder gehörte die rechte, stille Stunde dazu, um solche Sprache zu hören, sie zu verstehen? –

War der Magd die schweigende Zeit, welche Ettingen vor diesem letzten Bilde stand, zu lang geworden? Oder hatte sie es ihm vom Gesichte abgelesen, was er von den „Taferln“ ihres Herrn dachte? „Gelten S’,“ sagte sie plötzlich, „unser Herr hat’s können! Ja! Und kommen S’ … da därf’ ich sonst kein’ net ’reinführen … aber Ihnen muß ich schon zeigen, wie er ausg’schaut hat!“ Sie öffnete die Thür der Nebenstube. „Da hängt er, schauen S’, wie er sich selm verkonterfeit hat … das is’ der Fräul’n Lo’ ihr Stüberl … vor drei Jahr auf Weihnächten hat sie’s ’kriegt von ihm, die Tafel da.“

Ettingen zögerte, einzutreten, und lächelnd blickte er von der Schwelle in den Raum. Es war von allen Zimmern, die er gesehen hatte, das bescheidenste – ein schmales Stübchen, mit einem einzigen Fenster nur. Weiße Wände, das eiserne Bett mit weißem Tuch überhangen, ein kleiner Tisch mit einfachem Holzstuhl vor dem Fenster, durch das die Blumen hereinleuchteten, der Thür gegenüber ein Pianino und ein Holzgestell mit Notenheften, neben der Thür ein hohes Bücherregal und an der Rückwand des Stübchens eine große schwere Kommode, über welcher, als einziger Schmuck des Raumes, das Selbstporträt des Künstlers hing, umgeben von einem Kranze frischer Alpenrosen.

Dieses Bild war für Ettingen ein neues Rätsel. Er hatte ein schmales, feingeschnittenes Gesicht zu sehen erwartet, mit irgend etwas Auffälligem in den Zügen – vielleicht einen Kopf, der auf einen Musiker raten ließ, mit bleichen Wangen, tiefliegenden Augen und langem Haar. Und da sah er einen derben, grobknochigen Kopf mit dichtem, kurzgeschnittenem Braunhaar und starkem Bart, mit hoher, kräftig gewölbter Stirn und gesundem, sonnverbranntem Gesicht, dem das schöne Antlitz der Tochter in keinem Zuge glich. Nur die Augen, wenn sie auch von anderer Farbe waren, hatten den gleichen träumerischen und warmen Blick, und um diese streng geschnittenen Lippen spielte das gleiche sinnende und milde Lächeln. Das Bild war nur wenige Jahre alt; aber nach Zeichnung und Farbe hätte man auf ein Werk aus der Zeit des jüngeren Holbein raten können. In einer Ecke des graugrünen Hintergrundes sah man ein verschnörkeltes weißes Schildchen, das eine rote Inschrift in lateinischer Sprache trug: „Emmericus Petri, in seinem fünfzigsten Lebensjahre. Eines Menschen Gesicht ist seine Seele nicht. Willst du das Wesen seines Geistes erkennen, so betrachte seine Thaten und seine Kinder.“

Wie stolz mußte dieser Mann auf seine Tochter gewesen sein!–

Während Ettingen noch vor dem Bilde stand, kam der Förster zurück, und zwar in übelster Laune. Er hatte die Erlaubnis für die Steigbauten mit schwerem „Blutgeld“ vom Bürgermeister erkaufen müssen, der allen Überredungskünsten des Försters nur immer die eine Weisheit entgegengehalten hatte: „Der Herr Fürst kann zahlen! Der hat’s!“ Bei dem Aerger, den Kluibenschädl von diesem „Scharfrichtergang“ mitbrachte, hatte er weder Sinn für die „Taferln“ des „Maler-Emmerle“, noch für die Stimmung seines Herrn und schwatzte wortreich seinen Zorn heraus. Ettingen schwieg zu allem und warf, bevor er das Stübchen verließ, noch einen letzten Blick über die Wände und alles Gerät.

Als Ettingen ins Freie trat, blickte er wieder zu der Inschrift über der Hausthür und nickte vor sich hin, als wollte er sagen: Ich sah, was du schufst, und kenn’ deine Tochter … nun weiß ich, wer du warst, und weiß: du hattest ein Recht zur Freude!

Da bot ihm die Magd eine herrliche dunkle Rose und sagte verlegen: „Da, Herr! Unser Fräul’n Lo’, wenn s’ daheim is und einer kommt, schenkt s’ allweil ein Blüml her!“

Lächelnd nahm er die Rose. „Ich danke Ihnen!“

Er wollte der Magd eine Banknote reichen. Aber sie schüttelte den Kopf, holte den Rechen von der Wand und begann auf dem Kiesweg die Trittspuren zu ebnen, die der Förster mit seinen schweren Schuhen zurückgelassen hatte.

Ettingen, dem das Blut ins Gesicht gestiegen war, zerknüllte den Schein in der Hand – und als sich draußen auf der Straße ein alter, weißbärtiger Bauer, der im Schatten der Holunderhecke saß, etwas schwerfällig erhob und den mürben Deckel zog, warf ihm der Fürst die Banknote zu. Der Alte riß die rotgeränderten Augen auf, und dann versuchte er mit seiner

[136]

Am Hofe des Tiberius.
Nach dem Gemälde von E. Forti.

[137] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [138] heiseren, zitterigen Stimme einen Jauchzer. Das machte den Förster aufmerksam, so daß er die wenig schmeichelhafte Charakteristik, die er just vom Bürgermeister entwarf, mit den Worten unterbrach: „Ui jögerl, Duhrlaucht! Haben S’ dem was ’geben? No, ich dank’ schön … der kauft sich wieder ein’ saubern Dampus dafür! Da haben S’ was Schön’s ang’richt’t!“

Nach wenigen Schritten kamen sie zu einer Stelle, an der sich von der Straße ein Fußweg gegen die Felder abzweigte.

„Gehen wir lieber über d’ Wiesen ’naus!“ meinte der Förster, „’s Dorf haben S’ ja g’sehen. Und drüben im Weiherwald, bei der Fischzucht, kriegen wir den schönsten Schatten.“

Sie wanderten über die vom frischen Heugeruch umdufteten Wiesen hin. Immer wieder blickte Ettingen über die Schulter nach den im Sonnenglanz verschwimmenden Baumkronen zurück, über deren leuchtendes Gezweig sich blinkend das grüne Schieferdach erhob. Dann plötzlich unterbrach er das Schweigen:

„Sagen Sie mir, wie starb dieser Mann?“

„Der Herr Petri? … Ja, Duhrlaucht, das is ein recht’s Unglück g’wesen! Der Mann is dag’standen wie ein Baum im besten Saft. Und den hat’ d’ Nächstenlieb’ am G’wissen! Im letzten Herbst war’s … da is in der Leutasch und im Gaisthal ein Wolkenbruch nieder’gangen, daß ich meiner Lebtag so was noch net mitg’macht hab’. Wie S’ da die Wiesen sehen, vom Wald bis ’nüber ins Dorf, is alles ein einziger Bach g’wesen, mit G’röll und Baumstämm’, die ’s daher trieben hat. Und droben, wo sich ’s Thal ein bißl zuspitzt, da war’s am ärgsten! Zwei Häuser und ein’ Stadel hat’s mitg’nommen, gleich am ersten Abend. Und gar am andern Tag, wie’s Wasser von die Gaisthaler Berg’ her’kommen is … da hat ein’ ’s Grausen ’packt. Wie die Verruckten sind d’ Leut’ in ihrem Jammer umeinander g’rennt. Bloß ein einziger hat ’s Köpfl in der Höh’ b’halten …“

„Herr Petri!“

„Ja! G’schafft und g’arbeit’t hat er wie ein Holzknecht, und Ratschläg’ hat er g’funden, wie man’s dem stillen, traumhappeten Mannderl gar net zu’traut hätt’! Sell droben, wo ’s Gaisthal anfangt und von links und rechts zwei Waldhügel ’reinsteigen gegen ’s Wasserbett … da, hat er g’sagt, da müssen wir ein’ Riegel legen und ’s Wasser brechen, damit’s den G’walt verliert. Mit die ersten Leut’, die bei ’nander waren, hat er d’ Arbeit gleich ang’fangt … und derweil is d’ Fräul’n Lo’ im Galopp auf ihrem Muli von ei’m Haus zum andern g’ritten und hat aus ’m ganzen Thal alle Mannsleut’ z’sammg’rufen, daß in der ersten Nacht noch über zweihundert Menschen bei der Arbeit waren! Am linken Ufer vom Wildbach is der Herr Petri g’standen mit seine hundert Leut’ … und mit ei’m Sprachrohr, das er aus einer Baumrinden g’macht hat, hat er’s Kommando allweil ’nüberg’schrieen über ’s Wasser, wo die andern hundert g’schafft haben. Die Weibsleut’ haben ’s Pech und ’s Staudenwerk z’samm’tragen müssen und ’s Feuer unterhalten, daß man zur Arbeit g’sehen hat in der Nacht … und d’ Männer und die Buben haben die Bäum’ g’schlagen zum Wehr. In der Fruh um Zehne, am zweiten Tag’, da haben die ersten Bäum’ im Wasser schon g’halten, und wie’s auf ’n Abend ’gangen is, da hat man schon hoffen können: ’s Wehr verhebt den ärgsten Schub. Aber d’ Leut’ sind fertig g’wesen mit ihrer Kraft, und schier mit G’walt hat der Herr Petri die letzten noch bei der Arbeit halten müssen. Wo ’s am schiechsten ausg’schaut hat, da is er allweil der erste vorndran g’wesen, damit er die andern ’s Beispiel giebt. ‚Mut, Leute, nur Mut,‘ hat er allweil g’schrieen und hat schon kaum nimmer reden können, ‚nur diese letzte Nacht noch, dann ist geholfen!‘ Und Recht hat er b’halten! Am dritten Tag in der Fruh hat sich ’s Wasser gegen ’s Gaisthal ’nauf zum Stauen ang’fangt und is mit aller Ruh’ über die Wehrbäum’ abg’laufen, und die ganzen Häuser sind aus der G’fahr g’wesen!“

Sie hatten den Wald erreicht und traten in den Schatten.

„G’wiß is ’s wahr … wär’ der Herr Petri net g’weseu, so hätt’ unser Leutascher Dörfl heut um ein Dutzend Häuser weniger. Aber teuer hat er’s zahlen müssen, sein christlichs Werk … der gute Mann! Ausg’halten hat er am gleichen Fleck’ zwei Nächt’ und anderthalb Tag’, tropfnaß bis auf d’ Haut und völlig mürb von der Arbeit. Nach der zweiten Nacht in der Fruh, wie er noch d’ Schildwachen aufg’stellt hat am Wehr, hat er sich gahlings verfärbt, und seine Knie’ haben aus’lassen. Und da hat er net einmal g’litten, daß man ihn heimtragt … es wird gleich wieder besser, hat er g’meint und hat sich ein Trunk Wein von der Fräul’n geben lassen, die so verschrocken war, daß ihr ’s G’sichtl ganz weiß worden is. Ein halbs Stündl hat er noch ausg’halten … nachher hat ihn ’s Fräul’n heimg’führt auf ’m Muli … und da hat’s kein Helfen nimmer ’geben. Lungenentzündung, hat der Doktor g’sagt … und da geht’s halt g’schwind! Die ganze Nacht sind d’ Leut’ ums Haus ’rum g’standen und haben g’meint, es müßt’ und müßt’ ihm wieder besser gehn. Aber auf Mittag um Elfe hat er sein’ letzten Schnaufer ’than … und der Doktor hat mir g’sagt: So hätt’ er noch nie ein’ Menschen net sterben, sehen! Im ärgsten Fieber hat er die B’sinnung net verloren, hat bloß allweil das arme Frauerl ’tröst’t, hat ’plauscht mit ’m Büberl, als ob gar nix wär’, und ’s Fräul’n hat er allweil bei der Hand g’halten und hat’s ang’lacht ein’ ums andermal. Z’letzt hat er noch von sei’m Gartl draußen am Sebensee g’redt … und das sind seine letzten Wörtln g’wesen: ‚Meine Blumen!‘ Nachher hat er aufg’schnauft und d’ Augen zug’macht wie einer, der weiß: jetzt fahr’ ich g’rad’ auf in Himmel, jetzt geht’s mir gut!“

Ettingen blieb stehen und blickte zu den sonnigen Wipfeln der stillen Fichten hinauf. Dann schritt er weiter und sagte leise vor sich hin: „Wer so zu leben wüßte, um sterben zu können wie dieser Mann!“

„Ja, Duhrlaucht, recht haben S’! So sollt’ sich der Mensch sein Leben einrichten, daß er d’ Augen zumachen könnt’ in jeder Stund’ und lachen dabei! Aber mein Gott, der Mensch is halt so viel dumm … und leben heißt narrisch sein. Was den richtigen Wert hat, schlagt man um kein’ Kreuzer net an, und für ein jeden nixigen Pfifferling legt man sei’m Leben ein Centnerg’wicht auf ’n Buckel! Bagaschi übereinander! Und ich g’hör’ selber dazu!“

Der Pfad hatte sie im Wald auf eine Höhe geführt. Man sah in ein schmales Thal hinunter, aus welchem drei große Weiher mit sonnglänzendem Spiegel durch die Bäume heraufleuchteten. Ein sanftes Murmeln klang von den Weihern her wie das Geplätscher vieler Quellen.

Der Förster blieb stehen und spähte durch den Wald hinunter. „Da, Duhrlaucht … da schauen S’ ’nunter … bei die Ursprüng’ drunten sitzt d’ Fräul’n Petri mit ihrem Taferl!“

Ettingens Augen leuchteten auf, und ohne ein Wort zu sagen, stieg er mit raschen Schritten durch den Wald hinunter gegen die Weiher.


9.

Als der Wald ein wenig lichter wurde, konnte Ettingen zwischen den Weihern ein großes Blockhaus sehen, eine Schiffhütte, und am Ausgang des schmalen Thals ein villenartiges Gebäude. Das wäre die Fischzuchtanstalt, erklärte der Förster und meinte: „Weil wir schon g’rad’ da sind … das müssen S’ Ihnen anschauen, Duhrlaucht. Wie die jungen Fischerln g’füttert und ’zogen werden, das is fein lieb zum betrachten! Wenn S’ Lust haben, lauf’ ich g’schwind vor zum Haus und schau, daß ich ein’ Fischknecht find’, der Ihnen ’rumführt!“ Er wartete eine Antwort gar nicht ab und eilte schräg durch den Wald davon.

Ettingen blieb unter den letzten Bäumen stehen. Doch er schien kein Auge für das lieblich schöne Bild des kleinen Thals zu haben – und das hätte doch einen Blick verdient. Von stillem Fichtenwald begrenzt und von blumigen Grasborten umzogen, lagen drei Weiher mit glitzernden Spiegeln stufenförmig übereinander, so daß sich aus dem einen das Wasser mit blitzendem Gefäll in den anderen ergoß. Weiße Seerosen und grüne Blätter schwammen mit sachter Bewegung im Wasser, und bald hier, bald dort sprang eine silberne Forelle auf. Vom obersten Weiher zog sich gegen den Wald eine schräge Felswand hin, die in allen Farben schimmerte und gleich einem Sieb von hundert Löchern durchbrochen war, aus deren jedem ein weißes Brünnlein sprudelte. Dieses sonnige Waldidyll mit all dem Gefunkel und Lichtgezitter des rauschenden Wassers gab ein Bild, das wohl einen Künstler zur Nachgestaltung reizen konnte. Und Lolo Petri saß auch vor der Staffelei so ganz in ihre Arbeit vertieft, daß sie die Schritte nicht hörte, die sich ihr näherten. [139] Ettingen war dicht zu ihr herangetreten und sah ihr über die Schulter auf die kleine Leinwand, die einen Teil der Felsplatte mit den sprudelnden Quellen in fast vollendeter Arbeit zeigte; doch es war kein Bild, das hier entstehen sollte – es schien nur ein Versuch, das Lichtgefunkel des über die rauhen Felsformen rinnenden Wassers festzuhalten. Und dieser Versuch war ihr gelungen. Wie diese Farben leuchteten! Wie sie zu zittern und zu rinnen schienen! Ettingen staunte über die Kraft des Lichtes und über die Wahrheit in dieser verblüffenden Wiedergabe der Natur. Wie hatte dieses Mädchen ihm sagen dürfen, daß sie keine Künstlerin wäre? Hatte sie das aus übertriebener Bescheidenheit gethan? Nein, das sah ihr nicht ähnlich. Also legte sie einen überstrengen Maßstab an sich selbst, während sie von anderen Menschen so nachsichtig dachte? Oder kannte sie ihr eigenes Talent nicht? Sollte ihr Vater dafür kein Auge gehabt, ihr das nie mit einem Worte gesagt haben – denn sie war doch seine Schülerin? Bei diesem Gedanken fiel ihm auf, daß ihre Art zu malen auch nicht die leiseste Aehnlichkeit mit der Art des Vaters hatte. Da war nichts Absonderliches und Befremdendes, keine erträumte Farbe, keine fabulierende Linie – was diese kleine Leinwand zeigte, war nichts anderes als die treue Wiederholung der Natur, wie Gott sie erschaffen hatte.

Plötzlich, als hätte sie seinen Atem gehört oder seine Nähe empfunden, blickte sie auf. Leichte Röte huschte ihr über die Wangen, und sie erhob sich.

„Herr Fürst …“

Er grüßte und sah ihr in die Augen, noch ganz unter dem Eindruck, den er aus ihrem Hause mit fort getragen hatte und der ihm von der Erzählung des Försters zurückgeblieben war. „Sehen Sie, Fräulein, damals am Sebensee, das war nicht umsonst gesagt: auf Wiedersehen!“

Sie hatte nach der ersten leichten Verwirrung ihre ruhige Sicherheit wieder gefunden und reichte ihm lächelnd die Hand. „Ja! Und heute weiß ich auch, wer Sie sind. Ich hab’ es noch an jenem Morgen erfahren, von einem Ihrer Jäger. Und dann war’s mir leid, daß ich Ihren Namen überhörte … denn hätt’ ich damals am Sebensee gewußt, wer Sie sind, dann hätt’ ich die gute Gelegenheit gleich benutzt und hätte eine Bitte ausgesprochen, mit der ich ohnehin zu Ihnen kommen mußte.“

„Zu mir? Mit einer Bitte? Die ist bewilligt, liebes Fräulein, noch eh’ ich sie kenne.“

„Sie ist auch wirklich nicht unbescheiden. Es handelt sich um unser Häuschen draußen am See. Papa hätte, bevor er damals vor acht Jahren baute, den Grund so gern gekauft. Aber das ging nicht … der Grund ist ärarischer Boden … und Papa mußte zufrieden sein, daß er wenigstens die Erlaubnis bekam, zu bauen … auf Widerruf und unter der Bedingung, daß der Jagdpächter seine Erlaubnis gäbe.“

„Und diese Erlaubnis soll ich nun bestätigen?“

„Ja, ich bitte darum!“

Ettingen lachte, und noch immer hielt er ihre Hand in der seinen. „Schade, daß ich mein Placet nicht mit irgend einer besonderen Feierlichkeit erteilen kann! Aber solange ich Pächter der Jagd bin, und ich hoffe das noch lange zu bleiben, sollen Sie ungestört bei Ihren Blumen wohnen, und …“ seine Stimme und seine Augen wurden ernst, „und bei Ihren Erinnerungen!“

„Ich danke Ihnen!“

„Aber … eine Bedingung muß auch ich stellen!“

Ihre Hand befreiend, blickte sie zu ihm auf.

„Die Bedingung, daß Sie gute Nachbarschaft mit mir halten wollen … und daß es mir vergönnt ist, ab und zu ein Stündchen bei Ihnen zu rasten und bei Ihren Blumen.“

„Daß ich Ihnen das verwehren könnte,“ sagte sie lächelnd, „das haben Sie doch nicht im Ernst gemeint?“

„Nein! … Aber Sie stehen, Fräulein … und ich bitte sehr, daß Sie sich durch mich nicht in Ihrer Arbeit stören lassen. Darf ich Ihnen ein wenig zusehen?“

„Gern! Ich fürchte nur, Sie werden dabei nicht viel zu sehen haben.“ Sie nahm die Palette und ließ sich vor der Staffelei auf den kleinen Feldstuhl nieder.

Als er sie eine Weile schweigend beobachtet hatte, wie sie aufmerksam die Felswand mit den Quellen betrachtete und dann die kleinen weißen Lichter in den Goldglanz des fließenden Wassers setzte, sagte er: „Wissen Sie auch, Fräulein, daß Sie sich neulich vor mir verleugnet haben?“

„Ich? Verleugnet? Nein!“

„Doch! Denn Sie sind eine Künstlerin!“

Sie schien sich nicht gleich an jenes Wort zu erinnern. Dann schüttelte sie wieder den Kopf, ganz so entschieden wie damals. „Nein! Nur weil ich ein wenig Malen gelernt habe? Das macht mich noch lange nicht zur Künstlerin. Dazu fehlt mir alles … Talent, Gedanke und Phantasie! Ich, eine Künstlerin? Nein! Und eine Handwerkerin will ich nicht sein. Ich zeichne und male auch gar nicht aus Beruf. Ich thu’ es nur, um besser sehen zu lernen, … um mir das Schöne, das ich lieb habe, so recht tief einzuprägen, damit es Dauer hat in mir. Wenn ich ein paar Stunden geduldig vor solch einem Bilde saß, wenn ich jede Linie nachzuzeichnen, jeden Reiz des Lichtes und jeden Ton des Schattens nachzuahmen versuchte … gleichviel, ob mir das gelingt oder nicht … dann hab’ ich das Große und das Kleinste so genau gesehen, daß ich das Bild habe, in mir, fest und für immer! Und das Schöne so zu besitzen, das ist eine Freude, die das bißchen Mühe wohl wert ist! Zeichnen Sie nicht auch?“

„Ich? Nein!“

„Warum versuchen Sie es nicht einmal?“

Ettingen lachte. „Da möchte was Hübsches herauskommen.“

„Gewiß nichts Schlimmeres als bei meinem ersten Versuch.“

„Zu dem hat wohl Ihr Vater Sie veranlaßt?“

„Ja! Und das werde ich nie vergessen. Ich war damals noch ein Kind … sieben Jahre … und Papa hatte damals eine Ulmer Dogge gekauft, die er zu einem Bild brauchte. Das Tier war so entsetzlich groß, daß ich Angst vor ihm hatte. Ein paar Tage überwand ich’s … aber als der Hund einmal auf mich zukam, fing ich zu schreien an: ‚Papa, Papa, ich fürchte mich vor dem Hund!‘ Da lachte er, gab mir ein Blatt Papier und einen Rotstift und sagte: ‚Versuch’ es, Lo’, und zeichne den Hund, aber recht, recht genau mußt du ihn ansehen!‘“

„Und das haben Sie gethan?“

„Ja!“ Lächelnd blickte sie zu ihm auf. „Als das Kunstwerk fertig war, meinte Mama, das wäre ein Lehnstuhl. Aber Papa sagte ganz ernst: ‚Nein, Mutter, das ist ein guter, braver Hund, der keinem Kinde was zuleide thut!’ Und Papa hatte recht … ich habe den Hund nicht mehr gefürchtet, denn jetzt wußte ich, daß er schöne, braune Augen hatte und daß er die Lippe verziehen konnte, als ob er lachen möchte. Wir haben den Hund viele Jahre gehabt, auch hier in Leutasch noch, und als er im Alter so leidend wurde, daß man ihn aus Erbarmen erschießen mußte … das ist für uns alle ein trauriger Tag gewesen, besonders für Papa … er hatte das gute, treue Tier so lieb!“

Ettingen nickte. „Ihr Vater muß ein großer Tierfreund gewesen sein und muß für das Seelenleben der Tiere ein seltenes Verständnis besessen haben.“ Er sah den fragenden Blick ihrer Augen und fügte mit rascheren Worten bei: „Aber daß ich diese Beobachtung machen konnte, das ist doch wohl nur der bescheidenste Teil des reichen Gewinnes, den dieser heutige Tag mir brachte. Soll ich Ihnen sagen, woher ich komme? Wo ich zwei Stunden verbrachte, die ich nie vergessen werde? In Ihrem Haus! Im Hause Ihres Vaters!“

Da zuckte es durch ihren jungen schönen Körper, als ob sie aufspringen möchte in jäher Erregung. Doch sie atmete nur tief und blickte mit schimmernden Augen über den Weiher hin. Aber heiße Röte flammte auf ihrem Gesicht, und es zitterte ihr die Hand, mit der sie die Palette hielt.

„Sie schweigen … und fragen nicht, welchen Eindruck ich von der Kunst Ihres Vaters empfing?“

„Nein!“ erwiderte sie leis und beugte sich über die Leinwand, als wollte sie die Arbeit wieder beginnen.

„Nein?“ Fast schien es, als hätte ihn dieses Wort verletzt. Doch er lächelte schon wieder. „Halten Sie denn mein Kunstverständnis für so sehr zweifelhaft, daß es bei einem Urteil über die Bedeutung Ihres Vaters gar nicht in Frage kommen kann?“

Da blickte sie zu ihm auf, fast erschrocken. Dieser Blick aber gab ihr die Ruhe wieder, und es lag nur noch ein wenig Beklommenheit in ihrer Stimme, als sie sagte: „Daß Sie mich so sehr mißverstehen könnten, das glaub’ ich gar nicht! Wer die Natur liebt wie Sie, muß doch auch Verständnis und Liebe für [140] die Kunst, haben. Und daß ich ein wirklich hartes Wort über meinen Vater nicht hören würde, das wußt’ ich doch. Hätten Sie nicht Anteil an seinem Schicksal und an seiner Arbeit genommen, so hätten Sie doch unser Haus gar nicht besucht. Und würden Sie nicht gut von seinen Bildern denken, so hätten Sie zu mir von diesem Besuche nicht gesprochen. Auch seh’ ich es Ihren Augen an, daß Sie ein herzliches Wort auf den Lippen haben. Aber seien Sie mir nicht böse, daß ich das so heraussage … wie gut Sie auch von meinem Vater denken mögen, ich selbst denke doch wohl noch besser von ihm! Für Sie kann er doch immer nur der Künstler sein, von dem Sie das eine oder das andere halten … für mich aber ist er doch auch der Vater, das Liebste, das ich auf der Welt besaß. Und hätten Sie über ihn … nicht einmal einen Tadel, nur ein Befremden geäußert … nicht über sein Denken und Fühlen, denn da müssen Sie ihn verstanden haben, ich weiß es … aber vielleicht nur über seine Art zu sehen, über die Eigenart seines Schaffens … ich hätt’ es doch wie einen Tadel empfunden, und mir, seinem Kinde, hätte das weh gethan … gerade von Ihnen! Und weil ich das fürchtete, deshalb schwieg ich.“ Sie legte die Palette nieder und erhob sich. „Aber ich sehe ein, daß ich unrecht that … verzeihen Sie mir!“

Ettingen nahm ihre beiden Hände und sah ihr so herzlich warm in die Augen, daß sie vor diesem Blick in Verwirrung geriet.

„Also darf ich sprechen? Wollen Sie hören, was ich über Ihren Vater zu sagen habe? Aber nein, ich frage gar nicht mehr … denn soll in Ihrem Herzen nicht ein leiser Zweifel zurückbleiben, dann muß ich sprechen!“ Er hörte Stimmen, und als er aufblickte, sah er am Ufer des großen Weihers den Förster mit dem Fischer um die Waldecke biegen. „Schade… da kommen Leute, die mich holen. Aber ich hoffe, noch die Stunde zu finden, die mich ungestört mit Ihnen plaudern läßt. Denn ich habe Ihnen viel mehr zu sagen, als ich jetzt in ein paar Worte fassen kann … und habe manche Frage zu stellen, die Sie mir beantworten müssen … über das Leben Ihres Vaters, über den Entwicklungsgang seines Schaffens, über die Zeit, in der diese Bilder entstanden. Gewiß, ich denke nicht sonderlich gut von der Urteilsfähigkeit der Welt, die so mit dem Tage lebt und schreit … aber sie hat trotz allem Augen und hat doch auch ein Herz … und wäre Ihr Vater damals vor seiner Flucht in die Berge als Künstler schon der gleiche gewesen, der er war, als er den Hermeskopf mit der Viper und den Jesusknaben mit den Faunkindern schuf … die Welt hätte ihn anerkennen müssen, mehr noch, ihn bewundern und lieben!“

Fester umspannte er ihre zitternden Hände.

„Ihr Vater war ein großer Künstler … und ich schränke dieses Wort durchaus nicht ein, wenn ich sage, daß in ihm der Mensch und Dichter vielleicht noch größer war als der Maler. Ich kann Ihnen gar nicht schildern, welch einen tiefen Eindruck ich heute aus Ihrem Hause mit forttrug … einen Eindruck, der den Wunsch in mir weckte: Hätt’ ich diesen seltenen Menschen doch gekannt, hätt’ ich doch mit ihm leben dürfen! Aber ich glaube doch, daß ich ihn kenne, gut und ganz … ich habe ja schon so viel von seinem Leben erfahren, durch Sie und durch andere … seit heute weiß ich auch, wie er starb … wie nur ein großer und guter und starker Mensch zu sterben vermag, der seinem Leben keinen Vorwurf zu machen hat… Ich habe in seinem Hause die Luft des reinen Glückes geatmet, das er sich und den Seinen erkämpfte, ich habe gesehen, was er schuf … und ich kenne sein Kind! Nun weiß ich, wer Ihr Vater war, und kann Ihnen nachfühlen, was Sie bei jedem Gedanken an ihn empfinden müssen! Sie sind ein glückliches Kind!“

Er küßte ihre Hand, und hastig, als möchte er jede störende Begegnung von ihr fern halten, ging er auf die beiden Männer zu, die schon über das Wehr des letzten Weihers kamen.

Regungslos, die Arme halb gestreckt, als hielten sie noch immer seine Hände fest, und die großen schönen Augen feucht verschleiert, stand Lolo Petri am Ufer und blickte über das Wasser zum Wehr hinüber. Doch sie sah nur den einen, der von ihr gegangen war, sah nicht, daß der Förster ihr zuwinkte mit dem Hut, und hörte den Gruß nicht, den er laut, um das Wasser zu übertönen, zu ihr herüberschrie. So stand sie, bis die drei Männer im Thor des Blockhauses verschwanden. Dann atmete sie auf, und wie in einem jähen Sturm von Empfinden preßte sie die Hand, die er geküßt hatte, an ihre Lippen – als möchte und müßte sie ihm danken für seine Worte und wüßte keinen anderen Dank als diesen.

Und nun kam es plötzlich über sie wie treibende Ungeduld. Eilfertig klappte sie den Feldstuhl zusammen, brachte den Malkasten in Ordnung und schabte hastig mit einem Messer das ganze fertige, noch nasse Bildchen von der Leinwand fort, daß auf dem Tuche nur noch ein trüber Schimmer der entfernten Farben zurückblieb. Während sie die zerlegte Staffelei mit dem Sessel zusammenschnallte, blickte sie nach dem Stand der Sonne: „In einer Stunde müssen sie kommen!“

Das Malgerät an einem Riemen tragend, folgte sie einem Fußpfad, bis sie die von Leutasch nach Seefeld führende Landstraße erreichte. Einen Fuhrmann, der ihr mit leerem Wagen entgegenkam, bat sie, ihr Malgerät mit ins Dorf zu nehmen – und sie brauchte den Mann nicht viel zu bitten, man sah es ihm an, daß es ihm Freude machte, ihr eine Gefälligkeit erweisen zu können.

In sachter Steigung klomm die Straße durch den Wald hinauf, und Lolo folgte ihr mit so erregter Eile, daß ihr Atem in heißen Flug geriet und daß ihr die Wangen wie Feuer zu brennen begannen. Hastig schritt sie weiter. Nach kurzem Weg öffnete sich vor ihr eine Waldwiese. An einem Quellbach, der sich bis dicht an die Straße heranschlängelte, waren die Ufer reich mit Blumen bewachsen. Sie sprang über die Straße hinunter, begann zu pflücken, und während sie langsam am Saum der Wiese hinging, sammelte sie zu ihrem Strauß noch immer neue Blumen. Nun erreichte sie wieder den Wald und ließ sich im Schatten der Bäume nieder, um die Blüten zu ordnen. Doch nur ihre Hände waren bei dieser Arbeit, nicht die Gedanken. Bald spielte ein träumendes Lächeln um ihren Mund, bald wieder blickte sie ernst und sinnend vor sich nieder oder in den blauen Schatten des Waldes hinein. – Dann jählings ließ sie den Strauß, den sie gebunden hatte, in den Schoß fallen. „Vater! Vater!“ stammelte sie, bedeckte das Gesicht mit den Händen und brach in Schluchzen aus. Aber das war kein Weinen in Schmerz – es war ein Weinen in heißer Freude.

Jetzt fuhr sie lauschend auf, sprang zurück auf die Straße und jauchzte. Aus dem Thal, in das sich der Wald hinuntersenkte, antwortete der Jauchzer einer Knabenstimme, hoch und schrillend wie der Ton einer Weidenpfeife.

„Ja! Ja! Sie sind es!“ stammelte Lo’ in einem Sturm von Freude und begann zu laufen. Nun konnte sie die Straße bis ins Thal hinunter überschauen und sah eine kleine, mit einem Pferd bespannte Kutsche kommen. Der Knecht ging neben dem Wagen her, um dem Rößlein die Last über den Berg hinauf zu erleichtern. In der Kutsche saßen eine Frau und ein Knabe, der mit beiden Armen winkte.

Mit klingender Stimme rief Lo’ den Namen des Bruders.

Da ließ sich der kleine Bursch nicht länger im Wagen halten, sondern sprang auf die Straße, noch ehe der Knecht das Pferd zum Stehen brachte, warf das Hütlein in die Kutsche zurück und begann mit solcher Hast den Berg hinauf zu rennen, daß ihm die Mutter in Sorge nachrief: „Gusti! Gusti! Nur langsam! Ich bitte dich … sie wartet ja, bis du kommst!“

Aber der Junge hörte nicht mehr, er rannte und rannte, und schon auf hundert Schritte vor der Schwester breitete er die Arme aus und jubelte mit erstickter Stimme: „Lo’! Lo’! Meine liebe, gute, gute Lo’!“ Und mit so wilder Freude flog er ihr an die Brust, daß sie beinahe wankte unter dem Ansturm dieses schmächtigen Knabenkörpers. Wortlos hielt sie ihn umschlungen und erstickte ihn fast mit ihren Küssen. Als sie sich aufrichtete, hing er mit erloschenem Atem an ihrem Hals, hielt die Wange an ihre Brust gedrückt und brachte nur mühsam die Worte heraus: „Ach, Lo’ … ach, ich kann’s dir gar nicht sagen … wie ich mich freue … weil ich nur dich wieder habe! Dich, Lo’! Dich! Weißt du, es ist doch wirklich nett vom lieben Gott, daß er die Ferien erschaffen hat!“

Lächelnd kühlte sie ihm mit ihrem Tuch die Wange und hielt ihn umschlungen, bis er ruhiger wurde. Dann gab sie ihm die Blumen.

„Lo’? Für mich?“

„Für dich und für die Mutter.“

„Ich danke, danke dir, Lo’!“

Da nahm sie sein Gesicht in beide Hände und sah ihm lange in die Augen – wie zwei klare Sterne blickten diese leuchtenden [141]

Spottvögel.
Nach dem Gemälde von E. Beauduin.



Knabenaugen zu ihr empor. Sie atmete auf und sagte leis: „Ja! Du bist es! Du kommst wieder heim zu uns, wie du gegangen bist!“ Lächelnd schob sie ihn ein wenig von sich und betrachtete sein hager aufgeschossenes Figürchen in dem sauber gehaltenen schwarzen Anzug und in den engen Höschen, die ihm zu kurz geworden. „Und wie du gewachsen bist!“

„Ja! Sieh nur … sagte er stolz und reckte sich, „jetzt reich’ ich dir schon fast an die Schulter!“

Die Kutsche kam, und jubelnd schwenkte der Junge seine Blumen. „Mama! Mama! Sieh doch! Sieh! Die hat uns Lo’ gebracht!“ Das Mädchen eilte dem Wagen entgegen und faßte die Hand der Mutter.

Frau Petri hatte schon graue Haare, welche glatt gescheitelt unter dem schwarzen, altmodischen Kapothut hervorsahen. In weißem Oval, wie aus Wachs gebildet, hob sich aus den schwarzen Bändern das schmale Faltengesicht, das von Kummer und Schmerzen erzählte, die nur zur Ruhe kamen, doch nicht überwunden sind. Aber so welk und müde dieses Gesicht auch war, es zeigte doch noch die Spuren einstiger Schönheit und glich mit seinen feinen, vornehmen Zügen dem Antlitz der Tochter. Nur andere Augen hatte die Mutter, von mattem Blau – Augen, die nicht anders blicken konnten als in Sorge. Und sie hatte ihrer Tochter auch kaum ins Gesicht gesehen, als sie schon beklommen fragte: „Kind? Was ist dir? Du glühst ja ganz! Du bist anders als sonst! Ich bitte dich, sag’ mir … ist etwas geschehen? Was hast du?“

„Mutter …“ Lo’ umklammerte die Hand der alten Frau, während sie neben der Kutsche herging; sie war so erregt, daß sie kaum zu sprechen vermochte.

„Aber Hans!“ schmollte Frau Petri mit dem Kutscher. „So halten Sie doch den Wagen an. Lo’ kann doch nicht immer so nebenherlaufen!“

Der Knecht hielt das Pferd an und suchte auf der kahlen Straße nach einem Stein, den er unter das Rad legen könnte.

„Was hast du, Kind? Aber so sprich doch!“

„Mutter! Denke nur, wer heute bei uns war! In unserem Hause! Er, Mutter! Er!“

„Er? Wie soll ich denn wissen, wer das ist!“

„Aber Mutter! Ich habe dir doch heute früh erzählt von ihm … daß ich ihn draußen am Sebensee kennenlernte … und daß ich so viel von Papa mit ihm gesprochen habe …“

„Der Fürst?“ fragte Frau Petri betroffen.

„Ja! Und heute kam er, um Papas Bilder zu sehen!“

„Und du warst daheim?“

„Nein! Aber ich traf ihn … bei den Weihern! Ach, Mutter! Hättest du nur gehört, wie er von Papa gesprochen hat! Das wäre für dich eine Freude gewesen … eine Freude! Weißt du, was er sagte? Ein großer, großer Künstler, den die Welt hätte bewundern und lieben müssen … und vielleicht war der Mensch und Dichter in ihm noch größer als der Maler! Das sagte er … Wort für Wort. Wir, Mutter, wir wissen es ja! Aber daß es nun auch die anderen erkennen und sagen! Ach, du, Mutter … dieses Wort war ein Geschenk für mich, so schön … ich kann es dir gar nicht sagen, wie mir war!“

Frau Petri schwieg, und während sie zitternd die Hand ihres Kindes umklammert hielt, fielen ihr die glitzernden Zähren auf das schwarze Hutband nieder.

Da sagte der Kutscher: „Mein’ liebe Frau, jetzt muß ich aber weiterfahren. Ein’ Stein find ich net, ein Radschuh’ hab’ ich net, und ’s Rößl derhalt’t mir den Wagen nimmer auf der steilen Straßen da!“

Frau Petri seufzte. „Ach, Lo’! Warum kommt das so spät? Zu spät für ihn!“ Sie trocknete die Augen und sagte [142] begütigend zum Kutscher: „Ja, Hans, ja, fahren Sie nur weiter! … Aber du, Lo’?“

„Fahre nur du voraus, Mutter! Ich gehe … mit Gustl.“

„Aber wo ist er denn?“

„Dort, im Wald. Einem Schmetterling läuft er nach, oder einem Eichhörnchen.“

„Ach, wie sich der Junge wieder erhitzen wird!“ Frau Petri reichte dem Mädchen den Hut des Knaben und ein seidenes Tuch. „Er soll nur den Hut gleich aufsetzen, wenn er auf die Straße kommt … hier zieht es! Und bind’ ihm das Tuch um! Thust du es aber auch wirklich?“

Lolo lächelte. „Ja, Mutter.“

Als der Wagen davonfuhr, kam der Knabe aus dem Wald gerannt, rief der Mutter einen jauchzenden Gruß nach und warf sich wieder mit stürmischer Zärtlichkeit in die Arme der Schwester. Sie drückte ihm das Hütlein aufs Haar und band ihm das Tuch lose um den Rockkragen, daß es den Hals nicht berührte. Dann wanderten sie Arm in Arm neben der Straße hin, und während der Knabe mit sprudelndem Eifer die lange Geschichte seiner kurzen Reise erzählte, schmiegte er sich eng an die Schwester an, als gäb’ es für ihn keine süßere Freude, als so mit ihr zu wandern, ihren Arm zu drücken, ihre Hand zu streicheln und mit leuchtenden Augen immer wieder zu ihr aufzublicken. Doch plötzlich, mitten in seiner plaudernden Freude, verstummte er.

Sie beugte sich zu ihm nieder, sah ihm ins Gesicht und sagte leise: „Ich weiß, an was du denkst!“

„Ach, Lo’!“ Seine Augen füllten sich mit Zähren. „Die ersten Sommerferien … ohne Papa!“ In Schluchzen ausbrechend, umklammerte er die Schwester.

Während auch ihr die stillen Thränen über die Wangen rollten, hielt sie den Knaben umschlungen und an sich gepreßt, bis er ruhiger wurde. Dann wanderten sie langsam und schweigend durch den Wald dahin. Sie kamen zur letzten Höhe, und aus dem Thal herauf grüßte das Dorf mit seinen Wiesen und Gärten.

„Lo’! Unser Haus! Ich seh’ unser Haus!“

Und mit gellendem Jubelschrei, in welchem noch die Erregung nachzitterte, schwang der Knabe sein Hütlein.

Lolo küßte ihn aufs Haar und sagte flüsternd: „Gelt, ja, so schön wie daheim ist’s nirgends in der Welt!“

„Daheim! Ach, Lo’ … wo sollt’ es denn schöner sein?“

„Aber eines mußt du mir versprechen! Wenn wir heim kommen … nicht wahr, Bubi? … dann wollen wir klug und stark sein … und lieb und gut mit der Mutter! Wir dürfen ihr nicht wehthun mit unserem Schmerz … und sie soll nichts anderes sehen als deine Freude, daß du wieder daheim bist und wieder bei ihr!“

„Ja, Lo’! Ich versteh’ schon, was du meinst! Und das versprech’ ich dir auch … lieber beiß’ ich mir die Zunge ab, eh’ ich weine, wenn es Mama sehen kann!“

Sie nickte ihm lächelnd zu. „Aber eines sag’ mir noch!“ Sie nahm das Gesicht des Knaben in beide Hände. „Wenn Papa dich jetzt erwarten könnte … dürfte er Freude an dir haben?“

Ruhig hielt er den Blick der Schwester aus und nickte. „Ja, Lo’, ich glaube schon! Mein Zeugnis … in allen Fächern hab’ ich Eins bekommen. Nur im Betragen … ich bitte dich, sei nicht böse, Lo’ … aber im Betragen hab’ ich Zwei auf Drei. Weißt du, ich passe in der Stunde immer so viel auf, aber ich kann nicht stillsitzen … ich will’s immer, aber ich kann nicht!“

Lächelnd streichelte ihm die Schwester das Haar. „Deshalb brauchst du dir keinen Kummer zu machen. Das wirst du schon noch lernen!“ Sie nahm seinen Arm, und nun schritten sie in das Thal hinunter. „Und da du so gute Zeugnisse heimbrachtest, sollst du auch schöne Ferien haben. Mama und ich, wir werden zusammen helfen, um dir recht, recht viel Freude zu machen! Aber weißt du, Bubi, ganz darfst du auch in den Ferien das Lernen nicht aussetzen. Ich hab’ auch mit Mama schon den Stundenplan eingeteilt. In der Früh’ wird Mama eine Stunde mit dir lernen, und nachmittags oder am Abend, da setzen wir beide uns ein paar Stündchen zusammen. Willst du?“

„Ja, Lo’, ja! Aber gelt … jetzt gleich, da hab’ ich doch ein paar Tage ganz frei. Denn weißt du, ein bißchen ausrennen muß ich mich!“

„Aber natürlich! Bist du zufrieden mit vierzehn Tagen?“

„Vierzehn …“ Das Wort ging unter in einem seligen Jauchzer. „Und darf ich auch wieder fischen? Schon morgen?“

„Ja! Wenn du willst, noch heute am Abend. Der Fischer hat die neue Angelgerte für dich schon fertig!“

„Ach, Lo’, das wird herrlich! herrlich!“

„Vier Tage bleiben wir jetzt zu Hause bei Mama, und dann … das hab’ ich uns von Mama schon ausgebeten … dann darfst du drei Tage mit mir … rate, wohin?“

„Lo’? … Zum Sebensee?“

„Erraten! Ja!“

Die erste Regung des Knaben war stürmischer Jubel. Dann aber wurde er wieder still, und die Wange an den Arm der Schwester schmiegend, flüsterte er: „Ach, Lo’! Da draußen sein … und an Papa denken, wenn ich seine Blumen sehe und seinen Baum singen höre … ich kann’s nicht erwarten, gar nicht erwarten! Wie schön das sein wird!“ Und hastig, als müßte er für solche Freude danken, sagte er: „Lo’! Da nehm’ ich meine Bücher mit! Da draußen, weißt du, da muß ich lernen!“

Zärtlich drückte ihn die Schwester an sich, und wieder gingen sie schweigend am blumigen Saum der Straße hin. Als sie zu den ersten Häusern kamen, wurde ihr Gang immer rascher. Wenige Schritte noch, und sie hatten ihr Heim erreicht.

Das stille Gold des Nachmittages lag über dem kleinen Haus, die weißen Tauben flogen ab und zu, die Stare zwitscherten, und die sonnigen Lüfte waren erfüllt vom Wohlgeruch der Blumen.

(Fortsetzung folgt.)     




Ueber den Schwindel.

Von Nervenarzt Dr. Otto Dornblüth.

Eines der Körpergefühle, die für unser Wohlbehagen durchaus erforderlich sind, ist das einer gesicherten Stellung oder Lage unseres Körpers. Das kleine Kind oder das unerfahrene junge Tier beugt sich sorglos über den Rand eines Bettes oder Tisches hinaus, bis es zu Fall kommt; der Erwachsene weiß aus Erfahrung, daß eine gewisse Vorsicht dazu gehört, überall sein körperliches Gleichgewicht zu behalten. In unserem Gehirn sind eigene Organe, wahrscheinlich die Bogengänge des Ohrlabyrinths, die jeden Augenblick ohne unser Wissen darüber wachen, daß der Körper durch seine Haltung im Gleichgewicht bleibt und seinen Schwerpunkt nicht über den Bereich seiner Unterstützung hinausbringt.

Die Sicherheit der durch diese Organe vermittelten Einrichtungen ist so groß, daß wir für gewöhnlich gar nicht daran denken, daß unser aufrechter Gang etwas Besonderes oder Schwieriges ist. Die Sache ändert sich sofort, wenn uns durch äußere Verhältnisse die Schwierigkeit oder die besondere Bedeutung der Erhaltung des Gleichgewichtes klargemacht wird. So zum Beispiel, wenn wir auf sehr glattem oder sehr unebenem Boden gehen oder auf einem Balken einen Bach überschreiten sollen. Die uns aus Erfahrung bekannte Gefahr des Fallens macht uns vorsichtig und ängstlich, und der Grad der Angst richtet sich einesteils nach dem Maße der Gefahr, andernteils nach der „Aengstlichkeit“ des einzelnen. Liegt der Balken dicht neben anderen, so geht man darauf entlang, ohne sich etwas dabei zu denken; es giebt allerdings ängstliche Menschen, die schon hierbei der Gedanke, auf der bestimmten Linie bleiben zu sollen, in störende Befangenheit versetzt. Führt der Balken über einen flachen Graben, so werden die meisten ihn ohne Schwierigkeiten überschreiten, aber die Sache wird zweifelhafter, wenn der Graben Wasser enthält, und sehr bedenklich, wenn es sich etwa um eine tiefe Spalte (in Gletschern oder Felsen) handelt. Der Einfluß der Vorstellungen geht aus diesen Beispielen deutlich hervor. Aus dem Gedanken an die mögliche Gefahr entwickelt sich die Unsicherheit, und diese kann sich bis zu lähmender Angst steigern. Häufig verbindet sich in diesen Fällen mit der Angst das Gefühl, als habe man schon den Halt verloren, und dies Gefühl einer Gleichgewichtsstörung bezeichnet man als Schwindel.

Es giebt aber noch andere Ursachen für das Gefühl der Gleichgewichtsstörung. Wir sind es gewohnt, daß die leblosen

[143] Gegenstände unserer Umgebung ihre Ruhelage bewahren oder sich doch nur in Bewegung setzen, wenn eine uns bekannte, von uns wahrgenommene Ursache den Anstoß dazu giebt. Dieses Vertrauen in die Beharrung der Objekte liegt so tief in unserer Erfahrung begründet, daß jede Abweichung davon uns peinlich berührt. Wir sehen auch, daß zum Beispiel ein Hund mit allen Zeichen lebhaften Schreckens entweicht, wenn ein in seiner Nähe an der Wand stehender Stock umfällt; offenbar erschreckt ihn besonders die unerwartete Bewegung des leblosen Gegenstandes. Wir selbst sehen es mit Ruhe an, wenn sich ein Wagen neben uns in Bewegung setzt, dessen Abfahrt wir vorausgesehen haben, aber wir schrecken zusammen, wenn dasselbe plötzlich geschieht, ohne daß wir es erwartet hatten. Vielfach tritt dabei ein deutliches Schwindelgefühl auf; die unerwartete und im Augenblick noch nicht klar gedeutete Bewegung macht uns den Eindruck, als ob wir selbst uns bewegten. Jedermann kennt das täuschende Gefühl, das uns in der Eisenbahn in dem Augenblicke ergreift, wo sich neben unserem Wagen ein anderer Zug in Bewegung setzt; hier tritt natürlich kein Schwindelgefühl auf, weil die Bewegung nichts Unerwartetes hat.

Es können aber auch beim Eisenbahnfahren Schwindelgefühle eintreten, nur daß diese nichts mit dem Unerwarteten zu thun haben, sondern mehr als körperliche Wirkungen zu betrachten sind. Wenn man sich bemüht, bei schnellfahrenden Zügen die scheinbar in wilder Hast vorbeifliegenden Teile der Landschaft ins Auge zu fassen, so übersteigt die Geschwindigkeit der wechselnden Bilder sehr bald die Aufnahmefähigkeit des Auges, man kann das Auge nicht mehr sicher auf den Gegenstand des Sehens einstellen. Die Wirkung ist ganz ähnlich wie bei dem beliebten Spiel der Kinder, wobei sie sich schnell um sich selbst drehen, oder auch beim Tanzen. Es ist bekannt, daß man beim Tanzen viel weniger leicht schwindlig wird, wenn man nicht um sich sieht und die scheinbar umherwirbelnden Objekte betrachtet, sondern vor sich niedersieht. So pflegt auch der Eisenbahnschwindel nicht einzutreten, wenn man nicht zum Fenster hinaussieht; er ist auch geringer beim Vorwärtsfahren, wo man die Bilder schon verhältnismäßig lange herankommen sieht, als beim Rückwärtsfahren, wo sie kurz vorbeihuschen und dabei von Augenblick zu Augenblick undeutlicher werden. Es sei nebenbei bemerkt, daß dies nicht der einzige Unterschied in der Wirkung des Vorwärts- und Rückwärtsfahrens ist, denn mancher verträgt letzteres auch im Dunkeln und bei geschlossenen Wagenvorhängen nicht, ein Zeichen, daß die Bewegung an sich etwas Einfluß haben muß.

Die schwindelerregende Wirkung des schnellen Vorbeiziehens der Gesichtseindrücke verrät sich übrigens auch sonst bei vielen Gelegenheiten, so wenn ein Eisenbahnzug in voller Fahrt dicht vorbeifährt, oder wenn die Fülle der sich vorbeibewegenden Eindrücke sehr groß ist, z. B. wenn man in belebten Straßen der Großstädte die Einzelheiten der vorüberwogenden Menge genauer betrachtet. Auch ein einfacher Wechsel der in unser Auge gelangenden Lichtmenge kann ähnlich wirken, so z. B., wenn wir an einem Lattenzaun entlanggehen, hinter dem die Sonne steht, oder bei fortgesetztem Flackern einer Bogenlampe etc. Viele Menschen empfinden bei diesen Eindrücken nur ein Unbehagen, sensible dagegen oft ein deutliches Schwindelgefühl. Bei empfindlichen Personen genügen auch von den angedeuteten Bewegungsvorgängen schon recht geringe Grade, um sie schwindlig zu machen; es giebt Menschen, die schwindlig werden, sobald sie schnell den Kopf drehen oder sich tief bücken. Bei solchen genügt wohl auch die durch Alkohol oder Kaffee oder durch eine starke Cigarre hervorgerufene Erregung des Blutumlaufs, um Schwindelgefühle zu erzeugen.

Viel größer und nachhaltiger ist die Schwindelwirkung, wenn die Gleichgewichtsstörung durch ganz unerwartete und stark erregende Vorgänge bewirkt wird, wie z. B. beim Erdbeben. Es ist wiederholt mitgeteilt worden, daß die von solchen Erschütterungen Betroffenen jahre- und jahrzehntelang das Gefühl der Unsicherheit nicht wieder losgeworden sind.

Zu den körperlich bedingten Schwindelgefühlen gehören auch die, welche bei einer Reihe von krankhaften Zuständen auftreten. Am bekanntesten sind dem Laien die Schwindelanfälle bei Ohnmacht und bei sogenannten Kopfkongestionen, bei Blutandrang zum Kopf. Sie mögen zum Teil mit den dabei vorkommenden Sehstörungen, mit dem Flimmern und dem Schwarzwerden vor den Augen, zusammenhängen, wie denn auch bei plötzlich eingetretenem Schielen infolge von Augenmuskellähmung ganz gewöhnlich Schwindel entsteht, der dann durch Schließen des abweichenden Auges beseitigt werden kann. Hauptsächlich wird es sich aber auch bei dem Ohnmachts- und Kongestionsschwindel um Schwankungen in der Blutverteilung in den Gleichgewichtsorganen des inneren Ohres handeln, deren Thätigkeit dadurch gestört wird. Auf direkter Störung dieser Organe beruht es auch, daß Erkrankungen des inneren Ohres oft zu sehr schweren Schwindelanfällen führen. Eine weitere Quelle von Schwindelerscheinungen, die ohne erkennbare äußere Ursache auftreten, sind Erkrankungen des Kleinhirns, das ebenfalls Organe zur Erhaltung unseres Körpergleichgewichtes enthält.

Von diesen im Ohr und im Gehirn liegenden Ursachen des Schwindels haben die meisten an der lästigen Erscheinung Leidenden etwas gehört, und sie kommen daher sehr gewöhnlich auf die Vermutung, daß auch bei ihnen etwas Derartiges vorliege. Das ist nun zum Glück in den weitaus meisten Fällen nicht richtig. Die Gehirn- und Ohrkrankheiten, die sich mit Schwindel verbinden, äußern sich regelmäßig zugleich in anderen, viel hervorstechenderen Erscheinungen, so daß es hierbei selten der Schwindel ist, der die Kranken zum Arzte treibt. Wo dagegen das Schwindelgefühl im Vordergrunde der Erscheinungen steht, handelt es sich fast ausnahmslos um neurasthenischen, d. h. auf Nervenschwäche beruhenden Schwindel. Auch dieser kann nämlich ohne jeden äußeren Anlaß auftreten, so daß der davon Befallene den Eindruck hat, es müsse irgend etwas in seinem Kopfe nicht in Ordnung sein. Die eigenen Empfindungen bei dem nervösen Schwindel wechseln der Art und dem Grade nach sehr. Oft handelt es sich nur um das Gefühl, als sei man nicht imstande, ganz gerade zu gehen, und dieses Gefühl tritt besonders dann auf, wenn man vor anderen hergeht und sich beobachtet glaubt. Gewöhnlich ist die nur durch eine gewisse Befangenheit hervorgerufene Unsicherheit, wenn überhaupt vorhanden, so gering, daß andere nichts davon sehen, zuweilen ist allerdings eine leichte Abweichung von der geraden Weglinie bemerkbar. Es handelt sich dabei in der That um nichts anderes, als wenn man, wie vorhin gesagt, auf einem Balken entlang gehen soll: nur die Befangenheit macht unsicher. In anderen Fällen haben die Neurasthenischen deutlich das Gefühl starken Schwankens, ja sogar des Hinstürzenmüssens, und es können sich Kopfdruck oder das Gefühl von Leere im Kopf, Flimmern vor den Augen, Ohrensausen, Schweißausbruch, Uebelkeit und sogar Erbrechen dazugesellen, kurz die körperlichen Begleiterscheinungen der Angst, die als eine häufige Erscheinung bei Neurasthenie vorkommen. Wie die Angstzustände selbst, mögen sie auch noch so bedrohend auftreten, niemals eine wirkliche Gefahr für den Kranken mit sich bringen, so sind auch die schwersten Schwindelanfälle der Neurasthenischen stets ungefährlich. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß sie keiner Behandlung bedürften; vielmehr ist es dringend wünschenswert, daß sie von Anfang an recht sorgfältig behandelt werden, weil sie den Kranken immer sehr quälen, und weil ohnehin das dem Menschen zugeteilte Maß an Lebensfreudigkeit durch die so verbreiteten nervösen Krankheiten reichlich verkürzt wird.

Es kann nicht die Aufgabe dieser kleinen Abhandlung sein, die bei wirklichen Krankheiten vorkommenden Schwindelzustände genauer zu besprechen oder gar zu ihrer Behandlung anzuleiten. Dazu gehört in jedem Falle die Erfahrung des damit vertrauten Arztes, der die Behandlung genau dem Einzelfalle anzupassen hat. Aber es ist eine geeignete und, wie ich glaube, dankbare Aufgabe, den Leser darüber zu belehren, wie er die Neigung zu Schwindel und schwindelähnlicher Aengstlichkeit bekämpfen kann, die so vielfach bei Menschen mit „nervösem Temperament“ auftritt. Wir rechnen dazu vor allem die Schwindelgefühle, die beim Fahren auftreten, und damit überhaupt das beim Eisenbahnfähren auftretende Mißbehagen, ferner die übermäßige Empfindlichkeit gegen schnell wechselnde Sinneseindrücke, wie sie in dem Schwindligwerden beim Anblick vorüberwogender Menschenmassen zum Ausdruck kommt, und vor allem die zu große Höhenangst, den sogenannten Höhenschwindel.

Als Höhenschwindel bezeichnet man die Empfindungen des Unbehagens, der ängstlichen Unsicherheit, die sich bei sehr vielen Menschen einstellen, wenn sie von einem erhöhten Punkte [144] in die Tiefe blicken. Es giebt viele Menschen, die völlig schwindelfrei sind, die von den größten Höhen in die tiefsten Abgründe blicken können, sogar von mangelhaft gesichertem Platze aus, ohne daß ihnen irgend eine peinliche Vorstellung kommt. Andere dagegen werden von lebhaftem Unbehagen erfaßt, wenn sie nur aus dem Fenster oder vom Balkon eines ersten Stockwerkes aus auf die Straße sehen sollen, es macht sie ängstlich und schwindlig, wenn sie im Theater in einem der erhöhten Ränge sitzen müssen. Der Grad der Mißempfindungen wechselt von dem unüberwindbaren Gefühl, daß einem der Blick in die Tiefe unangenehm sei, bis zu deutlichen Schwindelgefühlen und zu unüberwindlicher Angst, die das Verbleiben in der betreffenden Situation ganz unmöglich macht. Bei dem Besteigen von Bergen und von Türmen geht vielfach der Anstieg ohne Schwierigkeit vor sich, namentlich solange der Steiger dabei den Weg vor sich hat; vielleicht kann er auch noch oben die Aussicht von einem ruhigen Sitzplatze aus mit Genuß in sich aufnehmen, wenn er aber beim Abstieg die Tiefe vor sich hat oder in das Halbdunkel einer Wendeltreppe hinab soll, treten Angst und Schwindel ein. Häufig kann man beobachten, daß manche schwindelfrei sind, solange sie allein gehen, aber von heftigem Schwindel erfaßt werden, wenn sie die vor oder neben ihnen Gehenden betrachten. Daraus ergiebt sich zugleich, daß es durchaus nicht etwa nur das Gefühl der eigenen Gefahr ist, was das Mißbehagen ausmacht. Viele Menschen haben übrigens ganz dieselben Empfindungen, wenn sie vom sicheren Erdboden aus andere auf Türmen, Dächern oder steilen Anhöhen stehen oder gehen sehen. Besonders leicht stellen sich bei vielen die unangenehmen Gefühle ein, wenn zu der Vorstellung des Höhenunterschiedes noch das Bewußtsein hinzutritt, in der Freiheit der eigenen Bewegung beschränkt zu sein. Man beobachtet das sehr oft, wenn so Empfindliche im Wagen einen etwas steilen Weg hinabführen oder auf einem gewölbten Straßendamm den Verdeckplatz eines Omnibus innehaben; auch die Beklemmung bei der Benutzung von Fahrstühlen gehört wenigstens teilweise hierher. Die Zahl der Beispiele ließe sich nach der Erfahrung leicht noch außerordentlich vermehren, aber es sind immer dieselben Verhältnisse, die in jedem Falle wiederkehren. Wer von den Lesern über eigene Wahrnehmungen verfügt, wird sie leicht in die angedeuteten Gruppen unterbringen können.

Für die Beurteilung und Behandlung der Zustände ist es wichtig, daß sie bei einem und demselben Menschen durchaus nicht immer in derselben Stärke auftreten. Menschen, die für gewöhnlich vollkommen schwindelfrei sind, können zu gewissen Zeiten in dieser Richtung äußerst empfindlich sein. Am meisten disponieren dazu die Zeit unmittelbar nach erschöpfenden Krankheiten, geistige Ueberanstrengung durch Arbeit oder durch Gemütsbewegungen und die dem übermäßigen Alkoholgenuß folgende Abspannung. Unter all diesen Verhältnissen sieht man sogar beim Gehen auf glattem Boden, beim Treppenabstieg etc. gelegentlich Schwindelgefühle auftreten. Auch der sogenannte Nachtschwindel, das im Schlaf oder im Halbwachen auftretende Gefühl des Indietiefestürzens, kommt besonders den genannten Erschöpfungszuständen zu. Wenn man also nicht schon aus manchen psychologischen Berührungspunkten und aus der gesteigerten Anlage nervöser Menschen den Schwindel den neurasthenischen Störungen zurechnen müßte, würde sein oft direkter Zusammenhang mit akuter Nervenerschöpfung über seine Stellung belehren. Das wird auch durch die erprobten Heilmittel gegen die Schwindelzustände bestätigt. Alles, was das Nervensystem kräftigt und beruhigt, vermindert die Neigung zu Schwindel. Man könnte deshalb für die Bekämpfung dieser peinlichen Anlage einfach auf die Regeln der Gesundheitspflege der Nerven verweisen, wie ich sie in meinem Buche „Gesunde Nerven“ (Rostock, W. Werthers Verlag, 2. Aufl. 1897) zusammengestellt habe. Es mag aber immerhin von Wert sein, hier einige Punkte genauer zu besprechen, die für diesen besonderen Fall wichtig sind.

Zunächst muß betont werden, daß das erste Auskunftsmittel der weniger Eingeweihten, der krankhaften Erscheinung mit Aufbietung der Willenskraft entgegenzutreten, sehr zweischneidig wirkt. In ganz leichten Fällen und namentlich bei schnell vorübergehender Disposition zu Schwindelanwandlungen mag es ganz gute Dienste thun, durch Ueberwindung und Gewöhnung die Empfindungen zu bekämpfen. In allen schwereren Fällen wird damit nur geschadet: durch die erneute Erschütterung wächst die Empfindlichkeit oft in solchem Maße, daß die Schwindel- und Angstgefühle nun auch in den Traum übergehen und immer größeren Platz in den Vorstellungen einnehmen. Es ist klar, daß damit die erstrebte Gleichgültigkeit gegen den peinlichen Eindruck nicht erreicht werden kann. Erfahrene Bergsteiger wissen auch ganz gut, daß man die Sache nicht forcieren kann, und ruhen lieber einen Tag, wenn sie sich solcher Disposition bewußt sind. Oft genügt ein längeres Ausruhen und eine gute Nacht, um wieder die nötige Sicherheit zu gewinnen.

Aus der berührten ursächlichen Bedeutung des übermäßigen Alkoholgenusses ergiebt sich schon, daß der oft genug angewendete Rat, den Schwindel mit einem Glase Portwein oder Cognac zu vertreiben, mindestens sehr trügerische und nur Augenblickserfolge haben kann. Wie bei allen nervösen Schwächezuständen muß daher auch hier dringend davor gewarnt werden, in dem Alkohol ein Heilmittel zu sehen. Gerade bei länger dauernder Anlage zu Schwindel sieht man regelmäßig sehr ungünstige Wirkungen. Die Hochtouristen haben ja auch schon lange auf dies Anregungsmittel verzichtet, weil sie es als gefährlich erkannt haben.

Ebenso verfehlt würde es sein, die dem Schwindel zu Grunde liegende vermehrte Reizbarkeit, wie es oft geschieht, mit kalten Bädern und kalten Abreibungen bekämpfen zu wollen. Es kann nicht oft und nicht dringend genug betont werden, daß die kalten Wasserprozeduren erregend auf das Nervensystem wirken. Wo die beruhigende, stärkende Wirkung am Platze ist, kommen nur sehr milde Wasseranwendungen in Frage, am besten Halbbäder von 26 bis 24 Grad Réaumur mit Bespülungen des Oberkörpers mit demselben Wasser, vier Minuten lang, täglich oder jeden zweiten Tag genommen. Weniger gut sind nasse Abklatschungen mit einem Laken von 24 Grad Réaumur, ohne starkes Reiben. Nach jeder solchen Wasseranwendung ist eine halbe Stunde Ruhe nötig.

Auch im übrigen soll das Verhalten schonend und ruhig sein. So wertvoll für alle Menschen der Genuß frischer Luft ist, so unzweckmäßig sind bei Erschöpfungszuständen gewaltsame, anstrengende Spaziergänge und andere angreifende körperliche Uebungen. In den Erholungen soll ebenso wie in der Arbeit ein vernünftiges, den Kräften angemessenes Gleichmaß und Mittelmaß beobachtet werden. Nur dadurch läßt sich eine Kräftigung des Nervensystems und vermehrte Widerstandsfähigkeit erzielen. Wo diese Maßregeln der Gesundheitspflege nicht ausreichen, um die Beschwerden zu beseitigen, ist fachmännischer Rat einzuholen; hier tritt die Kunst des Arztes ein, die den Einzelfall in allen seinen Bedingungen erfaßt und deshalb nie zum Gemeingut werden kann.




Eugenie John-Marlitt.

Mit bisher ungedruckten Briefen und Mitteilungen.0 Von Moritz Necker.

Eugenie John-Marlitt hatte ihr Leben lang eine eigene Scheu davor, persönlich Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit zu sein. Das ging ihr gegen die Natur, sie empfand es geradezu als eine Pein. In der Jugend, wo sie als Opernsängerin debütierte, litt sie unter den Qualen des Lampenfiebers dermaßen, daß sie erkrankte. Im Alter, als sie schon die berühmte Erzählerin der „Gartenlaube“ war, ließ sie sich vor jedem fremden Besucher verleugnen. Auch die Wahl eines Pseudonyms für ihre Romane war eine Folge dieser Scheu. In ihrem ganzen Leben ließ sie sich nur zweimal photographieren. Auf diese übergroße Bescheidenheit ist es zurückzuführen, daß bisher keine Biographie der Marlitt geschrieben werden konnte, die uns Einblick in ihre innere Entwicklung, in ihr Privatleben gewährte.

Zu ihren Lebzeiten konnte natürlich keine Rede davon sein; was damals über sie gedruckt wurde, ging über die äußerlichsten Mitteilungen nicht hinaus. Aber auch die Biographie, welche ihr Bruder, der Oberlehrer Alfred John, schrieb, und die den zehnten Band der Gesamtausgabe ihrer Werke abschließt,

[145]

Altdeutscher Hochzeitszug.
Nach dem Aquarell von A. Brunner.

[146] ist zurückhaltend gerade an jenen Stellen, wo man mehr Auskunft wünschte: in der Geschichte der Jugend, in der Schilderung des Privatcharakters der Dichterin.

Diesem Mangel soll nun in der folgenden Darstellung abgeholfen werden. Sie schöpft aus einer großen Anzahl von Briefen, welche E. Marlitt schrieb oder empfing, aus Aufzeichnungen ihrer Schwägerin Ida John, Alfreds Gattin, und brieflichen Mitteilungen der Gräfin Zintha v. Topor-Morawitzky in Reichenhall, des Oberamtsrichters Kern in Marbach, des Dr. Arnold von Franque in München und des Professors Carl von Lemcke in Stuttgart an den Verfasser. Eine Dichterin, welche den weitesten Leserkreis zu fesseln verstand, ist einer solchen Darstellung würdig. Repräsentiert sie doch ein Stück deutscher Kulturgeschichte.

Das litterarische Urteil über E. Marlitt darf man heute, zwölf Jahre nach ihrem Tode (22. Juni 1887), wohl als abgeschlossen erachten. Das bedeutsamste und zutreffendste Wort über sie ist uns von Gottfried Keller durch einen zuverlässigen Zeugen überliefert worden.

Es war in der Tonhalle zu Zürich, wo der würdige Staatsschreiber gelegentlich gern bei einer Flasche Wein am „Professorentisch“ mit Johannes Scherr, Gottfried Kinkel u. a. abends zusammensaß.

Einmal kam die Rede auf die „Schriftstellerei aus Damenfedern“ und Kinkel spielte höchst ungalant auf die Retterinnen des Kapitols an. Da fuhr Gottfried Keller dazwischen: „Was, Geschnatter! es ist wahr, es schreiben viele, und sie werden die Männer bald ins Gedränge bringen – aber, das ist eben der Teufel, sie können was. Da will ich euch ’mal eine Geschichte erzählen, wie es mir hierbei ergangen:

Ich hörte einmal einen gewissen Autor entsetzlich auf die Marlitt schimpfen – er schrieb selbst Romane“ – setzte Keller mit einem boshaften Lächeln hinzu. „Wenn man derartig gegen jemand loszieht, muß etwas an der niedergedonnerten Person sein, dachte ich mir und ließ mir einen Band von der ‚Gartenlaube‘ kommen. Es stand die ‚Goldelse‘ darin. Nun, ich habe“, fuhr Keller nachdrücklich fort, „nicht allein diese Geschichte, sondern auch noch manche andere von ihr gelesen, und zwar von A bis Z, und habe keine Langeweile verspürt, im Gegenteil, ich habe das Frauenzimmer, die Marlitt, bewundert. Das ist ein Zug, ein Fluß der Erzählung, ein Schwung der Stimmung und eine Gewalt in der Darstellung dessen, was sie sieht und fühlt – ja, wie sie das kann, bekommen wir alle das nicht fertig. Wir wollen nur nicht ungerecht sein und der Schwächen wegen, die sie auch hat, ihr das Wegstreiten! –

Und dann noch eins!“ sprach Keller in großem Ernste weiter – „es lebt in diesem Frauenzimmer etwas, das viele, schriftstellernde Männer nicht haben, ein hohes Ziel; diese Person besitzt ein tüchtiges Freiheitsgefühl und sie empfindet wahren Schmerz über die Unvollkommenheit in der Stellung der Weiber. Aus diesem Drang heraus schreibt sie. In allen Romanen, die ich von ihr gelesen habe, war immer das Grundmotiv, einem unterdrückten Frauenzimmer zu der ihr ungerechterweise vorenthaltenen Stellung zu verhelfen, ihre Befreiung von irgend einem Druck, damit sie menschlich frei dastände – und hierin besitzt die Person, die Marlitt, eine Kraft, das durchführen zu können, eine Macht der Rede, eine Wortfülle, eine Folgerichtigkeit in der Entwicklung ihrer Geschichten, daß ich Respekt vor ihr bekommen habe. – Setzt die Marlitt nicht herunter,“ schloß Keller die für ihn so ungewöhnlich lange Rede. „In dem Frauenzimmer steckt etwas von dem göttlichen Funken, und das erkennen alle an, die reinen Herzens sind, vorab die Jugend.“

Den wesentlichen Kern, auf den es in allen Marlittschen Romanen ankommt: den Kampf eines Weibes um seine Freiheit, hat Gottfried Keller hier so treffend herausgehoben, daß es keiner besser vermöchte.


1.

„Ich hänge mit inniger, fast möchte ich sagen, fanatischer Liebe an meinen Angehörigen, zu der sich, meinem Vater gegenüber, noch eine tiefe Verehrung gesellte.“ So schrieb Eugenie John an eine Freundin, als sie ihr für den Ausdruck der Teilnahme nach seinem Tode dankte. Wenn schon in der Lebensgeschichte jedes bedeutenden Menschen die Kenntnis seiner Herkunft und Familie von Wichtigkeit ist, so ist sie es doppelt in der Geschichte einer dichtenden Frau, denn des Weibes Schicksal wird noch mehr als das Leben des Mannes von seiner Familie bestimmt.

E. Marlitt hatte in ihrem ganzen Leben keinen höheren Wunsch als den, ihre Angehörigen durch die Bethätigung ihrer Fähigkeiten sorgenfrei und angesehen zu machen; alle Zärtlichkeit, die in ihrem jungfräulichen Herzen in reichem Maße wohnte, hatte sie zuerst den Eltern, dann den Geschwistern, dann den Kindern dieser Geschwister gewidmet.

Eugeniens Vater, Ernst John, geboren 1793 in Arnstadt, gestorben 19. Juni 1873 daselbst, war der Sohn eines angesehenen Kaufmanns und wurde selbst Kaufmann. Doch hatte er zu allem mehr Talent als zu diesem Beruf. Ein Mann von geistigen Bildungsbedürfnissen und künstlerischen Neigungen, eine einfache, edle, strebsame, aber auch verschlossene und in sich abgerundete Natur, interessierte sich Ernst John viel mehr für Sternkunde, Litteratur und insbesondere für Malerei als für den Handel.

„Er war begabt nach vielen Seiten hin“ – schrieb die Tochter über ihn – „und deshalb freilich von manchen seiner Zeitgenossen, den Ackerbürgern seiner Vaterstadt, als ein Genie scheu von der Seite angesehen. Ein Spaziergang neben ihm, in den Zeiten seiner Rüstigkeit, war für mich der höchste Genuß – es gab viel Anknüpfungspunkte zwischen uns …“ Am 29. März 1823 heiratete er die schöne und auch geistig begabte Johanna Böhm, Tochter eines der angesehensten Kaufleute in Arnstadt. Ihr Vater war Meister vom Stuhl der Freimaurerloge dieser Stadt, als Mann von Charakter allgemein geachtet. In der Franzosenzeit (1813) hatte er aber sein Vermögen eingebüßt; was die Familie noch besaß, gehörte seiner Gattin. Mutter Böhm war eine schöne, aber stolze und kalte Frau. Sie hatte ihre Tochter auf großem Fuß erzogen, auch musikalisch ausbilden lassen, und für die Verbindung mit Ernst John, die erst nach längerer Werbung mit schwerem Herzen zugestanden wurde, war sie nicht sehr eingenommen: ihre Tochter war zu höheren Zielen erzogen worden. Als sich nun bald nach der Heirat, beim Anwachsen der Familie, materielle Sorgen im Johnschen Hause fühlbar machten, da hatte die gestrenge Großmutter lange kein Erbarmen und half nur sehr spärlich in der Not.

Sie ist das Urbild der harten Frau Helbig im „Geheimnis der alten Mamsell“.

Eugenie kam am 5. Dezember 1825 in Arnstadt, als zweite Tochter, zur Welt. Die erste hieß Rosalie. Es kamen dann noch drei Brüder nach: Hermann, Alfred und Max. Alle Kinder hatten von den Eltern teils die musikalischen, teils die dichterischen oder künstlerischen Talente geerbt. Rosalie verfiel aber später in Nervenleiden. Hermann und Max wurden Techniker, Alfred Philolog. Nach der Geburt des zweiten Sohnes Alfred machte Vater John Bankrott, und damit war sein finanzieller Ruin öffentlich kundgeworden.

Zu jener Zeit bedeutete Bankrott nicht bloß Not, sondern auch Schande. Nun thaten sich die Verwandten Johns zusammen und verhalfen ihm dazu, sich in der geliebten Malerkunst so weit auszubilden, daß er sich durch sie einen Erwerb sichern könnte. John ging nach Dresden, studierte dort, indes seine Familie in Arnstadt zurückblieb. Als er zurückkam, konnte er Porträts in allen Größen, in Oel- und Wasserfarben, auf Leinwand und Elfenbein malen, aber in dem kleinen Arnstadt war nicht viel Kundschaft für künstlerische Aufträge, und selbst die Malerei von Ladenschildern war nicht einträglich. Es kamen viele Jahre bitterer Not für die Familie. In einem kleinen Gartenhäuschen, dessen dünne Mauern nicht genügend Schutz gegen Kälte und Feuchtigkeit boten, mußte sie sich lange Zeit bequemen. Oft fehlte es den Kindern an warmen Kleidern. Um nicht zu sehr zu frieren, pflegte die kleine Eugenie in die Schule mehr zu laufen als zu gehen.

Sie war ein auffallend schönes und liebenswürdigen Kind: die dunklen Haare ringelten sich in natürlichen Locken, die Augen waren blau, und immer war sie munter, zu Schelmereien aufgelegt, anstellig und behend.

[147] Bis zu ihrem zwölften Jahre, so erzählt uns Frau Ida John nach Familienerinnerungen, verstand sie nicht, ruhig zu gehen. Immer hüpfend und trällernd, stets umherspähend, „ob nicht etwas käm’“, brachte sie die gute Mutter manchmal in Zorn, wenn sie kurz vor Mittag schnell noch etwas zum Essen Nötiges einholen sollte und dabei die Zeit vertändelte oder gar etwa die Kaffeebohnen aus der Tüte rinnen ließ.

Eugenie hatte eben immer an andere wichtige Dinge zu denken: ob wohl auch eine vergessene Nonne in dem Kloster neben der Liebfrauenkirche auftauchen könne? oder ob der längst vermauerte unterirdische Gang in ihres Großvaters Weinkeller wirklich die zwölf Apostel in Silber verberge? So oft es anging, packte sie ihren nie fertigwerdenden Strickstrumpf und ein Stück Schwarzbrot ein und ging auf die Wanderschaft: in die Einsamkeit entlegener Gärten, nicht mehr benutzter Gartenhäuser oder in den Wald und hielt Zwiesprach mit Steinen, Bäumen und Tieren. Oder sie fuhr ihr jüngstes Brüderchen Max langsam und vorsichtig in den Alleen umher, bedeckte den kleinen Wagen mit grünen Lindenzweigen und sang ihm selbstgedichtete und selbstkomponierte Lieder vor.

Am liebsten wandelte sie zwischen den Grabdenkmälern des Friedhofs umher und bemühte sich, die Inschriften zu entziffern. Auf solch einsamen Wanderungen machte sie mitunter merkwürdige Entdeckungen. So fand sie Zutritt zu vermauerten Räumen, wo man vergilbte Papiere oder verrostete Eisenstücke aufbewahrte. Wo es was zu schauen gab: Hochzeit oder Begräbnis, war das phantastische Mädchen gleich dabei, und dann konnte sie im Kreise von Geschwistern und Gespielinnen beim Mondenschein unter irgend einem Thorbogen sitzen und ihnen lange Geschichten von alten verfallenen Schlössern, vergrabenen Schätzen, Rittern und Elfen und Zwergen erzählen, bis es Schlafenszeit ward.

Früh trat auch schon ihre musikalische Begabung zu Tage. Sonnabends war Singstunde. Da pflegten sich die Schüler der anderen Schulen, Bürgerfrauen und Bauern vor dem Schulgebäude aufzustellen, um die „kleine John“ singen zu hören: ihre glockenhelle Stimme tönte aus dem ganzen Chor hervor …

So wirkte die frische Kraft der Jugend dem Druck der Not entgegen. Aber die traurigen Verhältnisse in der Familie John wirkten doch auch auf das kindliche Gemüt ein. Herabgekommener Wohlstand wird immer schmerzlicher als ererbte Not empfunden. Eugeniens Mutter, so lieb sie ihren Gatten hatte, verschmerzte nie das Leid über ihr enttäuschtes Leben. Sie litt zwar still, aber doch sichtbar. Sie erlebte nicht mehr den glänzenden Glückswechsel in ihrem Hause, denn sie starb schon am 31. August 1853. Der Vergleich mit dem großväterlichen Hause mußte daher immer schmerzliche Betrachtungen erregen.

Von dieser Jugendzeit an setzte sich das eigentümliche Mißtrauen, der Stolz verschämter Armut in Eugenie fest, der sie später noch zuweilen unliebenswürdig erscheinen ließ. Aber schon damals auch wurde der Stachel des Ehrgeizes in ihr geschärft, der sie zu rastloser Arbeit trieb und frühzeitig auf die Notwendigkeit eines Broterwerbs hinwies. Auch zur Gicht, unter der Eugenie und ihre Brüder später so viel leiden sollten, hatten diese Jugendjahre in der feuchten Gartenwohnung den Keim gelegt.

Indes ward es bald klar, daß dieses frische und phantasiereiche Mädchen zu einem höheren Berufe erzogen werden mußte.

Ihre schöne Stimme und ihr gutes musikalisches Gehör fanden am Kantor Stade, dem Singlehrer der Arnstädter Schule, einen verständnisvollen Gönner. „Sie hat Millionen in ihrer Kehle,“ versicherte der Herr Kantor, der Eugenie schon in Konzerten seines heimischen Singvereins öffentlich auftreten ließ. „Ihre künstlerische Ausbildung muß möglich gemacht werden.“ Damals war die Blütezeit der Primadonnen und Virtuosen in Deutschland. Warum sollte nicht Vater John hoffen dürfen, daß das an ihm vorbeigegangene Glück sich durch die Gesangskunst seiner Tochter einfangen ließe? … Da entschloß er sich zu einer Eingabe an die als großherzige Fördrerin der Künste und Wissenschaften allgemein verehrte junge Landesmutter, die Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen: sie möchte sich seiner als sehr begabt anerkannten Tochter annehmen. In der That berücksichtigte die Fürstin das Gesuch in auffallend kurzer Zeit und entsandte den Bassisten Krieg vom Hoftheater in Sondershausen nach Arnstadt zur Prüfung des gerühmten Singvogels.

„Auf einem Spinett,“ so erzählt Eugeniens Bruder, „schlug er einzelne Töne an, die sie mit voller Kraft nachsingen mußte – wie erstaunt fuhr da der Examinator herum: ‚Man meint, eine solche Fülle käme eher aus diesem mächtigen Ofen als aus einer so zierlichen Figur‘, sagte er. Damit war der heiße Wunsch der Eltern erfüllt; hinfort stand die Tochter unter dem Schutze einer gütigen Hand – und ,nun muß sich alles, alles wenden!‘“


2.

Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen war eine sehr interessante Persönlichkeit, die nur die engen Verhältnisse ihres Ländchens und widrige Schicksale daran gehindert haben, zu größerer Bedeutung zu gelangen. Eine Tochter des Fürsten Friedrich August Karl zu Hohenlohe-Oehringen, kam sie am 3. Juli 1814 zur Welt und trat, mehr dem väterlichen Gebot, als innerer Neigung gehorchend, mit achtzehn Jahren in die Ehe mit dem Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen. Mehrere Kinder entsproßten dieser schmerzensreichen Verbindung. Die fehlende Liebe stellte sich auch später nicht ein. 1847 wurde das gelockerte Band der Ehe in aller Form getrennt, angeblich darum, weil die Fürstin zu viel Geld verschwendete. Sie hatte allerdings die wahrhaft fürstliche Lust am Schenken und Spenden.

Ihr schwebte vor, in ihrem kleinen Sondershausen so etwas wie ein kleines Ferrara zu schaffen. Sie unterstützte Künstler und Gelehrte, zog sie in ihre Umgebung, und dem kleinen Hoftheater in Sondershausen widmete sie ihre besondere Neigung, denn sie war auch selbst dichterisch begabt. Gelegenheitsverse von Geist und Anmut flossen ihr leicht aus der Feder; ihre Briefe sind von echt weiblichem Esprit; auch die kleinsten geschäftlichen Aufträge und Mitteilungen schrieb sie in einem persönlichen Stil. Unter dem Pseudonym M. Dornheim ist die Fürstin mit lyrischen Gedichten (in Anthologien) und 1857 mit einem Drama in Versen, „Jadwiga, Königin von Polen“, in die Oeffentlichkeit getreten (Stuttgart, Hallberger). Das Schauspiel hat bezeichnenderweise den Konflikt einer Königstochter zwischen Neigung und politischer Pflicht zum Thema. Jadwiga bringt aus Frömmigkeit das Opfer ihrer Liebe zu ihrem Jugendfreunde Wilhelm von Oesterreich; weil Jagiello, der Großfürst von Litauen, der um sie wirbt und vom Volke unterstützt wird, verspricht, mit seinem Stamme zum Christentum überzutreten, wenn er Jadwigas Hand erhält.

Die lyrischen Gedichte der Fürstin ragen über den landläufigen Dilettantismus hinaus … Jedenfalls konnte eine Frau mit so edlen geistigen Interessen an den Aeußerlichkeiten des Hoflebens kein Genüge finden. Ueber die Vorurteile ihres Standes war sie erhaben. Gewicht auf ihre Würde legte sie erst in den Jahren ihres Alters und ihrer Vereinsamung. Mit ihrer außerordentlichen Güte wäre sie bei einem ungestörten häuslichen Glück eine wahre Landesmutter geworden, sich und dem Fürstentume zum Heile. Doch sollte ihre Güte gerade von Menschen mißbraucht werden, denen man es am allerwenigsten zugetraut hätte, und eine Fülle von Leiden sich über ihr zartes Haupt entladen. –

Als die sechzehnjährige Eugenie John in Arnstadt die Prüfung vor dem musikalischen Vertrauensmann der Fürstin so glücklich bestanden hatte, ließ die hohe Frau sie nach Sondershausen kommen und nahm ihr Schicksal in hochherzigster Weise in die Hand. Eugenie kam zu einer guten Familie in Pension, erhielt allgemeinen Bildungs- und speziellen Musikunterricht; sie wohnte sogar der französischen Sprachstunde bei, die den fürstlichen Kindern im Schlosse gegeben wurde. Das zierliche Lockenköpfchen des begabten Mädchens eroberte rasch das Herz der Fürstin, und es verging kein Geburtstag, kein Weihnachtsfest in den nächsten drei Jahren (1841–1844), die „Jenny“ (wie sie im Familienkreise und auch von der Fürstin genannt wurde) in [148] Sondershausen verbrachte, ohne daß sie mit Geschenken überreich bedacht worden wäre.

Ein Bericht Jennys an die Eltern über eine solche Bescherung (leider nicht datiert) liegt uns auf einem grünen vergilbten Blättchen vor, und da er die damalige Situation lebhaft vergegenwärtigt, auch die stilistische Gewandtheit der jungen Sängerin hübsch bezeugt, so darf er hier seinen Platz finden. Er lautet:

„An meinem Geburtstag, dem 5. Dezember, wurde ich zur Fürstin gerufen. Als ich in das Zimmer trat, kam sie mir entgegen, wünschte mir recht herzlich Glück und führte mich zu einem Tisch, auf welchem ein wunderschöner Mantel, drei Paar Glacéhandschuhe, ein gestickter weißer Kragen und ein Halstuch lagen. Daneben stand eine prächtige Torte, auf welcher mein Name J. aus Zuckerguß stand. Das J. bedeutet Jenny, denn so ruft mich die Fürstin. Auch überreichte sie mir ein wunderschönes Sträußchen aus feinen, natürlichen Blumen. Ich war ganz glücklich! –

Am Weihnachtsabende ließ sie mich durch einen Bedienten holen. Als ich kam, kam mir die ganze fürstliche Familie entgegen, führte mich in ein Nebenzimmer, wo bereits meine Weihnachtsgeschenke lagen. Auf einem Tische brannten 8 hohe Wachskerzen, und daneben lag nun mein Weihnachten. Es bestand: aus 2 Kleidern, ein wunderschönes kattunes, mit 2 Röcken, und ein Ginghamkleid für das Haus. Ferner: eine wunderschöne, weiße, gestickte Pelerine mit rosa Atlasstreifen. 5 Paar lange und kurze Glacéhandschuhe; ein ganzes Dutzend feine, und das ganz feine, weiße, leinene Taschentücher, in welchen mein Name E. J. mit gothischen Buchstaben und weiß gestickt ist; dann weiße gestickte Manschetten; ein Paar niedliche, ganz ächte goldene Ohrringe mit rothen Steinchen; ein Halsbändchen mit Sammet, mit goldenem Schloß, welches ebenfalls mit rothen Steinen besetzt ist; ferner: ,Nösselts Weltgeschichte‘. Es ist prächtig eingebunden und soll 5 Thaler kosten. Dann ein Liederbuch in rothen Saffian eingebunden; auf dem Umschlage steht der Name Eugenie mit großen goldenen Buchstaben. 2 Dutzend vergoldete Stahlfedern, einen ganzen Stoß feines Papier, einen silbernen Federhalter, einen Schnürleib, welcher elastisch ist, ein mächtiges Schütchen Aepfel, Nüsse und Zuckerwerk. Von der Frau Collaboratorin erhielt ich einen Kragen und ein Schütchen, und von Emma einen Haarhalter. Bin ich nicht reichlich beschenkt worden? –

Neulich schenkte mir meine Fürstin einen prächtigen Operngucker, der über und über vergoldet ist. Sie sagte, als sie ihn gab: ‚Hier, liebe Jenny, haben Sie etwas für das Theater; Sie können sich viel auf dieses Geschenk wissen, denn es ist mir selbst theuer und für mich ein werthes Andenken, dafür sollen Sie es aber auch nur haben.‘ Denkt Euch nur einmal diesen Engel, wie lieb sie mich hat! Auch hat sie mir eine sehr schöne, mit Silber beschlagene Lorgnette geschenkt, für das Concert.

Gestern bekam ich eine feine Stahlbrille, die sie mir aus Leipzig verschrieben hatte, denn ich kann die Noten beim Klavierspielen nicht mehr erkennen. – Ich habe ein Partout-Billet auf die Rangloge von der Fürstin bekommen, da kann ich jeden Abend ins Theater gehen und brauche das Billet nur vorzuzeigen. Auch die Frau Collaboratorin erhielt eines dergl., damit, so sagte mir die Fürstin, ich nicht allein ins Theater und nach Hause gehen müßte. Ich bin schon jedesmal dort gewesen, seitdem es hier spielt.“

Der lange Brief schließt mit der Mitteilung:

„Eben war ein Schuhmacher hier und nahm mir im Namen der Fürstin, wie er sagte, das Maß zu einem Paar neumodischen feinen Pariser Stiefeln, aber, sagte der Schuhmacher, die Fürstin hätte gesagt, er solle sie geradeso machen, wie die ihrigen.“

Eugenie mußte sich nach solchen Gunstbezeigungen wie in eine andere Welt versetzt fühlen.

Aber es trat darum doch keine Entfremdung ihres Gemütes von ihren Eltern ein, das muß bemerkt werden. Den ganzen Glückswechsel betrachtete dieses junge Mädchen nur als die endlich erlangte Möglichkeit, sich auf einen Beruf vorzubereiten, in dem sie für die Ihrigen sorgen könnte. Dieser Gedanke nahm vollständig Besitz von ihr. Was sie schon jetzt erübrigen konnte, schickte oder brachte sie bei den zeitweiligen Besuchen nach Arnstadt ins Vaterhaus. Die Brüder, die Schwester, den Vater überraschte sie immer mit irgend einem Geschenk, das sie doch selbst geschenkt erhalten hatte. Und in einem Briefe vom 5. Juli 1844 findet sich die bemerkenswerte Nachschrift:

„Werfet alle Eure Sorgen auf mich, meine Schultern werden jetzt wieder breit genug, um sie zu tragen.“ Es war keine Phrase, dieses Wort, das uns verrät, woher die Erzählerin E. Marlitt das Urbild zu ihren trotzig selbstherrlichen Mädchengestalten nahm; sie selbst war ein solcher Charakter, als sie mit dem stürmischen Idealismus der Jugend ins Leben trat. E. Marlitt bildete ihre Ideale nach dem eigenen Wesen, das ihr eingeboren war, wie sie aus ihren eigenen Kindererlebnissen den Inhalt ihrer Mädchengeschichten schöpfte.

Auch auf ihren Entschluß, Opernsängerin zu werden, hatte gewiß nicht weniger der heiße Wunsch, die Eltern aller Not zu entheben, als die Phantasie eingewirkt, welche der Glanz des Bühnenlebens locken mochte. Als Lehrerin oder Gouvernante hätte sie nicht viel erwerben können. Die Fürstin war nicht ohne Bedenken wegen dieser Neigung ihres geliebten Schützlings. Sie hatte Eugenien nahegelegt, daß ihre Zukunft gesicherter wäre, wenn sie eine bescheidene Wahl träfe, sich etwa zur Gouvernante oder Lehrerin ausbildete.

Aber das junge Mädchen, das sich nun schon seit drei Jahren in den Gedanken, Opernsängerin zu werden, hineingelebt hatte, zauderte nicht lange, sich zu entscheiden, als sie vor die Wahl gestellt wurde. In dem eben erwähnten Briefe aus Sondershausen schrieb sie am 5. Juli 1844 an ihre Eltern:

„Was habt Ihr Euch wieder für unnöthige Sorgen gemacht! Ich versichere Euch und kann es Euch zuschwören, daß ich Sängerin werde. Zwar ist es wahr, daß mir die Fürstin die Wahl freigestellt hat, es ist nur aus diesem Grunde geschehen, weil sie glaubt, mein künftiges Glück wäre da gesicherter; doch glaubt Ihr denn nicht, daß ich die Pflichten kenne, die ich meinen Erhaltern schuldig bin? Ihr habt mir von Kindheit an so unsäglich viel Gutes gethan, habt den letzten Bissen mit mir getheilt! Und ich sollte nicht alle meine Kräfte aufbieten, Euch ein sorgenfreies Leben zu verschaffen? Aus Deinem Briefe, lieber Vater, geht hervor, daß Du mich gar nicht kennst, indem Du mir meine Pflichten vorhältst, die ich doch selbst zu gut kenne. Die Fürstin stellte mir die Wahl frei, und ich wollte nicht in dem Augenblick, da sie es mir sagte, selbst bestimmen, obwohl im Herzen längst die Entscheidung ausgesprochen ist. Euch wollte ich davon Nichts schreiben, weil ich wußte, daß Ihr Euch unnöthig ängstigen würdet.

Doch nun sage ich Euch noch Eins, wenn Ihr von Herrn Consistorialrath gefragt werdet, so sagt ihm nur, daß Ihr mir die Wahl auch ganz freigestellt hättet, und daß Ihr Euch gar nicht sträuben würdet, wenn ich Gouvernante würde. Hört Ihr? Und daß Ihr ja nur mein Glück wolltet, möchte es nun sein, auf welche Weise es wolle. Werfet nur Alles auf mich. Ich werde es schon machen …“

Die Fürstin legte denn auch den Wünschen Eugeniens keine Hindernisse in den Weg; sie blieb ihrer Großmut getreu, stattete ihren „Liebling“ für die Reise nach Wien reichlichst aus – bis auf den Regenschirm und Kamm und Bürste – und übernahm alle Kosten ihres Aufenthalts und ihrer Ausbildung in der großen Kaiserstadt, die damals als Metropole der deutschen Musik galt.


3.

Nach vielen Jahren schrieb Eugenie an eine Freundin: „Mein Wiener Aufenthalt ist und bleibt das goldene Zeitalter meines Lebens, eine Oase voll Grün und Sonnenschein, auf der mein Blick erquickt ausruht, wenn er sich rückwärts wendet.“ Bis ans Ende ihres Lebens schwärmte sie für Wien – so mächtig war der Eindruck, den die schöne Stadt in ihr hinterlassen hatte. Der Gegensatz zwischen dem Leben in Sondershausen und dem Leben in Wien war aber auch in der That mächtig genug. Zu

[149]

Belauscht.
Nach dem Gemälde von J. N. Sylvestre.

[150] Hause war Eugenie John schließlich doch nur die arme Malerstochter, die um der außerordentlichen Gunst willen, die ihr von der Fürstin zu teil geworden, sehr beneidet wurde. In Wien war sie das schöne Mädchen in der ersten Lebensblüte, die hoffnungsvolle Sängerin, deren Ausbildung eine souveräne deutsche Fürstin sich so viel kosten ließ. Das allein bewirkte schon eine starke Verschiebung in ihrer sozialen Stellung. Und welch ein Gegensatz zwischen der ängstlichen Art norddeutscher Kleinstädterinnen und dem lebensfreudig übersprudelnden Temperament der Wienerinnen! Vollends in jenen Jahren vor der Revolution, wo das Wiener Bürgertum mächtig emporstrebte und die Stadt der Gemütlichkeit in Musik schwelgte! Kein Wunder, daß Jenny schon nach wenigen Wochen das wienerische Nationallied des Vormärz anstimmte: „’s giebt nur a Kaiserstadt! ’s giebt nur a Wien!“

Sie war auf großen Umwegen im Herbst 1844 nach Wien gekommen. „Durch halb Böhmen sind wir gereist. In dem wunderschönen Marienbad, in Leipzig, Eger, Franzensbrunn (Franzensbad), überall haben wir uns aufgehalten, und in Linz sind wir gar vier Wochen geblieben.“ (Brief vom 8. November 1844 an die Eltern.) Die Dame, deren Schutz sie anvertraut war – „die Mutter der Marra“ nennt Eugenie sie in einem anderen Briefe, der Erinnerungen an ihre Ankunft in Wien enthält – „behandelte mich empörend lieblos, und so kam ich in Frau von Hubers Haus, und in mißtrauischer Angst fürchtend, die ‚befreundete‘ Dame, zu welcher die alte Baronin mich brachte, möge ihr ebenbürtig an Herzenskälte und Bosheit sein.“ Aber es kam ganz anders, und das war die erste große Ueberraschung. Diese Frau von Huber, Gattin eines höheren Wiener Hofbeamten, welcher die Amtswohnung im schönen Augarten innehatte, war eine prächtige, herzenswarme Frau, Mutter von mehreren Kindern, Knaben und Mädchen, die tüchtig schalten und walten konnte und im Schutze der angesehenen Stellung ihres Mannes ein fröhliches, sorgenloses Dasein führte. In wenig Tagen hatte Frau von Huber das Herz der mißtrauischen Arnstädterin gewonnen, die doch in Wahrheit so sehr nach Liebe dürstete. „Mit Inbrunst und Enthusiasmus“ schloß sich das Mädchen an ihre neue „Pflegemutter“ an. Die Freundschaft mit ihr und ihren Kindern – insbesondere der Tochter Leopoldine, späteren Frau von Nischer, Gattin des Polizeihofrats von Nischer – wurde fürs ganze Leben geschlossen.

Leider sind wir über Eugeniens Erlebnisse in diesen ersten zwei Jahren ihres Wiener Aufenthalts nur spärlich unterrichtet. Briefe aus jener Zeit haben sich bis auf zwei Ausnahmen nicht erhalten, und Aufzeichnungen darüber hat die Dichterin auch nicht hinterlassen. Wir wissen nur im allgemeinen, daß Eugenie unter dem Schutze der Frau von Huber in die besten Kreise der Wiener Gesellschaft eingeführt, mit maßgebenden Persönlichkeiten der Wiener Theater- und Musikwelt bekannt gemacht wurde, Theater, Konzerte, Bälle besuchte, den Sommer mit den Hubers in Laxenburg, dem romantischen kaiserlichen Schlosse nahe bei Wien, verbrachte und fleißig Singunterricht nahm. Der einzige Brief Eugeniens aus dieser Zeit wurde im Nachlasse der Frau von Huber gefunden und der Dichterin zurückgestellt; so hat er sich erhalten. Als Dokument aus dem „goldenen Zeitalter“ der Marlitt hat er seinen besonderen Wert, weil er uns den Ton, in dem Eugenie in Wien verkehrte, mit aller Unmittelbarkeit vergegenwärtigt. Er lautet:

„Freitag, am 9. Mai 1845.
Theuerstes Pflegemütterchen!

Wie sehr mich Ihr liebes, wenn auch kleines Briefchen erfreut hat, kann ich Ihnen nicht beschreiben. Sie versichern mich Ihrer herzlichen Liebe, welche Versicherung mich glücklich macht. Ich weiß es nicht, womit ich diese Gnade von Gott verdient habe, daß er mir so oft das Wohlwollen der besten, edelsten Menschen zu Theil werden läßt.

Wie ich mit Bedauern vernommen habe, so ist Ihr Augenübel hartnäckiger, als man früher geglaubt hat. Ich habe deswegen große Besorgnis und wünsche Nichts sehnlicher, als Sie, bestes Mütterchen, wieder in unserer Mitte zu haben, wo es Ihnen an treuer kindlicher Pflege gewiß nicht fehlen würde. – Auch ich war krank und habe, um einer ernsten Halsentzündung vorzubeugen, den Herrn von Müller holen lassen; es war ihm nicht unlieb, daß ich mich gleich seiner helfenden Hand anvertraut hatte, da Halsweh in jetziger Zeit gefährlicher ist; doch jetzt, Gott sei Dank, bin ich wieder gesund. Mein Appetit ist so unermeßlich groß, daß durch mich eine Hungersnoth in Wien zu befürchten ist. Sie fragen mich, ob ich noch keine neue Partie einstudire? Ich muß leider mit ,nein‘ antworten, da mir das Singen, des Halses wegen, untersagt wurde; ich werde aber nun mit erneutem Eifer meine Studien beginnen. An meine gute Fürstin habe ich geschrieben und zwar einen recht großen Brief. Ist es Ihnen recht? Von meinen guten Eltern, Geschwistern und sonstigen Verwandten bekam ich kürzlich einen Brief, worin vieles für mich Erfreuliches, aber auch Komisches stand. Z. B. sagt man in Arnstadt, ich debütire hier als eine Baronesse v. (den Namen hat der Vater vergessen) mit dem glänzendsten Erfolge. Ist das nicht zum Lachen? Ich und debütiren! Das wäre schön; ich glaube, ganz Wien liefe davon, sobald mein Brüllen erhallte. Uebrigens lassen sich die Meinigen Ihnen bestens empfehlen.

Etwas Neues: Marie H … hat den Hrn. K .… (gemeinsamen Gesangslehrer) fast kriechend um Lectionen für den Monat Mai gebeten und er hat sie bewilligt. Das ist Kesselflickerswaare! Man möchte vor Ekel an diesen charakterlosen Menschen sterben. –

Ich war neulich mit Frl. Lori (Tochter der Frau v. Huber) bei Lejars (Cirkus). Da habe ich aber Augen gemacht, so groß, daß mir der Sand hineingeflogen ist! Es war aber auch wirklich schön anzusehen! Nein, wahrhaftig, so etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Sie können sich mein Erstaunen nicht denken, das ich über alle die Kunstsprünge äußerte. Ich bin wie im Taumel aus dem Cirkus gegangen und kann mich jetzt kaum davon erholen. Ja, ja, das hat man in Wien; man darf nur wohin blicken, da sieht man auch schon etwas Neues, Ueberraschendes. Ich habe mir vorgenommen, Ihnen diesmal recht viel zuschreiben; doch ich muß jetzt schließen; denn es ist Zeit, den Brief abzugeben. Wäre der italienische Lehrer nicht dazwischen gekommen, dem ich übrigens Ihre Grüße ausgerichtet habe, so wäre ich auch weiter gekommen. Ein anderes Mal mehr.

Mit aller Hochachtung bin ich Ihre Sie innig liebende  
Pflegetochter E. John. 

Ich fragte neulich den Franzi, was ich der Großmama schreiben sollte? Etwas von ihrem Rabunzel, war die Antwort.“

Auf demselben Blatt, auf der ersten Seite schrieb der Sohn der Frau v. Huber an seine Mutter und teilte u. a. von Eugenie mit: „Sie machte uns mit einem neuen Talent bekannt und wird Dich bei Deiner Rückkunft mit einer Galanterie-Buchbinderarbeit überraschen. Sie ist überhaupt so lieb und gut, daß ich sie wie eine Schwester liebe.“

In den Briefen nach Arnstadt wurde sie indessen nicht müde, zu betonen, daß sie ihren großen Zweck nicht aus den Augen verliere; die Erinnerung an die Not im Elternhause, die fortdauernd frisch erhalten wurde, war der dunkle Hintergrund ihrer Lebenslust in Wien. So schrieb sie am 7. Jan. 1845 den Eltern:

„Wie geht es diesen Winter mit der Arbeit, mit Miethe, Holz und Kleidung? Ich bitte Euch, schreibt mir darüber recht ausführlich, aber ja lauter Gutes. Geht es mir doch auch so wohl; warum (fragt sie ganz naiv) sollt es denn Euch dann schlechter gehen und ich einen Vorzug haben. Nun wartet nur, bald kömmt der Zeitpunkt, wo ich sagen kann, nun kommt Alle her; ich bin im Stande, für Euch und mich ehrlich und redlich zu sorgen; Noth und Kummer, die beiden fürchterlichen Gäste, die uns öfter heimsuchten, müssen erschreckt fliehen, und ein neues Leben, eine neue Welt thut sich uns Allen auf. Ich habe Gott sei Dank ein Recht, das Alles mit Gewißheit Euch versprechen zu können; denn Gott, unser gütiger Vater, hat mir ein fast seltenes Talent zur Bühne und zum Gesang verliehen, das jetzt immer glänzender hervortritt. Meine Lehrer haben die besten Hoffnungen und ich gründe all’ mein Streben darauf. Theilt aber dies Niemand mit, man möchte mich für anmaßend und arrogant halten.“

Ach, es sollte noch lange dauern, bis Eugenie dieses Ideal ihrer Jugend, „für Alle ehrlich und redlich zu sorgen“, erfüllen konnte! Und in einer Form, die sie zu der Zeit, als sie diesen Brief schrieb, sich nicht einmal im Traume einfallen ließ. Vorerst mußte sie ihre Erfahrungen mit der Bühne machen, die sie so schwer enttäuschen sollten.

[151]
4.

Nach zweijährigem Studium in Wien kehrte Eugenie in ihre Heimat zurück. Sie sollte nun das Gelernte praktisch verwerten. Auf Wunsch der Fürstin trat sie 1847 in Leipzig auf, und über dieses Debüt besitzen wir von Ernst Pasqué, einem der Mitwirkenden, der späterhin ebenso wie die Marlitt ein beliebter Schriftsteller wurde, einen hübschen Bericht (im Feuilleton der „Frankfurter Zeitung“ vom 10. Oktober 1884), dem wir folgende Einzelheiten entnehmen.

„Es war im März des Jahres 1847, ich wirkte damals als Bariton auf der Leipziger Bühne, da trat eines Tages unser Chef, Dr. Schmidt, als Direktor reicher an Sorgen wie an Freuden, in den Probesaal, und teilte uns mit, daß die Fürstin von Sondershausen in Leipzig angekommen sei, in deren Gesellschaft sich eine junge Sängerin befände, die sie ihrer schönen Stimme, ihres Talentes halber habe ausbilden lassen. Fräulein Eugenie John (sie führte damals nur ihren Familiennamen) habe in Linz mit Glück debütirt und wünsche nun hier in Leipzig als Gast aufzutreten. Er, Dr. Schmidt, kenne zwar die junge Dame als Künstlerin nicht, doch, von der Frau Fürstin empfohlen, könne und wolle er deren Wunsch nicht entgegen sein; die angehende Sängerin scheine ihm nur ein wenig zu ängstlich und deshalb empfehle er sie dringend den Herren des Personals, mit denen sie zu singen haben würde, sowie dem Herrn Kapellmeister. Ihre erste Rolle würde die Gabriele in Kreutzers ,Nachtlager‘ sein. Stegmayer, der damalige Kapellmeister, ebenso gutmütig wie jovial, meinte schmunzelnd, sie möge nur kommen, in unserem lustigen Künstlerkreise (und es ging damals bei der Leipziger Oper sehr, fast zu lustig zu!) würde ihr die Schüchternheit schon vergehen, und habe sie wirklich Talent, so brauche sie sich vor unserem Publikum erst recht nicht zu fürchten. Mir, der ich den Prinz-Regenten, also meistens mit ihr, zu singen hatte, empfahl Dr. Schmidt die junge Dame ganz besonders. Dann wurde die Probe sowie der Tag der Aufführung der Oper festgesetzt und die nötigen Vorbereitungen des Gastspiels waren getroffen.

Auf der Probe erschien ein einfach gekleidetes junges Mädchen (Frl. John zählte damals etwa 21 Jahre), von fast zierlicher Gestalt mit hübschen freundlichen, etwas gebräunten Zügen, schwarzen Ringellocken und dunklen Augen, deren Aufleuchten sich jedoch meistens hinter den halbgesenkten Lidern barg. Direktor Schmidt hatte nicht zuviel gesagt, als er sie schüchtern genannt. Vor dem Orchester stehend, bebte sichtlich die ganze Gestalt und kaum ein voll hörbarer Ton ihrer Arie, mit der die Oper beginnt, wollte sich ihren Lippen entringen. Es bedurfte der ganzen gutmütigen Freundlichkeit Stegmayers, sie über diese erste Klippe hinwegzuleiten. Und es ging! Die Stimme war hübsch, auch ausreichend und ihre musikalische Sicherheit wie ihre Gesangsfertigkeit ließen nichts zu wünschen übrig – wenn sie nur imstande gewesen wäre, dies alles von sich zu geben und zur Geltung zu bringen! Die zweite Nummer, das Duett mit Gomez, vom Tenor Stritt, einem älteren Sänger gesungen, ging schon bester, denn Stritt, ein frischer lebensfroher Rheinländer, faßte die schüchterne Debütantin kräftig, wohl etwas allzukräftig an und riß sie mit sich fort. Dann nahte ihre Hauptscene mit dem Prinz-Regenten. Ich hatte die junge Debütantin von ihrer ersten Note an beobachtet und fühlte wahrhaft Mitleid mit ihr, besonders da in den Coulissen bereits allerlei Bemerkungen laut geworden waren, die, hätte Fräulein John sie hören können, ihr auch den letzten Rest ihres Mutes genommen haben würden. Ich gelobte mir im stillen, ihr nach besten Kräften beizustehen und fing dies ganz anders an als mein alter lieber Kollege und Freund Stritt. Mit größter Ruhe und nur mit halber Stimme sang ich zu, blickte sie freundlich, aufmunternd an, drückte beruhigend ihre Hand, und in den Pausen sprach ich ihr leise Mut ein, forderte sie auf, aus sich herauszutreten, und – ihr Auge leuchtete zum erstenmal auf! Ein Blick traf mich so voll innigen Dankes, daß ich ihn bis heute nicht vergessen habe. Auf ihren Wangen zeigten sich ein paar allerliebste Grübchen und nun erklang auch die Stimme voll und schön. Das langatmige, doch hübsche Duett ging ganz vortrefflich zu Ende und die Hauptarbeit war gethan. Was sie weiter noch zu singen hatte bis zu dem Schlußterzett, ging ohne den geringsten Anstoß vorüber – die Generalprobe war zu Ende.

Am anderen Tage kündete der unscheinbare graue Theaterzettel vom Montag, 8. März 1847 (er liegt vor mir) Kreutzers Oper: ,Das Nachtlager in Granada‘ an, und unten stand zu lesen: ,Gabriele – Fräul. John, Fürstl. Schwarzb.-Sondersh. Kammersängerin, als Gast.‘

Der Abend kam heran, und hier wiederholte sich leider, was wir in der Generalprobe erlebt hatten, nur in noch weit höherem – gefährlicherem Grade. Angst und Aufregung raubten der armen jungen Sängerin vollständig die Fähigkeit, ihre Stimme, ihr Talent auch nur zum kleinsten Teile geltend zu machen, und die beiden ersten Nummern der Oper gingen – ich darf es nicht verschweigen – spurlos vorüber. Doch bei unserm Duett änderte sich dies – Frl. John hätte unter gleichen Umständen ihre Partie auch kaum durchführen können. Ich nahm all meine Kraft zusammen, die ,Lust und auch den Schmerz‘, mein Beispiel, mein leisgeflüstertes Zureden wirkte wie ein Wunder auf die arme Gabriele, und sie gab diesmal wirklich ihr Bestes. Rauschender Beifall folgte dem hübschen Ensemble-Andante, und der Sieg war endlich glänzend errungen – wenn auch leider nur für diese Nummer. Im Verlauf der Aufführung, trotzdem Gabriele fast nur noch Lieder zu singen hatte, kehrte die ängstliche Scheu zurück und lähmte der Debütantin bestes Können und Wollen. Als am Schluß der Vorstellung stürmisch gerufen wurde, der Vorhang sich hob, standen wir drei: Gomez, Gabriele und der Prinz-Regent, in der Coulisse, doch Frl. John wollte nicht mit hervortreten. Da faßte ich sie energisch bei der Hand und zog sie fast gewaltsam auf die Scene vor das Publikum, das uns alle drei mit lauten Beifallsbezeugungen empfing. Dann war alles vorüber – vorüber auch für immer – wenn ich nicht irre – die Bühnenthätigkeit der jungen Sängerin.“

Pasqué irrte in der That, denn Eugenie gab trotz dieses aufregenden Abends, von dem sie später einmal selbst sagte: „er war ein scharfkantiger Markstein meines Lebens, der mich verwundete“ – die Bühne noch nicht auf. Sie kehrte zunächst nach Sondershausen zurück, und hier, auf der kleineren Hofbühne, sollte sie sich nun in aller Gelassenheit einüben, ein Repertoire schaffen und nach fest gewonnener Sicherheit neuerdings den Ausflug in die weite Welt wagen. Die Ehescheidung der Fürstin im Jahre 1847 beschleunigte diesen Ausflug, und im Herbst 1848 war Eugenie wieder in Wien, bei der Familie Huber, nun dringender nach einem Engagement ausspähend. Das war im Revolutionsjahr, wo die Theater leer standen, natürlich sehr schwer. Der berühmte Tenorist Erl von der Wiener Hofoper interessierte sich für das Fräulein Eugenie Arnstädt, wie sich unsere Dichterin auf dem Theaterzettel nannte, und auf seine Veranlassung kam sie im Januar 1849 nach Olmütz, wo der Wiener Hof sein Lager hielt und Wiener Hofschauspieler und Hofopernsänger vor dem Kaiser Franz Joseph spielten. Eugenie trat als Alice an Erls Seite in „Robert der Teufel“ in der ersten Februarwoche auf; nach ihrem eigenen Bericht (vom 16. Februar 1849 an Frau von Huber) mit Erfolg: „Nach der ersten Arie am Kreuz habe ich Applaus gehabt und bin am Schluß mit Erl gerufen worden … Nach jeder gelungenen Stelle flüsterte Erl mir zu: Sie haben ausgezeichnet gesungen. Auch mein Spiel fand man über alles Erwarten … Ich habe namenlose Angst gehabt, so daß ich kein Glied habe still halten können. Ich habe übrigens wenig Fehler gemacht, so daß durch mich nicht die geringste Störung eingetreten ist. Wenn es Erl glückt, mich im Kärnthnerthore anzubringen (er hat erklärt, daß meine Stimme größer als die der Hasselt war), so bin ich so glücklich, die liebe theure Hubersche Familie wiederzusehen.“

Das glückte aber nicht, auch nicht das Engagement beim Direktor Mühling in Frankfurt a. M., worüber unterhandelt wurde, und Eugenie kehrte in die Heimat zurück, ohne Wien wiedergesehen zu haben. Von Arnstadt aus machte sie in Begleitung ihrer Mutter in den folgenden Jahren Kunstreisen in österreichische Provinzstädte, bis nach Krakau und Lemberg, wo sie in ihrem Fache als Primadonna auftrat, und wer weiß, wie sich noch ihr ganzes Leben gestaltet hätte, wenn nicht eine allmählich eingetretene Schwerhörigkeit der ganzen Bühnenlaufbahn schon nach zwei Jahren ein Ende bereitet hätte. Das Leiden war eine Folge der Ueberanstrengung beim Singen und der großen Aufregungen und der Angst, welche Eugenie jedesmal beim Auftreten auf der Bühne befielen, ohne daß sie ihrer Herr werden konnte.

[152] Die Gemütsstimmung, in welche Eugenie nach diesem schweren Schicksalsschlag verfiel, war die trübste ihres Lebens. „Ich brauchte ohne Erfolg verschiedene Kuren,“ erzählte sie später einmal in einem Briefe an Frau von Nischer; „diese medizinischen Versuche im Verein mit dem schmerzlichen Bewußtsein, daß ich nie die Früchte meiner Jugendbestrebungen ernten würde, wirkten äußerst nachtheilig und deprimirend auf mich; den finsteren Gedanken und der momentanen körperlichen Schwäche gegenüber reichte meine moralische Kraft nicht aus, und so verfiel ich auf länger der trübsten Gemüthsstimmung.“

In dieser Not bewährte sich aber die Liebe ihrer fürstlichen Pflegemutter gerade aufs schönste. Sie berief Eugenie zu sich, nach Oehringen, auf das väterliche Schloß Friedrichsruhe, wo sie seit dem Abschied von Sondershausen residierte, bestellte sie als „Vorleserin“ und versprach neuerdings, alle Pflichten der Pflegemutter zu übernehmen; nur mußte sich Eugenie der Bedingung fügen, daß sie auch im Falle ihrer gänzlichen Wiederherstellung die Bühne nie betreten werde. So war sie nach dem Zusammenbruch ihrer leuchtenden Jugendideale doch wieder geborgen. Leicht fiel ihr die Entsagung allerdings nicht; noch bis zum Jahre 1859 hegte sie die Hoffnung, von ihrem Uebel geheilt zu werden. Die Fürstin schickte sie im Oktober dieses Jahres zu einem jungen Nervenarzt Dr. Otto von Franque nach München, der ihr Vertrauen bei Behandlung ihrer eigenen Leiden gewonnen hatte. Eugenie wohnte beim Dichter Friedrich Bodenstedt und wurde in dieser Zeit mit seiner Gattin Mathilde – die er als „Edlitam“ so sehr feierte – und deren Schwester innig befreundet. Aber auch Dr. von Franque konnte Eugenie nicht heilen. Nun erst begrub sie endgiltig ihre musikalischen Hoffnungen. Von da ab faßte sie das Ziel, sich litterarisch zu bethätigen, das ihr insbesondere Bodenstedt mit beredtestem Nachdruck gewiesen hatte, ernstlich ins Auge. Er hatte sich erboten, alles, was sie schreiben werde, anzubringen, und auf sein Betreiben schrieb Eugenie ihre erste Erzählung „Schulmeisters Marie“, die freilich nicht „anzubringen“ war und erst nach ihrem Tode gedruckt wurde.

Ueber den Charakter ihrer Schwerhörigkeit ließ sich Eugenie in einem Briefe an Frau von Nischer (aus München, 11. Januar 1862) so aufklärend aus, daß wir diese Stelle wohl nicht zurückhalten dürfen. Sie schrieb:

„Was nun Deine theilnehmende Frage bezüglich meines Gehörleidens betrifft, so muß ich sie leider dahin beantworten, daß mir die Heilung bis jetzt versagt blieb, was ich zeitweise schmerzlich empfinde; am meisten dann, wenn die Fürstin einen kleinen geistvollen Zirkel um sich versammelt. Sobald ich mich nicht speziell mit dem Einen oder Anderen unterhalte, wobei Alle so liebenswürdig sind, mir mein Uebel möglichst wenig fühlbar zu machen, dann geht mir im Gewirr der Stimmen der Faden des Gesprächs verloren, und ich büße Vieles ein, was für mich vom höchsten Interesse sein würde. Es ist sonderbar, ich höre die leiseste Hebung und Senkung der Stimme, aber was gesprochen wird, verwischt sich vor meinem Ohr, wie die Gegenstände vor dem Auge des Schwachsichtigen verschwimmen. Die Musik dagegen höre ich, z. B. im Salon, noch genau so wie früher; das feinste Detoniren, der leiseste unreine Hauch an der menschlichen Stimme entgeht mir nicht, und auch mein eigenes Organ, sowohl im Sprechen wie im Singen, höre ich nach wie vor ganz unverändert. Sämmtliche Aerzte, die ich gebraucht, haben mir einstimmig erklärt, ich würde mit der Zeit wieder in Besitz des Gehörsinnes gelangen, gebe es Gott! – Du willst es wissen, und deshalb sage ich Dir, daß nach Ausspruch Aller, die mich früher gehört, meine Stimme an Fülle und Biegsamkeit eher zu- als abgenommen hat. Meine Coloratur wird sehr gelobt, und das freut mich, denn ich habe unsägliche Mühe darauf verwendet.“ … In der That blieb der Gesang der Marlitt rein und kräftig bis in ihr Alter, und sie konnte sich und Andere durch ihn erfreuen.

(Schluß folgt.)


Elen- und Säbel-Antilopen mit Jungen.

Von Paul Matschie.

Für den Tiergärtner bedeutet es ein sehr erfreuliches Ereignis, wenn seine Pfleglinge sich fortpflanzen. Er hat dann den Beweis dafür, daß es ihnen in ihren Gehegen behagt. Im Antilopenhause des Berliner Zoologischen Gartens sind im vorigen Frühjahre mehrere solcher Fälle eingetreten, und diese waren deshalb besonders bemerkenswert, weil sie Arten betrafen, die bisher nur sehr selten in der Gefangenschaft zur Fortpflanzung gebracht worden sind. Die „Gartenlaube“ hat sich die Gelegenheit, Jugendformen zweier außerordentlich interessanter Huftiere ihren Lesern vorzuführen, nicht entgehen lassen. Meiner Frau ist es gelungen, die niedlichen Antilopen-Kinder in charakteristischen Bildern festzuhalten. Es war ihr letztes Werk.

Säbel-Antilopen.
Nach dem Leben gezeichnet von A. Matschie-Held.

Die Elen-Antilopen (Oreas) gehören zu den gewaltigsten Vertretern der Wiederkäuer. Von allen Antilopen erinnern sie am meisten an die Rinder, namentlich an das Zebu. In ihren plumpen Bewegungen, in ihrem Betragen gleichen sie Buckelrindern, und die breite Wamme am Vorderhalse des Bullen vermehrt noch die Aehnlichkeit. Die Heimat dieser Antilopen ist das tropische Afrika südlich von der Sahara mit Ausnahme der Guinea-Küste und des Congo-Gebietes. Wahrscheinlich muß man mehrere geographische Abarten unterscheiden, jedoch sind sich die Zoologen über diese Frage noch nicht einig. Leider ist die Rinderpest auch den Elen-Antilopen verderblich geworden, und aus weiten Gebieten des östlichen und südlichen Afrikas scheint diese Art fast völlig verschwunden [153] zu sein. Der Bulle ist mit einer eigentümlichen Stirnmähne geschmückt, die sich fast bis zur Muffel hinzieht.

Die Kuh ist zierlicher gebaut als der Bulle, hat eine ziemlich starke Nackenmähne und schlankere Hörner. Sie ist eine treue Mutter, hat viel Milch, die übrigens nach den Berichten der Reisenden sehr gut schmecken soll, wie denn auch die Elen-Antilopen als Wildbret einen großen Ruf genießen. Das Kalb wächst schnell heran, ist sehr munter und plagt oft die Mutter durch seine Zudringlichkeit. Es ist ungestreift wie die Eltern, hat ziemlich langes Haar, welches fast zottig erscheint im Gegensatz zu dem weichen, kurzen Fell der Alten und zeigt eine viel lebhaftere Färbung als diese. Erst im zweiten Jahre nimmt das Kalb das Kleid der erwachsenen Tiere an. Auffallend ist beim Bullen die plumpe Stellung der Vorderbeine, welche in unserer Zeichnung sehr getreu dargestellt ist. Ich kann es nicht ganz von der Hand weisen, daß das Berliner Exemplar diese Eigenschaft besonders ausgeprägt besaß; denn der so stattliche Bulle brach vor kurzer Zeit beim Aufstehen den Oberschenkel, was jedenfalls auf eine Knochenschwäche schließen läßt und die unbeholfene Stellung erklärt. Die Kuh bewegt sich viel eleganter als der Bulle. Uebrigens gelten die Bullen auch in ihrer Heimat als langsam und sind schnell zu ermüden. In der Freiheit leben die Elen-Antilopen gern auf der mit Mimosen bestandenen Buschsteppe. Ein Bulle führt gewöhnlich mehrere Kühe, und auch hierdurch erinnern sie an Rinder.

Elen-Antilopen.
Nach dem Leben gezeichnet von A. Matschie-Held.

Unser erstes Bild stellt eine Herde von Säbel-Antilopen mit ihren Kälbern dar. Zu den einzelnen Stellungen sowohl der alten als auch der jungen Tiere haben Exemplare des Berliner Zoologischen Gartens Modell gestanden. Die Berliner Säbel-Antilopen gehören zu einer Abart, welche Nordwest-Afrika südlich vom Wendekreis bewohnt und als Oryx gazella in der zoologischen Systematik bezeichnet wird. Sie unterscheidet sich durch rötlichen Hals und sehr stark gebogene Hörner von der durch geradere Hörner und weißen Hals ausgezeichneten Form des östlichen Sudans, Oryx leucoryx, deren wohlgetroffene Umrißzeichnungen man häufig auf altägyptischen Bildwerken trifft. Die Säbel-Antilopen sind viel lebhafter als die Elen-Antilopen und gelten sogar als bösartig. Als das Kalb zur Welt gekommen war, durfte das Publikum mehrere Wochen hindurch nicht in die Nähe des Gitters gelassen werden, weil die sehr besorgte und zärtliche Mutter beim Nahen irgend eines Menschen in die größte Aufregung und Angst geriet, daß ihrem Liebling ein Leid geschehen könnte. Das junge Tier wuchs von Anfang an sehr stark und munter unter der sorglichen Pflege heran, und als es wenige Tage alt war, sproßten ihm schon die Hörner. Das Kälbchen der Elen-Antilope zeigte viel später die ersten Spuren des Gehörns. Auffallend waren an der jungen Säbel-Antilope die langen, starken Läufe und der kräftige Hals. In der Färbung glich sie den alten Tieren, nur war der ganze Körper außer dem Kopfe gleichmäßiger rötlichweiß. – Elen-Antilopen und Säbel-Antilopen haben sehr wenig Berührungspunkte miteinander; und doch muß man sie immer zusammen nennen, wenn man von der Zähmbarkeit der Antilopen spricht. Nach Holubs Mitteilungen halten die Matabele im südöstlichen Afrika zahme Elen-Antilopen, und bei den alten Aegyptern wurden Säbel-Antilopen häufig gezüchtet und in Herden zu Opferzwecken zahm gehalten. Von keinen anderen Antilopenarten haben wir sonst eine Nachricht darüber, daß sie irgendwo dem Menschen als Haustiere gedient haben.


[154]

Didiers Braut.

Novelle von A. Noël.

Seit drei Tagen lief der Premierleutnant Detlev von Bode auf der Suche nach einer passenden möblierten Wohnung die Straßen von Metz ab. Er war erst vor kurzem mit seinem Regiment hier angelangt und wohnte bis jetzt im Hotel de Paris am Kammerplatz. Länger als sonst wohl war er in dem Allerweltsheim, wie es ein Hotel vorstellt, geblieben. Die allgemeinen Klagen über die Metzer Mietwohnungen klangen zu abschreckend. Allein endlich raffte er sich zu einem Entschluß auf. Es mußte sich doch etwas Passendes finden lassen.

Aber wahrlich die Schilderungen waren nicht übertrieben gewesen. Wo hatte er seit drei Tagen nicht schon vergebens gesucht! In allen Quartieren der alten Festungsstadt, im Umkreis der Kathedrale und des Paradeplatzes, in der Römer- und in der Esplanadenstraße, am „Staden“ des Moselarmes, wo dem Theaterplatz gegenüber die Häuser bis ans Wasser reichten, endlich in dem seiner Kaserne nahe gelegenen Teil der Stadt auf der Chambrièreinsel, zwischen dem Französischen und dem Diedenhofener Thore.

Schon war er halb entschlossen, das Suchen für eine Weile ganz aufzugeben, um sich von dem Gesehenen erst gründlich zu erholen, als er in der Belle Islestraße wieder einen Zettel erblickte, der eine Wohnung ausbot. Er blieb stehen und sah sich das Haus an. Es war ein zweistöckiges graues Gebäude mit stark nachgedunkeltem Anstrich, die Front einfach, aber nicht so kahl wie die seiner Nachbarn, die bloße Kasten mit Fensterlöchern waren. Es hatte wenigstens einen Stil, etwas von jener französischen Barockvornehmheit, für die Detlev eine gewisse Vorliebe hegte. Ein Kranzgesims schloß unter dem Dach die Fassade ab, und die fünf Fenster der Front wiesen schöne alte Eisengitter auf. Alt, still und ernst sah das Haus aus, aber nicht verwahrlost.

„Wollen es noch einmal versuchen,“ dachte Detlev und trat durch das seitlich gelegene Thor in den Flur. Während er sich nach jemand umsah, der ihm Auskunft erteilen könnte, kam ihm aus der nach dem Hof führenden Thüre eine ziemlich große und rüstige Frau entgegen, die auf ihrem grauen Scheitel mit Seelenruhe einen Wust von grellblonden Zöpfen zur Schau trug. Seine Fragen beantwortete sie in schwerfälligem Deutsch mit zögernder, schleppender Stimme. Detlev sah es augenblicklich: ein deutscher Offizier war in diesem Hause nicht willkommen. Das überraschte ihn nicht. In mehreren der eleganteren Häuser war er unter einem offenbaren Vorwand und mit scheelen Blicken abgewiesen worden. Diese öffneten sich wahrscheinlich nur französischen Mietern. Hier würde es ihm wohl ebenso gehen, obwohl die Frau nicht feindselig aussah, sondern bloß verlegen.

Sie war nicht die Hausfrau oder Vermieterin, sondern die Portiersfrau. Die Wohnung bestand aus einem Salon und einem Schlafzimmer. Die Frau erging sich im Lobe der Zimmer, aber sie wußte nicht recht, ob sie sie vermieten dürfe, Madame sei krank. Erst als Detlev in bestimmtem Ton die Zimmer zu sehen verlangte, überwand die Frau mit einem Achselzucken ihr Bedenken und setzte sich in Bewegung. Ihr folgend, erstieg Detlev eine ausgetretene und düstere, jedoch genügend breite Steintreppe und gelangte auf einen dämmerigen Flur, ein kleines längliches Viereck mit je einer Thüre in der Mitte der drei Wandflächen, welche die Treppe begrenzten. Aus der Thüre zur Linken, die aus Glas war, fiel von oben ein Lichtschein, der genügend den Weg wies. Gegen diese Glasthüre zu bewegte sich die Portiersfrau und verschwand hinter ihr. Nach einer Minute kam sie zurück und hielt nun einen Schlüssel in der Hand, mit dem sie die breite Flügelthür in der Mittelwand öffnete.

„Bitte, wenn’s beliebt,“ sagte sie mit einer einladenden Handbewegung. „Sehen Sie sich immerhin die Zimmer an. Das verpflichtet zu nichts.“

Detlev trat ein und befand sich in einer geräumigen und hohen Stube, die von den meisten der bisher gesehenen in angenehmer Weise abstach, obwohl sie offenbar seit längerer Zeit nicht mehr bewohnt wurde. Dies bewies die dumpfige Luft, von der sie erfüllt war, der Mullsack über dem Kronleuchter und die graugrünen Leinenhüllen, die das Sofa und die Polsterstühle an der Wand rechts vor Staub schützten. Da die Belle Islestraße am Moselufer liegt, hatte das Haus kein Gegenüber, und das Tageslicht fiel unbehindert in den Raum. Begünstigt von dieser Beleuchtung, musterte Detlev aufmerksam prüfend die Einrichtung des Zimmers: die gut erhaltene Rokokotapete, den grauen Marmorkamin an der linken Seitenwand, dem ein schöner Metallofen beigegeben war, und vor allem den großen Mahagonischreibtisch, der in der rechten Ecke nahe dem Fenster stand … Wahrhaftig, eine so vollständige Einrichtung hatte er noch in keiner der ausgebotenen Wohnungen angetroffen! Seine Führerin hob die Staubhüllen von den Polstern und zeigte ihm Utrechter Sammet darunter. Die Farbe war bereits stark verblichen, aber Detlev fühlte sich von diesem Zeichen des Alters eher angeheimelt als abgestoßen. Doch mußte er lächeln, wenn er sich dieses Zimmer als Wohnstube eines deutschen Offiziers dachte. So ungefähr mochten 1870 die Belagerer in Versailles gewohnt haben. Oberhalb des Sofas hing eine dunkle Landschaft, die wie die Kopie eines Poussin aussah, über dem Kamine standen auf vorspringenden Untersätzen zwei gelbliche Büsten, von denen Detlev einigermaßen ahnte, daß sie Corneille und Racine vorstellen sollten, während in der Mitte eine kleine Statue der Jungfrau von Orleans angebracht war und hinter dem Schreibtisch sich auf einer Konsole eine Büste Ludwigs XIV erhob. Ebenso stockfranzösisch sah es in dem Schlafzimmer aus, in das eine Tapetenthür führte. Das Bett war ein mächtig breites Mahagonigestell mit Vorhängen und nahm die ganze Hinterwand des Zimmers ein. Der breite Waschtisch mit dem schönen Porzellan befriedigte Detlev ganz besonders, und so wandte er sich an die Frau mit der Frage nach dem Preise. Sie nannte einen ziemlich hohen, wohl um ihn abzuschrecken, und schien einigermaßen erstaunt, daß das erwartete „Zu teuer“ ausblieb. Detlev vielmehr entgegnete ruhig: „Gut, ich nehme die Zimmer.“

Jetzt sah die Frau auf einmal ganz bestürzt aus. „Ich … ich kann hier gar nichts machen. Ich glaube, Mademoiselle hat schon anders disponiert. Belieben sich Monsieur zu gedulden. Ich will Mademoiselle holen …“

Damit geleitete sie ihn in den Salon zurück, wies ihm einen der Lehnstühle zum Sitzen an und ging. Detlev blieb lange allein, und während er nochmals alles genauer in Augenschein nahm, machte er sich, fast ohne es zu wissen, ein Bild von Mademoiselle: irgend eine kleine und doch hagere Französin, mit südländischem Typus, dunklem Teint, sehr buschigen Augenbrauen, stark ausgeprägten Backenknochen und beflaumter Oberlippe. Doch als sich endlich die Thüre öffnete, wurde er gewahr, wie sehr seine Phantasie irregegangen war, denn vor ihm stand ein schlankes blondes Mädchen mit einem ausgesprochenen Madonnentypus. Strenge, keusche Linien von edlem, wohlthuendem Reiz, beseelt von einem unsagbar ernsten, aber sanften Ausdruck. Trotz der Dürftigkeit des knappen schwarzen Kleides hatte diese jugendliche Erscheinung etwas so Respekteinflößendes, daß Detlev betroffen aufsprang. „Premierleutnant von Bode,“ stellte er sich vor.

Ueber das feine blasse Gesicht flog ein Zucken, das Detlev nicht entging, doch ließ er sich dadurch nicht abschrecken, sondern sagte mit soldatischer Geradheit: „Ihre Zimmer gefallen mir, Mademoiselle, ich bin geneigt, sie zu nehmen. Ich bitte mir nun ohne Umschweife zu sagen, ist Ihrerseits ein Hindernis vorhanden?“

Er sah beide Frauen nacheinander scharf an. Keine erwiderte seinen Blick. Die Portiersfrau blickte zu Boden, während die Augen des jungen Mädchens sich an ihm vorbei auf die Poussinsche Landschaft richteten. Ihre schmalen blassen Hände verschränkt, stand sie da, als ob sie die Frage nicht gehört hätte und seinen Blick nicht fühlte. Endlich schien sie sich aufzuraffen. Sie stieß einen hörbaren Seufzer aus und antwortete tonlos, aber in gutem Deutsch: „Sie können die Zimmer haben ...“

Mit einiger Genugthuung brachte Detlev nun das Geschäft zum Abschluß. Er erklärte, daß er noch einen Raum für seinen Burschen brauche.

„Das läßt sich machen,“ fiel die Beschließerin nun ebenso [155] eifrig ein, als sie vordem zurückhaltend gewesen war. „In der zweiten Etage ist eine Kammer frei. Das würde passen. Wenn Monsieur es wünscht, will ich sie ihm zeigen. Nur ist sie jetzt nicht in Ordnung, doch ich werde sie schon herrichten.“

„Monsieur kann sich in dieser Beziehung ganz auf Madame Joß verlassen,“ erklärte die junge Dame.

„Und der Preis für dieses Zimmer meines Dieners?“

Madame Joß sah das Fräulein an; dieses entgegnete rasch: „Dafür wird nichts besonders gerechnet.“

Detlev verbeugte sich. „Kann ich heute abend einziehen?“

„Heute?“ rief das junge Mädchen mit unwillkürlich abwehrender Bewegung und in so verstörtem Ton aus, daß Detlev betroffen einen Schritt zurücktrat.

„O, o, Monsieur! Das geht nicht!“ legte sich Madame Joß schnell ins Mittel. „Ich habe hier noch viel zu thun. Man muß das Parkett wichsen … es geht wirklich nicht! Morgen vielleicht. Oder wenn Monsieur sich wollte gedulden bis … bis Montag. Da ist gerade Monatsanfang. Das paßt besser!“

Es war, als ob sie sich eine Galgenfrist ausbäte, und da ein Blinder hätte sehen müssen, daß auch ihre Herrin diesen Aufschub sehnlichst wünschte, beschied sich Detlev. „Auch gut! Also Montag!“

Er zog seine Börse, um die Anzahlung zu entrichten, entnahm ihr ein Zehnmarkstück und reichte es mit einer kleinen Verbeugung der jungen Vermieterin. Allein diese machte keine Bewegung, um es zu nehmen. Statt ihrer nahm Madame Joß das Goldstück in Empfang.

Das blonde Mädchen richtete sich höher auf. „Alles, was Sie sonst noch wünschen, mein Herr. bitte ich mit Madame Joß zu besprechen! Guten Tag!“ Sie verneigte sich mit stolzer Höflichkeit und schritt zur Thüre hinaus.

Detlev sah ihr ein wenig befremdet nach.

„Madame ist sehr krank,“ sagte Frau Joß in entschuldigendem Ton, „und Mademoiselle Marguérite weicht nicht von ihrem Bett.“

„Wie heißen die Damen?“

„Dormans … Dormans-La Villette. Madame ist Witwe.“

„Seit kurzem erst?“

„O nein! Seit zwanzig Jahren!“

„Und sie hat nur die einzige Tochter?“

„Natürlich! Madame war überhaupt bloß ein halbes Jahr verheiratet. Mademoiselle ist ein nachgeborenes Kind …“

„Ich habe irgendwo gelesen, daß diese glücklicher werden als andere …“

„Wirklich?“ rief die Frau überrascht. „Das müßte dann noch kommen, denn bis jetzt hat das Glück ihr noch nicht viel gewährt. Soll ich Ihnen das Zimmerchen oben zeigen?“

Detlev willigte ein, weniger aus Begierde, das Zimmer zu sehen, als aus einem dunklen Bedürfnis, das Haus noch nicht zu verlassen … Frau Joß ging ihm also voran, ihn einmal um das andere Mal als „Herr Leutnant“ ansprechend. Detlev mußte lächeln über die veränderte Art der Frau. Die militärische Einquartierung schien ihr gar nicht so unwillkommen zu sein. Mit großer Beflissenheit machte sie ihm auch die Honneurs des Hauses und stellte ihm in Ermanglung der Bewohner wenigstens ihre Thüren vor. Die Wohnung nebenan gehörte den Fräulein Perraul, zwei alten Damen, die somit Detlevs Nachbarinnen zur Linken wurden. Im zweiten Stock wohnte vorn heraus und links ein Agent, der ein Nest voll Kinder hatte, rechts eine Näherin, und zwischen der Küche derselben und der Küche der größeren Wohnung befand sich eben das Zimmerchen, das sie dem Diener des Herrn Leutnants einräumen wollte. Detlev warf nur einen Blick in das mit Möbeln vollgepfropfte Gelaß. Es genügte seinem Zweck vollkommen. Sein Stefan wäre auch mit weniger zufrieden gewesen.

„Sie sind eine Metzerin?“ fragte Detlev im Hinabsteigen.

„Nein, ich bin aus Toul. Madame Dormans ist aus Nancy, aber mein Mann war ein Metzer von Geburt, und Herr Dormans desgleichen. Die Dormans sind eine alte Metzer Familie .... Der Herr Leutnant sind noch nicht lange in Metz? Wie gefällt es Ihnen hier?“

„Ich hoffe, es wird mir gefallen, wenn ich erst einmal eine Wohnung habe.“

„O, mit der Wohnung werden Sie wohl zufrieden sein!“ rief Madame Joß mit Ueberzeugung.

„Hm, aber man sieht nicht gern einen Deutschen in diesem Hause. Gestehen Sie nur!“

Die Frau lachte verlegen: „Mein Gott, der erste Schritt, der kostet Ueber… Ueber…“ der Schluß des Wortes fiel ihr nicht ein – „aber wenn Sie einmal zum Hause gehören, wird Ihnen niemand mehr etwas in den Weg legen. Man muß sich hineinfinden! Sie können ja nichts dafür. Also auf Montag, Herr Leutnant!“ Mit diesen etwas rätselhaften, von Detlev aber doch so ziemlich verstandenen Worten öffnete sie ihm das Hausthor und entließ ihn mit freundlichem Blick und Lächeln.

„Das klingt ja recht tröstlich!“ sagte sich Detlev mit innerer Belustigung. „Nun, wenigstens bin ich jetzt untergebracht! Es war Zeit!“

*      *      *

Vor einem quer über die Zimmerecke gestellten altertümlichen Schrank, dessen unterer Teil von geschweifter Form eine Kommode mit drei Schubladen bildete, während der mittlere, wenn man den schrägen Deckel aufklappte, sich als Schreibtisch benutzen ließ, saß Marguérite Dormans, ein Wirtschaftsbuch vor sich, in das sie einige Eintragungen machte.

Alt wie dieser Schrank war auch die übrige Einrichtung von dunklem, durch die Zeit geschwärztem und gewiß auch wurmstichigem Holz. Das sehr tiefe, aber nicht ebenso breite Zimmer, dessen zwei Fenster nach dem Hofe gingen, war überhaupt ganz in düsteren Farben gehalten: dunkle Tapeten und Vorhänge und ebenso dunkle Polstermöbel ließen es wohl auch bei hellem Tageslicht nicht allzu freundlich aussehen. Obendrein aber war jetzt noch einer der beiden Fensterladen geschlossen, und durch das zweite Fenster fiel – es war spät am Nachmittag – nur eben so viel blasses Licht auf die Schreibplatte, als Marguérite bedurfte, um ihre Ziffern zu schreiben. Der Hintergrund des Zimmers blieb im Schatten, und man konnte kaum erkennen, daß dort im Alkoven, dessen Vorhang zurückgezogen war, eine breite Bettstelle stand, die ihn fast gänzlich ausfüllte. Erst beim Nähertreten hätte man bemerkt, daß unter dem dunkelroten, von dünnen Säulen getragenen Betthimmel eine hagere ältliche Frau lag, mit Zügen, die einmal schön gewesen sein mußten, jetzt aber so spitz geworden waren, daß sie selbst in der Dämmerung, die alle Linien verwischt, noch unvermindert scharf hervortraten.

Marguérite hatte ihre Eintragungen beendet und stützte nun in tiefem Sinnen die Ellbogen auf das Schreibpult.

Die Dämmerung wuchs und verschlang die letzte Spur von Helligkeit; da schreckte ein polterndes Geräusch über ihrem Haupt das junge Mädchen aus ihrem Brüten auf.

„Was ist?“ fragte eine matte und doch schrill klingende Stimme vom Bett her.

„Nichts, nichts, Mama,“ sagte Marguérite beruhigend. „Wohl die Kleinen des Agenten. Du weißt, sie sind unverbesserlich.“ Ihre Stimme klang nicht ganz unbefangen, denn sie sagte ja eine bewußte Unwahrheit. Diesmal beschuldigte sie die kleinen Lärmer mit Unrecht: was da oben rumorte, das war Madame Joß, die das kleine Zimmer für den Diener des deutschen Offiziers ausräumte.

„Marguérite!“ kam es wieder vom Bett her.

„Mama?“

„Du hast also die Zimmer vermietet?“

„Ja, Mama.“

„An wen?“

„Es ist ein … ein Beamter, Mama. Scheint Vermögen zu haben. Der Preis war ihm nicht zu hoch ...“

„Wo ist er angestellt?“

„Bei – bei der Regierung.“

„Bei der deutschen Regierung?“

„Ich weiß es nicht bestimmt, Mama. Vielleicht nicht bei der Regierung. Ein Deutscher ist es leider. Das konnte nicht vermieden werden. Er geht uns ja nichts an, Mama. Wir werden ihn nie sehen, nie …“

Wieder eine Pause. Oben polterte es heftig. Aus dem Stübchen wurde jetzt sicher der überzählige große Schrank entfernt, der so schwer war. Aber trotz dieses Geräusches vernahm Marguerite deutlich den tiefen Seufzer der Mutter, die sich schwer auf ihrem Lager umwendete.

[156] „Gieb dir keine Mühe!“ sagte Madame Dormans endlich mit dumpfem Hohn. „Als ob ich nicht seinen Säbel klirren gehört hätte, als er im Salon war. Ich weiß, es ist ein Offizier. Ich wußte gleich, daß es einer von ihnen sei … du glaubst wohl, daß es so leicht sei, deine Mutter zu betrügen?“

„Mama!“ rief Marguérite schmerzlich betroffen aus.

„Nein, laß nur, ich weiß ja,“ fügte sie milder hinzu, „du wolltest mir diesen Schmerz ersparen. Aber mußte es denn sein?“

„Es mußte nicht sein,“ meinte Marguerite zaudernd, „jedoch in unseren Verhältnissen bedeutet die Summe, die der Preuße als Miete zahlen wird, schon etwas, und wir können das Geld sehr gut brauchen.“

„Sag’: der Doktor und der Apotheker brauchen es, wenn du das Richtige treffen willst. Mir ginge es auch nicht schlechter, wenn ich mich entschlösse, diese beiden abzudanken. Aber du giebst ja keine Ruhe, nur deinetwegen lasse ich an mir herumpfuschen …“

„Es ist dir doch wieder besser nach der letzten Arznei?“

„Ja, ja, noch eine Galgenfrist. Mit diesem deutschen Mörder zum Nachbar wird es um so schneller bergab gehen!“

„Seien wir gerecht. Dieser da hat wenigstens nicht mitgemordet. Er ist noch nicht dreißig …“

„Desto schlimmer!“

„Soll ich ihm das Geld zurückschicken? Ihm abschreiben?“ fragte Marguérite.

Frau Dormans seufzte. „Nein, mein Kind. Verzeih’ deiner Mutter, wenn sie dir Vorwürfe über irgend etwas macht, was du um ihretwillen thust,“ sagte sie nach einer Pause in ganz verändertem und tieftraurigem Ton. „Ich weiß, seit Monsieur Bolséque tot ist, kommst du nicht mehr recht aus. Aber freilich, Gott allein weiß, welche Qual es für mich ist, dieselbe Luft mit diesen Deutschen zu atmen.“

„Eine Qual, Mama, die du dir selbst auferlegt hast. Warum bliebst du in einer Stadt, wo man nicht auf die Straße blicken kann, ohne die Tellermützen der Deutschen zu gewahren? Warum sich krank ärgern über den Anblick? Wärst du doch nach Nancy gezogen, Mama!“

„Ich wollte ausharren! Konnte ich denken, daß die Revanche so lange werde auf sich warten lassen? Auch hätte ich das Haus nur schlecht und schwer verkaufen können. Bedenk’ – die Hypotheken …“

„Dort drüben wäre dein Haß eingeschlafen, der Zorn, der dich noch immer so aufregt, hätte sich gelegt.“

„Er sollte sich nicht legen, und der Haß sollte nicht einschlafen!“ rief Madame Dormans heftig. „Ich will nicht vergessen! … Nun ist dafür gesorgt, daß ich es niemals thue!“ Sie lachte ingrimmig.

„Du wirst unsern Mieter weniger sehen als andere, denen du auf der Straße begegnest …“

„Hoffentlich! Nur gut, daß du wenigstens einen hohen Preis verlangt hast!“ fügte sie einlenkend hinzu.

„Nicht ich nannte den Preis,“ erklärte Marguérite sanft, „Madame Joß war es. Ich hätte niemals den Mut gefunden, so viel zu verlangen. Es ist eigentlich zu viel …“

„Hast du etwa Gewissensbisse?“ fragte Madame Dormans. „Wenn es ihm nicht zu viel ist! Sie haben uns fünf Milliarden abgenommen.“

Marguérite lächelte ein wenig, wie eben die Jugend lächelt, wenn man ihr alte Geschichten erzählt. Was im Jahre Siebzig geschehen war, gehörte für sie wirklich der Vergangenheit an. „Das ist ein bißchen lange her, Mama, und diese Milliarden sollen seitdem in kleiner Münze wieder zurückgeflossen sein über die Grenze.“

„Mag sein! Es würde mich auch nur freuen, einem unserer Feinde sein Geld abzunehmen, wenn man nicht zu gleicher Zeit seine Nachbarschaft erdulden müßte. Nun, bei der ersten Wendung unseres Schicksals zum Besseren erhält der Preuße schleunigst den Laufpaß. Nicht wahr, meine Tochter?“

„Ja, Mama, mit Extrapost!“ antwortete das junge Mädchen heiter, während sie sich darüber verwunderte, daß ihre verdüsterte und verbitterte Mutter doch noch auf bessere Wendungen hoffte.

„Wenn du gewollt hättest,“ begann Frau Dormans nach einer Pause, nicht ohne Zaudern – man sah, sie hatte eine gewisse Scheu, den Gegenstand zu berühren – „so wäre dieser Umschwung zu unseren Gunsten bereits erfolgt.“

„Wie meinst du das?“

„Du weißt recht gut, wie ich es meine. Bloß etwas mehr Entgegenkommen und Liebenswürdigkeit, eine bessere Taktik … Wenn es mit rechten Dingen zuginge, hätte Didier dir längst eine Erklärung machen müssen!“

Marguérite antwortete nicht. Sie faltete die Hände über ihrem Knie und blickte starr in die Glut des deutschen Ofens, der auch hier dem französischen Kamin als Vorspann beigegeben war.

„Es wäre ein Glück, Kind,“ fuhr Madame Dormans fort.

„Und ich, Mama, ich finde, es ginge gegen meinen Stolz, Didier Morels Frau zu werden,“ entgegnete Marguérite nach einer Pause. „Du bist doch sonst so stolz, Mama, und stolz darauf, daß du stolz bist.“

„Sehr gut gesagt! Ich bin stolz und stolz, es zu sein … Andere, die eine so reiche Jugendfreundin haben, würden zweifelsohne in Verlegenheiten, wie ich sie schon durchmachte, diese Freundschaft in Anspruch nehmen, und obgleich sie geizig ist wie eine Italienerin, die gute Lolotte, sie hätte mir doch nicht Nein sagen können … Aber es fällt mir nicht ein, ein Geschenk oder ein Darlehen von Lolotte zu verlangen, und böte sie mir es an, ich würde es ablehnen … Indessen das mit der Heirat, das ist doch ganz etwas anderes! … Ihr Sohn würde doch nicht etwa Herabsteigen, wenn du seine Frau würdest. Im Gegenteil, mein Kind. Was Familie betrifft, können sich die Morels nicht mit den Dormans und auch nicht mit den Fleurys messen, denen ich entstamme!“

„Aber er ist so reich, und ich …“

„Auch du bist nicht ganz arm … Tu erhältst doch nach meinem Tode dieses Haus … Wenn Metz demnächst wieder einmal an das Vaterland zurückfällt und der Bann von der Stadt genommen wird, der jetzt ihr Gedeihen hindert, wird es auch wieder mehr wert sein als heute. Wer weiß, wie es noch einmal im Preise steigt!“

Marguérite lächelte etwas ungläubig.

„Und deine Schönheit, deine Bildung? Ist das nichts? Deine Seele ist mehr wert als alle Morelschen Reichtümer. Ich gestehe dir, daß ich diese Heirat wünsche … Seit Jahren … Nicht aus Selbstsucht, mein Kind, weil ich für mich davon Vorteil erhoffe … Ich werde ja überhaupt nicht mehr lange irdische Bedürfnisse haben!“

„O Mama!“ rief Marguérite schmerzlich bewegt.

Frau Dormans fuhr, ohne den Einwurf zu beachten, fort: „Aber eben deshalb würde es mich glücklich machen, dich versorgt zu wissen. Eine Mutter, die sich darauf vorbereitet, von dieser Erde zu scheiden, möchte natürlich gern die Gewißheit mit sich nehmen, daß die Zukunft ihres geliebten Kindes gesichert ist. Ich könnte nie ruhig sterben, wenn ich dich einsam wüßte, selbst wenn du dabei reich und sorgenlos wärest … Ich muß wissen, mit wem sich dein Leben verknüpfen wird, muß ihn mit eigenen Augen sehen, den Mann, an dessen Seite du es zubringen sollst! Unerträglich wäre mir der Gedanke, zu sterben, ohne deinen künftigen Gatten gekannt zu haben! Begreifst du das?“

„Nur zu gut! Aber reden wir nicht mehr vom Tode, Mama! Sprechen wir vom Leben! Wenn es so geschähe, wie du wünschest, würdest du dann mit mir kommen nach Nancy in mein neues Heim? Denn du weißt: von dir gehe ich nicht!“

„Ich verspreche dir es feierlich: Ich ziehe mit dir! O, es wird schön werden!“

„Mama, Didier hat noch nicht um mich geworben!“ erinnerte Marguérite.

„Er thut es, sobald er sich für gewiß halten darf, mit seiner Werbung nicht fehlzugehen,“ versicherte Madame Dormans. „Und auch Lolotte wird dich gern als Schwiegertochter begrüßen. Liebt sie das Geld, so liebt sie ihren Didier doch noch mehr. Sie kann ihm nichts abschlagen und wird sich gegen seinen Herzenswunsch nicht stemmen. Und Monsieur Morel ist ja nichts weiter als ihr Echo. Von dieser Seite droht kein Hindernis … Du brauchst nur zu wollen. Bei seiner letzten Anwesenheit hier, ich erinnere mich gut, war er Feuer und Flamme … Ich meinte, diesmal würde er sich erklären. Aber du …“

„Nun, was habe ich ihm denn gethan?“ Marguérite lachte leicht auf.

[157] „O, gar nichts!“ spöttelte Madame Dormans. „Du sagtest bloß, daß dir hochgewachsene Männer besonders gefielen. Da der arme Didier nicht allzugroß ist, hat das seine Eigenliebe verletzt ... Er ist ein wenig eitel.“

„Ich wollte seine Eigenliebe gewiß nicht verletzen. Er kann ja nichts dafür. Aber er ist wirklich nicht groß, sogar bedeutend kleiner als ich.“

„Bedeutend? O, kaum merklich. Er hat trotzdem eine hübsche Figur!“

„Sag’, Mama, ziehst du es nicht auch vor, wenn Männer stattlich aussehen?“

„O – ja!“ Das Zugeständnis kam langsam von Madame Dormans’ Lippen. „Dein Papa war ziemlich groß. Aber man kann sich seinen Gatten doch nicht mit dem Meterstab aussuchen. Die Franzosen sind nun einmal im allgemeinen keine solchen Hopfenstangen wie die Preußen ... Wie ist denn unser Mieter? Groß oder klein?“

„Nicht übermäßig groß.“

„Jung? Doch das sagtest du schon. Wie sieht er sonst aus? Wie findest du ihn? Häßlich zum Furchteinflößen, sollt’ ich denken, oder wenigstens abgeschmackt gewöhnlich, mit Haaren, die wie schmutziger Hanf aussehen, ungeschlachten Gliedmaßen und porzellanblauen Augen, die nicht für zwei Sous Geist verraten. Hab’ ich’s getroffen?“

Unwillkürlich sah das junge Mädchen bei dieser Schilderung die schlankkräftige Figur in der knappen, kleidsamen Uniform vor sich, das ernste, männlich streng und doch fein geschnittene Gesicht mit den ganz kurz getragenen dunkelblonden Haaren und dem helleren, ziemlich langen Schnurrbart... Es war gebräunt bis zur Stirne, die weiß davon abstach, und die keineswegs porzellanblauen, wenn auch hellen Augen richteten sich fest und durchdringend auf denjenigen, der ihnen gegenüberstand. So wenig dies alles zu Madame Dormans’ schmeichelhaften Voraussetzungen stimmte, so antwortete Marguérite doch leichthin: „Ungefähr! Ich habe ihn übrigens kaum betrachtet und weiß nicht viel von ihm. Auf sein Aeußeres kommt es ja nicht an, nicht wahr? Und wäre er der Schönste, was kümmert es uns!“

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München

Die Weidenpfeife.
Nach dem Gemälde von O. Piltz


„In dieser Beziehung bin ich deiner sicher. Du hast ein französisches Herz! Mit den Perrauls wirst du einen harten Strauß auszufechten haben ...“

„Ach nein, Du weißt, sie waren so ängstlich, so lange die Zimmer nebenan leer standen. Sie meinen, der Geist des seligen Monsieur Bolséque gehe in ihnen um. Und sie fürchten sich nicht vor ihm allein, auch vor Räubern und Einbrechern.“

„Ich weiß, ich weiß! Die Joß muß jeden Abend aufschließen, die leere Wohnung durchsuchen und unters Bett leuchten, um zu sehen, ob niemand dort versteckt ist. Ich vermute, sie halten einen Dieb für fähig, sich durch das Schlüsselloch einzuschleichen.“

Marguérite lachte über den Scherz der Mutter. „Die Armen! Diese ewigen Aengste! Es wird ihnen nur lieb sein, daß die Räume neben ihnen wieder bewohnt sind.“

Unterdessen war es ganz finster geworden, und Marguérite nahm von einem Seitentisch eine Lampe, zündete sie an und brachte sie zum Bett ihrer Mutter, wo sie sie auf das Nachttischchen stellte. Das Licht bestrahlte ihr Gesicht von unten herauf, und mit dem Abglanz des eben verflogenen Lächelns, der noch auf ihren Zügen lag, erschien die Tochter der Kranken so schön, daß diese davon betroffen wurde, als ob es ihr neu wäre. Die mußte doch jedem gefallen!

So kehrten ihre Gedanken zu dem früheren Gespräch zurück.

„Wenn Didier uns wieder besucht, willst du dann etwas liebenswürdiger mit ihm sein, mein Kind? ... Um meinetwillen?“

Marguerite blickte eine Weile stumm vor sich hin, dann leistete sie ohne Begeisterung, aber auch ohne Widerstreben das verlangte Versprechen.

Der Umzug war beendet; Detlev saß bereits mit einem behaglichen Gefühl des Heimischseins in seiner neuen Wohnung am Schreibtisch und schrieb aus der neuen Garnison den ersten regelrechten Brief nach Hause an seine liebe Mutter, die in Holstein bei seiner verheirateten Schwester lebte.

Das blonde Hausfräulein war bei seinem Empfang unsichtbar geblieben. Frau Joß allein hatte ihn bewillkommt und die Hoffnung ausgesprochen, daß er sich in seinem neuen Heim wohlfühlen werde. Als er dann nach angestrengtem Tagesdienst gegen Abend zum erstenmal heimkehrte, blickten ihm seine Zimmer blitzblank, staubfrei und tadellos aufgeräumt entgegen. Sein Bursche Stefan hatte unterdessen das Auspacken besorgt, und sogar Kisten und Koffer waren bereits auf den Speicher geschafft worden.

Detlev sagte dem Burschen ein Wort der Anerkennung, aber dieser gestand, daß er nicht alles allein geleistet hätte. Madame „Schoß“ habe ihm die Tochter zur Hilfe heraufgeschickt. „Mattmosell Schannett heißt sie, und sie hat natürlich mehr Schick dazu, hübsche Sachen einzuräumen, als unsereiner,“ schloß er bescheiden.

„Das wird wohl die kleine Rote sein, die ich just im Flur traf?“ meinte Detlev, halb fragend.

Stefan hätte nun gern berichtet, daß Mattmosell Schanett nicht rot sondern goldblond sei, aber konnte doch seinem Leutnant nicht widersprechen. „Kann sie Deutsch?“

„Zu Befehl, Herr Leutnant. Und ob! wenn ich so Franzö'sch könnte! Bloß ein wenig possig klingt es ... Die Schoß sind halbe Deutsche, Herr Leutnant. Was der Madame ihr Vater war, der stammte aus der Pfalz.“

[158] „Die ist also keine Feindin, Stefan?“

„Zu Befehl, nein … Die deutsche Uniform gefällt ihr sogar besser …“

„Ah, wirklich?“ Detlev lächelte belustigt, wodurch Stefan sich ermutigt fühlte, fortzufahren: „Aber die anderen im Hause! Lauter Deutschenfresser, Herr Leutnant!“

„Uns werden sie nicht fressen, Stefan,“ beruhigte Detlev.

„Ne! Könnten ihnen im Magen liegen bleiben!“ grinste Stefan.

Detlev hatte bereits bemerkt, daß sein Einzug ins Haus bei den übrigen Hausbewohnern keineswegs ungeteiltes Entzücken erweckte. Im Erdgeschoß befand sich ein Laden, dessen Inhaberin ihm vorhin, als er ins Haus trat, einen unverfälschten Hassesblick zugesandt hatte, und dann war er auf der Treppe mit einem kleinen schwarzen Mann zusammengetroffen – vermutlich der Agent – der ihn mit Entsetzen und Verstörnng angestarrt hatte.

„Mattmosell Schannett hat mir auch gesagt, warum sie uns alle so hassen. Die Frau in der Butike unten verlor ihren einzigen Sohn im Kriege.“

„Wo ist er gefallen?“

„Nirgends, Herr Leutnant. Er war erst ’n paar Jahre alt. Aber während der Belagerung, da kriegte der arme Junge den Typhus, und aus war es. Nun meint die Frau, wenn die Deutschen Metz nicht belagert hätten, wäre es nicht geschehen, und so rechnet sie ihn uns an, als Kriegsopfer. Was dann die beiden alten Damens nebenan sind, die verloren damals im Kriege ’nen Bräutigam. Es ist aber nicht sicher, daß er gefallen ist. Vielleicht hat er sich bloß seitwärts in die Büsche geschlagen. Auch weiß man nicht, welcher von ihnen er eigentlich gehört hat, und so trauern sie noch heute alle beide um einen einzigen Bräutigam.“

Ueber Detlevs Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. „Ist das die ganze Verlustliste?“

Des Burschen breites Lächeln verschwand. „Zu Befehl, nein, Herr Leutnant. Der Vater von dem schönen Fräulein, Monsieur Dormans, der ist richtig bei der Belagerung von Metz gefallen.“ Sein Gesicht war bei dieser Mitteilung ganz ernst geworden. „So ’n schönes Fräulein und keinen Vater von Geburt an … Und die kranke Madame soll nicht wenig griesgrämig sein.“

„Nun hast du mir ja wohl die ganze Hauschronik berichtet,“ schnitt Detlev weitere Erörterungen ab. „Du kannst jetzt gehen, Stefan. Schick mir aber später die Madame Joß herauf. Ich möchte mit ihr sprechen.“

Nach einer Stunde etwa klopfte es an die Thüre und Madame Joß trat mit verbindlichem Lächeln ins Zimmer, nach den Wünschen des Herrn Leutnants fragend.

Detlev hatte bereits mit ihr verabredet, daß sie gegen entsprechendes Entgelt die letzte Hand an die Ordnung seiner Zimmer zu legen und seine Wäsche in stand zu halten habe. Sein Stefan bediente ihn zwar mit Eifer und Geschick und konnte zur Not ein Stubenmädchen ersetzen, aber seine Begriffe waren doch etwas gar zu militärisch. Die Stühle mußten in Reih’ und Glied stehen wie Soldaten, und auch die Nippes stellte er auf wie Rekruten. Weibliche Beihilfe konnte ihm nur zu statten kommen.

Madame Joß nahm Detlevs Anordnungen bereitwillig entgegen und versprach, alles nach Wunsch zu besorgen. Zugleich benutzte sie die Gelegenheit, ihm ihre Tochter als Weißnäherin und Stickerin zu empfehlen. Detlev sagte gern zu, ihr vorkommenden Falls seine Kundschaft zuzuwenden, und durch seine Freundlichkeit ermuntert, kam die Frau dann sofort auf ihre Verhältnisse zu sprechen. Mein Gott, sie hatten den Nebenverdienst recht nötig.

Der kleine Hausmannsposten trug nicht viel, und die Bedienung der Damen Perraul und Dormans noch weniger. Die Fräulein Perraul verfügten nur über eine bescheidene Rente, und Madame Dormans mit ihrer Tochter lebte von der Miete ihres Hauses.

Die hohen Steuern und die Zinsen der Hypothek abgerechnet, blieb ihnen nicht viel, und dieses Wenige verschlang größtenteils Madames Krankheit. „Unser armes Fräulein genießt nichts Gutes. Sie kommt fast nirgends hin als in die Kirche und auf den Friedhof. Ich möchte es ihr wahrhaftig gönnen, wenn ihre Verhältnisse sich ändern würden!“

„Ist dazu Aussicht?“ fragte Detlev.

„Man muß immer hoffen,“ wich Madame Joß aus. „Aber wenn sie auch reich wäre und alle Vergnügungen haben könnte, sie würde doch auf alles verzichten, um bei der Mutter zu bleiben. O, sie ist engelsgut, Mademoiselle! Madame macht ihr das Leben oft sauer, aber Mademoiselle beklagt sich nie.“

„Madame ist also nicht sehr geduldig?“

„Sie leidet zuviel, Monsieur. Das verdirbt den Charakter. Nicht, daß sie unfreundlich wäre gegen Mademoiselle. O nein, sie liebt ihre Tochter unendlich und giebt ihr nie ein böses Wort … Aber sie hat einmal nicht die Natur, daß sie ihre Leiden verbergen könnte, um Mademoiselle nicht zu betrüben. Sie muß klagen und jammern, sie muß! … Und dann ärgert sie sich so viel ...“

„Worüber?“

„Ueber –“ Frau Joß stockte verlegen. „Mein Gott, über alles. Es ist ihr Bedürfnis. Ich weiß nicht, wie sie’s aushielte, sich nicht zu ärgern. Sehen Sie, Monsieur: wenn man auf Dornen liegt und man kann zur Seite rücken, so thut man’s doch, nicht wahr? Sonst hat man kein Recht, sich zu beklagen. Nun, Madame Dormans rückt nicht ab, die Dornen sollen nachgeben, und da sie’s nicht thun …“ Sie schloß mit einem Achselzucken.

Als Detlev Madame Joß entlassen hatte, blieb er in Nachdenken zurück. Zu dem starken Eindruck, den ihm die von der Trauertracht nur gehobene Schönheit und Anmut des jungen Mädchens gemacht hatte, gesellte sich noch das Mitleid über ihre Lage. Abgeschlossen vom Leben, in fast klösterlicher Stille und Einsamkeit verlebte die schöne Blonde ihre Tage an der Seite einer herb gestimmten Mutter, die ihr vermutlich nichts als Haß und Groll predigte zu einer Zeit, wo andere Mädchenherzen sich weicheren Gefühlen hingeben dürfen …

Er bekam sie zunächst gar nicht zu Gesicht, vernahm nur von Madame Joß, daß Madame Dormans wieder einmal einen heftigen Anfall gehabt habe. Sie litte an Herzkrämpfen, die mitanzusehen schrecklich sei, und thatsächlich werde von diesen Anfällen Mademoiselle Marguérite noch mehr mitgenommen als die Kranke selbst. Zum Glück hätte Madame nach solchen schrecklichen Tagen und Nächten immer für längere Zeit Ruhe. Da Detlev häufig nach dem Befinden seiner Wirtin fragte, so nahm Madame Joß die Gewohnheit an, ihm über deren Leiden ausführlicheren Bericht zu erstatten als er verlangte; aber er ließ der guten Frau die epische Breite ihrer Bulletins hingehen, denn zwischendurch erwähnte sie ja immer auch Mademoiselle, und von dieser zu hören, wurde er nie müde. Seine Gedanken beschäftigten sich auch sonst gern mit ihr, doch nahm ihn das Leben in der neuen Garnison so in Anspruch, daß ihm nicht viel Zeit zu müßigen Träumereien blieb. Die altersgraue enggebaute Stadt mit dem stockenden Wachstum, in der man kaum einen Neubau erblickte, hatte für Detlev viel Interessantes, zumal er noch nie in einer Festung gelebt hatte. Die vielen Forts, Lunetten, Brücken, Wälle, Graben und die alten Thore, alles, was dem Nichtmilitär eine solche Stadt verleidet, wurde von ihm mit Aufmerksamkeit besichtigt. Die Umgebung der Stadt mit ihren vielen freundlichen Dörfern und der anmutigen Mosellandschaft lud zu Ausflügen ein, während meistens ungetrübt schönes Wetter herrschte und die Spätherbstsonne ihren goldigen Schein über das Land ergoß. Detlev schaffte sich ein Pferd an, das er freilich außer Haus einstellen mußte, und machte in dienstfreien Stunden lange Spazierritte; alle durch den Krieg berühmten Orte und Schlachtfelder der Umgebung wurden besucht, und daheim warf er sich eifrig auf das Studium der Festungskunde. Seine Geselligkeit beschränkte sich auf jene, die ihm die Kameradschaft gebot.

Diese stille Lebensweise machte ihn zu einem sehr angenehmen Mieter, und wenn Madame Dormans sich nach dem „Preußen“ erkundigte, hatte Madame Joß denn auch nur Vorteilhaftes zu berichten. Madame Dormans hätte eigentlich sehr wohl damit zufrieden sein dürfen, es wäre ihr aber im Gegenteil lieber gewesen, wenn die Hausmannsfrau ihr rechte Schauergeschichten von dem Hochmut und der Roheit des fremden Kriegers hätte erzählen können. Sich über dies oder jenes aufzuregen, bildete ja fast ihre ganze Zerstreuung, denn wenn auch der Herzkrampf sie gerade in Ruhe ließ, so hielt doch irgend ein anderes ihrer Leiden sie im Bett oder wenigstens zwischen ihren vier Wänden fest.

Sie selbst wurde für Detlev, da sie ihm unsichtbar blieb, fast zu einer mythischen Figur. Hingegen konnte es nicht fehlen, daß er Marguérite, die doch wenigstens ihren Kirchgang machte, [159] hin und wieder begegnete. Gewöhnlich befand sie sich dann in Gesellschaft der Damen Perraul. Diesen begegnete Detlev fast täglich im Flur, auf der Treppe oder auf der Straße. Wie früh er auch aufstehen mochte, um sich nach dem Exerzierfeld oder in die Kaserne zu begeben, die alten Fräulein waren ihm doch schon zuvorgekommen und kehrten bereits von ihrem Ausgang heim. Beide Schwestern waren dicke kleine Personen mit runden Gesichtern und blanken Aeuglein, gehüllt in dreieckig gefaltete Umhängetücher von mattem schwarzen Kaschmir und mit haubenähnlichen schwarzen Hüten, die innen weiße Krausen hatten und rückwärts mit langwallenden Trauerschleiern versehen waren. Zwischen diesen rundlichen trippelnden Gestalten erschien Marguérite noch schlanker und größer als sie thatsächlich war. Einigemal war Detlev bereits mit stummem Gruße vorübergegangen. Marguérite dankte stets mit ruhiger Freundlichkeit, und auch die beiden alten Fräulein ließen es nicht an Höflichkeit fehlen. Der Feind sollte ihnen nicht nachsagen, daß man „in Frankreich“ keine Manieren habe. Es kam Detlev übrigens vor, als betrachteten ihn die beiden alten Mädchen nicht ohne Interesse. Sie schienen ziemlich neugierig zu sein, was bei ihrem leeren Leben nur begreiflich war. Und eine der beiden Schwestern wurde denn auch, obwohl unabsichtlich, die Ursache, daß er die Damen ansprach.

Der schöne Herbstmorgen war kaum noch angebrochen. Ueber dem Flusse, der neben der Straße floß, schwebte Nebelhauch, und zarte graue Schleier umzogen den nur tief unten im Osten von der aufsteigenden Sonne goldig gefärbten Himmel. Auf der Straße rasselten Lastwagen in schläfrigem Tempo vorbei, und nur hie und da verriet ein vereinzeltes Peitschenknallen oder ein Zuruf, daß wenigstens der Kutscher wachte.

Detlev war eben aus dem Hausthore getreten, als er die drei schwarzen Gestalten erblickte; Marguerite war etwas voraus, und an ihr war er denn auch bereits vorüber, als eine der Schwestern, durch einen vorübergehenden Jungen angestoßen, ihr Gebetbuch fallen ließ, das gerade vor Detlevs Füße flog.

Er bückte sich, hob es auf und reichte es ihr, die es mit einem so tiefgefühlten: „Merci, oh merci, Monsieur!“ empfing, als habe er ihr den größten Dienst erwiesen. In demselben Augenblick blieb auch Marguérite stehen und drehte sich um. „Wollen Sie die Güte haben, gnädiges Fräulein,“ wandte er sich an diese, „mich meinen Nachbarinnen vorzustellen?“

Marguérite kam seinem Wunsch sofort nach: „Monsieur de Bode, Mesdemoiselles Octavie und Célestine Perraul. Die Damen sprechen aber nicht deutsch.“

„Zu swer, das Deutsche, Monsieur, viel zu swer!“ sagte Célestine. „Eine unmögliche Sprache! Ich wundere mich, wieso die Deutschen selbst sie erlernen können.“

„Nun, wenn man sie in der Kindheit lernt,“ meinte Octavie. „Aber als wir zur Schule gingen, brauchte man noch kein Deutsch in Metz.“

„Man kann auch jetzt noch ohne Deutsch hier auskommen,“ fiel Célestine ein.

„O, was das betrifft, auch ohne Französisch!“ Es war Marguérite, die lächelnd diese Worte geäußert hatte.

„Gewiß,“ bekräftigte Detlev mit einem dankbaren Blick. „Ich kenne Kameraden, die jahrelang hier leben und kein Französisch verstehen, aber die meisten von uns sprechen es doch mehr oder weniger leidlich.“

„Oh, Sie sprechen recht gut!“ versicherte Fräulein Octavie duldsam.

„Es fehlt mir an Uebung.“

„Die können Sie hier leicht erwerben“, meinte Marguérite.

„Nicht so leicht. Der einheimische Teil der Bevölkerung schließt sich von den Offizieren und Beamten zumeist ab. Man verkehrt bloß untereinander, und da ist die Umgangssprache Deutsch. Die Damen waren schon so früh in der Kirche,“ brach er ab. „Im Dom?“

„Nein, bei Sankt Vincent.“

„Auch diese Kirche ist alt und schön. Ich besuchte sie bereits.“

„Aber wohl nicht zum Gottesdienst?“ fragte Celestine. „Monsieur ist natürlich Protestant. Da haben Sie ja Ihre Kirche sehr nah’.“ Und sie drehte den Kopf nach der Richtung, wo der Turm der Protestantischen Kirche in die Luft ragte. In ihrem Blick lag eine Mißbilligung, die Detlev innerlich belustigte

„Ich gehe nicht in diese Kirche, sondern in die Garnisonskirche jenseit des Wassers.“

„Vor dem Französischen Thore,“ ergänzte Fräulein Marguérite. „Beide Kirchen sind hübsch gebaut, aber ein wenig zu – neu. Ich weiß nicht, warum ich die Idee habe, daß es sich in neuen Kirchen schlecht betet.“

„Sie mögen recht haben, mein Fräulein. In alten Räumlichkeiten findet sich mehr Stimmung.“

„Sind Sie mit Ihrer Wohnung zufrieden, Monsieur?“ fragte da Fräulein Marguérite.

„Sehr zufrieden. Ich liebe den Ausblick auf den Fluß und in die Ferne, den sie gewährt.“

„Aber der Lärm! Die vielen Fouragewagen und Soldaten, die täglich vorbeiziehen!“ klagte Célestine. „Es ist entsetzlich! Madame Dormans hat recht, daß sie nur nach dem Hofe hinaus wohnen will.“

„Mich stören die Wagen und Soldaten natürlich nicht!“ erklärte Detlev. „Es ist jetzt eine bewegte Zeit. Herbstübungen ohne Ende. Später wird es wieder ruhiger,“ setzte er tröstend hinzu.

Die beiden Schwestern seufzten zu gleicher Zeit in demselben ungläubigen Tonfall, wären aber doch wohl noch länger stehen geblieben, wenn Marguérite sich nicht jetzt mit einer Kopfneigung verabschiedet hätte, und so folgten sie ihrem Beispiel, und alle drei verschwanden im Hause.

Detlev ging die Straße hinab, der Moselbrücke zu, sich innerlich die Worte des jungen Mädchens wiederholend. Es schien nicht, als ob sie in dem engherzigen Chauvinismus der anderen befangen sei. Alles hatte freundlich und freimütig geklungen, ohne verbissene Gehässigkeit zu verraten. Er glaubte auch trotz ihres fleißigen Kirchenbesuches nicht, daß sie die Bigotterie der Schwestern Perraul teile. Indessen, was ging es ihn an, ob sie dies war oder jenes!

Die drei Damen traten zusammen bei Madame Dormans ein, die noch im Bette lag, aber nicht mehr schlief, und die Schwestern Perraul erzählten sofort von ihrer Begegnung.

„Wir haben mit Ihrem Mieter gesprochen,“ begann Octavie.

„Und denken Sie sich, er ist gar nicht so übel für einen Ketzer und Preußen,“ fügte Célestine lebhaft hinzu.

Die grämliche Dame empfing dieses Bekenntnis mit Hohn und Spott, und als die Schwestern, in ihrer Stimmung sehr ernüchtert, sich empfohlen hatten, sagte sie herb zu Marguérite: „Was dich betrifft, so bitte ich dich, dem Preußen keine Gelegenheit mehr zu geben, mit dir zu sprechen.“

„Es wird sobald nicht wieder vorkommen, Mama,“ erwiderte die Tochter ergeben.

Erst viele Wochen später war es, daß Detlev, in die Buchhandlung und Leihbibliothek, wo er abonniert war, eintretend, Marguérite Dormans bemerkte, die vor dem Ladentisch stand und einige Bücher durchsah. Sie legte eben zwei davon für sich beiseite, als er neben sie trat. Es schien ihm, daß sie bei seinem Anblick zusammenschrecke, wobei ein leichtes Rot in ihre sonst blassen Wangen stieg; doch faßte sie sich bald und beantwortete seinen Gruß mit der freundlichen Gemessenheit, von der er noch immer nicht wußte, in wie weit sie nur eine Maske der Höflichkeit war.

Marguérite reichte dem Gehilfen gerade die gewählten Bücher, damit er sie eintragen könne.

„Die Waffen nieder!“ las dieser laut und schrieb die Titel auf.

„Fräulein lesen also auch deutsche Autoren?“ fragte Detlev nicht ohne Erstaunen.

„Warum nicht?“ fragte Marguerite zurück. „Wir leben so eingezogen, daß wir auf Lektüre angewiesen sind, und unter unseren Autoren sind sehr viele, von denen meine Mutter nicht wünscht, daß ich sie lese. Deshalb muß ich nach deutschen Büchern greifen. Die deutschen Schriftsteller schreiben mehr für die Familie, für junge Mädchen.“

„Alle doch nicht! Wer berät Sie in Ihrer Wahl?“

„Meine Mutter versteht selbst genug Deutsch, um meine Lektüre zu überwachen …“

„In der That?“

Das stimmte wenig zu dem Bild, das er sich von dieser Frau gemacht hatte.

„Um dies zu thun, muß sie die Bücher auch lesen.“

„Das thut sie fast stets. Meine Mutter schläft häufig nicht, [160] und dann liest sie, was ihr zur Hand ist … Deutsche Bücher mit Vorliebe. Sie behauptet, daß sie dabei leichter einschläft …“

„Sie findet sie also langweilig?“

„Nun, vielleicht machen sie sie bloß schläfrig, weil sie mehr Anstrengung von ihr fordern als französische Bücher ...“ Bei diesem Zugeständnis zeigte Marguérite ein reizend sanftes Lächeln.

„Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, den deutschen Schriftstellern diese Ehrenerklärung zu geben … Ich besitze selbst eine größere Bücherauswahl. Wenn Sie mir erlauben würden, Ihnen und Ihrer Frau Mama einige Bücher zur Verfügung zu stellen, so würde ich solche wählen, die die Damen nicht langweilen sollten.“

„Dann würden sie ihren Zweck verfehlen, da Mama sie doch als – Schlafmittel gebraucht. Uebrigens besten Dank! Wenn es uns einmal an Büchern fehlen sollte, werden wir von Ihrem Anerbieten Gebrauch machen.“

Sie schien sich’s vorzuwerfen, daß sie mit dem Deutschen gescherzt hatte, denn sie wurde gleich wieder sehr ernst, aber er hatte nun doch gesehen, wie gut ihr es stand, wenn sie lächelte.

„Madame Dormans geht noch immer nicht aus?“ fragte Detlev teilnehmend.

„Seit zwei Monaten war sie kaum dreimal an der Luft.“

„Und dabei hatten wir einen so schönen Herbst!“ rief Detlev bedauernd. „Ich durchstreifte die ganze Gegend… Ich glaube, ich kenne mich jetzt aus wie ein Einheimischer.“

„Besser als ich jedenfalls. Für mich ist es eine Reise, wenn ich nach Devant les Ponts komme …“

Er schüttelte mißbilligend den Kopf. „Das ist eine schlechte Hygieine für Sie, mein Fräulein, und auch für Ihre Mutter. Ist sie denn wirklich so krank, daß sie nicht ausgehen kann?“

„Der Arzt rät ihr immer dazu, mehr Luft zu schöpfen, aber sie geht nicht gern aus. Dieses Zuhausebleiben ist bereits eine langjährige Gewohnheit, und dagegen kämpft man schwer an.“ Sie schloß plötzlich die Lippen, nahm ihre Bücher und verabschiedete sich ziemlich unvermittelt von Detlev, als bereute sie, daß sie sich mit ihm in ein Gespräch eingelassen hatte.

Als er seinerseits die Buchhandlung verließ, war er innerlich wütend, wie man es über Mißstände ist, die man kein Recht hat, abzuschaffen. Er ahnte, daß Madame Dormans sich den Zimmerarrest angewöhnt hatte, weil sie keine Deutschen sehen wollte. Wohl, mochte sie sich eigensinnig in ihre vier Wände vergraben, aber daß das junge Mädchen dieses Gefängnisleben teilen mußte, das war doch zu toll! Allein vergeblich sann er darüber nach, wie hier Abhilfe zu schaffen sei.

*      *      *

Wenige Tage später stand Detlev eines Nachmittags am Fenster und sah gedankenlos auf die Straße hinab, auf der wie gewöhnlich Lastwagen und militärische Fuhrwerke knarrend und staubbedeckt vorbeizogen. Plötzlich rollte eine Droschke heran und hielt vor dem Hause. Detlev konnte den darin Sitzenden deutlich sehen, denn es war ein offener Wagen. Bei ihm selbst waren die Winterfenster noch nicht eingesetzt worden, und die tief herabgehenden, fast thürenartigen französischen Fenster ermöglichten es ihm, auf die Straße hinabzuschauen, ohne daß er sich dabei besonders vorzubeugen brauchte. Da der Scheibenvorhang zurückgezogen war, konnte Detlev auch von unten aus leicht gesehen werden, und die männliche Gestalt, die aus dem Wagen stieg, blickte denn auch in ziemlich auffallender Weise zu Detlevs Fenster empor. Dann legte der Angekommene eine schon ergriffene Handtasche mit einer Gebärde des Unmuts wieder auf die Wagenkissen zurück, warf auch noch den Mantel dazu, in den er gehüllt gewesen war, schloß den Wagenschlag und verschwand, nachdem er den Kutscher durch eine Handbeweguug entlassen hatte, im Hausflur. Detlev hatte beobachtet, daß der Mann klein und schmächtig war, buschige Augenbrauen und eine scharf ausgeprägte französische Physiognomie hatte. Er hörte ihn nun die Treppe heraufkommen und an der Glasthüre, die zur Dormans’schen Wohnung führte, anklopfen. Die Thüre ging auf, und er vernahm ein heiteres „Me voilà“ von einer nicht unmelodischen Tenorstimme. Dann ward es still, und für Detlev stand nur eins fest: die Damen Dormans hatten Besuch bekommen … Er versuchte es, sich an seine Arbeit zu machen, aber er war seltsam zerstreut und unruhig. So schlug er das Buch zu, schnallte den Säbel um und beschloß, auszugehen. Als er abends nach Hause kam, fand er Stefan mit seinen abendlichen Obliegenheiten beschäftigt. Der Bursche wußte immer alles, was im Hause vorging. Detlev brauchte nur eine Frage hinzuwerfen, um alles zu erfahren, was er wissen wollte. Der Ankömmling sei ein Franzose aus Nancy, berichtete Stefan. „Der Sohn einer Jugendfreundin der Madame … Die Eltern sollen sehr reiche Leute sein, Herr Leutnant. Seidenzeug fabrizieren sie, sagt Madame Schoß … Und der Mossiöh ist der einzige Sohn … Er kommt oft her, denn er reist für seinen Papa … Mir scheint, mir scheint –“ Stefan kraute sich den Kopf, „er hat es auf das schöne blonde Fräulein abgesehen.“

„Woraus schließest du das?“ fragte Detlev scharf.

„Ach, Herr Leutnant, wegen der kranken Madame möchte sich der junge Herr nicht so häufig herverfügen. Da müßten wir doch die Männer nicht kennen!“ Er blinzelte verschmitzt nach Detlev hin. Der Herr Leutnant schien aber an dem Spaß keinen Geschmack zu finden und verabschiedete den Getreuen sehr kurz …

Daß der Franzose den Abend bei den Damen verbrachte, bewies der Lichtschein, welcher aus der Glasthüre der Dormans’schen Wohnung auf den Flur fiel. In dem Empfangszimmer, zu dem diese Thüre führte, war sonst des Abends selten Licht.

Detlev hörte später auch den Gast fortgehen. Es war etwa gegen zehn Uhr, als er das Oeffnen der Thüre und die helle Männerstimme vernahm. Der junge Mann empfahl sich ziemlich geräuschvoll und sprach so laut, daß er Detlev in die Verabredung einweihte, die er mit den Damen Dormans traf. Er wollte sie morgen nachmittag zu einer Spazierfahrt abholen. Nun, das ließ sich ja hören! Dabei kam das junge Mädchen doch wieder einmal an die Luft! Detlev war nicht zu Hause, als die drei wegfuhren, aber abends, als es schon dunkelte, hörte er den Wagen vors Haus rollen. Sie hatten also nicht nur eine Spazierfahrt, sondern einen förmlichen Ausflug gemacht … Auch der Lichtschein fiel abends wieder auf den Flur, doch ging der Franzose heute früher weg als gestern, und seine Abschiedsworte tönten nicht gar so laut durch das Haus.

Des anderen Tages, als Detlev vom Exerzierfeld nach Hause kam, stieß er just auf den Gast seiner Hausdamen, der eben aus dem Thore trat. Heute sah er ihn genau. Obwohl er klein und schmächtig war, fand Detlev sein Aeußeres nicht unvorteilhaft. Seine Figur war zierlich und seine Kleidung ausnehmend elegant. Er trug einen hohen Cylinderhut, der seine Figur etwas größer scheinen lassen sollte, aber beinahe die entgegengesetzte Wirkung hervorbrachte, und hatte ein blasses, volles und doch fein gezeichnetes Gesicht, dessen Kinn und Wangen bläuliche Schatten umgaben. Auch seine schwarzen Augen schwammen in einem bläulichen Schimmer, der den Blick überaus wirksam hob. Jetzt, im Vorbeigehen, schossen sie freilich nur einen spitzig kalten, feindseligen Blick auf den deutschen Offizier, dessen hohe Figur, breite Brust und offenes männliches Gesicht einem von dem seinen so völlig verschiedenen Typus entsprachen. Mit kleinen schnellen Schritten ging der Franzose dann vorüber. Detlev sah ihm über die Achsel nach. Ein recht hübscher Mensch! dachte er. Nicht nach unserem Ideal, aber seinen Landsmänninnen wird er ohne Zweifel gefallen. Ob auch ihr?

Unerwarteterweise wurde Detlev am selben Abend Gelegenheit, den Fremden mit den Dormans zusammen zu sehen.

Im Theater war nämlich französischer Opernabend. Allwöchentlich einmal kam aus Belgien eine französische Gesellschaft herüber, die schon seit Beginn der Saison das Publikum durch die Vorführung „nationaler“ Werke zu erfreuen strebte. Daß unter den aufgeführten Opern auch solche waren, deren reines Franzosentum einigermaßen bestritten werden konnte, wurde dabei von den Darstellern sowohl wie von den Zuhörern einfach übersehen. Die allernationalsten Schöpfungen, welche die Belgier zur Aufführung gebracht hatten, waren bis jetzt die „Hugenotten“ und „Mignon“ gewesen. Meyerbeer galt ja selbst den wütendsten Chauvinisten als Vollblutfranzose, und daß Ambroise Thomas mit seinem Operntext eine Anleihe jenseit des Rheins gemacht hatte, das kam wenig in Betracht. Nun gelangte heute als dritte im Bunde der unanfechtbar französischen Opern Gounods „Faust“ an die Reihe.

Zu den wenigen Offizieren, die bei den französischen

[161]

Gudrun am Meere.
Nach einer Originalzeichnung von Ferd. Leeke.

[162] Vorstellungen im Theater zu sehen waren, zählte auch Detlev. Ihn unterhielt diese Provinzgesellschaft in mancher Hinsicht mehr als die Große Oper in Paris. Heute hatte ihn besonders der Gedanke ins Theater gelockt, daß er zum erstenmal ein französisches Gretchen sehen sollte, was zufällig bei seinem Pariser Aufenthalt vor einigen Jahren nicht der Fall gewesen war.

Er war etwas spät gekommen und das Theater schon gefüllt. Während die Ouverture begann, nahm Detlev seinen Sitz in der Nähe der Prosceniumsloge des ersten Ranges ein. Zerstreut musterte er das volle Haus mit seiner an solchen Abenden so ganz welschen Physiognomie, als sein Herzschlag plötzlich stockte, um dann in ein um so heftigeres Pochen überzugehen. Er ärgerte sich über sich selbst, daß ihm der Anblick einen solchen Ruck gab. In der Prosceniumsloge ihm gegenüber saß nämlich Fräulein Dormans zwischen dem Franzosen und einer Dame, die Detlev ganz unbekannt war, von der ihm jedoch sein Instinkt sagte, daß es die von ihm noch nie erblickte Madame Dormans sein müsse. Das blaßgelbe Gesicht, dessen Züge die Magerkeit geschärft und zugespitzt hatte, konnte nur ihr gehören. Es paßte mit seinen harten Linien, dem herrisch schroffen Ausdruck und den eigentümlich leidenschaftlichen Augen genau zu der Vorstellung, die er sich von ihr gemacht hatte. Auch war nicht zu verkennen, daß die Dame sehr leidend war. Die Tochter jedoch schien sich von dem augenblicklichen Wohlsein der Mutter gern und vollkommen täuschen zu lassen. Es wirkte ohne Zweifel beglückend auf sie, die Mutter nach so langer Zeit wieder einmal aufrecht an der Seite zu haben. Der Schatten von Traurigkeit, der das junge Mädchen sonst fast immer umhüllte, war wie weggewischt. Festlich schien ihre Stimmung wie ihre Kleidung. Zwar war sie wie gewöhnlich und gleich ihrer Mutter schwarz gekleidet, aber es war ein Feiertagsschwarz: Seide und Spitzen. Eine lange Boa ringelte sich um ihren Hals, und von dem dunklen Pelz hob sich ihr weißer Teint um so leuchtender ab. Sie lächelte der Mutter liebevoll und fast schelmisch zu und sah dabei so hübsch aus, daß es kein Wunder war, wenn ihr Nachbar sie mit den Blicken verschlang. Es bedurfte keines scharfen Glases, um zu sehen, wie es um ihn stand. An der Brust des jungen Mädchens steckten Rosen, prachtvolle Rosen, die er ihr ohne Zweifel gebracht hatte, auf der Logenbrüstung vor den Damen lag gleichfalls ein Bouquet, und auch eine Bonbonniere verriet die Aufmerksamkeit des Verehrers. Mehr jedoch als dieses alles sprach die Haltung des jungen Mannes den Wunsch zu gefallen aus.

Das französische Gretchen war eine treffliche Sängerin, dafür aber so häßlich, daß man gut daran that, ihr nur zuzuhören, ohne sie anzusehen. Diese weise Vorsicht beobachtete der Franzose um so lieber, als er ja seine Augen auf eine weit glücklichere Verkörperung der blonden Maid richten konnte. Marguérite hingegen gab sich mit einer gewissen kindlichen Rückhaltlosigkeit dem ungewohnten Kunstgenusse hin. Es bereitete Detlev eine eigentümliche Genugthuung, zu sehen, wie vollständig sie bei den Vorgängen auf der Bühne war. Sie hatte kein Auge für ihren Nachbar und bemerkte es gar nicht, wie er sie anschmachtete. Als der Vorhang sich senkte, stimmten Marguérites kleine Hände eifrig in den Beifall ein. Auch während der Pause schenkte sie den Galanterien ihres eifrigen Kavaliers keine tiefere Beachtung. Für Detlev hatte das schöne Mädchen freilich erst recht keine Augen.

(Fortsetzung folgt.)

Blätter und Blüten.


Graf Leo Caprivi †. (Mit Bildnis.) Wenige Monate nach dem Tode des Fürsten Bismarck ist auch sein erster Nachfolger in dem obersten Staatsamte aus dem Leben geschieden. Am 24. Februar 1831 zu Charlottenburg geboren, trat Leo v. Caprivi nach vollendetem achtzehnten Lebensjahre in das Kaiser Franz-Garderegiment ein und hat über vier Jahrzehnte mit soldatischer Pflichttreue dem Vaterlande gedient. Den Feldzug von 1866 machte er als Major im Großen Generalstabe mit, und in dem glorreichen Kriege gegen Frankreich war er, zum Oberstlieutenant befördert, Chef des Generalstabs des 10. Armeekorps. Zu den Erfolgen des deutschen Heeres während der Belagerung von Metz und zu den Siegen bei Vionville und Beaune la Rolande hat er wesentlich beigetragen. In den darauffolgenden Friedensjahren war Caprivi in verschiedenen hohen militärischen Stellungen thätig; die allgemeine Aufmerksamkeit wurde auf ihn im Jahre 1883 gelenkt, als er, der bis dahin nur im Landheere gedient hatte, zum Chef der Admiralität ernannt wurde. In dieser Stellung gab er Beweise seiner Vielseitigkeit und trug vieles bei sowohl zur Neuorganisation der deutschen Kriegsflotte, als auch zur Entwickelung des Torpedowesens und zur Stärkung der Küstenverteidigung. Nach dem Regierungsantritt Kaiser Wilhelms II kam Caprivi um seine Entlassung als Chef der Admiralität ein und wurde am 10. Juli 1888 zum Kommandierenden General des 10. Armeekorps in Hannover ernannt. Schon damals galt er vielfach als der „kommende Mann“, der noch zu den höchsten Staatsaufgaben berufen werden dürfte. In der That wurde in der ernsten Wende, da der Kaiser den Altreichskanzler entließ, General Caprivi am 20. März 1890 zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannt, und wenige Tage darauf, nach dem Rücktritt des Grafen Herbert Bismarck, übernahm er auch das Ministerium des Auswärtigen. Mit Anspannung aller Kräfte verstand es der bereits sechzigjährige General, sich auf verschiedenen ihm fremden Gebieten zurechtzufinden. So gelang es ihm, die deutschen Handelsverträge zum glücklichen Abschluß zu bringen, wofür er am 18. Dezember 1891 vom Kaiser in den Grafenstand erhoben wurde. Bereits im Jahre 1892 sah er sich jedoch genötigt, das preußische Ministerpräsidium niederzulegen, da der Zedlitzsche, von ihm vertretene Schulgesetzentwurf in weitesten Kreisen den heftigsten Widerstand erregte. Erfolgreich behandelte dagegen Graf Caprivi im Jahre 1893 die Militärvorlage, deren Annahme mit einer teilweisen Herabsetzung der militärischen Dienstzeit verbunden war. Am 26. Oktober 1894 erfolgte indessen unerwartet sein Rücktritt. Seitdem hat sich Graf Caprivi von dem öffentlichen Leben gänzlich zurückgehalten. In ländlicher Stille lebte er auf dem Gute Skyren bei Crossen, das seinem Neffen gehört. Hier fand er, da er nicht verheiratet war, den gewünschten Familienanschluß. In den letzten Jahren stellte sich bei ihm ein Herzleiden ein, und ein Herzschlag beschloß am 6. Februar sein thatenreiches, dem Vaterlande geweihtes Leben.

Graf Leo Caprivi †.
Nach einer Aufnahme aus dem Jahre 1898
von J. C. Schaarwächter, Hofphotograph in Berlin.


Der Friedenauer Schulgarten. (Zu dem Bilde S. 133.) In den letzten Jahren hat die Schulgartenidee auch in Deutschland erfreuliche Beachtung und praktische Ausgestaltung erfahren. Das Bild, das wir unsern Lesern vorführen, versetzt uns in den Schulgarten eines schönen Vororts von Berlin – nach Friedenau. Wir sehen die Kinder der dortigen Volksschule – Knaben und Mädchen – bei ihrem fröhlichen Schaffen. Jeden Nachmittag ist der Schulgarten 2 bis 3 Stunden geöffnet, und Lehrer und Lehrerinnen – meist sind 3 bis 4 anwesend – leiten die Kinder an zu praktischen Arbeiten. Etwa 60 Kinder haben je ein kleines Beet zur Bearbeitung erhalten. Sie richten es zur Hälfte als Gemüse-, zur Hälfte als Blumenbeet her. Hier graben, hacken, säen, pflanzen, gießen und ernten sie ziemlich selbständig. Der kleine Ernteertrag ist ihr Eigentum. Die Knaben der 1. und 2. Klasse werden im Veredeln der Bäume unterrichtet. Im vorigen Jahr sind 100 Obstwildlinge und Rosen von ihnen veredelt worden. Andere Knaben sind beim Erdbeer-, Spargel- und Stangenbohnenbeet beschäftigt, die Mädchen bei den Beeten für Küchenkräuter. Am Bienenstand beobachten die Kinder, wie die allzeit emsigen Tierchen mit dicken „Höschen“ von ihrem Ausfluge heimkehren; sie hängen neue Waben ein, reinigen die Kästen und – freuen sich auf das Schleudern des Honigs, das nun bald erfolgen kann. Getreide, Futter-, Gift-, Sumpf- und Wasserpflanzen werden gleichfalls im Garten gezogen, ebenso unsere heimischen Laub- und Nadelbäume. Eine Anzahl Nistkästchen beherbergt unsere heimischen Sänger und giebt dem Lehrer Gelegenheit, zum Vogelschutz anzuleiten. Der Friedenauer Schulgarten ist 2100 qm groß und soll – das ist der Plan seines Schöpfers, des Landrats Stubenrauch – allmählich ein Musterschulgarten für den Kreis Teltow werden. – Andere Staaten sind uns Deutschen auf diesem Gebiete weit voraus. In Oesterreich z. B. ist durch Gesetz bestimmt, daß jede Schule einen Schulgarten haben muß. In Böhmen hätte der Obstbau niemals einen solchen Aufschwung genommen, wenn man nicht die Lehrer mobil gemacht hätte, wenn [163] nicht die Kinder schon angeleitet würden zur praktischen Arbeit im Schulgarten. Von den österreichischen Ländern ist besonders Steiermark das klassische Land der Schulgärten. Auch für Deutschland müßte es heißen: „Jede Schule muß einen Schulgarten haben“, denn nur im Schulgarten ist ein wirklich fruchtbringender Naturgeschichtsunterricht möglich; er erzieht die Kinder zu liebevollen Naturfreunden, weckt Arbeitslust und einen gesunden Schönheitssinn und kräftigt ihren Körper.

Deutschlands merkwürdige Bäume: der Weißdorn zu Soest.
Nach einer photographischen Aufnahme von Otto Hoff in Soest.

Deutschlands merkwürdige Bäume: der Weißdorn zu Soest. (Mit Abbildung.) Im Garten der Gesellschaft „Ressource“ zu Soest steht ein Weißdorn, von dem die Sage berichtet, daß an seinen Stamm schon Karl der Große seinen Wanderstab gelehnt habe. Der Grund und Boden des Gartens war früher der Kirchhof der 1823 abgebrochenen St. Georgskirche, an deren Chor der Dorn Halt fand. Schon im 15. Jahrhundert wurden unter seinen Zweigen milde Gaben gespendet. Bedarf auch der Baum gegenwärtig der Stütze, so schmückt er sich dennoch von Jahr zu Jahr mit frischen Blüten, ein würdiges Gegenstück zu dem berühmten Hildesheimer Rosenstock, mit dem er sich an Alter wohl messen kann.
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Das kurfürstliche Schloß in Mainz.
Nach einer Photographie von C. Hertel in Mainz.

Das kurfürstliche Schloß in Mainz. (Mit Abbildung.) Am Schloßthore zu Mainz, über den Fluten des Rheins, erhebt sich der denkwürdige Bau des kurfürstlichen Schlosses, in dem einst die Kurfürsten und Erzbischöfe von Mainz, des Reiches Erzkanzler, residierten. Im Jahre 1627 wurde von dem Kurfürsten Georg Friedrich von Greifenklau der Grundstein gelegt, aber erst im Jahre 1752 konnte der Bau vollendet werden. Er ist das Endglied einer Kette herrlicher Renaissancebauten der Straßburger Schule, zu denen auch der Friedrichsbau in Heidelberg gehört. Im Laufe der Zeiten hat das zumeist aus Sandsteinquadern aufgeführte Schloß vielfach gelitten. Die Franzosen, die von 1797 bis 1813 über Mainz herrschten, benutzten es als Kaserne und Lagerhaus. Erst im Jahre 1842 ward es einer würdigeren Bestimmung zugeführt. In seinen Räumen wurde das Römisch-germanische Zentralmuseum mit seinen weltberühmten Sammlungen untergebracht, außerdem die ansehnliche Stadtbibliothek, die Städtische Gemäldegalerie und das Naturhistorische Museum. Neuerdings ward beschlossen, das Schloß zu restaurieren. Man wird dafür 1200000 Mark aufwenden.


An Hofe des Tiberius. (Zu dem Bilde S. 136 und 137.) Die einfachen und strengen Sitten, durch welche sich das römische Volk zur Blütezeit der alten Republik auszeichnete, waren unter der Herrschaft der Kaiser gelockert. Die alte heidnische Kulturwelt ging in einem Sinnestaumel zu Grunde. Erzeugnisse der weiten Provinzen wurden nach Rom gebracht, um dort den Siegern die ausgesuchtesten Genüsse zu bereiten. Asien sandte seine Gaukler und kostbare Gewürze, Afrika die wilden Tiere und die dunklen Sklaven; denn mit Vorliebe belustigte man sich im Cirkus mit Schaustellungen aller Art. Alles übertraf aber der Prunk, mit dem die Kaiser sich umgaben. Unser Bild zeigt uns den Kaiser Tiberius, der vom Jahre 14 bis zum Jahre 37 n. Chr. regierte, wie er in seinem Palaste auf Capri sich zerstreut. Der greise Cäsar sitzt in heiterer Gesellschaft und sieht einer Tänzerin zu, welche in graziösen Stellungen auf der rollenden Kugel die Sicherheit ihrer Kunst zeigt. Ein auf der Harfe spielender Sklave begleitet den Tanz, und auch die wilden Tiere aus den fremden Zonen des Weltreichs, von einem Wächter an der Kette geführt, lauschen dem orpheischen Saitenspiel. Unter dem „säulengetragenen herrlichen Dach“ befinden sich mehrere Bildwerke, darunter ein von einem Amor belästigter Centaur, und die Marmortreppe herab schreiten ein Staatsmann und ein Priester, welche mit ernsten Staatsgeschäften die Cirkel des schwelgerischen Tyrannen zu stören drohen. Die Künstlertruppe wird zurücktreten, die ausgelassenen Hofdamen werden davonhuschen und mit finsterer Stirn wird der Kaiser dem Bericht seiner Getreuen lauschen. Und dann wird vielleicht ein Bote nach Rom eilen mit einem jener Blutbefehle, durch welche die Welt des Tiberius so oft mit Entsetzen erfüllt ward.


Altdeutscher Hochzeitszug. (Zu dem Bilde S. 145.) Sitten und Gebräuche wechseln mit der Zeit, und so hat auch der Akt der Eheschließung im Laufe der Geschichte verschiedene Wandlungen durchgemacht. Der heidnische Germane raubte in ältester Zeit seine Braut, später kaufte er sie von ihren Eltern. Weltlichen Charakter behielt die Eheschließung auch in den ersten Jahrhunderten nach der Einführung des Christentums; erst am Tage nach der Hochzeit begaben sich die Neuvermählten in die Kirche, um sich dort von den Geistlichen einsegnen zu lassen. Später, vom 13. Jahrhundert an, wurde der Grundsatz aufgestellt, daß die Frau dem Manne von dem Priester übergeben werde, und so erfolgten die kirchlichen Trauungen zunächst vor der Kirchenthür und dann im Gotteshause selbst. In diese Zeit, am Ausgang des Mittelalters, versetzt uns das stimmungsvolle Bild Brunners. Die Neuvermählten, ritterlicher Abkunft, verlassen die Kirche, die junge Frau trägt die Brautkrone, während die Brautjungfern ihr Haupt mit Kränzen geschmückt haben. Die Spielleute empfangen das junge Paar mit einem Tusch, und bald wird sich der Zug ordnen und nach der nahen Burg sich wenden. Schon damals war die Sitte allgemein, daß bei der Hochzeit die Gäste den Neuvermählten wertvolle Geschenke überreichten. So sehen wir auch auf unserem Bilde einen mit allerlei Geschenken, Truhen und Geräten, hochbeladenen Wagen, der sich dem Hochzeitszuge anschließen wird. In jener lebensfrohen Zeit suchte jeder nach seinem Vermögen die Hochzeit möglichst glänzend zu gestalten, und der Luxus wurde so weit getrieben, daß die Behörden sich veranlaßt sahen, ihn durch Erlaß von Hochzeitsordnungen zu beschränken.

[164] Anton van Dyck. (Zu dem nebenstehenden Bilde und unserer Kunstbeilape.) Der „Antwerpener Schule“, die im siebzehnten Jahrhundert die niederländische Kunst mit neuem Leben erfüllte, verdankt die Welt eine lange Reihe herrlicher Gemälde. Ihr Begründer war Peter Paul Rubens, und als der genialste Schüler des Meisters gilt Anton van Dyck, der vor dreihundert Jahren, am 22. März 1599, in Antwerpen das Licht der Welt erblickte. Schon mit 10 Jahren fand er dort Aufnahme in ein Atelier als Malschüler und im Alter von 20 Jahren zog er als bereits berühmter Schüler von Rubens nach Italien, wo er namentlich aus den Werken Tizians und Paul Beroneses vielfache Anregung schöpfte; 1625 besuchte er Frankreich und kehrte in seine Heimat zurück. Im Jahre 1632 folgte er dem Rufe König Karls I nach England. Hier wurde van Dyck mit großen Ehren ausgezeichnet und in die Lage versetzt, einen fürstlichen Haushalt zu führen. In England verheiratete er sich auch mit der schönen und musikbegabten Mary Ruthven, einer Tochter des Grafen Gowrie. Die revolutionären Ereignisse veranlaßten ihn jedoch, sich nach einem neuen Wirkungskreis umzusehen, aber weder in seiner Heimat noch in Paris fand er, was er wünschte, und so kehrte er nach England zurück, wo er bald nach seiner Ankunft, am 9. Dezember 1641, starb.

Selbstbildnis Anton van Dycks in den Uffizien zu Florenz.
Nach einer Photographie von Braun, Clément & Cie. in Dornach i. E., Paris und New York.

Van Dyck erwarb sich besonders als Porträtmaler einen Weltruf. Er hatte die Gabe, in seinen Porträts das Liebenswürdige der Personen in ihrer Charakteristik hervorzukehren, und diesem Triebe entsprach seine auf milde, heitere, durchaus harmonische Farbenstimmung ausgehende Technik. An die Bildnisse, die van Dyck von seinem Gönner Karl I und dessen Familie malte, setzte er die Vollkraft seines Talents. Vielbewundert sind namentlich die Gruppenbilder, welche die Kinder des Königs darstellen; eines derselben, das jetzt sich in der Dresdner Galerie befindet, giebt unsere Kunstbeilage wieder. Das größte der drei Kinder, in Knabenkleidung, ist der Prinz von Wales (nachmals König Karl II), das kleinste, neben ihm, der Herzog von York (nachmals König Jakob II), die Schwester, Prinzessin Maria, wurde später die Gattin des Prinzen Wilhelm II von Oranien.

Belauscht. (Zu dem Bilde S. 149.) Wo zwei Jugendfreunde, die der Strom des Lebens auseinander geführt, unversehens wieder zusammenstoßen, da geht es an ein umständliches Erzählen, besonders wenn nur einer von ihnen sich draußen in der Welt herumschlug, während der andere fein still zu Hause saß und in kluger Handelschaft sein Gut mehrte. So sehen wir hier in einer Stube des 17. Jahrhunderts einen noch jugendlichen Kaufherrn nach dem Mittagsmahl voll Ergötzen den Schilderungen des Feldhauptmanns lauschen, der sich im großen Krieg herumgetrieben und unzählige Abenteuer erlebt hat. Dem Gast zu Ehren brachte die junge Hausfrau das neue, kostbare Getränk aus den Blättern des Thees; sie schenkte beiden ein und wandte sich dann zum Gehen, unaufgehalten von den beiden Männern, die lieber allein ihre Erlebnisse austauschen. Hinter ihnen aber, von dem großen Wandschirm geschützt, steht jetzt die arglistige Lauscherin und fühlt sich gleichfalls zu großer Heiterkeit gestimmt, denn jeht erfährt sie allerhand, was sie schon lange gern gewußt hätte, und wird sicher nicht verfehlen, wenn der Gemahl wieder einmal den sehr Würdevollen herauszukehren beliebt, mit weiblicher Schlauheit die Trümpfe auszuspielen, welche ihr hier männliche Harmlosigkeit so schön in die Hand liefert. Bn.     

Gudrun am Meere. (Zu dem Bilde S. 161.) Während das Nibelungenlied vornehmlich die Ufer des Rheins und der Donau zum Schauplatz hat, ist das andere große Volksepos des deutschen Mittelalters, das Gudrunlied, an den Ufern der Nordsee heimisch. Das rauhe Heldentum der nordischen Seekönige, die Romantik der Wikingerfahrten, auf denen der beständige Kampf mit den Tücken des Meeres die Kräfte stählte für die Kämpfe mit Speer und Schwert, finden in diesem Heldengesang ihre Verherrlichung. Für den Zauber, den diese von Meeresrauschen und Waffengeklirr durchtönte Sagenwelt der deutschen Nordseeküste auch in Süddeutschland auf die Volksphantasie geübt hat, ist es bezeichnend, daß gerade die sie behandelnden volkstümlichen Spielmannslieder von einem oberdeutschen Dichter zu solch einem größeren Epos verschmolzen wurden. Und von eigenem Reiz ist es, sich vorzustellen, wie inmitten der verfeinerten Kultur des Lebens auf den Schlössern und Burgen von Oesterreich und Schwaben manch zartem Edelfräulein das Herz erbebte, wenn der Mund des fahrenden Sängers von der Schmach der schönen Königstochter Gudrun erzählte, die als Gefangene im Normannenland, weil sie standhaft den Werbungen König Hartmuths trotzte, zu niedrigsten Magddiensten verurteilt ward und notdürftig gekleidet am Meeresstrand mit ihrer treuen Gefährtin Hildburg die Kleider des Hofgesinds waschen mußte, während der rauhe Nord eisig um ihre Glieder fuhr. Leekes Bild zeigt uns Gudrun, das stolze Königskind der Hegelingen, am letzten Tage ihrer Leidenszeit. Wie oft hat sie nicht trostlos und verzagt, während sie aufatmend von der rauhen Arbeit rastete, an dieser Stelle hinausgeblickt in die Ferne, aus welcher sie Hilfe erhofft! Jetzt leuchtet freudige Zuversicht in ihrem Blick; der Wundervogel hat ihr ja verkündet, daß ihre Mutter Hilde daheim ein Heer gerüstet hat und daß nunmehr auf stolzer Flotte die Freunde ihres Vaters herannahen, um dessen Tod zu rächen. Vergeblich war König Hettel den frechen Räubern seiner Tochter aus Normannenland nachgesetzt, in der Schlacht auf dem Wülpensand an der Scheldemündung hatte er der Uebermacht derselben erliegen müssen. Jahre sind vergangen seitdem, und Gudrun hat in ihrer Gefangenschaft nichts von dem Schicksal der Ihrigen gehört. Nun aber schlägt die Stunde der Erlösung. Der herbe Dienst als Wäscherin, den sie nun schon so lange hier unten am Klippenstrand mit Hildburg verrichtet, wird ihr jetzt zum Segen. Als Kundschafter nahen Herwig, Gudruns getreuer Anverlobter, und Ortwein, ihr Bruder, dem Ufer; sie werden die Wäscherinnen gewahr und rufen ihnen zu. Es ist eine der schönsten Scenen des Gudrunlieds, welche uns schildert, wie die ihrer Erniedrigung und Blöße sich schämende Königstochter von ihrem Bruder und von dem Mann ihrer Liebe staunend erkannt wird.

 Die Weidenpfeife.
 (Zu dem Bilde S. 157.)
Du brauner Knabe dort am Zaune,
Sieh nur, wie schön dein Werk gelingt!
Wenn so in heit’rer Frühlingslaune
Dein Weidenpfeifchen hell erklingt,
Dann kommt der Lenz in unsre Lande
Und bringt die alten Klänge mit
Wie einst, als selbst am Teichesrande
Als Knab’ daheim ich Pfeifen schnitt.

Wie einst, als Dotterblumenkränze
Umsäumten golden Teich und Bach,
Und als zum lust’gen Tanz im Lenze
Die Mückenschwärme wurden wach. –
Lang’ ist es her, doch wie im Traume
Steigt meiner Jugend Lenz empor:
Die Stare schwatzen hoch im Baume,
Und drunten sprießt das Gras hervor.

Fern hör’ ich, wie im Waldgehege
Sein Liedlein bläst der Postillon,
Und aus dem Häuschen dort am Wege
Klingt hell der Schmiedehämmer Ton. –
Froh laß, o Knab’ im Weidenhage,
Dein Pfeifchen tönen hell und frei;
Sein Klang weckt neue Frühlingstage
Und mir – und mir der Jugend Mai.

 W. Schulte vom Brühl.



Herausgegeben unler verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G m. b H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[164 a] ----

Allerlei Winke für jung und alt.

Ein Etui für Nähzeug, das auf dem denkbar kleinsten Platz alles vereinigt, was man auf Ausflug oder Reise gern bei der Hand hat: Steck-, Näh-, und Sicherheitsnadeln, zweierlei Faden, Fingerhut und zusammenlegbare Schere, kann man sich mit etwas Geschicklichkeit selbst anfertigen. Zusammengerollt, ist das Etui so klein. Laß es in der Tasche nicht stört, und es ist seines niedlichen Aussehens wegen als kleines Geschenk stets willkommen.

Am hübschesten ist die kleine Rolle aus rotem Leder, mit schwarzer Seide gefüttert und mit rotem, etwa 1 cm breitem Seidenbändchen eingefaßt.

Ein Stück Leder, 9½ cm breit, in der Mitte 15, an den Seiten 10½ cm lang, wird mit Seide gefüttert und mit Bündchen eingefaßt; damit ist die Grundform hergestellt.

Etuis für Nähzeug.

Nun nimmt man ein Streifchen Leder, 23 cm lang, 1½ cm breit, füttert es, faßt es der Länge nach zu beiden Seiten ein und näht es dann mit überwendlichen Stichen zusammen. Der so entstandene Ring wird rechts und links mit überwendlichen, in der Mitte nur mit leichten Stichen derart auf der Grundform befestigt, daß er den Raum von 3 bis 5 cm, vom unteren Rand gerechnet, umschließt. Dieser Raum ist zur Aufnahme der Fadenrollen und des Fingerhutes bestimmt. Für letzteren wird ein besonderer kleiner Ring genäht und neben dem Raum für den Faden auf der Grundform befestigt.

Nun näht man auf dem unteren Rand des Leders 2 Flanellläppchen fest, von denen eines mit Steck-, das andere mit Sicherheitsnadeln besteckt wird.

Auf der anderen Seite der Abteilung für Faden wird rechts und links ein Stückchen Band aufgenäht, durch welches die Schere geschoben wird.

Direkt an den Raum für die Schere anschließend wird in der Mitte der Grundform ein Stückchen Band so angenäht, daß gerade ein Briefchen Nähnadeln hindurch geht. Jetzt rollt man den Streifen zusammen, bringt am geeigneten Platz einen Knopf, an der spitzen Seite, die überschlagen wird, ein Schlingchen von Seide an, wodurch die Rolle geschlossen wird.




Osterarbeiten.

Brotkörbchen. Kleine Ostergeschenke finden immer mehr Verbreitung bei uns, natürlich müssen sie dem Charakter des Festes angepaßt sein und Bezug auf den Osterhasen haben.

Brotkörbchen.

Unsere Abbildung zeigt ein nettes Brotkörbchen, das sich, mit Ostereiern und etwas Blumenschmuck gefüllt, für den Frühstückstisch am Ostermorgen eignen würde. Das Körbchen ist Flechtwerk, teils fest, teils durchbrochen, mit weißem Email lackiert. Der obere Rand ist, etwa 5 cm breit, mit einem Streifen aus hellblauem Leinen nach außen und innen bekleidet, die äußere Seite desselben mit Stickerei und Festons aus weißem Leinengarn verziert, Plattstich, schwedischer Stich, auch eine dichte Kreuzstichbordüre genügt schon. Der Streifen ist zum Abnehmen und Waschen eingerichtet und in einem Stück gearbeitet; man thut aber gut, ihn innen an den Ecken etwas einzuschneiden und die Teile mit einem Stich übereinander zu heften, um sie hübsch glatt zu bekommen. Zwei dunkler blaue Bandrosetten dienen als Seitenabschluß.

Silhouetten für Ostereier. Die beigefügten kleinen Bilder sind zur Verzierung von Ostereiern bestimmt. Sie sind in der leider so ganz vergessenen Silhouettenmanier aus schwarzem Papier geschnitten. Gerade in unseren Tagen, wo so viele Liebhaberkünste, zum Teil mit recht kostspieligem Material, betrieben werden, wäre es vielleicht an der Zeit, dieser hübschen, mit Unrecht abgekommenen Technik das Wort zu reden. Das Material kostet ein paar Pfennig, und was mit der Technik geleistet werden kann, hat Paul Konewka meisterhaft gezeigt. Aber auch mäßig beanlagte Menschen können damit viel hübschere und sie selbst mehr befriedigende Resultate erzielen, a!s wenn sie zum Brennstift oder gar zu Oelfärben und Pinsel greifen. Sogar Kinder von sieben bis zehn Jahren, denen ich Anleitung gab, haben allerliebste Silhouetten geschnitten. Das Papier heißt „schwarzes Körperpapier ohne Glanz“. Glänzendes schwarzes oder buntes Papier sieht nicht so fein aus, kann aber auch verwendet werden. Bei Anwendung des matten schwarzen wirkt eine kleine Aufhöhung durch Goldbronze sehr gut, die man in jedem Papierladen in Stücken bekommt und mit Wasser wie andere Aquarellfarbe auflöst. Bei vorliegenden Bildchen würde sich solche Vergoldung auf den Eiern, der Leine des Osterhasen, den Flügeln der Putten, gut machen. Man zeichnet das Bildchen auf die weiße Rückseite des Papiers und schneidet mit einer sehr feinen Schere aus, die am besten die Form der chirurgischen Scheren, lange Schenkel und kurze Schneiden, hat. Zum Aufkleben verwende man womöglich Gummiarabikum, das man in Stücken (nicht Pulver) kauft und selbst mit Wasser auflöst.

Silhouetten für Ostereier.

Ostereier mit Delfter Malerei bilden eine sehr hübsche Zierde der Ostertafel und sind ohne viel Mühe herzustellen, da die Delfter Malerei mit ihrer flüchtigen Farbenskizzierung auch von solchen Händen ausgeführt werden kann, welche mit künstlerischer Pinselführung sonst nicht viel Bescheid wissen.

Ostereier mit Delfter Malerei.

Nachdem man die Eier gekocht, sauber gereinigt und getrocknet hat, zeichnet man mit dünnen Bleistiftstrichen eine flotte Windmühle, ein Häuschen, eine Wasserfläche oder dergleichen allbekannte Delfter Motive in ihren Umrissen auf und malt diese sodann mit einer hellen blauen Wasserfarbe aus. Mit einer dunkleren, also weniger verdünnten Nuance derselben Farbe setzt man danach ohne viel abzuzirkeln die Schatten und Details ein und vertieft zuletzt mit einer dritten, noch dunkleren Farbe die schärfsten Schatten. Die kleinen Bildchen sind schnell hervorgezaubert. Man serviere die Eier in Porzellanschüsseln, die wenn möglich ebenfalls in Delfter Manier dekoriert sein sollten.

Hüllen für Ostergaben. Am nettesten ist es, wenn man diese Hüllen selbst anfertigt; Phantasie, Schönheitssinn und liebevolles Eingehen auf die Eigenart der Empfänger zaubern die reizendsten kleinen Dinge hervor. Eine Anregung finden die Leserinnen zum Verbergen von Osterüberraschungen in den folgenden Osterhüllen.

Osterkahn. Entweder schneidet man die Grundform aus Pappe und klebt die einzelnen Stücke zusammen, oder man nimmt eine kleine chinesische Bastmatte, die man kahnförmig zurecht biegt und an einem Ende mit breiter Seidenbandschleife, am anderen mit Goldschnur zusammenhält. Der geklebte Kahn muß golden bronziert und nach dem Trocknen mit Frühlingsblüten zwanglos bemalt werden. Man füllt den Pappkahn, nachdem man ein vergoldetes Brettchen als Sitz vorn befestigt und darauf ein Häschen aus Papiermaché oder Marzipan als Fährmann gesetzt hat, mit bunten Eiern, bestreut ihn mit Frühlingsblüten und setzt ihn auf eine Unterlage feingeschnittenen grünen Seidenpapiers.

Osterpüppchen. Eine cylinderförmige Pappschachtel mit übergreifendem Deckel wird innen mit der Osterüberraschnng gefüllt. Man schneidet dann aus Krepppapier ein rotes Röckchen, das man unten mit schwarzen Papierstreifen beklebt, befestigt es unten, setzt obenauf einen kleinen Puppenoberkörper und bekleidet ihn mit Mieder und Jäckchen. Der Kopf erhält ein Bauernmützchen. Eine kleine Tragkiepe wird hinten mit Goldschnur befestigt, mit Eiern und Frühlingsblumen gefüllt und ein Weidenzweig mit Kätzchen dem Osterpüppchen in die Hand gegeben. He.     

[164 b]
Allerlei Kurzweil.


Damespielaufgabe.
Von A. Stabenow in Berlin.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und gewinnt.

Rätsel.

Ein Kleines Wort nennt einen Mann,
Der einst ein großes Werk ersann;
Dann wieder nennt dasselbe Wort
Im Meere einen seichten Ort.
Und hängt man ihm noch an ein e,
Dann wird es weich und weiß wie Schnee;
Und fügst du noch ein au hinzu,
Hast einen großen Maler du!
  F. Müller-Saalfeld.


Verwandlungsrätsel.

Wermut | .**... | ....** | .**... | ...**. | ..**.. | *....* | *..*.. | .*.*.. | *...*. | Jasmin.

Mit Hilfe von neun Zwischenstufen, die alle richtige Hauptwörter sein müssen, ist Wermut in Jasmin zu verwandeln. Dabei entsteht jedes Wort dadurch aus dem vorangehenden, daß man je zwei Buchstaben durch andere ersetzt, ohne jedoch die übrigen vier Buchstaben umzustellen. Die Stelle der zu ändernden Buchstaben ist durch Sternchen angedeutet. A. St.     


Scherzrätsel.

Es schwört mir einer – Stein und Bein –
Es gebe, setzt man Zeichen ein –
Zwei Städte; welche mögen’s sein?   E. S.


Auflösung des Buchstaben-Vexierrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 4.0

 Othello.

1. Kettenring unten   das O
Schwertgriff   das t
am Buchrücken   das h
auf der Lampe liegend      das e
Teil vom Kreuz  das l
Teil vom Dolch (verkehrt)      das l
2. Kettenring   das o


Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 4.

 Blauholz, Blaukohl, Blaumeise, Blaubart, Blausäure, Blaustrumpf.

Auflösung des Silbenrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 4.

„Große Seelen dulden still.“
  (Schiller: „Don Carlos“, 1. Akt, 4. Scene.)

Auflösung der Dominoaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 4.

Zu Anfang des Spiels hatte B 40, C 51 und D 34 Augen auf seinen Steinen.


B behielt:


C behielt:

Der Gang der Partie war: I. A 2/5, B 5/4, C 4/6, D –; II. A 6/2, B 2/2, C 2/1, D 1/4; III. A 4/2, B –, C 2/0, D 0/1; IV. A 1/5, B 5/3, C 3/6, D – ; V. A 6/0, B 0/3, C –, D 3/3; VI. A 3/2 (= 98).




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Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.