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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[a]

1. Heft. Preis 10 cents. 18. Januar 1899.



Max Well & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

[b]

Inhalt.
Seite
Das Schweigen im Walde. Roman von Ludwig Ganghofer 1
Neue Heilbäder. Von Professort Dr. E. Heinrich Kisch. 15
Die Leuchten unserer Väter. Von Franz Bendt. Mit Illustrationen von A. Kiekebusch 17
Gedichte von Anna Ritter.
  Abendstunde 20
  Geheimnis 20
Fräulein Johanne. Novelle von Paul Heyse 20
Die „Frau von Auvernier“. (Mit Bildnis) 30
Die Wahrheit und die Legende über die Pariser Bastille. Von Felix Vogt 30
Blätter und Blüten: Armin bei der Hagadise. (Zu dem Bilde S. 4 und 5.) – Der Tribut. (Zu dem Bilde S. 9.) – Die Werbung. (Zu dem Bilde S. 13.) – Der Steuermann. (Zu dem Bilde S. 21.) – Junges Glück. (Zu dem Bilde S. 25.) – Nur immer bescheiden! Gedicht von Ernst Muellenbach. (Mit Abbildung.) – Anna Ritter. (Mit Bildnis.) – Das Sakramentshäuschen in der Lorenzkirche zu Nürnberg. (Zu dem Bilde S. 28 und 29.) – Deutschlands merkwürdige Bäume: die „Harfe“ in Frauenberg. (Mit Abbildung.) – Zu unseren farbigen Bildern.
Illustrationen: Ihr Lieblingsblatt. Von Fritz Steinmetz-Noris. S. 1. – Armin bei der Hagadise Von Ferd. Leeke. S. 4 und 5. – Der Stolz der Familie. Von G. S. Knowles. S. 8. – Der Tribut. Von L. Deutsch. S. 9. – Die Werbung. Von Franz v. Defregger S. 13. – Illustrationen zu dem Artikel „Die Leuchten unserer Väter“. Von A. Kiekebusch. S. 17, 18, 19. – Der Steuermann. Von G. Alaux. S. 21. – Junges Glück. Von P. Barthel. S. 25. – Das Sakramentshäuschen in der St. Lorenzkirche zu Nürnberg. Von Paul Ritter. S. 28 und 29. – Die „Frau von Auvernier“. S. 30. – Deutschlands merkwürdige Bäume: die „Harfe“ in Frauenberg. S. 34. – Nur immer bescheiden! Von C. v. Reth. S. 35. – Anna Ritter. S. 36.


Hierzu Kunstbeilage I: „Besuch der Freundin“. Von Karl Müller.




Kleine Mitteilungen.


Tierleben im Schwarzen Meere. Das Schwarze Meer ist in letzter Zeit Gegenstand von Untersuchungen der hervorragendsten russischen Gelehrten gewesen, die eine Fülle interessanter Thatsachen festgestellt haben. Wohl die interessanteste betrifft das Tierleben dieses Meeres, das einst ein abgeschlossenes Becken, mit schwachsalzigem Wasser angefüllt, darstellte. Infolge des während einer früheren Erdperiode stattgefundenen Einbruchs des Mittelländischen Meeres bildeten sich die unter dem Namen Hellespont und Bosporus bekannten Meerengen; die viel salzreicheren Wasser des Mittelländischen Meeres ergossen sich in das Becken und vernichteten jedenfalls das gesamte, einem viel weniger salzigen Wasser angepaßte Tierleben, dessen Reste auf den Boden niedersanken. Nun sollte man meinen, daß die mit dem salzigeren Wasser eingewanderten Tiere sich in dem Becken in ähnlicher Weise wie die vorherigen Bewohner verbreitet, das heißt im ganzen Becken ausgedehnt hätten. Aber dem ist nicht so.

Denn während wir aus den in den verschiedensten Tiefen – die größte Tiefe des Schwarzen Meeres beträgt etwa 2500 m – und an den verschiedensten Orten gefundenen Resten der früheren Bewohner den Schluß ziehen können, daß organisches Leben damals überall in dem Becken vorhanden war, beschränkt sich dies jetzt, von der Oberfläche ab, auf eine Tiefe von höchstens 100 Faden (etwa 183 m). Und dies hat seinen Grund darin, daß das Wasser des zum Leben für Pflanze und Tier notwendigen Sauerstoffs von dieser Tiefe an nicht allein völlig ermangelt, sondern daß es sogar mit giftigem Schwefelwasserstoff beladen ist, der, weiter nach der Tiefe zu, mehr und mehr zunimmt. Die Untersuchungen ergaben, daß in 100 Faden Tiefe der Kubikmeter Wasser 330 Kubikcentimeter, in 200 Faden 2200, in 950 Faden 5550 und in 1185 Faden 6550 Kubikcentimeter Schwefelwasserstoffgas enthält.

Woher rührt nun dies Gas?

Auch diese Frage konnte durch die angestellten Untersuchungen beantwortet werden. Wer einmal an faulen Eiern gerochen hat, wird den infernalischen Duft, den sie entwickeln, für alle Zeiten kennen. Dieser üble Geruch wird durch den Schwefelwasserstoff erzeugt, der infolge Zersetzung tierischen Eiweißes entsteht. Auch im Schwarzen Meer ist die Substanz, aus der er mit Hilfe einer Bakterie (Bacterium hydrosulfuricum ponticum) gebildet wird, Eiweiß, und zwar rührt dies von den in den oberen Wasserschichten des Schwarzen Meeres in ungeheuren Mengen lebenden Kleinwesen her. So massenhaft sie entstehen, ebenso massenhaft vergehen sie und sinken zu Boden. In andern Gewässern bilden sie die Nahrung der Bewohner der Tiefsee; hier, wo solche völlig fehlen, werden sie eine Beute der Bakterie, die aus ihnen Schwefelwasserstoff erzeugt.

Daß das Gas die obere, hundert Faden mächtige Wasserschicht nicht auch noch vergiftet, verhindert eine Unterströmung, die aus dem Mittelländischen Meer in das Becken des Schwarzen Meeres hineinführt. Beim Zusammentreffen mit diesem gesunden Wasser wird der Schwefelwasserstoff des vergifteten oxydiert und dadurch entgiftet. Ferner soll gerade in diesen Grenzschichten eine andere Bakterie sehr verbreitet sein, die eine Desinfektion des Wassers in der Weise herbeiführt, daß sie den giftigen Schwefelwasserstoff in unschädliche Verbindungen umwandelt.

Daß derartige in keinem andern Wasserbecken angetroffene Zustände haben eintreten können, erklären die russischen Gelehrten damit, daß durch die engen Meeresstraßen des Bosporus und Hellespont die Einwanderung der neuen Fauna aus dem Mittelländischen Meere nur sehr langsam vor sich gegangen ist und während dessen die Verderben bringenden Bakterien in den Tiefen, die durch den einziehenden Wasserstrom unberührt blieben, Zeit genug hatten, ihre Thätigkeit zu beginnen und das Wasser zu vergiften. –t.     


Die Sichtbarkeit der Töne und die Abbildung des Gesanges. Es ist seit langer Zeit bekannt, daß dieselben Wellenbewegungen der Luft, welche in akustischer Hinsicht die Klangwirkungen der Sprache und Musik hervorbringen, auch optisch dargestellt und zu sichtbarer Erscheinung gebracht werden können. Fast jedes teilweise gefüllte Weinglas zeigt, wenn man es am Rande mit dem benetzten Finger streicht, auf der Oberfläche der darin enthaltenen Flüssigkeit gewisse scharf begrenzte Figuren, während gleichzeitig ein bestimmter musikalischer Ton hörbar wird und mitunter zu beträchtlicher Stärke anschwillt. Ton und Bild hängen scheinbar von der Menge der im Glase befindlichen Flüssigkeit, in Wirklichkeit jedoch von der Höhe der darüber im Glase stehenden Luftsäule ab, durch deren Schwingungen sowohl die eine wie die andere Erscheinung entsteht. So wie hier giebt es noch viele andere Fälle, in denen, wenn nicht Töne, so doch Luftschwingungen durch die regelmäßige Gestalt, die sie gewissen flüssigen oder festen Körpern erteilen, sichtbar gemacht werden können, und Luftwellen und Töne sind ja in vielen Fällen eins. Um diese Erscheinung der Wissenschaft nutzbar zu machen, hat der Amerikaner H. Curtis einen Apparat erfunden, dem er die Bezeichnung Tonograph beilegte und dessen Bestimmung es ist, gesungene Töne unmittelbar aufzuzeichnen. Die betreffenden Noten werden in die eine Oeffnung eines knieförmigen Rohres, dessen andere und weitere Oeffnung nach oben gerichtet ist, unmittelbar hineingesungen und erzeugen auf einem dünnen, die obere Oeffnung des Tonographen überspannenden Häutchen die entsprechende Tonfigur. Um diesen Vorgang zu verstehen, muß man sich an die sogenannten Chladnischen Tonfiguren erinnern, die durch das Streichen eines Violinbogens am Rande einer dünnen mit feinem Sand bestreuten Platte entstehen. Die Figuren des Tonographen werden von den Luftschwingungen, welche der gesungene Ton im Rohre erzeugt und welche das Häutchen in Mitschwingung versetzen, hervorgebracht. Es ist nur nötig, auf das Häutchen eine geringe Menge eines feinen Pulvers zu schütten, welches aus getrocknetem Kochsalz und feinkörnigem Schmirgel gemischt ist. Durch die Schwingungen der Platte wird das Pulver zu einer regelmäßigen geometrischen Figur geordnet, welche genau der Tonhöhe entspricht und nach dem Verwischen in genau derselben Form und Größe wieder erscheint, so oft die gleiche Note mit derselben Reinheit wieder in das Rohr gesungen wird. Abgesehen davon, daß jeder reine Ton der Oktave ein seiner Schwingungszahl entsprechendes charakteristisches Bild ergiebt, zeigen die Tonbilder für ein geübtes Auge auch sofort an, welcher Oktave die gesungene Note angehört. Das Bild eines dreigestrichenen C ist dem eines zwei- oder eingestrichenen wohl in seinen Grundzügen ähnlich, aber entsprechend der weit höheren Schwingungszahl viel komplizierter. Indem man die Curtisschen Tonbilder mit weißfarbigem Pulver auf dem Hintergrund einer roten Membrane hervorbrachte, ließen sie sich sehr gut photographieren, und eine Sammlung solcher Tonphotographien ergiebt ein sehr anschauliches Bild des Unterschiedes zwischen den Noten verschiedener Schwingungszahl, sowie den Tönen, welche einerseits von dem geübten Organ einer Sängerin oder eines Musikers und anderseits eines Anfängers hervorgebracht werden. Ob sie aber auch, wie der Erfinder des Tonographen hofft, geradezu als Unterrichts- und Anschauungsmittel für angehende Sänger und Sängerinnen zu gebrauchen sein werden, muß dahingestellt bleiben. Jedenfalls wird es interessant sein, in Zukunft die Tonfülle, den Umfang und die Reinheit der Stimme bedeutender Sänger mit Hilfe des Tonographen aufzeichnen und mit photographischer Treue festhalten zu können. Vielleicht erleben wir es noch, daß mit der Photographie und den Zeugnissen einer angehenden Sängerin künftig auch das photographische Album ihrer Stimmmittel als Vorbedingung eines Engagements gewünscht wird. Bw.     

[c]

BESUCH DER FREUNDIN
Nach dem Gemälde von Karl Müller.

[d] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [1]

Halbheft 1.   1899.


Das Schweigen im Walde.

Roman von Ludwig Ganghofer.


1.

Die letzten Häuser verschwanden hinter Büschen und Bäumen. Aber man hörte noch den Lärm des Dorfes, den Hall verschwommener Stimmen und das Geläute einer Kirchenglocke, welche zur sonntäglichen Vesper rief. Entlang dem zerrissenen Ufer eines Wildbaches ging es noch eine Weile an Bergwiesen und zerstreuten Feldgehölzen vorüber, dann begann das schmale Sträßlein sacht zu steigen. Während die Kutsche mit langsamer


Ihr Lieblingsblatt.
Nach einer Originalzeichnung von Fritz Steinmetz-Noris.

[2] Fahrt in den von Sonnenglanz umwobenen Hochwald einlenkte, klang vom Dorfe her noch ein letzter Glockenton, als möchte das im Thal versinkende Treiben der Menschen Abschied von dem jungen Reisenden nehmen, der in Gedanken versunken hinauf in die Berge fuhr.

Die steigende Straße verlor sich in immer dichteren Wald. Der klomm zur Rechten gegen die Hochalmen empor, zur Linken senkte er sich in eine Schlucht, aus deren Tiefe sich die Stimme des Wildbaches noch wie leises Murmeln vernehmen ließ. Unter den Bäumen war Stille, als wollte der Wald nach der drückenden Hitze des Julitages schon lange vor Abend in Schlummer sinken. Man hörte nur den müden Hufschlag und das Räderknirschen im groben Kies der Straße.

Vor die schwerfällige Landkutsche waren zwei Maultiere gespannt. Sie gingen den ihnen wohlbekannten Weg mit gleichmäßigem Schritt und machten dem alten, weißbärtigen Bauernknecht, der sie zu lenken hatte, nur geringe Mühe. Er konnte die Zügel lässig im Schoße halten und ab und zu ein kleines Nickerchen erledigen, aus dem ihn das Holpern des eine Wasserrinne passierenden Wagens immer wieder aufrüttelte. Wurde er munter, so versuchte er mit seinem Nachbar auf dem Bocksitz ein Gespräch anzuknüpfen, verstummte aber bald wieder, eingeschüchtert durch das vornehm ablehnende „Ach?“ und „So!“, das er sich mit all seiner gutmütigen Redseligkeit als einzige Antwort verdiente. Man sah diesem Nachbar den „hochherrschaftlichen Lakai“ an der würdevollen Haltung an, die er trotz der siebenstündigen Wagenfahrt noch immer bewahrte. Er trug einen Reiseanzug aus dunklem Cheviot, adrett wie nach dem Modejournal geschnitten, und ein kleines schwarzes Hütchen, unter dessen schmaler Krempe sich das peinlich frisierte Blondhaar gleich einer polierten Bernsteinschale um den Hinterkopf und über die Schläfen legte. Ein noch junges Gesicht, und hübsch, so daß es hätte gefallen können. Aber in seiner rasierten Glätte und bei dem Bestreben, stets einen wichtig ernsten Ausdruck in den Blick der graublauen, im Grunde doch recht gedankenlosen Augen zu legen, glich es dem stilvollen Antlitz eines mittelmäßig begabten Schauspielers, der seine beste Rolle außerhalb der Bühne spielt. Es lag auch, neben halber Ehrlichkeit, ein wenig Komödianterie in der Art und Weise, wie sich der Diener nach dem Fond der Kutsche umwandte, als wäre er in Sorge um das Befinden seines jungen Herrn.

„Fühlen sich Durchlaucht von der Fahrt nicht sehr ermüdet?“

Der Fürst schien nicht zu hören – wenigstens gab er keine Antwort. Regungslos, wie schlafend, und den Kopf mit dem grauen, schmucklosen Jägerhütchen ein wenig seitwärts geneigt, lag er in die Lederkissen der Kutsche geschmiegt und ließ die Hände auf der leichten Reisedecke ruhen, die um seine Kniee geschlungen war – zwei schlanke, frauenhaft gepflegte Hände, deren durchscheinende Blässe von schwerer, kaum noch überstandener Krankheit erzählte. So bleich wie diese Hände war auch das schmale, feingeschnittene Gesicht, von dessen Blässe sich das dünne Bärtchen, das die herb geschlossenen Lippen umrahmte, und der linde Flaum, der sich um Kinn und Wangen kräuselte, als tiefer Schatten abhoben. Wie der seltsame Widerspruch dieser Züge fesselte! Jede Linie so weich und milde gezeichnet, als wären diese Züge das Erbteil einer schönen Mutter, das einer Tochter geschenkt sein wollte und sich zu einem Sohn verirrte; und dennoch der Ausdruck eines klar geprägten Willens, in jedem Zug das Merkmal einer fest gefügten männlichen Natur; dazu ein Körper, schlank und sehnig aufgeschossen, dessen jugendliche Kraft durch die überstandene Krankheit nicht gebrochen, nur gefesselt schien und sich auch in der müd’ versunkenen Haltung noch verriet, mit welcher der Fürst im Wagen ruhte.

Er hielt die Augen geschlossen; doch schlief er nicht – das Leben, das in seinen Zügen spielte, verriet es. Hatte er die Lider geschlossen, weil ihn nach all dem blendenden Sonnenglanz der langen Fahrt die Augen schmerzten? Oder wollte er das Bild der Landschaft vor seinem Blick erlöschen machen, um die Bilder seiner Gedanken ungestört und klar vor seiner Seele zu schauen? Freundliche Bilder schienen das nicht zu sein! Das bittere Lächeln, das einen tiefen Zug um die Lippen schnitt, erzählte von Leiden, welche besiegt, doch nicht vergessen sind und in der Seele nachwirken wie das Brennen einer Wunde, die vernarben will.

Bei diesem Sinnen und Brüten atmete der stille, freudlose Träumer in tiefen Zügen die reine Waldluft, ihre Frische wie unbewußte Erquickung genießend.

Da unterbrach ein heller Laut die Stille der Landschaft. Ueber die Wipfel hin, von einer fernen Höhe klingend, tönte der schwebende Jodelruf einer Mädchenstimme, verschwamm in den sonnigen Lüften und weckte an den Felswänden, die der Wald verhüllte, noch ein leises Echo.

Der Fürst hörte nicht. Aber der Lakai auf dem Bocksitz spitzte die Ohren, lächelte ein wenig und fragte halblaut den Kutscher: „Giebt es hier Sennerinnen?“

„No freilich! Viere oder fünfe müssen herinn sein im Gaisthal. Und eine is dabei … vor der muß man ’s Hütl ziehen. Die Burgi von der Tillfußer Alm … was wahr is, muß wahr sein … aber das is schon ein bildsaubers Madl.“

„Die Tillfußer Alm? Wo liegt die?“

„Gleich dem Jagdhaus vor der Nasen, auf hundert Schritt!“

Der Wagen rollte aus dem dicht geschlossenen Wald auf eine offene Höhe hinaus, und der Kutscher deutete mit der Peitsche. „Da schauen S’ her! da kann man ’s ganze Gaisthal überschauen, drei Stund weit naus bis gegen Ehrwald.“

Hastig wandte sich der Lakai und sprach in den Wagen zurück: „Bitte, Durchlaucht, von dieser Stelle kann man das ganze Jagdgebiet übersehen.“

Der Fürst schlug die Augen auf – große, dunkle Augen von schwimmendem Glanz – und erhob sich im Wagen, den der Kutscher auf einen Wink des Lakaien angehalten hatte.

Beim Anblick dieser weitgedehnten, in all ihrer wundersamen Größe doch so ruhigen Landschaft stieg eine warme Röte in die bleichen Wangen des Fürsten. Es war aber auch ein Bild, das einem für Schönheit der Natur empfänglichen Menschen die Seele mit Staunen erfüllen mußte.

Zu Füßen der Straße zog sich ein schmales Hochthal mit fast ebener Sohle bis in weite Ferne, kaum merklich gewunden, eine einzige große Linie, gezeichnet von der weitausholenden Hand des Schöpfers. Durch das lange Thal hin schlängelt sich die Gaisthaler Ache, in enggedrängtem Bette aus- und einbiegend um vorspringende Felsen und Waldecken, bald grünlich schimmernd bei ruhigem Gefäll, bald wieder blitzend in der Sonne und zersprudelt zu weißem Schaum. Das ganze Thal entlang reiht sich zur Linken ein Felskoloß an den anderen; neben der ungestüm aufstrebenden „Munde“ erhebt sich die wuchtige „Hochwand“, hinter dem klobigen „Igelstein“ drängt sich der steile „Tejakopf“ hervor, und den wirkungsvollen Abschluß bildet die „Sonnenspitze“ mit ihrer schlanken, auf breitem Sockel ruhenden Pyramide. Von dunklem Blau umschleierte Kare schneiden in den Leib der steinernen Riesen ein, und über die steil gesenkten Felsenrippen klettern die Fichtenwälder empor als schmale Zungen und verlieren sich mit einsam vorgeschobenen Bäumen zwischen die Latschenfelder, welche die Brust der Berge umhängen wie grüne Sammetverbrämung. Verstaubter Schnee, den immerwährender Schatten auch gegen die Sonne des Juli schützte, füllt mit zerrissenen Formen alle tieferen Buchten im Gestein, und von ihm aus ziehen, den lebenden Wald zersprengend, die Lawinengassen nieder mit verwüstetem Gehäng. Gerade der Stelle zu Füßen, auf welcher der Wagen hielt, lagen Hunderte von gebrochenen Stämmen wirr über den Bach geschleudert – doch in der Tiefe sah dieser zerstörte Wald sich an wie Spielzeug, das Kinderhände im Uebermut durcheinander geworfen. Aus diesem Wirrsal ragte eine seltsame Rute hervor: eine gewaltige, wohl hundertjährige Fichte, die eine Lawine aus dem Grund gerissen, durch die Luft gewirbelt und mit dem Gipfel wieder in die Erde gebohrt hatte, so daß der Stamm mit seinem Wurzelwerk zum Himmel ragte.

Gegenüber diesem ernsten Bild des Schattens lag, von goldnem Schimmer umwoben, die Sonnenseite des Thales. Ueppig grünende Wälder wechselten mit blumigen Almgehängen. Sanft verschwommen klangen die Glocken der weidenden Rinder von den Höhen nieder, und auf den lichtgrünen Weideflächen erkannte man die zerstreuten Tiere der Herde als helle, bewegliche Punkte. Ueber den Almen lagen wieder die Wälder, aus denen sacht gerundete, nur selten von einer kahlen Wand durchschnittene Kuppen aufwärtsstiegen; und wie die Welt verschließend, so stolz und steil, erhob sich über diese grünen Wellen [3] der gezahnte, stundenlange Grat des Wettersteingebirges, im Glanz der Sonne wie ein goldenes Gebild erscheinend. Je weiter und weiter das sich hinzog, desto blauer tönten sich die Felsen, so daß sie in der Ferne mit der golddurchwobenen Farbe des Himmels fast in eins zerflossen.

„Wie schön!“ Tief atmend hatte der Fürst dieses Wort vor sich hingesprochen; und als die Kutsche über die leicht fallende Straße niederrollte, lag er nicht mehr mit stillem Brüten in die Kissen des Wagens versunken, sondern schickte in lebhafter Achtsamkeit die Augen nach allen Seiten auf die Reise.

Eine Weile führte der Weg zwischen einem latschenbewachsenen Hang und dem Ufer der Ache dahin, nun wieder durch schütteres Gehölz und dann im Bogen über eine weite Blöße gegen ein Waldplateau empor, in dessen Mitte, wie aufsteigender Rauch verkündete, das von mächtigen Fichten umschützte Jagdhaus stehen mußte. Der Fürst beugte sich aus dem Wagen, um besseren Ueberblick zu haben – er schien gespannt auf das Jägerheim, das ihm die Fürsorge eines Freundes in dieser Bergeinsamkeit erworben und bereitet hatte. Als sich die Kutsche einem aus Steinen am Waldsaum erbauten Stalle näherte, hörte man unter den Bäumen eine erregte Männerstimme rufen:

„Er kommt! Er kommt!“

Der Fürst lächelte. Da waren wohl Vorbereitungen für einen feierlichen Empfang getroffen?

Etwa hundert Schritte ging der Weg noch durch schattigen Hochwald, dann traten die Bäume auseinander, im Kreis das sanft geneigte, von heller Sonne überglänzte Weidefeld der Tillfußer Alm umschließend. Inmitten des Feldes lag eine steinerne Sennhütte mit rauchendem Schindeldach – und vor der Thür der Hütte stand mit gekreuzten Armen eine junge Sennerin, die dem anfahrenden Wagen neugierig entgegenblickte.

Der Kutscher stieß den Lakai mit dem Ellbogen an und blinzelte gegen die Hütte hinunter. Martin reckte den Hals, doch eines der Jägerhäuschen, welche dicht neben dem Wege standen, verdeckte ihm die Aussicht.

Kleine Fähnchen mit den tiroler Farben schmückten die Giebel der Jägerhütten, eine Flagge wehte auf dem Dach des größeren Fremdenhauses, und ein hoher, von grüner Fichtenguirlande umschlungener Mast, auf welchem zwischen der deutschen und der österreichischen Fahne eine Flagge mit den Farben des fürstlichen Hauses flatterte, erhob sich vor dem Staketenzaun, der den Hofraum des großen, zweistöckigen Jagdhauses umschloß. Auf einem das Almfeld überblickenden Hügel ruhend und angelehnt an den bergwärts steigenden Fichtenwald, grüßte das schmucke, mit rötlichem Zirbenholz verschalte Gebäude freundlich seinem jungen Herrn entgegen, leuchtend in der Sonne, mit blinkenden Fenstern und halb versunken in einen gutgemeinten, aber nicht besonders zierlich geratenen Aufputz von Kränzen und Guirlanden, an denen in dicken Büscheln die roten Tannenzapfen baumelten.

Neben der Hausthür hatten in schmucker Feiertagstracht fünf Jäger Aufstellung genommen, und vor ihnen, wie ein Korporal vor seinen Rekruten, stand der Förster, dessen Rang nicht nur das goldene Emblem auf dem Joppenkragen, sondern auch der würdige Ernst in Haltung und Miene erkennen ließ – eine klobig stramme Gestalt mit breiten Schultern, ein derbes Gesicht mit rötlich gekraustem Vollbart und mit braunen Augen, gutmütig wie Kinderaugen; doch ein paar verdächtig angeschwollene Aederchen an Stirn und Schläfen ließen vermuten, daß der Förster zeitweilig an „gachen Hitzen“ zu leiden hatte.

Als die Kutsche in den Hofraum einfuhr, warf der Förster noch einen musternden Blick über die Jäger, welche die Köpfe entblößten, dann schwang er den Hut und rief mit einer Stimme, welche heiser gegen seine Aufregung kämpfte: „Unser neuer, hochverehrter Jagdherr, Seine Duhrlaucht Fürst Heinrich Ettingen-Bernegg, er lebe hoch!“

Die Stimmen der Jäger fielen ein. Nur ein einziger von ihnen schwieg und blickte dem anfahrenden Wagen gleichgültig entgegen: doch als er den Fürsten sah, streckte sich seine Gestalt, und der Blick seiner Augen schärfte sich, als gäbe ihm der Anblick seines jungen Herrn zu denken.

„Hoch! Hoch!“ klangen die Stimmen der anderen. Dann kam noch ein unerwarteter Nachklang, drunten bei der Sennhütte, hell wie der Ton eines Silberglöckleins: „Hooooch!“ Und diesem Ruf folgte ein Jauchzer, der hinaufkletterte bis in die höchste Stimmlage einer kräftigen Mädchenkehle.

Die Jäger schmunzelten, während der Förster etwas aus der Fassung geriet, denn er schien nicht recht zu wissen, ob diese programmwidrige Zugabe zur Empfangsfeierlichkeit ernst oder spöttisch gemeint war. Aber der Fürst lächelte, und freundlich grüßend nickte er der Sennerin zu, welche kichernd um die Ecke der Almhütte verschwand.

Der Lakai war vom Bock gesprungen und hatte den Wagenschlag geöffnet.

Der Fürst stieg aus, und nun sah man erst, wie kräftig und schlank er gewachsen war. Der schlichte Jägeranzug aus schottischem Loden, mit kurzen Bundhosen und hohen braunen Schnürschuhen, paßte kleidsam zu dieser jugendlichen Gestalt, aus der alle Schwäche und Ermüdung plötzlich verflogen schien. Er bot dem Förster die Hand. „Ich danke Ihnen! Das ist ein lieber Empfang, den Sie mir bereitet haben!“ Freundlich bestaunte er den etwas plump geratenen Schmuck des Hauses. „Und wie hübsch Ihnen das gelungen ist! Wirklich, Sie haben mir die Ankunft im Jagdhaus zu einer Freude gemacht.“

Der Förster bekam ein Gesicht so rot wie ein Krebs, der im besten Kochen ist. „Is’s wahr? G’fallt’s Ihnen? No, Gott sei Dank! Da is mir ein ganzer Stein von der Seel’! Denn daß ich’s g’rad’weg raussag’ … auf d’ letzt hab ich schon selber ein bißl g’forchten, es g’fallt Ihnen net. Unsereins versteht sich halt schlecht auf solchene Deggerazionsg’schichten … P’lagt haben wir uns freilich g’nug, aber ang’stellt haben wir uns alle miteinander wie der Holzknecht, wenn er ein Grillenhäusl macht! Aber Gott sei Dank … weil’s Ihnen nur g’fallt!“ Er nahm die Hand des Fürsten in den Schraubstock seiner Fäuste. „Und da sag’ ich halt jetzt Grüßgott und Weidmanns Heil, Herr Fürst! Jetzt lassen Sie’s Ihnen halt gut gehn bei uns da heraußen! Wissen S’, wir haben uns schon verzählen lassen, wie schwer krank als S’ g’wesen sind … ja, meiner Seel, und ein bißl g’ring schauen S’ auch noch aus am Leib … wie ein Hirscherl, das mit knapper Not über ein’ schiechen Winter nüber g’rutscht is!“

Der Lakai warf einen erschrockenen Blick auf seinen Herrn.

Der aber betrachtete den Förster mit offenem Wohlgefallen.

„Aber passen S’ nur auf, Duhrlaucht, unser Lüftl da heraußen, das richt’ Ihnen schon wieder z’samm auf’n Glanz!“

Der Fürst lächelte. „Ja, ich merk’ es schon jetzt: ich werde mich wohlfühlen hier! Die Luft, in welcher Sie sich so kerngesund ausgewachsen haben, wird auch mir bekommen!“ Er gab dem Lakai einen Wink, ins Haus zu treten. „Aber nun will ich meine Jäger kennenlernen. Ich bitte, mein lieber … wie heißen Sie, Herr Förster?“

„Kluibenschädl!“

Der Fürst schien nicht zu verstehen. „Wie, bitte?“

Verlegen schwieg der Förster, und sein rotes Gesicht wurde noch röter. Dann platzte er heraus: „Wenn Duhrlaucht nix dagegen haben … ich heiß halt einmal Kluibenschädl! Da is nix dran z’ ändern!“

Der Fürst konnte nur schwer seinen höflichen Ernst bewahren. „Mein Ohr ist nicht gewöhnt an die hier üblichen Ausdrücke und Namen,“ sagte er, „verzeihen Sie also, Herr Förster, wenn ich nicht gleich verstanden habe.“

„Klui–ben–schädl!“ buchstabierte mit etwas gereizter Deutlichkeit der Förster, dem die Adern an den Schläfen schwollen.

„Jetzt hab’ ich verstanden!“ Erheitert bot Ettingen dem Förster die Hand. „Aber wollen Sie nun die Güte haben, mir die Jäger vorzustellen?“

Der Förster trat vor seine Leute hin. „Bitte, Duhrlaucht … die ersten zwei, das sind der Kassian Birmoser und der Krispin Ruef, die zwei Jäger von Leutasch draußen. Der dritte da, das is der Sylvester Beinößl, der Jäger von Ehrwald drunten. Und die letzten, das sind die zwei Tillfußer Jäger, der Toni Mazegger und der Praxmaler-Pepperl.“

Der Fürst hatte jedem Jäger die Hand gereicht und jeden mit prüfendem Blick betrachtet. Mazegger und Praxmaler schienen sein besonderes Interesse zu erwecken. Die beiden standen nebeneinander, wie unfreundlicher Schatten neben warmer, gesunder Helle. Mazegger, der jüngste von allen, mochte etwa dreiundzwanzig Jahre zählen. Recht auffällig unterschied sich seine

[4]

Armin bei der Seherin vor der Entscheidungsschlacht mit Germanicus.
Nach einer Originalzeichnung von Ferd. Leeke.

[5] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [6] Gestalt von dem derben, bäuerischen Typus der anderen. Fast glich er einem Städter, der sich mit gesuchter Echtheit in die malerische Tracht der Hochlandsjäger gekleidet hat. Das hagere, von dunklem Flaum umkräuselte Gesicht war sonnverbrannt wie die Gesichter der anderen, und trotzdem erschien es blaß und ohne Blut. Ein Zug von unwilliger Verschlossenheit lag um den scharfgezeichneten Mund, und unter dem Schatten, den die schwarzen, in dicken Büscheln vorfallenden Haare über die Stirne warfen, brannten die tiefliegenden Augen mit düsterem Feuer.

„Sind Sie hier in der Gegend geboren?“ fragte der Fürst, dem der südländische Typus des jungen Jägers auffiel.

„Nein, Durchlaucht. Ich bin in der Nähe von Trient daheim,“ erwiderte Mazegger in einem Hochdeutsch von kaum merklicher Dialektfarbe.

„Und Ihre Eltern? Was sind die?“

Dem Jäger schienen die Fragen seines Herrn nicht willkommen zu sein; er gab seine Antwort zögernd, während er vor sich niederblickte und den Hut zwischen den Händen zerknüllte. „Mein Vater war Lehrer. Aber als man bei uns im Dorf die deutsche Schule aufhob und die italienische einführte, wurde mein Vater abgesetzt. Das hat er nicht überlebt … er ist ins Wasser gesprungen.“

Der Fürst trat einen Schritt zurück, peinlich berührt. Aber sein Mitgefühl war stärker als das Befremden, das der gallige Ton des Jägers in ihm geweckt hatte. „Sie haben Trauriges erlebt … das trägt sich schwer! Und deshalb verließen Sie Ihre Heimat?“

Eine Furche grub sich zwischen Mazeggers schwarze Brauen. „Nach dem Tod meines Vaters hab’ ich nicht weiterstudieren können und bin zu Verwandten gekommen, die draußen in der Leutasch wohnen. Ich hab’ verdienen müssen, und die zwei letzten Jahre, solang’ der Herr Herzog die Jagd noch hatte, hab’ ich immer Aushilfsdienste geleistet. Vor sechs Wochen, wie die Jagd an Durchlaucht übergegangen ist, bin ich von Graf Sternfeldt als Jäger angestellt worden.“ Während er diese letzten Worte eintönig hersagte, musterten seine schwarzen Augen den Fürsten mit einem halb scheuen, halb feindseligen Blick – wie man einen Menschen betrachtet, von dem man in unbehaglicher Ahnung eine Gefahr befürchtet.

Ettingen schien das Verletzende dieses Blickes zu fühlen, denn leichte Röte glitt ihm über die Stirn. Doch diese Regung überwindend, sagte er freundlich: „Sie sollen es gut bei mir haben. Und ich hoffe, Ihr Beruf macht Ihnen Freude und läßt es Sie verschmerzen, daß Sie die Schule aufgeben mußten.“

Mazegger schwieg. Und Förster Kluibenschädl, der wohl die unliebsame Stimmung überbrücken wollte, sagte lachend: „Mir scheint eher, die Schul’ hat ihn aufgeben, und net er die Schul’! ’s Parieren is bei ihm net die stärkste Seiten! Aber er wird sich schon machen mit der Zeit!“ Das war gewiß gut gemeint, aber aus Mazeggers Augen huschte ein zorniger Blick über das lachende Gesicht des Försters. Doch dieser fuhr unbeirrt fort: „Ja, ja! Wenn er möcht’, der Toni, könnt’ er sich zu ei’m ganz tüchtigen Jäger auswachsen. Wenigstens hätt’ er ’s beste Beispiel an seinem Tillfußer Kameraden. Denn unser Praxmaler-Pepperl ist ein Jäger … allen Respekt!“

„Aber … aber … Herr Förstner!“ stotterte Praxmaler so stolz verlegen wie ein Kind, das der Lehrer vor der ganzen Schule lobt. Die Fußspitzen nach einwärts drehend, wand er die Schultern und blickte verwirrt zu seinem Herrn auf.

Mit wohlgefälligem Blick ruhten die Augen des Fürsten auf dem in seiner Gesundheit anheimelnden Bild des Jägers, der ein paar Jahre älter als Mazegger sein mochte. Eine Gestalt wie aus Eisen gefügt, strotzend von Kraft und Jugendfülle. Die von den kurzen Lederhosen freigelassenen braunen Kniee waren durchrissen von Narben, welche verrieten, daß Praxmaler beim Klettern über die Felsen um seine Haut nicht sehr besorgt war. Das runde, dunkelgebräunte Gesicht war an Kinn und Wangen rasiert, und auf der vollen Oberlippe, die bei stetem Lächeln die gesunden Zähne sehen ließ, saß ein zausiges Blondbärtchen. Das Hübscheste an diesem Gesicht waren die hellblauen Augen mit ihrem klaren, strahlenden Glanz. Das aschblonde, schimmerige Haar umhüllte den Kopf mit hundert winzigen Ringeln – „Kreuzerschneckerln“ nennt sie ein Volkswort – und das war anzusehen, als hätte man dem Praxmaler-Pepperl ein gekraustes Lammfell über die Ohren gestülpt.

Immer verlegener wurde der Jäger, je länger ihn der Fürst mit schweigendem Lächeln betrachtete. Und schließlich, als könnte er diese stumme Musterung nicht länger ertragen, stotterte er: „Herr Fürst … wenn S’ morgen gleich ein’ guten Gamsbock schießen möchten … ich weiß ein paar sichere! Mögen S’? Ja?“

„Ich danke, lieber Praxmaler! Doch mit dem Jagen hat es noch Zeit. Vorerst muß ich mich hier in Ruhe einrichten. Aber wenn ich meinen ersten Birschgang mache, sollen Sie mich führen! Ja? Bis dahin … auf Wiedersehen! Und macht euch alle heute einen vergnügten Abend, laßt euch aus Küche und Keller geben, was euch schmeckt! Adieu!“ Grüßend lüftete Ettingen den Hut und schritt, vom Förster begleitet, zur Thüre des Jagdhauses. Während sie über die steinerne Treppe zum Flur hinaufstiegen, fragte er: „Haben Sie Familie, Herr Förster?“

Kluibenschädl machte ein erschrockenes Gesicht. „Familli? Ich? Und so ein unguts Frauenzimmer im Haus? Na na! Da bleib’ ich schon lieber allein! Die Weiberleut! Auf die bin ich gar net gut zum Reden! Bloß hinschauen darf so ein Frauenzimmer auf ein g’sund’s Platz’l, so schießt schon ein Unkraut in d’ Höh’, und ein braves Mannsbild stolpert drüber! Na na! Da mag ich nix wissen davon! Und wenn S’ g’scheit sind, Duhrlaucht, machen Sie’s g’rad’ so! Hüten S’ Ihre liebe, kostbare Jugend vor die Weiberleut … man hat net viel mehr davon als Wehdam und Aerger! Ja, is schon wahr!“ Der Förster lachte mit breitem Behagen.

Schweigend wandte der Fürst sich ab und blickte von der Schwelle hinaus über Wald und Berge.

„Hier, Duhrlaucht,“ sagte Kluibenschädl, der im Flur des Jagdhauses die erste Thüre geöffnet hatte, „da hat der Herr Kammerdiener sein Stüberl.“

Der Fürst nickte zerstreut und warf einen flüchtigen Blick in das kleine Zimmer.

„Und hier is die G’schirrkammer!“ Der Förster öffnete die gegenüberliegende Thür; man sah in einen weißgetünchten Raum, welcher rings um die Wände bestellt war mit Schränken und weißen Geschirrregalen. An der nächsten Thüre ging Kluibenschädl vorüber, ohne die Klinke zu berühren. „Da schlaft die Jungfer Köchin! Und da nebendran, das is die Holzleg’, dahinter is der Hausmagd ihr Kammerl … und die ander Thür da … man merkt’s schon am feinen G’rücherl … die führt in die Kuchl. Die fürstlichen Zimmer … bitte, Duhrlaucht, sich hinaufbemühen zu wollen … die liegen droben im ersten Stock.“

Sie stiegen über die Treppe hinauf, und der Förster öffnete die zunächst liegende Thüre. Das wäre das Gastzimmer, erklärte er, in welchem Graf Sternfeldt die drei Wochen gewohnt hätte, um den ganzen Betrieb der neu übernommenen Jagd zu ordnen und das Jagdhaus einzurichten. Es war eine freundliche Stube, in ihrer Ausstattung allerdings nur für den Geschmack eines Mannes berechnet, der keine besonderen Ansprüche macht.

Nun ging’s zum Speisezimmer – ein großer, dreifensteriger Raum, anheimelnd in seiner hellen, blinkenden Frische. Die schneeweiße Kalkmauer war rings um das Zimmer bis über die halbe Wandhöhe mit rötlichem Zirbenholz getäfelt. Aus dem gleichen Holz waren die Möbel angefertigt. Um zwei Ecken zog sich – die Einrichtung einer Bauernstube nachahmend – eine massive Holzbank, vor welcher zwei Kreuztische standen, mit rotgestickten Leinwanddecken belegt. Eine runde Bank umgab den weißen tiroler Ofen, und in einer Wandecke war ein „Herrgottswinkelchen“ geschaffen, dessen Kruzifix mit grünen Latschenzweigen und frisch blühenden Alpenrosen geschmückt war.

„Wie hübsch und gemütlich!“ Die Hände in die Mufftaschen der Jagdbluse vergrabend, ließ sich der Fürst auf die Ofenbank nieder. „Hier muß ich mich ja behaglich fühlen!“ Heiter begann er mit dem Förster zu plaudern, bis ihr Gespräch durch den Kammerdiener Martin unterbrochen wurde, welcher fragen kam, für welche Stunde Durchlaucht das Diner befehle. Der Fürst sah nach der Uhr. „In zwei Stunden, gegen halb Acht. Ich will mich noch ein wenig in der Umgebung des Jagdhauses umsehen. Für jetzt nur eine Tasse Thee!“ Eine Weile plauderte er noch mit dem Förster, dann ließ er sich hinüberführen [7] in die „Fürstenzimmer“, wie Kluibenschädl mit nachdrücklichem Respekt betonte.

Und da gab es für den Fürsten eine Ueberraschung, die ihm Freude machte. In seinem Stadtpalais in Wien befand sich ein kleines Jagdzimmer, in dem er sich mit Vorliebe aufzuhalten pflegte – und die Einrichtung dieses Zimmers fand er fast bis in das kleinste Detail hier nachgebildet, als sollte ihm der trauliche Raum zum Willkommen sagen: Fühle dich hier zu Hause von der ersten Stunde an! Das war der gleiche Holzplafond, in hellem und dunklem Braun gehalten. Die gleiche Ledertapete mit eingepreßten Tierbildern, der gleiche Waffenschrank – sogar die beiden Jagdstücke von Snyders, die im Stadtpalais den kostbaren Wandschmuck seines Lieblingszimmers bildeten, fand er hier durch zwei treffliche Kopien ersetzt. Auch der gleiche Diwan und die gleichen, mit Seehundsfell bezogenen Lehnstühle. Nur zwei Möbelstücke des Stadtzimmers waren hier durch andere vertreten: statt des Spieltisches ein Schreibtisch, und statt eines Schrankes, der eine Sammlung Ridingerscher Holzschnitte und alter Stiche nach berühmten Jagdbildern enthielt, stand hier eine kleine Bibliothek mit ein paar hundert Bänden.

Und noch etwas war anders als in der Stadt: die Luft, welche frisch und würzig hereinströmte durch die zwei offenen Fenster, und der Ausblick, den diese boten.

An eines der Fenster war der Fürst getreten. Er blickte hinaus über Wald und Berge und preßte die Fäuste auf seine Brust, die sich wölbte unter einem tiefen, durstig trinkenden Atemzug. Lange stand er so, in ernstes Sinnen versunken, als vergliche er das Bild, das in sonnigem Frieden vor seinen Augen glänzte, mit dem Wirbel des Lebens und allem Sturm der Leidenschaft, der hinter ihm lag. Er nickte vor sich hin, und ein müdes, bitteres Lächeln zuckte um seine Lippen.

Geduldig stand der Förster neben der Thür und wartete.

Lautlose Minuten vergingen, bis ein Geräusch den Fürsten aus seinen Gedanken weckte. Verloren blickte er auf – Martin hatte das anstoßende Schlafzimmer geöffnet und sich wieder entfernt.

Der Fürst wandte sich vom Fenster. „Verzeihen Sie, lieber Förster … und ich bitte …“ die Worte versagten ihm.

Kluibenschädl wurde dunkelrot über das ganze Gesicht. „Aber Duhrlaucht, jesses na,“ stammelte er scheu und mit gedämpfter Stimme, „ich hab’ ja eh schon g’merkt, daß ich überflüssig bin, und gern hätt’ ich mich schön stad nausdruckt zur Thür … aber wie ich Duhrlaucht so sinnieren hab’ sehen, meiner Seel, da hab’ ich mich nimmer z’rühren ’traut!“

Dieses so schlicht und unbeholfen sich äußernde Zartgefühl schien den Fürsten warm zu berühren. Lächelnd reichte er dem Förster die Hand. „Sie sind ein lieber, guter Mensch! Und ich danke Ihnen für alle Mühe, die ich Ihnen heute schon verursacht habe. Morgen früh – um 9 Uhr – bitt’ ich Sie, mit mir zu frühstücken. Dann machen wir zusammen einen Orientierungsmarsch durch das Gaisthal. Ja?“

„Dank der Ehr’, Duhrlaucht! Und werde pünktlich zur Stelle sein!“

Das Gesicht des Fürsten noch mit einem scheu prüfenden Blick überhuschend, schob sich Kluibenschädl zum Zimmer hinaus. Als er draußen stand und die Thüre zugezogen hatte, spitzte er gedankenvoll die Lippen. „Psssss … mir scheint, mir scheint! Entweder ich kenn’ mich net aus, oder den hat ein Frauenzimmer in die Klupperln g’habt!“ Bedächtig griff er sich an die Nase. „Mannderl, Mannderl, das laß dir wieder zur Warnung sein!“

Draußen im Hof traf er mit dem Praxmaler-Pepperl zusammen, der um die Hausecke geschossen kam, die beiden Arme mit Weinflaschen vollgepackt. „Da schauen S’, Herr Förstner!“ rief der Jäger mit Zwinkern und Schmunzeln. „Da hab’ ich was Kühls für ein hitzigs Züngerl! Den trag’ ich nunter zu der Burgi … die andern sind schon drunten … Da müssen S’ mithelfen!“

„Dank schön!“ erwiderte Kluibenschädl mit Würde. „Machts eure Dummheiten allein! Und beim Weintrinken, da bin ich Filosoff … das heißt auf deutsch: ein Freund der stillen Genüsse.“ Sprach’s, zog dem Praxmaler-Pepperl eine Flasche unter dem Arm hervor und ging der nächsten Jägerhütte zu.

Praxmaler lachte und eilte zur Sennhütte hinunter. Man hörte das laute Hallo, mit dem er von seinen Kameraden empfangen wurde.

Eine Weile später trat der Fürst aus der Thür des Jagdhauses. Als er die Stimmen hörte, die von der Sennhütte heraufklangen, lehnte er sich mit den Armen über den Zaun und lauschte eine Weile dem lustiger als harmonisch klingenden Gesang.

„Glückliche Menschen! Ohne Wunsch und ohne Sorgen!“ Müd’ lächelnd murmelte der Fürst diese Worte vor sich hin und wanderte langsam über den Fahrweg hinunter und durch den schmalen Waldstreif, der das Almfeld umschloß. Er kam zu einer weiten Blöße, die schon im Schatten lag; doch durch die Lücken, welche sich zwischen den Wipfeln in den Waldkamm senkten, warf die Sonne noch lange, schimmernde Goldbänder über das Weideland und die jungen Fichten hin. Weiße Kühe mit leise bimmelnden Glocken zogen weidend durch das niedere Gesträuch, andere lagen zerstreut im Gras und wandten nur träg’ die Köpfe, wenn der einsame Spaziergänger an ihnen vorüberschritt.

Ziellosen Ganges wanderte Ettingen über die Lichtung, bald mit stillen Augen die klare Schönheit des Abends und der leuchtenden Lüfte trinkend, bald wieder versunken in brütende Gedanken, die ihn der Umgebung und des Weges nicht achten ließen.

Auf lindem Rasen schreitend, merkte er nicht, daß er den schmalen Pfad verlor und aus farbiger Dämmerhelle in tieferen Schatten trat. Als er, aus seinem Brüten erwachend, einmal aufblickte, sah er, daß er mitten im Hochwald stand, der eine Strecke sich eben hinzog und dann sacht zu steigen begann.

„Wie still dieser Wald! Wie schön in seinem Schweigen!“

Zwischen den Wurzeln einer mächtigen Fichte ließ sich der Einsame zur Ruhe nieder. So saß er still, den Kopf an den Stamm gelehnt, die Hände um das Knie geschlungen. Lächelnd, im Genusse der Ruhe, die auch seine Seele umfing, staunte er mit träumenden Augen hinein in dieses wundersame Waldesschweigen. Kein Halm zu seinen Füßen, kein Zweig zu seinen Häupten bewegte sich, auch nicht der leiseste Lufthauch atmete durch den Wald. Stark und ruhig, mit schlankem und ungeschädigtem Wuchse, stiegen die hundertjährigen Bäume zum Himmel auf, jeder ein König in seiner sturmerprobten Kraft. Alle kleinen, niederen Gewächse waren verkümmert und gestorben im Schatten dieser Großen; sie allein bestanden, und bescheidenes Moos nur webte zwischen ihren weitgespannten Wurzeln seinen grünen Sammet über Grund und Steine. Sogar vom eigenen Leibe hatten die Riesen alle niedrigstehenden Aeste abgestoßen und gesundes, saftiges Leben nur den strebenden Zweigen bewahrt, die sich aufwärtsstreckten bis zur Höhe des Lichtes. Das flutete goldleuchtend um die Wipfel her, ließ selten einen verlorenen Schimmer niedergleiten in den Schatten, der zwischen den braunen Stämmen lag, und dort nur, wo der Grund zu steigen anfing, brach es, einer Lichtung folgend, mit breiter, brennender Welle quer durch den Wald.

„Wer das so könnte wie der Wald: alles Schwächliche und Niedrige von sich abstoßen, nur bestehen lassen, was stark ist und gesund – so stolz und aufrecht hinaussteigen über den Schatten der Tiefe und die Helle suchen, die hohen reinen Lüfte! Wer das so könnte! …“

Langsam glitt der Blick des einsamen Träumers über einen der Stämme empor zum grünen Wipfel, der sich in der Sonne badete. Da huschte pfeilschnell ein kleiner Schatten durch den Sonnenglanz, in der Höhe schwankte ein Zweig, wiegte sich eine Weile sacht und kam wieder in Ruhe. Ein paarmal ließ sich ein leises Schnalzen vernehmen, und dann schallte ein süßer Vogelruf durch das Schweigen des Waldes. Nach kurzer Stille wiederholte sich der Ruf, und spielend kam der Vogel über die Zweige niedergeflattert, immer tiefer, bis zu den dürren Stümpfen der abgestorbenen Aeste – ein grauer Vogel von der Größe einer Amsel, mit weißem Streif um die Kehle. Es war eine Ringdrossel, diese lieblichste Sängerin des Bergwaldes. Hurtig drehte sie das schlanke Körperchen, guckte mit den kleinen Aeuglein emsig nach allen Seiten und flötete immer wieder ihr schmachtendes Liedchen. Plötzlich hob sie aufmerksam das Köpfchen und streckte sich – fast im gleichen Augenblick huschte sie auch davon und schwang sich schräg hinauf in die sonnigen Wipfel. Dort, wo der rote Schein den Schatten des Waldes durchbrach,

[8]

Der Stolz der Familie.
Nach dem Aquarell von G. S. Knowles.

[9]

Der Tribut.
Nach dem Gemälde von L. Deutsch.

[10] dort oben hatte sich Geröll bewegt, wie unter dem Tritt eines Tieres.

Was kam da? Spähend neigte der Fürst das Gesicht, um zwischen den Stämmen einen Ausblick zu finden. Und da sah er’s kommen, was er in dieser verlorenen Waldeinsamkeit am wenigsten erwartet hatte – eine Reiterin! Er lächelte. „Ach, sieh doch! Mein stiller Wald hat auch sein Märchen!“

Eine Reiterin. Und welch eine seltsame! Ein junges Mädchen, nach ländlicher Art gekleidet, saß auf einem Esel, der mit roter Decke gesattelt war. Wohl führte die Reiterin einen Zügel in den Händen, doch sie hielt ihn lässig, versunken in die Betrachtung des Waldes, und das Grautier ging wie es wollte, hier ein paar Halme von der Erde zupfend, dort wieder von den Zweigspitzen der Brombeerstauden naschend, die mit wirrem Astwerk den Saum der Lichtung verschleierten. Nun trat das Tier unter den letzten Bäumen hervor in die volle Sonne, und durch eine Gasse zwischen den Stämmen konnte der Fürst die ganze Gestalt der jungen Reiterin gewahren, deren Haupt und Schultern er umschimmert sah vom Feuer des Abendlichtes. Er lächelte. „So könnte ein Märchendichter die Bergfee schildern, wie sie aus den Felsen tritt, umstrahlt von dem gleißenden Goldglanz, der geheimnisvoll aus den Tiefen des geöffneten Berges hervorglüht.“

Doch das Gewand der „Bergfee“ war nicht aus Zindel gewoben, wie er bei den Elfen in Mode ist. Ein braunes, schlichtes Röcklein schwankte faltig bis auf die Füße nieder, an deren kleinen, aber ländlich plumpen Schuhen die Nägel blitzten. Ein rot und weiß geblümtes Leibchen, einem Mieder ähnlich, umspannte die Büste; die bauschigen Aermel des Hemdes, das mit loser Krause den Hals umschloß, verhüllten die Arme bis zu den zarten Handgelenken. Am braunen Ledergürtel hing ein kleiner Strohhut mit weißer Hahnenfeder und daneben – wie das Schulränzlein eines Bauernkindes – eine Tasche aus ungebleichter Leinwand mit roten Säumen.

Die Tochter eines Bauern? Nein! dem widersprach nicht nur der tadellose Schnitt und die saubere Frische des wohl ländlich einfachen, aber doch von auffälligem Sinn für malerische Wirkung zeugenden Gewandes. Solch einen schlanken, bei all dieser jugendlichen Kraft doch zart geformten Körper hat keine Bauerndirne – noch weniger solch eine sichere, selbstbewußte Haltung, um die eine Dame von Welt dieses Mädchen hätte beneiden können! Dazu dieses stolze Köpfchen! Das Gesicht schien von der Sonne gebräunt, doch es hatte fein geformte Züge, ein rein und schön geschnittenes Profil. Das braune Haar, das im roten Glanz der Sonne wie blankes Kupfer schimmerte, war in zwei Zöpfe gebändigt, die sich wie ein schwerer Kronreif um die Stirne schlangen.

Ohne sich um das Grautier zu kümmern, blickte die Reiterin zu den leuchtenden Wipfeln auf, und für nichts anderes schien sie Augen und Sinn zu haben als für das brennende Farbenspiel der abendlichen Lüfte.

Aus diesem Schauen erwachte sie erst, als das Tier, thalabwärts schreitend, wieder in den Schatten des Waldes trat. Mit ruhiger Hand lenkte sie den Grauen zwischen den bemoosten Felsblöcken hindurch zu einer breiteren Waldgasse. Dann wieder begann sie dieses träumende Schauen, mit einem Lächeln, so innerlich und wissend, als vernähme sie aus dem Schweigen des Waldes eine Stimme, die kein anderer hörte und verstand – nur sie allein.

Das Grautier stutzte – und da gewahrte die Reiterin den Einsamen. Nicht erschrocken, nur verwundert, machte sie mit dem Zügel eine Bewegung, die das Tier zum Stehen brachte – und betrachtete den Regungslosen mit einem Blick, der zu fragen schien: Wer bist du? Was hast du in meinem Wald zu schaffen?

Und was für Augen sie hatte! Augen, groß und klar und seetief – so recht die Augen, wie sie das Märchen hat!

Der Blick dieser Augen verwirrte den schauenden Träumer. Halb sich aufrichtend griff er nach der Mütze.

Da nickte die Reiterin einen stummen Dank – unter einem Lächeln, als hätte seine Verwirrung auch ihr sich mitgeteilt – und mit leisem Zuruf brachte sie das Grautier in Gang.

Er sah ihr nach. Wie der schlanke Leib beim Auf- und Niedersteigen des Tieres sich elastisch bewegte, wie sie sich neigte und das Köpfchen bald zur Rechten und bald zur Linken beugte, um den dürren Aesten auszuweichen – wieviel Schönheit lag in dieser Bewegung! Als sie thalwärts ritt und zwischen den Stämmen schon zu verschwinden drohte, erhob sich der Fürst, um sie noch einmal zu sehen. Und jetzt verschwand sie im Dämmerschatten des tieferen Waldes. Manchmal hörte man noch einen gedämpften Tritt des Tieres, immer ferner, immer leiser – dann war wieder Schweigen im Wald.

Die Drossel schlug. Der Fürst aber hörte sie nicht. Er stand an die Fichte gelehnt und blickte der Tiefe des Waldes zu, wo es grauer und immer grauer wurde zwischen den Stämmen.

„Wo habe ich nur diese Augen schon gesehen? Wo nur? Wo?“

Er sann und forschte. Dann plötzlich fiel es ihm ein: auf einem Bild!

„Seltsam! Wie der phantastische Traum eines Künstlers sich in Wirklichkeit erfüllen kann!“

Aufatmend hob er den Blick zu den Wipfeln, deren Glanz erloschen war.

„Es dunkelt?“ fragte er sich erstaunt, als könnte er nicht begreifen, daß jetzt die Nacht beginnen sollte.

Ohne zu wissen, daß er es that, stieg er durch den grauen Wald bergaufwärts der Richtung zu, aus welcher die Reiterin gekommen war. Kaum hundert Schritte hinter der Lichtung fand er einen breiten Pfad, der zur Höhe führte – man sah im Dunkel des Waldes die steigenden Serpentinen schimmern.

„Von dort oben kam sie.“

Von der Höhe des Waldes meinte er einen Schritt zu hören. Er lauschte, aber da war’s wieder still.

„Ist jemand hier?“

Nur ein dumpfes Echo gab Antwort. Eine Weile noch stand der Fürst und lauschte. Dann stieg er den Pfad hinunter, der nach kurzer Strecke in den am Ufer des Wildbaches laufenden Thalweg einmündete. Hier stand ein Wegweiser, dessen Arm zur Höhe zeigte, von welcher der Fürst gekommen war. Mit einiger Mühe entzifferte er bei der sinkenden Dämmerung die Inschrift: „Zum Steinernen Hüttl.“

Da hörte er eine rufende Stimme: „Durchlaucht! …“

„Martin! Hier!“

Der Lakai kam atemlos gerannt.

„Gott sei Dank! Ich war schon in Sorge, daß Durchlaucht sich verirrt hätten!“

„Ich danke, Martin. Aber deine Sorge war überflüssig. Mich verirren? Hier? Das ist unmöglich. Rechts und links die Berge – man hat nur dem Bach zu folgen. Du brauchst mir ein andermal nicht wieder nachzugehen. Ich finde schon meinen Weg.“


2.

Der letzte Dämmerschein des Abends war erloschen, über dem Jagdhaus lag eine klare, sternschöne Nacht.

Im Wohnzimmer des Fürsten standen die Fenster offen, und die Lampenhelle warf lange rötliche Lichtbänder über das dunkle Almfeld hinaus. Das Gebimmel der Glocken war verstummt, die Rinder hatten sich längst zur Ruhe niedergethan, doch in Burgis Sennhütte ging es noch lustig zu – Schwatzen und Lachen wechselte mit Gesang und Zitherspiel.

Mit behaglicher Rast in einen Lehnstuhl geschmiegt, saß der junge Fürst am offenen Fenster, und während er den Rauch der Cigarette vor sich hinblies, lauschte er bald den wirren Stimmen dieses unermüdlichen Frohsinns, der durch die Nacht zu ihm heraufklang, bald wieder blickte er sinnend über die schwarzen Wipfel hinüber zu den Felswänden, die sich mit grauem Schatten emporhoben in das tiefe Stahlblau des sternhellen Himmels. Wie stark und feurig in der reinen Höhenluft diese Sterne funkelten! Und wie groß sie erschienen! Als wären es andere schönere Sterne als jene, die man dort unten sieht, in der staubigen Ebene und in der rußigen Stadt!

„Ach, die Stadt! Gott sei Dank, ich bin weit von ihr!“

Tief atmend erhob sich der Fürst und schleuderte den Rest der Cigarette aus dem Fenster.

[11] Ein paarmal wanderte er durch das Zimmer, dann setzte er sich an den Schreibtisch, um einen Brief zu beginnen, für den er das Blatt schon zurecht gelegt hatte.

 „Mein lieber, treuer, väterlicher Freund!

Ich danke Dir ehrlich und von Herzen! Und ich kann nicht schlafen gehen, bevor ich Dir das nicht gesagt habe. Als damals, nachdem das Schlimmste überstanden war, meine Aerzte befahlen: drei Monate nach dem Süden und dann ungestörte Ruhe in reiner Höhenluft! … als Du sagtest: Reise nur, und bis du wiederkommst, will ich für dich ein Flecklein Erde aussuchen, das dir gefällt und das dir Ruhe giebt! … sieh, Lieber, da wußt’ ich schon, wie treu und gut Du für mich sorgen würdest. Aber heute kam ich im Jagdhaus an und habe mehr gefunden, als ich selbst bei einer ungebührlichen Rechnung auf Deine Freundschaft erwarten konnte. Weiß Gott, ein herrlicher Fleck Erde! Welch ein stilles, trauliches Waldheim hast du mir da bereitet! Und Dank für die herzliche Absicht, mit der Du meine behagliche Stube von zu Hause hier nachgebildet hast! In ihr sitz’ ich und schreibe. Ja, Liebster, ich habe mich hier daheim gefühlt von der ersten Stunde an. O wie viel Ruh’ ist hier! Neun Stunden bis zur nächsten Stadt! So viel schöne Ruhe! Und sie beginnt auch schon zu wirken. Als ein Müder kam ich hier an, und jetzt fühl’ ich mich frisch und stillvergnügt – wirklich, ich bin ruhig! Kein Brennen meiner Wunde mehr. Wenn mich eines noch quält, so ist es nichts anderes als Bitterkeit gegen mich selbst. Kein Nachdenken über das Vergangene mehr! Nein, gedankenlos, nur von einem kalten Grauen durchrieselt, betracht’ ich all den Taumel, der mich ausgestoßen – wie ein aus tiefer Ohnmacht Erwachter den Wasserstrudel anstarrt, der ihn als einen halb Ertrunkenen ans Land geworfen hat.

Jetzt atme ich auf. Jetzt fühl’ ich mich erlöst auch von der letzten Kette dieser wahnsinnigen Leidenschaft, und weiß: jetzt bin ich frei!

Frei! Frei! Könntest Du doch dieses kleine Wort so lesen, wie ich es im Niederschreiben fühle! Frei! Frei! Und das war ich noch gestern nicht – noch weniger in den Tagen zuvor.

Ach, Liebster, diese Irrfahrtswochen im Süden, das war eine häßliche Zeit! Der Ekel schüttelte mich bis auf die Knochen – doch mitten in all dem bittern Nachgeschmack kam es mir immer wieder wie ein süßer Tropfen auf die Zunge – eine Erinnerung, die sich wie Sehnsucht fühlte! Dann fragt’ ich mich immer wieder erschrocken: lieb’ ich sie denn noch? kann ich sie denn noch lieben? Ich gab mir tausend- und aber tausendmal ein Nein zur Antwort. Aber es ließ nicht von mir! Und dazu noch diese Menschen, die mich mit ihrer cynischen Neugier immer wieder in die Unruh’ zurückstießen, kaum daß ich halbwegs zur Ruhe gekommen. Diese Begegnungen – ich sage Dir, es war wie ein Schicksal! Als hätte sich unser ganzer Kreis von zu Hause systematisch über meine Reiseroute verteilt, nur um mich zu martern – wo ich auch immer ging und stand, in Capri, Amalfi, Rom, Bordighera, Salò – überall lief mir einer über den Weg, und die erste Frage eines jeden war immer eine Frage nach ihr! Ich sage Dir, man wird in unserer guten Gesellschaft durch keine Großthat so berühmt, als wenn man sich vergißt und vom sauberen Trottoir des Lebens hinuntertappt in die Gosse.

Sogar heute früh noch, als ich in Innsbruck in den Wagen steigen wollte – wer steht vor mir? Der Edle von Sensburg! der ‚kleine süße Mucki‘ – Du weißt, wer ihn so zu rufen liebte! Dieser unausstehliche Kerl! Und seine erste Frage: ‚So allein, mein lieber Fürst?‘ Und dabei sah er sich um, als müßte er sie aus dem Hotelthor treten sehen. Ich hätte ihn mit der Faust ins Gesicht schlagen mögen – aber ich that es nur mit der Antwort: ‚Allein? Gott bewahre! Ich reise mit meinem Kammerdiener!‘ Er nahm das für einen guten Witz, und ich wurde ihn nicht los, bevor ich nicht erfahren hatte, daß er von einem Tennis-Match käme – natürlich vom Karersee, diesem allerneusten Taubenschlag à la mode – und natürlich trug er auch eigenhändig das Lederetui mit dem geheiligten Rakett. Das vertraut er seinem Bruder nicht an – als Gleichnis gesagt, denn ich weiß nicht, ob er einen hat. Und als er mir’s abgequetscht hatte, wohin ich ging, schien er auf eine Einladung zur ‚Gamsjagd‘ zu warten – er sagt natürlich nicht Gemse, sondern ‚Gams‘, immer echt, der kleine süße Mucki – aber ich ließ ihn warten und den Kutscher fahren. Doch während der ganzen Fahrt verfolgte mich dieses Kattunmustergesicht – und immer roch ich seine peau d’ Espagne – er hatte, während er mit mir sprach, den Arm auf die Wagenlehne gestützt.

Um das Parfüm loszuwerden, nahm ich mir in Leutasch eine Bauernkutsche. Aber es half nicht. Jetzt quälte mich die Erinnerung an all die Tage und Nächte, die ich mit diesem Menschen verbrachte, weil sie es als lustigen Sport betrachtete, ihren scheckigen Narren aus ihm zu machen. Ich glaube fast, daß er ihr unentbehrlicher war als ich! Ach, zum Teufel mit all diesem Ekel! Ich bin ihn doch los! Was schwatz’ ich denn noch davon! Ja, ja und ja, ich bin erlöst, bin frei! Bin es seit heute – seit ich hier bin! Wie das so kommen konnte – ich begreife es selber kaum und fühl’ es wie ein Wunder, das an mir gewirkt wurde – ich weiß nicht, durch wen. Oder geschah mir wie einer Raupe, die sich in ihrer abgestorbenen Hülle quält und windet, bis diese plötzlich von ihr abfällt? Oder kam es anders? Vielleicht hat der Wald aus seinem schönen Schweigen zu mir gesprochen: sieh her, wie ruhig und still ich bin, sei du es auch! Und ich hab’s gehört, verstanden und befolgt.

Aber was soll ich nun in der glücklich gewonnenen Freiheit mit mir beginnen? Daß mich „neue Freuden“ nicht locken, begreifst Du – ich bin ein gebranntes Kind. Aber ich habe doch noch ein Leben vor mir. Was soll ich ihm geben? Heute und für lange Wochen bin ich zufrieden mit der Ruhe, die ich hier gefunden habe. Es redet so schön, mein Schweigen im Walde! Doch wenn mich der Winter von hier verjagt? Denn bis zum ersten Schnee will ich bleiben. Was dann? Arbeit? Gewiß, Arbeit! Doch welche Arbeit? ‚Da stock’ ich schon‘ … und bei Gott, ich muß mir’s erst überlegen, was ich schreiben will.“

Er warf die Feder hin und stützte eine Weile die Stirn in beide Hände. Dann erhob er sich, wanderte durch das Zimmer und trat ans Fenster. –

Aus der Stube, die unter dem Jagdzimmer des Fürsten lag, fiel ebenfalls die Helle einer Lampe über den Hof hinaus, doch nur als matter Schein, denn am Fenster waren die Gardinen vorsichtig zugezogen.

In dieser Stube saß Martin am Tisch, auf dem eine Briefmappe aufgeschlagen war. Er hatte eine schon halbgeleerte Flasche Bordeaux vor sich stehen, schmauchte eine Cigarette seines Herrn und hielt studierend den Federstiel in der Hand.

Der Klang der Schritte, welche gleichmäßig über seinem Kopfe hin und her wanderten, ließ ihn zur Decke blicken.

„Wenn ich jetzt wüßte, was er denkt da droben, dann wüßt’ ich auch, was ich schreiben soll!“

Bedächtig blies er eine dicke Rauchwolke über den Briefbogen hin und begann mit zierlichem Schnörkel die Ueberschrift:

 „Hochverehrte Frau Baronin!
 Meine gnädigste Gönnerin!

Obwohl ich Bemerkenswertes nicht zu melden habe, erlaube mir Frau Baronin doch heute noch eine Nachricht zu senden, um kurz zu berichten, daß unsere allverehrte Durchlaucht heute nachmittag, etwas angegriffen von der langen Fahrt, aber doch bei wünschenswert gutem Gesundheitszustand, im Jagdhaus eingetroffen sind.

Selbes liegt in einer vollständig unkultivierten und öden Berggegend, was vermuten läßt, daß es Durchlaucht nicht sehr lange hier aushalten werden. Für den Komfort Seiner Durchlaucht im Jagdhause selbst haben Graf Sternfeldt leidlich gesorgt.

Dagegen befinden sich die Zimmer im Fremdenhaus und auch das einzige Gastzimmer im Fürstenhaus in einem sehr primitiven Zustand. Letzteres Zimmer, welches von den Jägern das ‚Grafenstüberl‘ genannt wird, wurde durch mehrere Wochen von Graf Sternfeldt bewohnt. Das Meublement genügt kaum [12] den bescheidensten Ansprüchen, und da bei einem Besuche der gnädigen Frau Baronin nur dieses eine Zimmer in Betracht kommen kann – Frau Baronin können doch nur im Fürstenhause selbst absteigen, auch liegt das Zimmer auf dem gleichen Flur mit den Zimmern Seiner Durchlaucht –, so werde ich einem verläßlichen Menschen in Innsbruck sofort den Auftrag geben, bis zum Eintreffen der gnädigen Frau Baronin alles Nötige zu beschaffen, damit das Zimmer vollkommen würdig des zu erwartenden Gastes gestaltet werden kann. Da diese Aenderung ohne Wissen Seiner Durchlaucht ausgeführt werden muß, bitte ich gnädige Frau Baronin unterthänigst, meine Eigenmächtigkeit Seiner Durchlaucht gegenüber zu vertreten und vielleicht die Sache so darzustellen, als hätte ich mich von der gnädigen Frau Baronin nur deshalb für diesen delikaten und vertraulichen Auftrag gewinnen lassen, weil es sich um eine freudige Ueberraschung für Seine Durchlaucht gehandelt hätte.

Sonst habe ich Wichtiges nicht zu melden. Nur noch das Eine, daß Durchlaucht heute früh in Innsbruck mit Herrn von Sensburg zusammentrafen und selben sehr ungnädig behandelten, wofür sich Herr von Sensburg in gewohntem Takt mit doppelter Liebenswürdigkeit revanchierten. Hier in dieser menschenverlassenen Wildnis sind Begegnungen, welche die gnädige Frau Baronin interessieren und möglicherweise beunruhigen könnten, durchaus nicht zu befürchten.

Doch hatten wir heute abend, bei der Vorliebe Seiner Durchlaucht für einsame Spaziergänge, bereits einen kleinen Schreck zu überstehen. Durchlaucht hatten gegen sechs Uhr das Jagdhaus verlassen, wohl um sich etwas Motion zu machen, für halb acht Uhr war das Diner befohlen, aber es wurde acht Uhr, es wurde finster …“

Martin hielt im Schreiben inne und blickte zur Decke hinauf.

Dort oben waren die hin und her wandernden Schritte verstummt. –

Der Fürst hatte sich wieder zum Schreibtisch gesetzt, um seinen Brief zu vollenden.

„Ich sinne und sinne, aber mir will die Erleuchtung nicht kommen,“ schrieb er. „Arbeit! Ja! Mich sehnt nach ihr. Und nicht nur deshalb, weil ich von Jugend auf an sie gewöhnt wurde. Ich glaube doch wohl, daß sie fürs Leben eine Notwendigkeit ist, wie Luft und Freude. Aber da seh’ ich Dich lächeln, Du liebenswürdigster aller Residenzbummler, und höre Dein paradoxes Lieblingswort: Arbeit ist ein Fluch, das hat schon die Bibel gesagt, und das ist ein kluges Buch! Aber all Deinem schlendernden dolce far niente zum Trotz weiß ich doch, daß Du im Grunde Deiner Seele anders denkst. Das ist ja überhaupt Deine Art so: anders zu sprechen, als Du denkst – nein, so gesagt wär’s eine Unhöflichkeit – ich hätte schreiben sollen: anders zu denken, als Du sprichst! Aber mir gegenüber hast Du ja immer eine Ausnahme gemacht.

Thu’ es auch jetzt! Gieb mir einen Rat! Was soll ich beginnen, um aus meinem in die Irre geratenen Leben einen Zweck zu machen? Und giebt es für mich keine Arbeit, welche Ziel und Zweck hat – gut, so will ich das Zwecklose schaffen. Aber schaffen will ich. Nur schaffen! Und hätt’ ich auch keinen besseren Dank davon als einen müden Abend und einen festen Schlaf. Doch was soll ich? Ins Regiment zurück? Noch heute, wenn Krieg in Aussicht wäre! Aber für die Parade und den bewaffneten Frieden dienen? Nein! Oder soll ich mich ins Parlament wählen lassen? Ich wüßte nicht, für welche Partei, denn was ich politisch denke, verträgt sich mit keiner. In mir mischt sich der Absolutist mit dem extremen Republikaner. Ich müßte heute mit den Junkern stimmen und morgen mit den Sozialisten! Eine parlamentarische Unmöglichkeit! Nein, ich danke! Aber Holzhacken, wörtlich und bildlich genommen, kann ich doch nicht – dazu sind meine Hände nicht robust genug. Da wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als daß ich mich auf meine Scholle setze. Seinen Acker mit Verstand bewirtschaften und seinen Besitz bei gesundem Leben erhalten, das ist doch schließlich auch eine Arbeit, die ihren redlichen Zweck hat. Und auf meinen Gütern beschäftige ich ein paar hundert Menschen! Für die als Herr zu sorgen, ihr Dasein zu einem menschlich erträglichen, nach Möglichkeit zu einem behaglichen zu machen – ist das nicht auch ein Zweck? Dazu noch ein guter? Für die große Menschheit arbeiten zu wollen, ist Donquichoterie – aber meine paar hundert Leute daheim, das ist eine Menschheit im kleinen, und für die kann ich arbeiten.

Daheim? … Aber hab’ ich denn noch ein Daheim? Mein Haus in der Stadt ist mir verleidet. Und unser schönes Bernegg? Seine Mauern sind mir tot geworden, seit das Leben erlosch, das in ihnen wirkte – seit meine Mutter starb. Ich kann mir nicht denken, wie ich dort leben soll … ich, und allein! Das wirst gerade Du mir nachfühlen können. Ich weiß doch, wie hoch Du von meiner Mutter dachtest, als sie noch lebte, und welch’ ein ehrendes Andenken Du ihr über den Tod hinaus bewahrst. Wenn ich mit Dir plaudre von ihr, wird Dein spottendes Auge ernst und Dein sarkastisches Lächeln ein anderes, das völlig Deine Züge verwandelt.

Und vor Jahren, wenn Du mir von allem Lob das Beste sagen wolltest … weißt Du es noch? … dann sagtest Du zu mir: ‚Du Sohn Deiner Mutter!‘ Das Lob war unverdient. Wie viel hat meine Mutter mich gelehrt, und wie wenig hab’ ich gelernt von ihr! Was sie aus der Tiefe ihrer Seele gab, das hab’ ich nur äußerlich angenommen, und es fiel bei der ersten stürmischen Lebensprobe wieder ab von mir, wie die Patina von einer Bronze, die in neues Feuer kommt! Diese klare, ruhige Harmonie des Lebens, dieses stete Versöhnen und Sichbescheiden, diese willensstarke Fähigkeit, in allem Unglück noch ein Glück zu erkennen und eine Freude auch noch im bittersten Weh zu finden – das war dem Wesen meiner Mutter angeboren.

Sie hatte das, wie man Augen hat, mit denen man sieht, und Sinne, mit denen man fühlt. Und all dieses Stille, Ruhige floß von ihr auf den einsamen und verschüchterten Knaben über, aus jedem Druck ihrer linden, zärtlich führenden Hand, aus jedem Blick, der mit Liebe auf mir ruhte. Aber es wurzelte nicht in meinem Herzen, es war bei mir nur ein Angelerntes und war vergessen bei der ersten verwirrenden Frage, mit der mich das Leben prüfte!

Ob es wohl auch so gekommen wäre, wenn ich die Mutter nicht verloren hätte? Nein! Nein! Ihre lebende Nähe wäre mir ein Schutz gegen jeden häßlichen Aufruhr meines Blutes gewesen. Denkst Du noch an unseren alten Suttner, der früher auf Bernegg als Förster in der einsamen Hirschau diente? Im Jähzorn mißhandelte er seine Frau und seine Kinder und machte seinen Untergebenen den Dienst zu einer Marter. Da nahm ihn meine Mutter als Wildmeister des Parkes ins Schloß – und ihre Nähe, ihr Blick verwandelten den Wüterich in einen ruhigen Menschen. Hätte meine Mutter noch gelebt, ich weiß, es wäre nie geschehen, was ich jetzt, da ich mit allem Katzenjammer einer Menschenseele von diesem Rausch ernüchtert bin, mit Fäusten hinausstoßen möchte aus meinem besudelten Leben.

Aber als dieser Irrsinn meines Herzens begann, da ahnt’ ich ja nicht, wie er enden würde. Da war ein Fühlen in mir, als hätt’ ich das Heiligste, das Schönste und Herrlichste des Lebens gefunden. Und wenn ich zurückdenke an jene Zeit, an jenes selige Zittern und Hoffen, an den ganzen Feuersturm des ersten Gefühls, dann wird es mir schwer, zu denken: ich hätte bedächtig und besonnen meine glatte Straße gehen und mir ein angenehm temperiertes ‚Glück‘ mit ruhiger Ueberlegung schaffen können, um Sommer für Sommer als guter Mann meiner guten Frau kohlbauend auf meinem Gut zu sitzen und während des Winters in der Stadt keine Opernpremiere, keinen Rout und keinen Hofball zu versäumen.

Ach, Liebster! der Gedanke, daß solch ein ‚wohlgeordnetes‘ Glück mich hätte treffen können, weckt in mir ein gelindes Grauen – und dennoch steckt es in mir wie ein Gefühl der Klage, wie ein reuevoll schmerzliches Bedauern, daß es nicht so kam! Aber wenn ich es auch ‚so gut‘ gefunden hätte? Wäre dieses windstille Treibhausglück wohl auch von Dauer gewesen – bis zu einem sanften, in Gott ergebenen Lebensabend? Vielleicht hätte sich auch dann einmal in dunkler Stunde das Blut meines Vaters in mir geregt, um mit roher Faust die ganze gläserne Herrlichkeit in Scherben zu schlagen, irgend einem Unwert oder einer Häßlichkeit zuliebe?

Mein Vater! – – das Wort ist kalt für mich – ist mir

[13]

Die Werbung.
Nach dem Gemälde von F. v. Defregger.

[14] nicht mehr als eben nur ein Wort. Als mein Vater jenen tödlichen Sturz auf der Rennbahn that, war ich ja noch ein halbes Kind. Sein Tod hatte keinen Schmerz für mich, nur einen Schreck, den ich fühlte und doch nur halb verstand. Und dieser scheue Schreck verwandelte sich in ein Gefühl unheimlicher Bangigkeit, als ich eines Abends einen unserer Gäste, der die Nähe des zwölfjährigen Knaben nicht beachtete, zu einem anderen sagen hörte: ‚Der gute Ettingen hat sich den Hals recht à propos gebrochen, sonst hätte er noch seinen Namen und seinen Besitz, seine Frau und seinen Jungen in den Sumpf geritten!‘ Damals verstand ich dieses böse Wort nicht, es machte mich nur zittern und that mir weh – aber es brachte das eine Gute, daß ich mich noch zärtlicher und inniger an die Mutter anschloß, wie in der Ahnung, daß meine Liebe ihr Herz vor irgend einem herben Leid zu beschützen hätte. Später, freilich, hab’ ich von boshaften oder auch nur von dumm geschwätzigen Zungen den Kommentar jenes Wortes reichlich genug empfangen, um den stillen ernsten Blick meiner Mutter zu verstehen, ihre Liebe zur Einsamkeit, ihre Furcht vor Stadt und Menschen. Weiß Gott, lieber Freund, ich habe keine Anlage zu falscher Sentimentalität – aber es geht mir warm durch das Herz, wenn ich mir sage: ich habe meiner Mutter, so lange sie lebte, keine Enttäuschung und keinen Schmerz bereitet. Sie konnte lächelnd die Augen schließen und sterbend glauben, daß sie in ihrem Sohn ein tadelloses und wohlgebautes Werk ihrer Liebe und ihres Lebens hinterließe.

Und nun? Wie steht es vor Dir, dieses Werk meiner Mutter? In meiner Seele sieht es aus wie in den löcherigen Taschen eines Bettlers, und ich weiß nicht mehr, was ich für mein halbverzehrtes Leben noch glauben und hoffen soll. Ich hätte leben sollen als meiner Mutter Sohn und hab’s meinem Vater nachgethan. Gar übel hat mich bei diesem Rennen um das vermeinte Glück das zügellose Tier meiner Leidenschaft in den Sand geworfen! Sand – wie höflich das Wort gewählt ist! Wohl habe ich mich leidlich wieder aufgerichtet und den schlimmsten Schmutz von mir abgeschüttelt, aber ich spüre den Sturz an Leib und Seele! Und da konnt’ ich vor einer halben Stunde noch schreiben: ich bin genesen, ich fühle mich frei. Nein! Ich bin es nicht! Sonst hätt’ ich Dir nach diesem einen Wort ein anderes nicht mehr zu sagen gehabt. Oder bin ich es doch? Und weiß ich nur die quälende Stimmung dieses Augenblicks nicht klar zu erkennen? Was mich jählings mit so brennender Unruhe drückt – ist es vielleicht doch eine letzte Kette, die mich noch fesselt an das Vergangene? Es könnte auch das Grauen sein – vor der Leere und dem Unwert meines kommenden Lebens! Eine reuevolle, heiße Sehnsucht, die mit ausgestreckten Armen begehrt und dennoch weiß, daß sie unstillbar ist! Die Erkenntnis, daß jenes lautere, schöne Glück, das ich gefunden wähnte, mir verloren ist für immer! Heiliges Glück … das ist ein Finden auf reinem Weg! Wer durch Sumpf gewatet ist, darf keinen Tempel mehr betreten!

Ein böser Gedanke! Der hätte mir nicht kommen sollen! Aber ich will’s versuchen, ihn wieder aus mir hinauszustoßen, mit Gewalt – und will schon zufrieden sein, nur weil ich einsam bin, stadtferne und mir selbst gegeben. Und wie häßlich auch das Leben ist, dem ich entfloh und das mich erwartet – schön ist doch die sommerduftende Stille, in der ich hier atme; schön ist die Nacht, die da draußen mit großen, zitternden Sternen leuchtet; schön ist das tiefblaue Rätsel des schlafenden Himmels und das graue Wunder der nachtverschleierten Berge!

Und hättest Du nur den Abend gesehen, der dieser Nacht voranging!

Aber solche Schönheit läßt sich nur fühlen, nicht mit Worten sagen! Und wie sicher vor allen bösen Gedanken, wie ruhig war ich, als ich so einsam da draußen unter den stillen, alten, himmelstrebenden Bäumen saß!“

Da stockte dem Schreibenden die Feder. Er lehnte sich in den Stuhl zurück und blickte nach dem offenen Fenster, in dessen Rahmen sich der schwarzgezahnte Wipfelkamm des nahen Waldsaumes und darüber ein Stücklein des stahlblauen Himmels mit zwei funkelnden Sternen zeigte.

So saß er eine Weile, dann schüttelte er unter leisem Lächeln den Kopf – und begann wieder zu schreiben:

„Jetzt fühl’ ich auch: die schöne Ruhe, die ich da draußen gefunden habe, überkommt mich wieder! Ein Trost für die Nacht … ich glaube, daß ich schlafen werde!

Und nun Adieu, lieber Goni! Wüßt’ ich nicht, daß Du in der Stadt bleibst, um als Freund für mich zu handeln, so würd’ ich Dir schreiben: komm’ und laß uns die Schönheit teilen, die mich hier umgiebt! Aber ich hoffe doch, daß dieser unbehagliche Freundschaftsdienst Dich nicht allzulange zurückhalten wird und daß ich Dich bald in meinem schönen Bergtuskulum, das ich Dir verdanke, begrüßen kann. Mit diesem Herzenswunsch bin ich Dein
 dankbar getreuer Heinz Ettingen.“

Der Fürst couvertierte den Brief und schrieb die Adresse: „Graf Egon von Sternfeldt – Wien.“ Er wollte dem Diener läuten, doch lächelnd nahm er den Brief noch einmal aus dem Couvert und schrieb mit rascher Feder: „Als Nachschrift eine Bitte. Ein Zufall hat mich heut’ an Arnold Böcklins Bild ‚Das Schweigen im Walde‘ erinnert – Du kennst wohl das Bild: auf dem Einhorn reitet die weiße Waldfee unter den Bäumen dahin, mit großen träumenden Märchenaugen, und lauschend, als hätte das tiefe Waldschweigen noch redende Stimmen, die kein Menschenohr vernimmt, nur sie allein. – Schon vor drei Jahren, als ich das Bild in einer Ausstellung sah, hätt’ ich es gerne gekauft. Aber es hatte schon seinen glücklichen Besitzer. Wie schade! Nun sind Erinnerung und Wunsch in mir wieder wach geworden. Aber wer einen solchen Schatz besitzt, überläßt ihn keinem anderen, und ich werde mich mit einer Reproduktion begnügen müssen. Willst Du mir die besorgen? Einen Stich oder eine Radierung. Willst Du? Ja? Und meinen Dank im voraus.      Heinz.“

Der Fürst siegelte den Brief und läutete dem Diener, dann trat er ans offene Fenster.

Drunten in der Sennhütte ging es lustig her. Der Wein schien in den Köpfen der Jäger seine Wirkung zu üben, und ihre sangesfröhliche Stimmung hatte sich in wirres Kreischen und Lachen aufgelöst. Das schwieg zuweilen, als wären die Lacher für einige Augenblicke dieses lauten Lärmens müde geworden. Dann klang’s wieder auf – und der Uebermut dieser konfusen Stimmen hörte sich seltsam an in der schwarzen, schweigenden Einsamkeit der Bergnacht.

Der Lakai trat in das Zimmer. „Durchlaucht befehlen?“

„Dort liegt ein Brief. Hast du dich schon erkundigt, wie die Post besorgt wird?“

„Die Leutascher Jäger sind noch hier. Einer von ihnen wird den Brief zur Besorgung übernehmen. Von morgen an wird ein regelmäßiger Postdienst eingerichtet.“

Der Fürst nickte und ging zur Thür des Schlafzimmers; als ihm der Lakai folgen wollte, sagte er: „Ich danke, Martin. Geh nur, ich brauche dich nicht mehr.“

Von der Sennhütte klang eine Lachsalve herauf, so toll und lärmend, daß der Fürst aufblickte.

Martin runzelte unmutig die Stirne. „Ich werde die Leute sofort zur Ruhe verweisen und für die strengste Stille sorgen …“

„Nein, nein! Laß sie nur! Sie sollen sich amüsieren, solang’ es ihnen Freude macht. Ich werde deshalb nicht schlechter schlafen. Adieu, Martin! Morgen früh sieben Uhr das Bad. Und für neun Uhr hab’ ich den Förster zum Frühstück gebeten. Gute Nacht!“

Der Fürst trat in das Schlafzimmer und zog hinter sich die Thür zu.

Martin schloß die beiden Fenster; dann glitt er lautlos, als ob er die Sohlen einer Katze hätte, auf den Schreibtisch zu. Er nahm den Brief, las die Adresse und lächelte. Vorsichtig, um das Siegel nicht zu verletzen, drückte er den Brief an den Kanten zusammen, so daß sich die Klappe des Couverts ein wenig ausbauchte. Da konnte er nun ein paar Worte deutlich lesen: „… heut’ an Arnold Böcklins Bild ‚Das Schweigen im Walde‘ erinnert – Du kennst wohl das Bild: auf dem Einhorn reitet ...“

Beruhigt schob Martin den Brief in die Brusttasche seines Fracks und löschte auf dem Schreibtisch die Lampe aus.

(Fortsetzung folgt.)


[15]
Neue Heilbäder.
Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch.

(Moorbäder. – Mineralschlammbäder. – Fangobäder. – Elektrische Bäder. – Das elektrische Lichtbad. – Sonnenbäder. – Sandbäder. –

Das örtliche Heißluftbad. – Die künstlichen kohlensauren Bäder.)

Die Medizin der Gegenwart ist ganz besonders bestrebt, die Bezeichnung als Heilkunde zu verdienen und derart das höchste Ziel ärztlicher Wissenschaft zu erreichen: die Gesundheit des Menschen zu wahren, das Leben des Menschen zu erhalten. Und so wie sie dabei vor allem die Vorgänge jener merkwürdigen Naturerscheinung zu erforschen sucht, durch welche die Selbstheilung der Krankheiten erfolgt, so ist sie auch bemüht, alle Mittel anzuwenden, welche die Natur selbst bietet, um jene Vorgänge günstig zu beeinflussen. In diesem Sinne ist jeder wissenschaftliche Arzt ein „Naturheilkundiger“, und es ist ganz falsch, diese Bezeichnung im Gegensatze zum Heilkünstler für Personen in Anspruch zu nehmen, welche, bar jeden Wissens von dem Wesen der Krankheiten, diese nur durch „natürliche Mittel“ zu beseitigen vorgeben. Diese letzteren weiß jetzt jeder Arzt wohl ebenso wie die Medikamente, welche der Apotheker bereitet, zu würdigen und sieht sehr gut ein, daß in der Aenderung der Ernährung, im Wechsel der Lebensweise, in Regelung der körperlichen Bewegung, in Anwendung von kalten und warmen Bädern machtvolle Momente gegeben sind, um Blutbildung und Stoffwechsel, den Gesamtkörper und Einzelorgane wesentlich zu beeinflussen. Jede neue Errungenschaft auf dem Gebiete dieser natürlichen Heilmittel ist hochwillkommen, nur muß sie sorgfältig geprüft und darf nicht wahllos angewendet werden.

So hat in jüngster Zeit der altbewährte Heilschatz der Bäder manche beachtenswerte Bereicherung erfahren. Den Moorbädern reihen sich die Fangobäder an, den elektrischen Bädern die Lichtbäder, den Dampfbädern die Heißluftbäder, den natürlichen Säuerlingsbädern die künstlichen kohlensauren Gasbäder, und sie nehmen für sich, mehr oder minder berechtigt, ein großes Heilgebiet der Krankheiten in Anspruch.

Die Moorbäder, obgleich erst verhältnismäßig kurze Zeit in Anwendung, haben sich eine solche Wertschätzung in ärztlichen Kreisen wie bei leidenden Personen erworben, daß ähnliche Bäderarten mit ihnen den Wettbewerb, und nicht immer einen ehrlichen, anstreben. Das Mineralmoor, welches zu Moorbädern verwendet wird, ist eine aus verwesenden pflanzlichen Bestandteilen zusammengesetzte Torferde, welche durch einen außerordentlich langen Zeitraum, der sich oft auf Jahrtausende erstreckt, von Mineralwässern durchtränkt worden ist und hierdurch eigentümliche chemische Veränderungen erfahren hat; infolgedessen enthält das Mineralmoor heilkräftige Bestandteile, wie lösliche Eisenverbindungen, organische Säuren, welche dem gewöhnlichen Torfe fehlen. Durch diese innige Berührung mit den Mineralwässern hat die Natur den Torf zu einem Heilmoore veredelt. Die an Kohlensäure und schwefelsaurem Eisenoxydul sowie an Ameisensäure und Essigsäure reichen berühmten Eisenmoore der böhmischen Kurorte, die durch großen Reichtum an Schwefel, schwefelsauren Salzen und Schwefelwasserstoff ausgezeichneten Schwefelmoore Deutschlands werden zu Bädern benutzt, welche besonders kräftige Reize auf die oberflächlichen Nerven üben und durch ihre in mehrfacher Richtung charakteristischen, von denen anderer Mineralbäder abweichenden Eigentümlichkeiten sehr beachtenswerte Heilwirkungen erzielen.

Das zu Bädern bestimmte Moor wird den Moorlagern entnommen und, gehörig gereinigt und von gröberen Bestandteilen der Pflanzenreste befreit, auf eigenen Halden dem Verwittern ausgesetzt; aus diesem Material bereitet man die Bäder durch Vermischen mit warmem Wasser oder heißen Dämpfen, so daß eine dünne, dichte oder sehr dicke Breimasse zum Badegebrauche gelangt. Man nimmt die Bäder in einer hölzernen Wanne, neben welcher sich eine zweite mit erwärmtem Wasser gefüllte befindet, die dann nach dem Moorbade als Spülbad benutzt wird. In Kurorten, in denen gute Badeeinrichtungen sind, erhält, was eigentlich selbstverständlich ist, jeder Badende täglich ein frisches Moorbad bereitet; in Anstalten, in denen das Moor knapp zureicht, wird zuweilen die Badewanne für jeden Patienten erst nach jedem 4. bis 5. Tage mit frischem Moor gefüllt – ein verwerfliches Verfahren, das in dem Mangel an Moorerde keine ausreichende Entschuldigung findet. Das erste Moorbad ist für den Neuling, welcher in die schwarze dampfende Masse eintreten soll, namentlich für Damen, kein erquickliches, doch bald erscheint das Baden in dem warmen Breie behaglich, wie ein Einhüllen in einen schmeichelnden Pelz, und man harrt beruhigt der gerühmten Wirkung. Bei einer Reihe von Nervenleiden, Frauenkrankheiten, rheumatischen und gichtischen Erkrankungen haben die Moorbäder berechtigten Ruf erlangt.

Die Folge dieses guten Rufes ist, daß jetzt allenthalben „Moorbäder“ auftauchen und angepriesen werden, auch dort, wo es überhaupt kein heilkräftiges Moor, sondern nur ganz gewöhnlichen Torf giebt, oder wo irgend ein Schlamm die einzige Aehnlichkeit mit dem Moore darin besitzt, den Badenden schmutzig zu machen. Ist doch jüngst ein findiger Kopf auf den Einfall gekommen, gemeinen Lehm zu solchen Bädern zu verwenden, mit der jedenfalls originellen Begründung, der Mensch sei aus Lehm geschaffen worden und daher seien auch zur „Naturheilung“ für menschliche Krankheiten Lehmbäder am geeignetsten.

In Wirklichkeit kommen den Heilmoorbädern, was ihre Zusammensetzung und Wirkung betrifft, jene Mineralschlammbäder am nächsten, welche aus dem Schlamme bereitet werden, der sich an starken Solquellen, heißen Schwefelwässern oder am Meeresgrunde bildet. Solcher Mineralschlamm enthält die Bestandteile dieser Mineralquellen sowie des Meerwassers, gemengt mit verwitterten Teilen der Gesteine und Erden der Nachbarschaft, sowie zersetzte pflanzliche und tierische Reste der Umgebung der Wässer. Hierdurch ist die Wirkung dieser Bäder, welche gleichfalls eine mehr oder minder breiartige Beschaffenheit haben, ähnlich der von Moorbädern, und es weisen namentlich Schwefelschlammbäder sehr günstige Wirkungen bei Nervenschmerzen, Lähmungen und Folgezuständen von äußeren Verletzungen auf. Gerühmt wird bei solchen Leiden auch der Seeschlamm, welcher sich vorzugsweise in Seebuchten mit thonigem Boden bildet, so in den schwedischen und norwegischen Seebädern und in den russischen Salzseen (Limanen). Bei den erstgenannten Schlammbädern wird der Seeschlamm eigenartig gebraucht; er wird nämlich, auf 31 bis 34 Grad Celsius erwärmt, auf den ganzen Körper vom Halse bis zum Fuße aufgelegt, die Haut dann mit einer Bürste gerieben und hernach der Schlamm mittels einer warmen Dusche wieder entfernt. Hierauf nimmt der Kranke ein heißes Wasserbad und wird in warme Tücher gehüllt, zuweilen auch mit frischen Birkenruten geschlagen und tüchtig massiert. In Norwegen bestreicht man noch überdies zuweilen den Körper der Leidenden mit Medusen, Seequallen, um die Haut durch die Nesselorgane dieser Tiere zu reizen.

Ganz besonders laut und allzu eindringlich angepriesen werden jetzt die Fangobäder. Fango ist ein vulkanischer Schlamm aus Battaglia in Italien, welcher dort, mit heißen Kochsalzquellen gemengt, aus mehreren Kratern dem Erdinnern entströmt. Dieser Schlamm, welcher stark exportiert und in versendetem Zustande zu Bädern benutzt wird, stellt eine gelbbraune, schmierige Masse dar, welche zum größten Teile aus unorganischen Substanzen besteht und im Gegensatze zu den Mineralmoorbädern wenig organische Bestandteile und Säuren besitzt, welch letztere gerade als heilkräftig betrachtet werden. Die Zusammensetzung des Fango ist also auch nicht annähernd so günstig wie die der bekannten einheimischen kräftigen Moorerden, und ich finde es nicht gerechtfertigt, für teueres Geld aus dem Auslande herbeizuschaffen, was wir billiger, näher und besser selbst besitzen. Indes wer sich aus diesem Umstande nichts macht und für wen der Reiz des Neuen und Fremdartigen mächtig ist, der kann immerhin als ein gutes Mittel, hohe Wärmegrade auf den Körper wirken zu lassen, ein Fangobad nehmen. Der Fango wird, erwärmt, auf eine am Ruhebette ausgebreitete Leinwand in dicker Lage aufgestrichen, der kranke Körperteil darauf gelagert, dieser auf der oberen Seite ebenfalls mit Fango bedeckt und nun der Leidende in die Leinwand, eine Gummidecke und Wolldecken eingeschlagen, so daß durch [16] diese Einpackung eine starke Anregung zur Schweißabsonderung erfolgt. Hierauf wird ein Reinigungsbad genommen. Bei rheumatischen und gichtischen Leiden sowie Beschwerden nach Verletzungen wird sicherlich der Fango häufig recht wohl thun.

Nicht zu verwundern ist es, daß man in unserer Zeit, in welcher die Elektricität auf technischem Gebiete wahre Wunder wirkt, bemüht ist, diese Kraft auch betreffs Bäderbehandlung auszunutzen. In den öffentlichen Badeanstalten der großen Städte und Kurorte sind in den letzten Jahren elektrische Bäder eingerichtet worden, welche eine Durchströmung des im Wasser badenden Körpers mit Elektricität bezwecken und so die Wirkung eines Wasserbades von verschiedenem Wärmegrade mit dem Effekte der Elektricität verbinden, wie sich dies besonders durch Erfrischung der gesamten Nerven kundgiebt. Die Einrichtung eines solchen elektrischen Bades ist derart, daß die beiden Pole einer elektrischen Batterie am Kopf- und Fußende des Kranken in die Wanne tauchen oder daß das Bad die Zuleitung nur eines Poles durch das Wasser erhält, während der im Bade Sitzende mit den Händen eine metallische, über der Wanne angebrachte, mit dem anderen Pole verbundene Röhre umfaßt, oder es sind andere Vorrichtungen vorhanden, um einen gleichmäßigen elektrischen Strom um den Körper und durch diesen zu leiten. Ueber den Heilwert solcher elektrischer Bäder sind die Meinungen der Aerzte noch getheilt, wenn diese auch darin einig sind, daß jedenfalls der Eindruck eines solchen Bades die Sinne mächtig anregt und „den vollen Zauber und die Wirkungsfrische der Neuheit“ übt.

Noch mehr auf die Phantasie einzuwirken ist das von Amerika aus empfohlene und mit geräuschvoller Reklame eingeführte elektrische Lichtbad geeignet. Im Lichte baden und elektrisch durchströmt werden, was kann man mehr verlangen! Schade, daß diese Doppelbeeinflussung nur in dem Namen dieses Bades liegt. Ein entsprechend großer Kasten, welcher innen mit Spiegelplatten und einer bestimmten Anzahl von elektrischen Glühlampen (48 bis 64) versehen ist und in der Mitte einen Stuhl oder ein Bett für den Patienten enthält, bildet die Einrichtung für solche Bäder. Durch elektrische Leitung miteinander und mit einer Centrallichtquelle verbunden, können die Glühlichter von 16 bis 32 Kerzen Lichtstärke entweder gruppenweise oder insgesamt entzündet werden. Solchermaßen wird der Körper von dem Lichte, dessen Strahlen von den Spiegelplatten zurückgeworfen werden, gleichmäßig und stark überflutet und zugleich bedeutend erwärmt. Die Temperatur der Luft im Kasten kann, besonders wenn Bogenlampen angewendet werden, eine sehr hohe, 50° bis 60° R. und darüber, sein. Die nächste Folge dieser Wärmestrahlung und Wärmestauung ist, daß der Badende bald einen heftigen Schweißausbruch zeigt, dabei wird die Zahl der Pulsschläge und Atemzüge vermehrt. Das elektrische Lichtbad ist also ein angenehmes und elegantes Schwitzbad, ähnlich wie jedes Dampfbad, nur daß der Schweiß rascher, bei einer niedrigeren Temperatur und reichlicher eintritt als im gewöhnlichen Wasserdampfe. Die von mancher Seite gepriesene elektrische Lichtwirkung oder elektrische Nervenumstimmung im Lichtbade ist noch durchaus nicht auch nur annähernd glaubwürdig bewiesen worden.

Einen schönen neuen Namen haben auch die „Sonnenbäder“, womit man den Aufenthalt des Kranken im Sonnenscheine bezeichnet, während der Körper entweder frei oder in einem Glaskasten, nur den Kopf durch Bedeckung geschützt, den Sonnenstrahlen ausgesetzt wird. Man beruft sich, um eine ganz besondere Heilwirkung dieser Bäder zu begründen, auf die Eigenschaft des Sonnenlichtes, jene kleinsten Lebewesen, welche als Krankheitserreger betrachtet werden, zu vernichten; indes läßt sich diese Eigenschaft für den Kranken nur in geringem Maße verwerten, und auch das Sonnenbad ist nichts anderes als ein Schwitzbad, das ja für skrophulöse, bleichsüchtige und rheumatische Personen ganz geeignet ist. In einer schönen südlichen Landschaft ist es jedenfalls viel angenehmer, unter freiem Himmel im Sonnenscheine zu schwitzen als in der engen Badestube des Russischen Dampfbades.

Mit den Sonnenbädern lassen sich, namentlich am Seestrande, die Sandbäder vereinigen, bei denen heißer, durch die Sonne oder auch künstlich erwärmter Sand zur Anwendung kommt, so daß sehr hohe Wärmegrade auf den Körper einwirken. Am bequemsten ist das natürliche heiße Sandbad im warmen feinen Seesande, welches, schon seit den ältesten Zeiten bekannt, noch jetzt in den warmen Küstenstrichen von Gesunden und Kranken genommen und im Sommer auch in unseren Klimaten für Kinder verwendet wird. Zumeist werden aber solche Bäder mit künstlich erwärmtem Sande in Anstalten hergestellt. Der warme Sand wird in eine hölzerne Badewanne geschüttet, so daß er den Boden mehrere Centimeter hoch bedeckt; hierauf legt sich der nur mit einem leichten Bademantel bekleidete Kranke in die Wanne hinein, wobei so viel heißer Sand nachgeschüttet wird, daß der ganze Körper des Badenden bis zum Halse mehrere Centimeter hoch bedeckt ist. Der stark hervorbrechende Schweiß wird von dem Sande bald aufgesogen. Nach diesem Sandbade läßt man den Kranken ein warmes Wasserbad nehmen und kräftig abreiben.

Um die höchsten Wärmegrade auf erkrankte Körperteile (z. B. bei schweren Rheumatismus- oder Gichtformen) anwenden zu können, ist jüngst von einem englischen Arzte eine Vorrichtung angegeben worden, durch welche ein örtliches Heißluftbad ermöglicht wird, eine Kupferkammer in Cylinderform von verschiedener Größe, welche durch einen unter derselben befindlichen Gasbrenner oder eine Spiritusflamme erhitzt wird. Der kranke Körperteil wird in diesem Kasten, durch eine Asbestvorrichtung vor Verbrennung geschützt, einer Temperatur von 60 bis 80° R. ausgesetzt, und in diesem Heißluftbade werden die höheren Wärmegrade leichter und auf längere Dauer vertragen als im Dampfe. Die Besserung, welche durch solche Heißluftbäder selbst bei hochgradig verkrüppelten Gelenken und ganz unbeweglichen Gliedmaßen erzielt wird, ist zuweilen wirklich überraschend und hat den Anlaß gegeben, daß nun auch in Deutschland ähnliche Apparate hergestellt werden, welche eine bequeme Anwendung dieses allerneuesten Heilbades gestatten.

Zum Schlusse sei noch der künstlichen kohlensauren Bäder als einer modernen Nachahmung der aus kohlensäurereichen Mineralwässern bereiteten Bäder gedacht. Durch den großen Gehalt an Kohlensäure üben diese Säuerlingsbäder, welche sich in Kurorten mit Sauerbrunnen, Eisenwässern und Solquellen finden, eine Reihe von Wirkungen aus, die mit wesentlichem Erfolge zu Heilzwecken benutzt werden. Die Haut des Badenden erscheint unter solchem Wasser mit zahllosen Gasperlen bedeckt, nachher stark gerötet; es giebt sich starkes Prickeln und Wärmegefühl kund, die Tastempfindlichkeit der Haut ist bedeutend gesteigert. Dieser Reiz, den die Kohlensäure so mächtig auf die Haut übt, pflanzt sich auf das gesamte Nervensystem fort, veranlaßt ein allgemeines Gefühl von Wohlbehagen, beeinflußt die Herzthätigkeit und den Blutumlauf und steigert alle Ernährungsvorgänge. Darum haben diese Mineralbäder mit großem Kohlensäurereichtum sich mehrfach bei Erkrankungen des Nervensystems, Schwächezuständen, Frauenkrankheiten sehr heilsam erwiesen, und der Umstand, daß nach einem solchen Bade die Herzthätigkeit kraftvoller wird, hat zu der in der That durch wesentliche Erfolge ausgezeichneten Empfehlung der Säuerlingsbäder als Stärkungsmittel des geschwächten Herzens Anlaß gegeben. Nicht jedermann ist es gegönnt, die Kurorte selbst zu besuchen und natürliche Säuerlingsbäder zu nehmen, darum bieten die auf künstlichem Wege bereiteten Kohlensäurebäder einen willkommenen Ersatz.

Zu dem Zwecke der künstlichen Herstellung solcher Bäder werden entweder doppeltkohlensaure Salze und Säuren im Badewasser gelöst oder es wird mittels eigener Vorrichtungen flüssige Kohlensäure dem Wasser innig vermengt. Auf diese Weise erhält man ein an Kohlensäure reiches Bad, das dem natürlichen Säuerlingsbade an Gasgehalt gleichkommt und an Wirksamkeit recht ähnlich wird. Allerdings besteht zwischen diesen Bädern noch immer ein Unterschied, denn kein Kunstgriff ist imstande, die Kohlensäure so fest an Wasser zu binden, wie dies in den vulkanischen unterirdischen Werkstätten der Natur geschieht, und darum entweicht aus dem künstlichen Bade das kohlensaure Gas viel rascher, zuweilen sogar stürmisch schnell, während es im natürlichen Säuerlingsbade, vorausgesetzt, daß die Erwärmungsart des Badewassers entsprechend ist, um den Kohlensäuregehalt zu wahren, sehr stetig auf die Haut des Badenden einwirkt und nur äußerst langsam an die Luft entweicht.




[17]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Leuchten unserer Väter.

Von Franz Wendt.
Mit Illustrationen von A. Kiekebusch.

Im alten Rom.

Wie reich die moderne Wissenschaft uns Kinder der Gegenwart mit Geschenken überschüttete und überschüttet, zeigt sehr deutlich eine geschichtliche Betrachtung der Lampen und der sonstigen Beleuchtungskörper früherer Zeiten. Schon deshalb, weil jedermann fähig ist, ihren Wert oder Unwert verhältnismäßig leicht zu beurteilen.

In den stolzen Palästen der alten Kulturvölker am Tigris und am Nil, am Tiber und an den Ufern des Aegäischen Meeres, deren Reste jetzt noch von ehemaliger Pracht künden, versank, wenn die Nacht ihre Fittiche ausbreitete, alle diese Herrlichkeit in ein trauriges Dunkel, und die weiten Hallen verloren ihren Reiz im roten Lichte qualmender Fackeln und Lampen. Daß die alten Schriftsteller nicht mehr über den schroffen Uebergang vom Tag zur Nacht klagten, läßt sich allein daraus erklären, daß die Königin des Tages in jenen sonnigen Gebieten den glücklichen Bewohnern treuer ist als uns.

Die Beleuchtungsvorrichtungen der Alten waren thatsächlich höchst primitiver Natur. Ihre mit vegetabilischen oder tierischen Oelen gefüllten Lampen bestanden aus einem einfachen Gefäß, in dem ein rundgedrehter Docht, ein sogenannter Wurmdocht, lag. In unserer noch viel verbreiteten mit Oel beschickten Küchenlampe (vgl. Abbildung S. 18) besitzen wir ein Ueberbleibsel jener ältesten Einrichtung. Sie unterscheidet sich von ihr nur in ihrer äußeren Gestalt; denn die Alten gaben ihren Gefäßen die anmutigsten Formen, die jetzt noch unser Auge entzücken. Eine Probe davon bietet die Abbildung aus S. 18.

Neuere Ausgrabungen haben auch Beleuchtungsvorrichtungen zu Tage gefördert, welche darauf hindeuten, daß die alten Griechen und Römer bereits die Kerzen kannten. Sie erzeugten sie zweifellos, indem sie Werg oder das Mark der Binse in Wachs oder Talg tauchten.

Die überaus reiche Pflanzen- und Tierwelt der südlichen Länder führte die klassischen Völker zur Oel und Fettbeleuchtung. In den deutschen Wäldern zwang dagegen die spröde Natur unsere Vorfahren zur Verwendung der denkbar einfachsten Leuchte: zum Kienspan. Wir können uns vorstellen, wie sie in seinem rötlichen Lichte ihren Met tranken und sich von ihren Jagdzügen und Kriegsthaten unterhielten.

Mir merkwürdiger Zähigkeit haben sich diese einfachen Lichtspender erhalten. Wie unsere Küchenlampe auf einen Lebensweg von etwa zweieinhalb Jahrtausenden zurückschauen kann, so hat anderseits der uralte Kienspan noch bis vor kurzem in den Spinnstuben vieler deutschen Dörfer sein Licht leuchten lassen, und zu Koch- und Heizzwecken gedient (vgl. Abbildung S. 18). Bemerkenswert ist es ferner, daß zur Zeit, als die Hansa ihre Blüte erlebte, in ihren stolzen Städten die Straßenbeleuchtung durch Kienfeuer eingeführt wurde. Die Behälter für die Feuerung hingen an langen Ketten in der Mitte der Straße. Aber auch mit Oel gespeiste Straßenlaternen in Form unserer heutigen waren bereits damals in Gebrauch.

Gar oft mag der gelehrte Mönch bei seiner Arbeit und der Fürst beim festlichen Gelage die Mängel der künstlichen Beleuchtung tief empfunden haben. Dennoch ist es nicht merkwürdig, daß in einem sehr langen Zeitraum keine besseren Lichtquellen der Welt beschert wurden, weil die physikalischen Grundlagen des Leuchtens erst sehr viel später gefunden worden sind.

Germanen beim Kienspan.

Die erste Verbesserung der Oellampen erfolgte im Zeitalter der Renaissance, im sechzehnten Jahrhundert. Ihr Verbesserer war einer der genialen Männer, die mit scharfen, fast modernen Augen in die Welt schauten, und die neben ihrer umfangreichen klassischen Bildung sich auch Bedeutung als selbständige Forscher erwarben. Der italienische Mathematiker Cardanus trennte den Docht und den Oelbehälter voneinander und brachte diesen etwas höher als die Flamme an. Dadurch kam das schwere vegetabilische Oel unter einen gewissen Druck und gelangte mit größerer Geschwindigkeit zur Flamme, als wenn es allein von der Saugkraft des Dochtes befördert wurde. Ein Bild davon giebt die Abbildung auf S. 19; sie wurde ebenso wie die rein technischen Abbildungen der anderen in unserem Artikel erwähnten Lampen nach Originalen angefertigt, die sich in den Sammlungen des „Vereins der deutschen Gas- und Wasserfachmänner“ in Berlin befinden. Die Photographien wurden für die „Gartenlaube“ durch die Gesellschaft „Urania“ in Berlin ausgeführt, während die stimmungsvollen Bilder, die uns die Anwendung verschiedener Beleuchtungsarten vorführen, von A. Kiekebusch gezeichnet worden sind.

[18]

Küchenlampe.

Nach der Erfindung von Cardanus trat wiederum ein langer Zeitraum ein, in dem niemand das Bedürfnis empfand, seinen Witz an den Lampen zu üben.

Bei Festen und feierlichen Gelegenheiten, vorzüglich aber für kirchliche Zwecke, hat man sich während des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts zumeist der Kerzen bedient. Sie wurden in der Weise hergestellt, daß man den Docht mit Wachs oder Rohtalg umknetete. Besonders die Rokokoperiode kann man als das Zeitalter der Kerzen bezeichnen. Die Säle der französischen Könige erstrahlten im Glanze der Wachslichter. Auch die Gemälde des Altmeisters Menzel, die getreue Kulturbilder aus der Zeit des Großen Friedrich geben, führen uns die Herrschaft der Kerzen lebendig vor Augen. Technisch allerdings waren diese Leuchten

Antike Oellampe.

noch höchst mangelhaft. Sie erlangten erst in der Stearin- und Paraffinkerze im Anfange unseres Jahrhunderts eine vorteilhaftere Ausbildung. Schrieb doch noch Goethe vor etwa hundert Jahren den damals gewiß sehr beherzigenswerten Spruch: „Wüßte nicht, was sie Bessers erfinden könnten, als wenn die Lichter ohne Putzen brennten!“

Die Lampe des Cardanus entwickelte, weil dem Dochte reichlich Oel zugeführt wurde, ein kräftiges Licht; aber die Flamme war noch rötlich und qualmend und würde für unsere Geruchsorgane nichts weniger als lieblich sein. Wie jetzt jedermann weiß, kann sich die Verbrennung nur dann ruhig und zweckentsprechend entwickeln, wenn der Flamme fortdauernd genügend Luft zugeführt wird. Die Schornsteine mögen wohl zuerst findige Köpfe auf die richtige Spur geleitet haben. Die Lampe des Cardanus empfängt einen Blechcylinder, der die erhitzte Luft aufsteigen läßt und so eine schnellere Vergasung ermöglicht. Ein großer Fortschritt ist dann um das Jahr 1756 zu verzeichnen, in dem der Pariser Apotheker Quinquet den Glascylinder einführt. Er verbessert sein Lieblingskind fortwährend und giebt ihm endlich sogar die Form des sogenannten gekröpften Cylinders, den man jetzt zumeist bei den Petroleumlampen verwendet.

Alte Straßenlaterne.

Und nun folgt Erfindung auf Erfindung. Das weiße geruchlose Licht, das der Cylinder schafft, macht die Lampe vornehm und führt ihr immer neue Freunde zu, die sich bemühen, sie noch zweckmäßiger zu gestalten. So stattet zum Beispiel Léger in Paris die Brenner mit dem heute noch vielfach gebrauchten Flachdochte aus. Es wird dadurch möglich, den Docht mittels eines Rädchens zu verschieben und die Flamme in gewünschter Weise zu regeln.

Dem Cylinder folgte verhältnismäßig schnell die Glocke, welche das Licht zweckmäßig sammelt und nach unten wirft und dadurch für einen beschränkten Raum eine größere Helligkeit schafft, wie man es bei der Tischlampe wünscht. Anfangs waren es Papierschirme, die über ein Drahtgestell gelegt wurden; bald schloß sich dann dem Glascylinder die Glasglocke an. Auch der Brenner empfing in jenen Jahren eine Verbesserung.

Der Schweizer Argand konstruierte 1789 einen röhrenförmigen Brenner mit einem röhrenförmigen Hohldochte. Da auch gegenwärtig noch der Flachbrenner neben dem sogenannten Argandbrenner verwendet wird, sind wir leicht imstande, diesen Fortschritt würdigen zu können.

Ein Mangel der älteren Lampe bestand in dem Schatten, welchen der Oelbehälter des Cardanus verursachte. Durch eine etwas sonderbare Anordnung, die fast gleichzeitig um 1819 Bordier-Marcel in Paris und Parker in London ausführten, wurde der Uebelstand gehoben. Diese Techniker konstruierten die damals hochgepriesene Astrallampe (vgl. Abbildung S. 19).

Der Oelbehälter erhielt bei ihr die Form eines ringförmigen Kragens, der etwa in Flammenhöhe die Flamme umgab und zugleich die Glocke trug. Die Röhren, welche das Oel aus dem Behälter zum Brenner führten, dienten wiederum zum Tragen des Glockenhalters. Diese Anordnung machte das Ansehen der Lampe plump; sie genügte daher bald nicht mehr dem verwöhnten Geschmacke und den höheren Ansprüchen der Zeit.

Es erschien durchaus wünschenswert, das Oelreservoir unterhalb des Brenners unterzubringen, wie es gegenwärtig allgemein bei unseren Petroleumlampen üblich ist. Wie wir schon oben auseinandersetzten, bereitet dies beim Gebrauch der schweren tierischen und vegetabilischen Oele, die man damals ausschließlich verwendete, große Schwierigkeiten. Eine solche Einrichtung würde einen Rückschritt gegen die Cardanuslampe bedeutet haben.

Bei der Kienspanlampe im Bauernhause.

Um den Lampen dennoch die gewünschte elegante Form geben zu können, mußten neue Methoden ermittelt werden. Eine große Zahl von Mechanikern nahm das Problem mit Eifer auf, und das Ergebnis waren die sogenannten Pumplampen. Vorzüglich haben Große in Meißen, Abbé Mercier in Leipzig und Brochant in Paris sich um ihre Ausbildung bemüht. Die Pumplampen enthielten einen kleinen Kolben, den man, um das Oel zu heben, niederdrücken mußte. Natürlich wurde dieser Handgriff, welcher sich wiederholte, wenn die Leuchtkraft der Lampe abnahm, höchst störend, obgleich ja unsere Vorfahren in der Zeit der Lichtputzschere nicht gerade verwöhnt waren.

Ein mechanisches Kunstwerk, die Uhrlampe von Carcel, beseitigte diese Schwierigkeit. Der auch auf anderen Gebieten rühmlichst bekannte Techniker verband das Pumpwerk mit einem Uhrwerk, welches die Bewegung selbstthätig regelte. Die Carcellampe

[19]

Unter der Herrschaft der Kerze.

arbeitet ganz vortrefflich und giebt ein absolut gleichmäßiges Licht. Sie wurde noch bis vor kurzem als Normallampe in unseren physikalischen Laboratorien verwendet, wenn es darauf ankam, die Lichtstärke irgend einer Lichtquelle zu bestimmen. Leider hatte die Carcellampe einen großen Fehler: sie war zu teuer.

Cardanuslampe.

Es entstanden damals sehr viele neue Lampensysteme, in denen es versucht wurde, für den Hausgebrauch eine gut brennende und billige Lampe zu schaffen. Die Fabrikanten entwickelten eine geradezu fieberhafte Thätigkeit; es war ein Treiben just wie heut’.

Man unterschied damals die neuen Leuchten in die statischen, hydrostatischen und aërostatischen Lampen; ihre praktische Bedeutung war jedoch verhältnismäßig gering, und sie verschwanden fast so schnell wie sie entstanden waren.

Einen wirklichen Fortschritt veranlaßte endlich Franchot um 1836 in Paris durch die Moderateurlampe. Der im Fuße der Lampe befindliche Oelbehälter enthielt eine Feder, die mittels einer Schraube reguliert werden konnte. Diese Einrichtung ermöglichte eine fortdauernde und ausdauernde Durchtränkung des Dochtes. In der Moderateurlampe können wir die vorzüglichste Konstruktion bewundern, welche die Oellampen überhaupt erreicht haben.

Verbreiteter noch als sie war damals die etwa zu gleicher Zeit erfundene Flaschen- oder Schiebelampe (vergl. die Abbildung S. 20). Sie eignete sich ganz vorzüglich zur Arbeitslampe, weil man sie nach Belieben hoch und tief stellen konnte. Die Flaschenlampe hat denn auch bis zum allgemeinen Siege des Petroleums die meisten Freunde in den Kreisen der Gelehrten und Beamten besessen. Aber die Zeit der schweren Oele war vorüber!

Der Gebrauch der nun in die erste Reihe rückenden sogenannten Erd-, Mineral- oder leichten Oele ist freilich gleichfalls uralt: auch schon die klassischen Völker haben sich zweifellos dieses Stoffes bedient, wo er ihnen eben zur Verfügung stand. Bildlich gesprochen, können wir die heiligen Feuer zu Baku als die älteste und riesigste Erdölleuchte bezeichnen, welche die Natur selbst den Völkern als Beispiel vorführte.

Bei den neueren Kulturvölkern kam die Erdölbeleuchtung aber erst in der Mitte des Jahrhunderts in Aufnahme, weil der Preis des Mineralöls vordem verhältnismäßig hoch war. Für den Gebrauch in Lampen sind die Erdöle praktischer als die schweren vegetabilischen, und die Leuchteinrichtungen gestalten sich aus dem Grunde viel einfacher. Als daher in den fünfziger Jahren die sehr reichen Petroleumquellen in Pennsylvanien, Kanada, Südrußland und an anderen Orten erschlossen wurden, verbreitete sich die Petroleumbeleuchtung mit großer Geschwindigkeit über die civilisierte Welt. Die erste Petroleumlampe baute 1855 Sillimann in Nordamerika. Es folgten dann die verschiedensten Formen mit einem und vielen Flachbrennern, mit Rundbrenner und Brennscheibe, und mit Einrichtungen zur Vorwärmung der zuströmenden Luft etc. Damit sind wir in der Entwickelung des Lampenbaues bis hart an die Grenze der Gegenwart gelangt.

Bei der historischen Betrachtung der Methoden der künstlichen Beleuchtung muß man, wenn auch nur gleichsam im Vorübergehen, der Gasbeleuchtung gedenken. Im Jahre 1792 beleuchtete William Murdoch, der geniale Schüler des großen Watt, einer der Miterfinder der Lokomotive, zuerst sein Haus zu Rodruth in Cornwall mit Gas, und sechs Jahre später war die älteste Dampfmaschinenfabrik zu Soho bei Birmingham auf seine Veranlassung ganz mit Gaslampen ausgestattet. Mit der Idee, Straßen, Plätze und größere geschlossene Räume in gleicher Weise mit Licht zu beschicken, trugen sich damals viele unternehmende Männer. So hat z. B. der Professor der Chemie Lampadius im Jahre 1811 mehrere Straßen in Freiberg in Sachsen durch Gas erhellt.

Astrallampe.

Besondere Verdienste auf diesem Gebiete erwarb sich ein Oesterreicher, Dr. Zachäus Andreas Winzler aus Znaim. Schon im Jahre 1803 trat er in einer Schrift für die Gasbeleuchtung ein, konnte aber in den kriegerischen Zeiten mit seinen Ansichten in der Heimat nicht durchdringen. Er ging nach England, wo er sich Winsor nannte. Er fand hier einen bereits besser vorbereiteten Boden und gründete im Jahre 1813 schon ganz im modernen Sinne die erste Gasgesellschaft in London, welche nach Verlauf von sechs Jahren bereits 51000 Gasflammen speiste. Auf dem Kontinente vollzog sich die Entwicklung langsamer. Beispielsweise erhielten erst 1828 einige Berliner Straßen die ersten Gaslaternen. In Wien wurden zwar bereits im Jahre 1818 zwei Straßen probeweise mit Gas beleuchtet, aber erst im Jahre 1845 gelang es nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, die allgemeine Straßenbeleuchtung mit Gas durchzuführen.

Die Gasbeleuchtungstechnik hat sich während des nunmehr seinem Ende zustrebenden Jahrhunderts unendlich reich entwickelt.

Laterne mit Kienfeuerung.

Die mannigfaltigen Brennerarten und die verschiedenen Formen der anderen Betriebsapparate dürfen die Gastechniker mit Stolz erfüllen.

Die Leistung der Gaslampe gipfelt im Regenerativbrenner von Friedrich Siemens, in dem die Gase, beziehentlich die zuströmende Luft, vorgewärmt werden. Die Flamme empfängt dadurch eine Leuchtkraft, welche sie befähigt, dem elektrischen Lichte Konkurrenz zu machen.

Mit dem Siemens’schen Brenner schließt die Geschichte der künstlichen Beleuchtung bis zur Anwendung des elektrischen Lichts für die Zwecke derselben. [20] Wenden wir den Blick noch einmal über die Jahrtausende zurück, dann entdeckt man leicht, daß allen Leuchten, die diese Zeit gebar, etwas Gemeinsames zu Grunde liegt. Sie erzeugten Licht – mochte der Stoff auch noch so verschieden sein – durch Verbrennung und sendeten deshalb mehr oder minder gesundheitswidrige Bestandteile in den Raum.

Die Gegenwart, gerüstet mit dem gewaltigen physikalischen Wissen des naturwissenschaftlichen Jahrhunderts, gelangte zu neuen wirtschaftlicheren und hygieinisch besseren Methoden. Das Bestreben der Neuzeit geht dahin, das Licht nicht mehr durch Verbrennung, sondern durch Glühen unverbrennlicher Körper zu erzeugen. Das Gasglühlicht, das Petroleum- und das Spiritusglühlicht, bei welchen sich dieser Prozeß vollzieht, interessiert heutzutage fast im gleichen Maße die Techniker wie die Laien. Aber auch diese Beleuchtungsart stellt gleichsam nur einen Uebergang von der alten zur neuen Zeit dar. Man darf im Glühlicht, in dessen Schönheit wir gegenwärtig schwelgen, einen glänzenden Vorstoß der Gastechnik im Kampf mit dem elektrischen Licht sehen, der ihr für lange hinaus ihre Bedeutung wahrt.

Einer gewaltigen Zukunft geht aber das elektrische Licht entgegen.

Der Mensch hat es verstanden, die Naturgewalten in Fesseln zu schlagen, und den Himmlischen ihre stärkste Wehr, den Blitz, geraubt. Die goldschimmernde Waffe des Zeus wird unzweifelhaft den Kindern des zwanzigsten Jahrhunderts zur vornehmsten Leuchte werden.

Oel der Schiebelampe.




Gedichte von Anna Ritter.


Abendstunde.

Aus dem Tannenwald am Berge
Tritt die Nacht im sammt’nen Kleid,
Rafft es auf mit güldnen Spangen,
Kosend schmiegt um Stirn und Wangen

5
Sich ein blitzendes Geschmeid.


Rieselnd trägt sie ihre Schleppe
Ueber Blätter, Moos und Stein,
Breitet segnend ihre Hände
Auf das dämmernde Gelände:

10
„Träume nun und schlummre ein!“ –


Feierlich hebt eine Glocke
Tief im Thal zu läuten an…
Selig, wer zu dieser Stunde
Noch mit schuldlos reinem Munde

15
Um den Schlummer beten kann.


Mein Töchlerlein.

Sie stickt im letzten Abendlicht,
Ich streich’ ihr übers Haar –
Da hebt sie von der Handarbeit
Die Augen, groß und klar.

5
Wie in ein lieblich Wunder schau’

Ich tief in sie hinein:
Es grüßt mich aus dem Kinderblick
Schon hold das Jungfräulein.




Fräulein Johanne.
Novelle von Paul Heyse.

Es ist nun zwölf oder gar schon dreizehn Jahre her, erzählte mir mein Freund, der Landschaftsmaler R., da erlebte ich etwas sehr Seltsames, – gottlob nicht an der eigenen Haut, sondern nur als teilnehmender Zuschauer –, etwas, das Sie wohl auch interessieren wird, da Sie bei Ihrem novellistischen Metier auf psychologisch merkwürdige Fälle ein Auge zu haben pflegen. Ich selbst hatte lange nicht mehr daran gedacht; ein altes Skizzenbuch aus jener Zeit hat mir vor kurzem die Geschichte wieder in Erinnerung gebracht. Wenn Sie sie hören wollen –

Nun denn, es war im frühen Frühling Anfang Mai, ich hatte einen etwas stürmischen Karneval hinter mir, obwohl ich schon damals kein „heuriger Has“ mehr war, wie man in München sagt. Aber eine unglückliche Liebesgeschichte wollte ich abschütteln und brauchte dazu das bekannte unzweckmäßige Mittel, mich „zu betäuben“ durch allerlei abgeschmackte sogenannte Vergnügungen. Fürchten Sie nicht, daß ich Sie mit dem Zustand meines Herzens langweilen werde. Zum Glück ist es über der alten Geschichte, die ewig dieselbe ist, nicht gebrochen, und es war auch meine erste nicht. Also wußte ich einigermaßen Bescheid und beschloß, nachdem ich mich von dem verfehlten Versuch, den Teufel durch Beelzebub auszutreiben, ein wenig erholt hatte, meine Zuflucht wieder zu den einzig wirksamen Nothelferinnen zu nehmen, der Natur und meiner Arbeit.

Der Wald war noch ziemlich kahl in dieser Jahreszeit, und in den Bergen ließ sich nicht gut hausen, da man immer noch auf Winterrückfälle gefaßt sein mußte. Nun aber lag mir schon seit längerer Zeit ein altes Nest in Mittelfranken im Sinn, das mich jedesmal, wenn ich mit dem Schnellzug daran vorbeigesaust war, sehr einladend angeblickt hatte. So eins von den auf den Aussterbeetat gesetzten Städtchen, an denen in unserm Bayern kein Mangel ist, die nur noch einen Altertumswert haben und über hundert Jahr so verödet sein werden wie Herculanum und Pompeji. Aber für ein Malergemüt ist das kein Schade. Und jenes Ziel meiner Sehnsucht – auch Sie, die Sie mir ja zuweilen ins Handwerk pfuschen, hätten Ihre Freude daran gehabt, wie die alten stark verräucherten Häuser so malerisch zu Füßen der dichtbebuschten Höhe lagen, in der Mitte die Kirche, freilich nicht über dreihundert Jahre alt, und auf dem Hügel droben das Trümmerwerk der Burg mit ein paar Turmfragmenten und bezinnten Mauern, durch deren leere Fensterhöhlen der dichte Epheu hinaufgekrochen war, der vom Grund aus seine armsdicken Aeste um die ganze verfallene Herrlichkeit geklammert hatte.

Es war schon Nacht, als ich mit dem schläfrigsten aller

[21]

Der Steuermann.
Nach dem Gemälde von G. Alaux.


Bummelzüge die Station erreichte. Niemand außer mir stieg hier aus.

Der Bahnhofsinspektor, den ich befragte, welchen Gasthof er mir empfehlen könne, musterte mich von Kopf bis Fuß wie jemand, der nicht ganz richtig unter dem Hute sei. Da dieser Hut aber ein Künstlerhut war, besann er sich, daß man sich von Leuten meines Schlages allerlei Verrücktheiten zu versehen habe, und erwiderte, Gasthöfe, in denen man leidlich unterkommen könne, gebe es nur einen, denn in den paar Wirtschaften und Ausspannen, die noch außerdem Nachtherberge gäben, sei für einen Herrn aus der Stadt kein anständiges Quartier zu finden. Auch der Gasthof zum Bayrischen Löwen sei nicht mehr, was er früher gewesen, der Wirt sei verstorben, die Wirtin krank, der einzige Sohn in die Welt gegangen. So hätte die Wirtin [22] auch die Brauerei aufgegeben und ihre Aecker verpachtet. Es sei aber ein sehr reinliches Haus, und auch mit der Küche würde ich zufrieden sein.

*      *      *

Der Ort lag noch eine gute Strecke vom Bahnhof entfernt. Ein Bauer, der einen Wagen voll Kohlköpfen zum Verladen herangefahren hatte, machte mir den Vorschlag, mich und mein Gepäck nach dem Gasthof zu bringen. Ich zog es aber vor, zu Fuß zu gehen, lud meinen Handkoffer, Malkasten und Staffelei einem rüstigen Burschen auf die Schulter und wanderte sehr guter Dinge die Kastanienallee entlang, die in einem weiten Bogen nach dem Städtchen führte.

Es war eine köstliche Nacht, kein Mondschein, aber der Himmel hell von zitternden Sternen und jene reine scharfe Kühle in der stillen Luft, die mir nach der staubigen Fahrt unsäglich wohlthat. Als der Weg die letzte Biegung machte, sah ich zwischen den noch dünn belaubten Wipfeln die schwarze Silhouette der Burgtrümmer am silberweißen Hintergrund sich abzeichnen und unterschied deutlich die dünnen Stämmchen der kleinen Bäume, die oben auf dem Mauerrand aufgesprossen waren. Kein Laut weit und breit, als hin und wieder ein Hund, der aus dem Schlaf bellte. Auch mein Begleiter that den Mund nicht auf, und ich war so in meine helldunkle, sentimentale Stimmung versunken, daß ich keine gleichgültige Zwiesprach anknüpfen mochte.

Wir erreichten endlich das Thor, von dem nur noch ein zerbröckelnder Rest vorhanden war. In dem ehemaligen Stadtgraben zu beiden Seiten waren Gemüsegärten entstanden, deren Beete eben frisch angepflanzt schienen. Die Häuser, die die Straße bildeten, lagen unregelmäßig zur Rechten und Linken, dazwischen Düngerhaufen, die ein nicht eben liebliches Gedüft ausströmten; Ackergerät, Wagen und Pflüge, alles ließ erkennen, daß die Einwohner auf den Feldbau angewiesen waren. Ueber der Straße an Ketten aufgehängt Laternen, deren rote Petroleumflammen diese ganze kleinstädtische Dürftigkeit nur unvollkommen beleuchteten. Und in keinem der einstöckigen Häuser noch irgend Leben und Bewegung, kaum hie und da ein Licht hinter den kleinen Scheiben, vor den meisten aber ein Kasten mit den ersten Blumen des Jahres oder allerlei Grünzeug, das erst später blühen sollte.

Auch auf dem Marktplatz war’s still und dunkel, nur der Brunnen in der Mitte unter ein paar hohen Bäumen rauschte mit leisem Geplätscher, und aus einem der kleinen Häuser erklang ein unbeholfenes Geigenspiel. Die schwarze Masse der Kirche nahm die eine Seite des unregelmäßigen Vierecks ein, gegenüber stand ein sehr langgestrecktes Haus, einstöckig, mit dunklen Fenstern im Obergeschoß, während unten neben der breiten offenen Einfahrt Licht aus den Zimmern zu beiden Seiten schimmerte.

Da ist der Bayrische Löwe! sagte mein Begleiter. Er ging auf den Eingang zu und zog an einer Glocke, die einen stumpfen, klappernden Ton von sich gab. Nach einer Weile kam ein alter, etwas verwachsener Mann, mit einer blauen Küferschürze unter der kurzen Joppe, schwerfällig aus dem dunklen Flur herangehinkt, mit einer Stalllaterne, die er gegen mein Gesicht aufhob, da die beiden Flurlampen nur ein schwaches Licht gaben. Als er hörte, daß ich ein Zimmer wünschte, brummte er etwas in den grauen Schnurrbart, stellte die Laterne auf den Boden und ging in die Thüre zur Rechten, über der ich die Inschrift „Gastzimmer“ las. Ueber der linken Thür stand „Schenkzimmer“ geschrieben. Der Empfang war nicht gerade vielversprechend. Wenigstens hatten wir fünf Minuten in dem zugigen Thorweg zu warten, bis sich die Thüre rechts öffnete und eine weibliche Gestalt heraustrat, hinter ihr der Hausknecht.

Die Frau grüßte mich mit einem kurzen Kopfnicken, ich bat, mir ein Zimmer anzuweisen, da ich einige Tage hier zu bleiben gedächte, ich sei Maler und wolle in der Umgegend ein paar Studien machen.

Während ich sprach, sah ich mir die Wirtin, wofür ich sie hielt, genauer an. Eine hochgewachsene Figur, prachtvolle Büste, auf den schlanken Schultern ein noch jugendlicher Kopf mit dicken braunen Haaren und ein Gesicht, das ich mir gleich zu malen wünschte, etwas bäuerlich derb, aber mit der geraden Nase und den großen stahlgrauen Augen ungemein charaktervoll. Nur eine seltsame Unbeweglichkeit ihrer Mienen und die blasse Farbe der Wangen fiel mir auf, auch daß sie auf meine Worte nur wieder mit einem stummen Nicken antwortete, als ob ihr der Gast höchst gleichgültig wäre.

Sie sagte dann dem Hausknecht etwas, das ich nicht verstand, er nahm dem Träger meine Siebensachen ab und stapfte mir voraus eine breite steinerne Treppe hinauf, die Laterne vor sich her tragend.

Oben in dem nur durch eine einzige Lampe erleuchteten Gang, der die ganze Länge des Hauses durchlief, führte er mich zu einer Thür, über der Nummer 1 geschrieben stand, öffnete sie und ließ mich in ein großes hohes Zimmer eintreten, in dem eine klamme, muffige Luft schwebte. Als er meine Sachen auf ein paar Stühle gestellt und eine Kerze auf dem Nachttischchen angezündet hatte, verließ er mich ohne weiteres, während ich nichts Eiligeres zu thun hatte, als beide Fenster aufzureißen und die dumpfe Luft hinaus- und die Frische der Mainacht hereinzulassen.

Ich sah mich dann, nicht eben erheitert durch den einsilbigen Empfang, in meinem Nachtquartier um. Die Inspektion fiel nicht allzu ungünstig aus. Es war ohne Zweifel das vornehmste Zimmer des Hauses, die Möbel gepolstert und mit weißen gehäkelten Schutzdecken überzogen, alle von tadelloser Sauberkeit, wie auch die mageren Tüllvorhänge an den Fenstern und dem Himmelbett; die Dielen blendend weiß gescheuert, das Gerät auf dem Waschtisch altmodisch wie alles übrige, aber blank wie aus dem Laden. Mit meiner Kerze leuchtete ich an den Wänden herum und betrachtete die wenigen Bilder, eine lebensgroße Mutter Gottes und einen heiligen Joseph in Oeldrucken, dazwischen eine Lithographie des Münchener Kunstvereins, den Abschied König Ottos vor der Abreise nach Griechenland darstellend. Auf der Kommode unter einem Glassturz ein wächsernes Jesuskind auf einem rotatlassnen Kissen, daneben zwei Leuchter aus Porzellan, ohne Kerzen. Vor dem gleichfalls sorgsam mit Ueberzügen bekleideten Sofa ein alter runder Tisch, dessen geschweifte Beine in vergoldete Löwenklauen ausliefen. Kurz, das Staatszimmer eines bayrischen kleinstädtischen Gasthofs in seiner althergebrachten Ausstattung, und nebenan der „Saal“, ein ganz leerer weiter Raum mit vier Fenstern, nur rings an den Wänden niedrige, mit schwarzem Leder bezogene Bänke. Offenbar fanden hier die Tanzvergnügungen und Hochzeiten des Ortes statt, und der alte Kronleuchter in der Mitte, mit Gaze überzogen und von Fliegenschmutz und Staub geschwärzt, mochte manche tolle Lustbarkeit mit angesehen haben.

Eben war ich daran, meine Köfferchen auszupacken, als an die Thür geklopft wurde und auf mein Herein! eine vierschrötige Magd von mittlerem Alter mit runden roten Backen und einem Doppelkinn eintrat, ebenfalls sehr sauber gekleidet. Sie bewillkommte mich mit einem treuherzigen Grüß Gott! und goß aus ihrem Blecheimer frisches Wasser in den Krug und die Flasche auf meinem Waschtisch. Dies dicke gute Geschöpf verscheuchte sofort das unbehagliche Gefühl, das mich in dem stummen öden Hause überkommen hatte. Ich bat sie um eine leichtere Decke auf meinem Lager und eine zweite Kerze, sie fragte, ob ich hinunterkommen würde, etwas zu essen, und als ich das bejaht hatte, schlurfte sie mit einem gutmütigen Nicken hinaus, um sofort mit der gewünschten zweiten Kerze zurückzukehren.

Nun fing es schon an, mir in der Löwenhöhle behaglicher zu werden, zumal ich an dem alten Ofen in der Ecke ein Meisterstück ehemaliger Töpferkunst entdeckte und an den erhabenen Schildereien auf den grün glasierten Kacheln meine Freude hatte. Sie genauer zu studieren verschob ich auf den nächsten Tag. Mich verlangte nach Speise und Trank, und so löschte ich meine Kerzen und stieg die Treppe hinab nach dem Gastzimmer.

*      *      *

Es war ein weiter, niedriger Raum mit einer vom Rauch vieler Pfeifen und Cigarren schwarzgebeizten Holzdecke, der Fensterwand gegenüber die Küche mit dem Anrichtbrett vor der breiten, mit kleinen Scheiben verwahrten Oeffnung, sorgfältig gescheuerte Tische und Holzstühle der ganzen Länge nach aufgestellt, in der [23] einen Ecke ein Muttergottesbild mit einer geschnitzten Palme verziert, eine alte Uhr in der andern Ecke – Sie kennen ja die Ausstattung unsrer heimatlichen Gastzimmer. Zwei große Hängelampen verbreiteten eine ungewisse Helle, der man durch einige Kerzen in Glasglocken nachgeholfen hatte.

Als ich eintrat, schlug die Uhr eben erst die neunte Stunde. Doch waren nur wenige Gäste vorhanden, ein paar einfache Männer, in denen ich Honoratioren des Städtchens zu sehen glaubte und die schweigsam ihr Bier tranken, an einem der Tische in der Nähe des Marienbildes zwei junge Leute, offenbar Handlungsreisende, die mit einem dritten, der mir der Lehrer zu sein schien, in einen Haferl-Tarok vertieft waren. Neben diesen saß der Herr Pfarrer, ein behäbiger weißköpfiger Herr, der nicht mitspielte, aber heftig rauchend und fleißig dem Kruge zusprechend, das Spiel mit großem Interesse verfolgte und dann und wann dem Lehrer einen halblauten Rat zu geben schien.

Keiner von diesen beobachtete meinen Eintritt, nur die Eingesessenen warfen mir einen flüchtigen Blick zu und starrten dann wieder schläfrig in ihren Krug.

Ich hatte mich an einen der leeren Tische gesetzt, und sogleich kam aus der Küche jenes stattliche Frauenzimmer, das hier das Regiment führte. Sie fragte, jetzt ganz höflich, doch immer kurz angebunden, ob ich mit meinem Zimmer zufrieden sei, bedauerte, meine Ankunft nicht vorher gewußt zu haben, sie hätte dann heizen lassen, um die beklommene Luft zu verbessern, da das Zimmer den Winter über nur selten bewohnt werde. Alsdann fragte sie nach meinen Wünschen in Betreff des Nachtessens.

Geben Sie mir, was vorrätig oder am schnellsten fertig ist, Frau Wirtin! sagt’ ich.

Ich bin nicht die Wirtin, erwiderte sie, nur die Haushälterin. Die Wirtin selbst, meine Frau Pate, ist seit Jahren krank an der Gicht, so muß sie mir alles überlassen.

Nun, sagt’ ich, sie weiß die Wirtschaft in guten Händen. Es ist alles so sauber, wie nicht in manchem großen Hotel. Und auch die Küche im Bayrischen Löwen ist mir gerühmt worden.

Der Herr wird heute abend vorlieb nehmen müssen, erwiderte sie, immer mit dem gleichen regungslosen Gesicht. Morgen werden wir uns schon mehr Ehre machen.

Damit verließ sie mich, und ich sah sie in der Küche hantieren, obwohl dort noch eine Köchin zu erblicken war. Sie wollte offenbar zeigen, was das Haus vermochte, auch wenn ein später Gast unerwartet hereinschneite. Und wirklich war alles, was sie mir vorsetzte, von ausgesuchter Güte, und da auch das Bier nichts zu wünschen übrig ließ, suchte ich endlich in der besten Stimmung mein Zimmer wieder auf.

Die Magd kam mir nach, zu fragen, ob noch etwas fehle. Fräulein Johanne habe auch schon selbst nachgesehen. Fräulein Johanne? sagte ich. Ja, die Pate der Wirtin, die schon neun Jahre im Hause sei und für alles einstehen müsse, da die Wirtin so oft das Bett nicht verlassen könne und ihr Sohn in einem großen Hause in Frankreich in Kondition gegangen sei. Er werde aber doch wohl nächstens wiederkommen müssen, wenn Fräulein Johanne wegzöge. – So so! sagte ich. Da stehen ja große Veränderungen bevor. Hoffentlich bleiben Sie dann wenigstens im Hause, daß die kranke Frau nicht lauter neue Gesichter sehen muß. – O ich –! erwiderte das gute Geschöpf – mit mir verändert sich nichts mehr, und so wie Fräulein Johanne möcht’ ich auch nicht heiraten, denn Sie müssen wissen –

Eine Klingel unten im Hause schnitt den Faden der vertraulichen Mitteilungen ab, denen ich gern noch länger gelauscht hätte.

Die Magd sagte mir eilig Gute Nacht und lief hinunter. Was mochte sie nur damit gemeint haben, daß es sich für das schöne stattliche Fräulein um eine „Veränderung“ handelte, um die sie sie nicht beneiden möchte?

*      *      *

Ich schlief dann sehr gut in meinem altväterischen Himmelbette, unter dem nach längst verschollener gemütlicher Sitte ein paar gestickte Pantoffeln standen, zu beliebigem Gebrauch für die Gäste. Früh wurde ich geweckt durch das laute Treiben auf dem Platz unter meinen Fenstern. Es war Markttag, Bauernfrauen saßen vor ihren Gemüseständen, in den vergitterten Kasten schnatterten Gänse und Enten, die Pferde vor den Bauernwägelchen schüttelten sich unter ihrem messinggeschmückten Zaumzeug, ihre Herren saßen unten in der Schenkstube, und man hörte ihre Stimmen zu den offenen Fenstern heraus. Das kleine alte Nest schien mir beweisen zu wollen, daß ich es sehr verkannt hatte, als ich es gestern Nacht für eine Art Pompeji gehalten hatte.

Ich beeilte mich, unten mein Frühstück einzunehmen. Fräulein Johanne brachte es mir selbst, war aber so beschäftigt, daß wir nur einen Guten Morgen! wechselten. Dann machte ich mich mit meinem Malkasten auf, eine vorläufige Umschau zu halten, stieg auf den Burgberg und durchstöberte die Trümmer, an denen ich nicht viel Malwürdiges fand. Das beste daran war ohne Zweifel die Silhouette von der Bahn aus gesehen.

Dagegen sah’s um so anmutiger auf der Rückseite des Hügels aus. Hier fand ich ein klares Flüßchen, das zwischen Erlen und Weiden dahinlief, in so hübschen Windungen der etwas erhöhten Ufer, daß sich mir sogleich mehr als ein Motiv darbot und mir die Wahl wehthat. Dazu der Blick über die weiten Wiesen und Felder, am Horizont charakteristisch umrissene Höhenzüge und der zartblaue Frühlingshimmel, durch den nur leichte Wölkchen segelten – ich fand hier Arbeit auf Wochen, zumal ich damals gerade auf solche Landschäftchen mit eben aufknospendem Laube, dünnem Strauchwerk und silbernen Lüften versessen war.

Also postierte ich meinen Feldstuhl an eine schattige Stelle und fing eine Aquarellstudie an mit so großer Begier, wie ein Mensch, der lange gefastet hat, sich über ein leckeres Mahl hermacht. Ich habe die Skizze noch zu Hause und kann sie Ihnen einmal zeigen. Sie werden dann begreifen, daß ich mich den ganzen langen Vormittag unentwegt in die Arbeit vertiefte und erst aufsah, als es vom Kirchturm Zwölfe schlug. Ich wußte, daß man in kleinen Städten früh Mittag macht, und da ich es mit Fräulein Johanne nicht verderben wollte, klappte ich meinen Malkasten zu und wanderte auf einem reizenden Fußwege zwischen einer Sägemühle und armseligen Hütten wieder in das Städtchen hinein.

Im Thorweg des Gasthofs kam mir die junge Vicewirtin entgegen, heute mit etwas mehr Farbe im Gesicht, da sie sich an solchem Markttag besonders viel zu rühren hatte. Sie habe mir im Garten gedeckt, da so schön Wetter sei und im „Salettl“ eine bessere Luft als im Gastzimmer, wo geraucht werde. Wenn es mir recht sei, könne mir dort gleich aufgetragen werden.

Natürlich war mir’s recht. Sie nahm mir meine Sachen ab und bat mich, nur voranzugehen. Ich schritt also durch den Hof, zu dessen Seiten ich die jetzt leer stehenden Gebäude sah, die früher zur Brauerei gedient hatten, und trat durch ein verfallenes Gitterthürchen in den Baumgarten, der ebenfalls den Eindruck machte, als ob man sich mit seiner Pflege keine sonderliche Mühe mehr gäbe. Nur ein paar Beete an der einen Seite waren mit Küchenkräutern bestellt, an den Rändern blühten Primeln und Crocus, zwischen den Apfelbäumen aber wucherte das Unkraut, und auf den Wegen lag der halbvermoderte Blätterabfall, den niemand wegzukehren sich die Zeit nahm.

Dagegen war das sogenannte Salettl durchaus sauber gehalten und der kleine Tisch in der Mitte höchst appetitlich gedeckt. Ich hatte auch nicht lange zu warten, so kam die Magd mit der Suppe und der Weinkarte, hielt sich aber nicht so lange auf, daß ich das gestern unterbrochene Gespräch hätte fortsetzen können.

Ich hatte aber mein einsames Mahl kaum beendet und mir eben eine Cigarre angezündet, als ich das Gitterpförtchen knarren hörte und Fräulein Johanne daherkommen sah, mit langsamen Schritten, da sie eine gebrechliche kleine alte Frau führte. Sie kamen gerade auf mich zu, und die Alte, in der ich natürlich ohne besondere Vorstellung die Wirtin erkannte, fragte, ob ich erlauben möchte, daß sie sich ein wenig zu mir setzte. Sie sei durch ihre Krankheit die meiste Zeit von allen [24] Menschen abgeschieden, und da ihre Augen immer schwächer würden, könne sie auch nur mit Mühe aus der Zeitung erfahren, wie es in der Welt zugehe. Ihre Johanne – dabei blickte sie ihre Pate zärtlich an – habe leider nicht viel Zeit, ihr Gesellschaft zu leisten, und ihre alten Bekannten im Ort seien fast alle weggestorben. Dabei seufzte sie, und über ihr gutes faltiges Gesicht, das halb unter einem schwarzen Tuch vergraben war, ging ein schmerzliches Zucken.

Ich sagte ihr natürlich, es würde mir sehr angenehm sein, wenn sie die warme Mittagssonne hier neben mir genießen wollte, und half der Johanne, sie in einen großen Rohrstuhl mitten in die Sonne zu setzen. Ein Fußbänkchen wurde ihr unter die Füße gestellt, ein dicker wollener Shawl über ihre Knie gebreitet, und erst als sie wie ein kleines wohleingewickeltes Häufchen Unglück mir gegenüber am Tische thronte, verließ uns das schöne stille Mädchen ohne viel Worte, mit ihrem mir schon bekannten nachdenklichen Nicken.

*      *      *

Wir schwiegen erst eine Weile. Der Anblick der kleinen Frau, die bessere Tage gesehen hatte und nun in der zurückgegangenen Wirtschaft krank und einsam auf fremde Hilfe angewiesen war, hatte etwas Rührendes für mich. Zumal sie gar nicht nach Art solcher Kleinstädterinnen sich neugierig an mich machte, sondern still abzuwarten schien, ob ich mich weiter mit ihr zu beschäftigen Lust hätte.

Sie haben da eine rechte Stütze an Ihrer Patin, Frau Wirtin, sagte ich endlich. Ich höre aber, sie will sich verändern. Es wird schwer sein, einen Ersatz für sie zu finden.

Der zahnlose Mund der Alten verzog sich zu einem bitteren Ausdruck von Schmerz und Hilflosigkeit.

Schwer? murmelte sie. Sagen Sie lieber: unmöglich! Nun, ich überleb’ das ja nicht lange. Wie mein Sohn es dann halten will, ob er das Haus verkauft oder den Gasthof fortführt – das ist seine Sache. Junge Leute wissen, was für sie taugt, wir haben es auf unsre Manier gemacht, sie machen’s auf ihre. Das aber ist gar nicht das Schwere. Daß sie so von mir geht, das drückt mir das Herz ab, darüber kann ich mich nicht zufrieden geben.

Wieder das geheimnisvolle „so“, das ich schon von der Magd hatte hören müssen.

Ich denke, Fräulein Johanne will heiraten, sagt’ ich. Sie scheint mir sehr verständig zu sein und genau zu wissen, was sie will. Wie kommt es nun, daß Sie mit ihrem Entschluß nicht einverstanden sind?

Die Alte antwortete nicht sogleich, sah erst traurig vor sich hin, dann blickte sie zu mir hinüber, wie um sich zu vergewissern, daß ich ein Mensch sei, dem man vertrauen könne, und sagte dann: Auch Sie, lieber Herr, würden mit dieser Heirat nicht einverstanden sein, wenn Sie die näheren Umstände kennen würden. Und warum soll ich Ihnen nicht davon reden? Es wissen’s ja alle im Ort, und am Ende – Schande macht’s ihr ja auch nicht, wenn’s auch zu ihrem Unglück sein wird. Denn so zusammenzukommen, nein, das thut meiner Lebtage nicht gut, und daß sie selbst es auch empfindet, das ist ihr ja am Gesicht anzusehen. Eine glückliche Braut sieht anders aus.

Es sollte mir sehr leid thun, sagt’ ich, wenn es so käme, wie Sie fürchten. Man braucht Ihre Pate nicht lange zu kennen, um zu wissen, daß sie einen Mann sehr glücklich machen könnte und wert wäre, den besten Mann zu finden.

Das ist ein wahres Wort, sagte die Alte, und das weiß niemand besser als ich und noch einer, mein armer Sohn, der glücklich gewesen wäre, wenn er sie hätte kriegen können, und weil sie ihn nicht genommen hat, weggegangen ist und sich nicht in seinem Elternhaus mehr hat blicken lassen. Wenn sie nun fort ist, wird er wohl wiederkommen, aber vergessen thut er sie nimmer, das weiß ich bestimmt, und wenn er mal eine andere heiratet – so wie mit der Johanne kann er’s mit keiner finden. Und das ist das einzige, wodurch sie mir jemals Kummer gemacht hat. Denn sonst – eine leibliche Tochter hätte nicht mehr für mich thun und mir treuer beistehen können, und das, was sie jetzt vorhat – du lieber Heiland, es ist ja auch nicht ihr freier Wille, sie wird dazu gezogen von einer Einbildung, die ihr den klaren Verstand verstört hat, und leidet selbst heimlich unter ihrem Eigensinn. Sehen Sie, lieber Herr, andere Mädchen haben zu wenig Gewissen, und sie hat zu viel. Das allein ist schuld an der ganzen unglücklichen Geschichte.

Ich sagte ihr, daß ich aus diesen rätselhaften Andeutungen nicht klug werden könne. Aber wenn es ein Familiengeheimnis wäre, wolle ich nicht weiter fragen, wie das zusammenhinge.

Nein, ein Familiengeheimnis sei es nicht. Die Johanne sei nicht mit ihr verwandt, nur mit ihrer verstorbenen Mutter sei sie gut bekannt gewesen, von der Schule her. Die habe dann aufs Dorf hinaus geheiratet, und wie dies, ihr erstes und einziges Kind gekommen sei, habe sie’s der alten Freundschaft wegen aus der Taufe gehoben, und die Kleine sei auch nach ihr genannt worden.

Und dann – das Dorf liege nur eine halbe Stunde von dem Städtchen entfernt – dann habe die Gevatterschaft es mit sich gebracht, daß sie einander von Zeit zu Zeit besucht hätten, und sie habe großes Gefallen an dem lieben Kinde gehabt, das schon von klein auf brav und gut gewesen sei, nur freilich immer einen eigenen Sinn gehabt habe. Was ihr einmal wichtig gewesen sei, davon habe sie niemand abbringen können, nicht einmal der Herr Pfarrer.

Auch sehr hübsch sei sie schon als Kind gewesen und habe sich immer ordentlich gehalten in ihrem Anzug und saubere Hände gehabt bei aller harten Arbeit, daß sie, die Pate, sich oft verwundert hätte, wie sie’s nur fertig bringe, während andere Dorfmädchen die reinen Schlampen sind. Dabei sei sie nicht eitel gewesen, oder doch nur so viel wie jedes Mädchen sein müsse, die was auf sich halte. Ich hab’ schon damals bei mir gedacht, die wäre einmal eine Frau für meinen Sohn und eine rechte Wirtin für den Bayrischen Löwen, sagte die Alte mit einem tiefen Seufzer. Aber unser Herrgott hat es anders beschlossen gehabt.

Sie hat sich als junges Ding besonders mit zwei Spielkameraden abgegeben, der eine war ein paar Jahre älter als sie, der Firmian vom Großbauern, ein hübscher Bub, groß und stark, aber ein bißchen langsam von Begriffen und in der Schule immer zurück. Der andere war der Sohn einer Taglöhnerin, ein lediges Kind, kleiner als der Firmian und grad so alt wie die Johanne, aber ein aufgeweckter Bursch, dieser Veit. Es hieß, seine Mutter, die eine durchtriebene Person war, habe sich mit dem Forstmeister eingelassen, der hat sich aber von ihr weggeleugnet und hat für den Buben nichts thun wollen. So ist er der Gemeinde zur Last gefallen, nachdem die Mutter gestorben war; man hat ihn beim Dorfschneider untergebracht, der ihm mehr Prügel als gute Bissen gab, was er auch verdient haben mochte, denn er steckte voll unnützer Streiche. Dabei war er aber immer kreuzwohlauf und duckte sich auch nicht vor den anderen Buben, die ihre richtigen Eltern hatten und ihn gern beiseite geschoben hätten. Besonders mit dem Firmian raufte er gern und hänselte ihn wo er konnte, zumal er auch in der Schule über ihm saß und der Lehrer ihm seine Unarten hingehen ließ wegen seines anschlägigen Kopfs trotz seiner Faulheit.

Um die kleine Johanne strich er immer herum wie der Hahn um die Henne. Sie aber, obwohl sie damals eine wilde Hummel war, was man ihr jetzt nicht mehr zutraut, hat sich nichts aus ihm gemacht. Sein schlechter Aufzug und das schmutzige Hemd waren ihr zuwider, und sie zog ihm den Firmian vor, schon weil der so viel von dem nichtsnutzigen Buben zu leiden hatte. Denn Sie müssen wissen, sagte die Frau, sie hat schon als ganz junges Ding ein gar mitleidiges Herz gehabt. Wenn sie gesehen hat, daß es einem Schwächeren schlecht ging von einem groben Lümmel, das brachte sie in hellen Zorn, und wenn’s nur ein kleiner Köter war, dem ein großer Schlächterhund das Fell zauste. So hat sie auch dem Firmian immer beigestanden, so oft der Veit ihn zum Narren machte oder beim Balgen ihm ein Bein stellte.

Das zog sich so hin, bis sie alle aus der Schule waren und gefirmelt wurden. Dann ist der Veit vom Dorf weggekommen, nach Nürnberg, wo er einen Onkel hatte, der war Obergesell bei einem Kunstschreiner. Da sollte er das Handwerk lernen, und man hörte auch, daß er sich ganz gut dazu anließ, auch keine

[25]

Junges Glück.
Nach einer Originalzeichnung von P. Barthel.

[26] schlechten Streiche mehr machte, weil jetzt der Onkel ihn kurz am Bändel hielt.

Der Firmian blieb natürlich bei den Eltern und half auf dem Felde. Er hatte es nicht zum besten, obwohl die Mutter eine gute Frau war. Der Vater aber war schon damals ein Säufer und im Rausch sehr gewaltthätig. Dagegen konnte jetzt den Buben die Johanne nicht mehr verteidigen, hatte auch genug mit sich selbst zu thun. Ich hätt’ sie schon damals gern zu mir genommen, sagte die Wirtin, und wußt’ auch, sie wär’ gern was Besseres geworden, als eine Bauerndirne, und hätt’ in der Stadt Nähen und Schneidern lernen mögen, um etwa zu einer Herrschaft als Jungfer zu kommen. Das mußt’ sie sich aber vergehen lassen, weil der Vater starb und die Mutter ein etwas schwachsinniges Weib war, die im Hause und auf dem Feld eine Hilfe brauchte.

Pate, sagte sie zu mir – sie war damals vierzehn Jahr alt – ich kann die Mutter nicht im Stich lassen, sie hat niemand als mich, es muß schon Gottes Wille sein, daß ich’s nicht weiter bringe als zum Kuhmelken und Garbenbinden. Nun, Johanne, sagt’ ich, kommt Zeit kommt Rat, und wenn’s einmal doch anders wird, so weißt du, wo deine Frau Pate wohnt und daß sie dir jederzeit aufmacht, wenn du bei ihr anklopfst.

Ich dachte nämlich, ihre Mutter würd’ es nicht lange mehr machen. Aber da die Tochter sie so gut verpflegte, hielt sie sich in ihrer Schwachheit und Gebrechlichkeit viele Jahre hin. Indessen wuchs das Mädel heran und wurde immer sauberer und stattlicher, so daß alle Bursche im Dorf in sie vernarrt waren. Am meisten der Firmian, der auch ein sehr schöner Mensch geworden war, bis auf den schläfrigen Ausdruck in seinem Gesicht. Noch immer wurde er von seinen Kameraden gehänselt, was der Johanne, so oft sie es mit ansehn mußte, einen Stich ins Herz gab. Es geschah auch aus Neid von den andern, da sie es ihm nicht gönnten, daß die Johanne zu ihm hielt, und alle wußten, wenn dem Firmian sein Vater nur seine Einwilligung gegeben hätte, wären die Zwei ein Paar geworden. Der alte Großbauer aber haßte seinen Sohn, den er einen Tropf nannte, und dachte nicht daran, ihm den Hof zu übergeben, daß er heiraten könnte.

*      *      *

Darüber vergingen die Jahre. Vom Veit hatte man nichts mehr gehört, als daß er zum Militär gemußt hatte. Der Firmian war frei geworden, ich weiß nicht, aus welchem Grunde, denn damals konnte man sich nicht mehr einen Stellvertreter kaufen. Vielleicht, weil er der einzige Sohn gewesen ist und der Vater sich für krank ausgegeben hat, daß er ohne ihn die Wirtschaft nicht hätt’ versehen können. Genug, er blieb im Dorf, als seine Altersgenossen fast alle den bunten Rock anziehen mußten.

Wie nun die Johanne sah, daß er ein so jämmerliches Leben bei dem tyrannischen Vater hatte und kein Ende abzusehen war, erklärte sie ihm eines Tages, sie habe die Mutter überredet, ihren Hof an ihn abzutreten, wenn er sie zu seiner Frau gemacht hätte. Ihr gutes Herz war mit ihr durchgegangen, obwohl sie einsehen mußte, mit einem solchen Mann würde sie nicht besonders glücklich werden.

Der Firmian aber verwußte sich nicht vor Glückseligkeit, und seinen Eltern war’s auch mehr als recht, den Sohn versorgt zu sehn, ohne selbst ins Altenteil gehn zu müssen. Also gingen die Zwei als ein erklärtes Brautpaar miteinander, der Bräutigam vierundzwanzig Jahr alt, meine Pate zwei Jahr jünger. Kind, sagt’ ich, hast du auch bedacht, was du da gethan und auf dich genommen hast? – Nein, Pate, sagte sie. So was muß man nicht bedenken, sonst thut man’s vielleicht nicht. Er hat mich aber zu sehr erbarmt, da hab’ ich Hand über Herz gelegt und bin mit zugekniffenen Augen hineingesprungen in mein Schicksal. – Armes Herz! dacht’ ich. Wenn dir die Augen nur nicht zu bald aufgehn! – Denn hatt’ ich den Firmian schon früher nicht leiden mögen trotz seiner blauen Vergißmeinnichtaugen und Backen wie Milch und Blut – jetzt vollends war er mir zuwider, wie er so stolz wie ein Pfau mit seiner Braut herumzog, und bildete sich wahrhaftig ein, er wäre das Mädel wert und sie könne von Glück sagen, daß er seine Augen auf sie geworfen habe.

Also blieb ich die nächste Zeit vom Dorfe weg, wohin ich sonst manchmal an einem Sonn- oder Feiertag hinausgefahren war, meine Gevatterin zu besuchen. Es kam mir zu hart an, meine Pate als Verlobte dieses Burschen zu finden und zu sehen, daß sie selbst nur eben gute Miene zum bösen Spiel machte.

Den ganzen Sommer hörte und sah ich auch nichts mehr von ihr. Da kam plötzlich eine entsetzliche Nachricht in unsere Stadt.

Stellen Sie sich vor, nur vierzehn Tage vor der Hochzeit, die gleich nach der Ernte gehalten werden sollte – ich war natürlich auch eingeladen worden, hatte mir aber vorgenommen, unter einem Vorwand wegzubleiben – auf einmal war der Veit wieder aufgetaucht, der inzwischen seine drei Jahre abgedient hatte. Er sei ganz verändert gewesen, noch gewachsen und in seiner Urlauber-Uniform ein bildsauberer Bursch, auch nicht mehr so ein Thunichtgut, sondern ganz anständig, bis auf die verwogene Manier, mit der er allen hübschen Dirnen keck in die Augen sah. Wie er aber der Johanne zum erstenmal wieder begegnet sei, habe er wie vom Blitz gerührt die Augen niedergeschlagen und ihr dann die Hand geboten und ein paar verlegene Worte gestammelt. Da sei der Firmian dazu gekommen und habe ihm nur so hochmütig zugenickt und gesagt: Bist auch wieder da, Veit? Na, beim Militär werden sie dir deine Nücken und Tücken schon ausgetrieben haben, und wenn du das Raufen lassen willst, kannst auch zu meiner Hochzeit kommen, Sonntag nach Mariä Geburt.

Der Veit habe kein Wort erwidert, ihn nur vom Kopf bis Fuß gemessen und dann mit einem kurzen Auflachen ihm den Rücken gekehrt. Die Johanne aber sei gleich ganz tiefsinnig gewesen und habe dem Firmian sein hochmütiges Betragen vorgeworfen, da der Veit doch nichts dafür könne, daß er ein haus- und habloser Bursch sei und früher keine bessere Erziehung genossen habe.

Hierüber sei es zum ersten Zank zwischen den Brautleuten gekommen, und der Firmian habe sich trutzig abgewendet, sich auch die nächsten Tage nicht bei ihr blicken lassen.

Wie es dann weiter gegangen, sagte die Frau, ist mir nicht ganz klar geworden. Es scheint, der Veit hat Gelegenheit gefunden, mit der Johanne verstohlen zusammenzukommen und ihr so viel vorzuschwätzen, wie unglücklich er sei, daß er zu spät komme, wie sehr sie es bereuen würde, einem solchen aufgeblasenen Trottel ihre Hand und den schönen Hof zu geben, und hat dabei all seine schlauen Künste aufgeboten, die er bei den Nürnberger und Münchener Mädeln gelernt haben mochte – kurz, der Johanne hat er dermaßen den Kopf verdreht, daß es jetzt ihr selbst unmöglich erschienen ist, den Firmian zu heiraten.

Ihm das geradezu einzugestehn, hat sie freilich doch nicht den Mut gehabt. Merken aber konnt’ er’s genug an der kalten Miene, mit der sie ihm begegnete, und auch auf dem Tanzboden, wo sie lieber mit dem Veit als mit ihrem Bräutigam tanzen mochte, was ganz gegen den Brauch war. Schon damals wär’s wohl zu schlimmen Auftritten gekommen, wenn der Firmian nicht gefürchtet hätte, von seinem Nebenbuhler elend zugerichtet zu werden. So saß er denn, während der sein Mädel herumschwenkte, mit verbissener Wut beim Kruge, den er öfter, als gut war, frisch füllen ließ, und nahm sich vor, der Johanne auf dem Heimweg die Meinung zu sagen. Auch das mußte er aber unterlassen, denn der Veit ließ sich’s nicht nehmen, den beiden bis zum Hause der Johanne das Geleit zu geben, wo er dann, wenn die Braut sicher hinter Schloß und Riegel war, mit einem spöttischen Lachen den schwachmütigen Bräutigam stehen ließ.

Diesmal aber erbarmte sich ihr gutes Herz nicht wie sonst des Schwächeren. Ja als er sie endlich offen zur Rede stellte und verlangte, sie solle dem frechen Gesellen die Wege weisen, erklärte sie ihm rund heraus, das sei seine Sache, und wenn er selbst nicht Manns genug wäre, sich einen Nebenbuhler vom Halse zu schaffen, bedanke sie sich dafür, seine Frau zu werden. Dabei mögen dann noch von ihrer und seiner Seite genug bittere und gehässige Worte gefallen sein, und das Ende vom Liede war, daß sie erklärte, aus der Hochzeit könne so bald noch nichts werden. Vor dem neuen Jahr denke sie nicht daran, ihre Freiheit aufzugeben, und auch dann komme es sehr darauf an, wie er sich bis dahin betragen hätte.

[27] Nun können Sie denken, fuhr die Frau fort, was für ein Aufsehen das im Dorf gemacht hat. Die Einen nahmen Partei für den Firmian, zumal sie sich ungern das Freibier und die sonstigen Hochzeitsfreuden entgehen ließen, die Schadenfrohen, die der reichen Schlafhaube das Mädel nicht gegönnt hatten, hielten zu dem Veit, der übrigens keine Aufmunterung brauchte, sondern im stillen entschlossen war, um jeden Preis den andern auszustechen und die Johanne für sich zu behalten.

Was in Firmian vorging, erriet niemand. Die meisten dachten, seine zahme Gemütsart werde ihn auch diesmal dahin bringen, zurückzutreten und auf das Mädel zu verzichten. Denn bis zum neuen Jahre einen neuen Menschen anzuziehen konnte er nicht wohl hoffen. Er hielt sich, wenn er nicht auf dem Felde zu thun hatte, in seiner Kammer eingeschlossen, vermied auch im Hause, so viel es ging, dem Vater unter die Augen zu kommen, der ihm beständig mit stachligen Reden und offenbaren Schimpfworten zusetzte, daß er sich von einer wetterwendischen Dirne und einem hergelaufenen Lumpen so schmachvoll behandeln ließ, und nur die Mutter, die aber im Hause nichts zu sagen hatte, schlich heimlich zu ihm und suchte ihm mit Weinen und Bitten das Herz aufzuschließen. Auch gegen sie aber verriet er mit keinem Wort, was er brütete.

Bis es denn eines Tages schrecklich ans Licht kam.

*      *      *

Die alte Frau schöpfte eine Weile Atem und zog den wollenen Shawl dichter um ihre gichtgeschwollenen Kniee. Dann sagte sie:

Ja, lieber Herr, wer hätte sich das träumen lassen, von diesem Firmian, dieser „Schlafhaube“! Aber stille Wasser sind tief.

Ich selbst wußte, seit ich zuletzt mit meiner Pate gesprochen hatte, nicht das Geringste von allem, was indessen auf dem Dorf geschehen war, nicht einmal, daß der Veit sich wieder gezeigt hatte. Als der zur Hochzeit bestimmte Sonntag herangekommen war, dachte ich nicht anders, als daß nun die Dinge ihren Lauf haben würden, der mir so sehr gegen den Strich ging, und als ich mich mittags mit meinem Mann zu Tische setzte, sagte ich: Jetzt ist’s geschehen, Martin, und sie muß ausessen, was sie sich gekocht hat. Ich danke nur Gott, daß ich nicht dabei zu sein brauche, wenn sie zum erstenmal als junge Frau neben dem langweiligen Menschen den Löffel in die Suppe taucht.

Mein Mann, der auch an der Johanne hing, wie an einer eigenen Tochter, sagte: Vielleicht geht’s doch besser aus als du meinst. Dir wäre keiner gut genug für sie gewesen. – Ich wußte aber, er redete anders, als er dachte; ihm that’s ebenso leid wie mir, daß sie nun für unsern Franz verloren war.

Nun, wir hatten kaum abgegessen, da kam eine Bekannte von mir aus dem Dorf ins Zimmer gestürzt und war noch ganz auseinander von dem Schrecken und nur zu mir in die Stadt gelaufen, daß ich der Mutter der Johanne zu Hilfe kommen möchte, die mit ihrem schwachen Kopf sich nicht zu raten und zu helfen wußte.

Denken Sie, was geschehen war.

Am Morgen nach dem Gottesdienst war die Johanne mit anderen Mädchen aus der Kirche getreten. Die Buben standen schon draußen auf dem kleinen Friedhof, unter ihnen der Veit. Der tritt lachend nach seiner übermütigen Manier auf das Mädel zu, macht seine militärische Reverenz und bietet ihr ein paar rote Nelken an, die sie auch ohne weiteres nimmt und vorne in ihren Brustlatz steckt. Gesprochen haben sie weiter nichts miteinander. In demselben Augenblick schiebt der Firmian, der zuhinterst bei den Buben gestanden hatte, die Vorderen beiseite, tritt auf den Veit zu und sagt ihm mit rollenden Augen und heiserer Stimme, er habe ein Wörtchen mit ihm zu reden. So viel du willst, sagt dieser und streicht sich den kleinen Schnurrbart, indem er den anderen zuzwinkert. Alle merken gleich, daß es mit dem Firmian nicht ganz richtig ist, und wollen den Veit abhalten, sich hier an dem heiligen Ort mit ihm einzulassen. Der aber war seinem Feinde schon gefolgt, bis an die Mauer des Gottesackers, da bleiben sie stehen, und man hört den Firmian in den andern hineinreden, erst ganz leise, dann immer hitziger, zuletzt wie er ganz rasend wird und schreit: Ich verbiete dir, mit meiner Braut überhaupt noch ein Wort zu reden! Gleich heute machst du, daß du weiter kommst, und wenn du dich jemals wieder hier im Dorf blicken läßt, schieß’ ich dich über den Haufen, wie einen tollen Hund!

Oho! sagt der andere, dazu gehören zwei, mein Lieber. Wenn die Johanne mir nicht das Maul verbietet, hat kein Mensch dreinzureden. Du hast einen Rausch, Freundchen, du kannst nicht viel vertragen. Geh’ heim und leg’ dich aufs Ohr! – und noch ein paar so anzügliche Reden.

Der Firmian wird weiß im Gesicht wie die Friedhofsmauer. Es schien, er wollte noch was sagen, aber er keuchte bloß wie einer, der ersticken will, und auf einmal hörte man zwei Schüsse, rasch nacheinander und sah, wie der Veit mit blutbespritztem Gesicht, die Arme durch die Luft schlagend, zusammenbricht und vornüber auf die Grabhügel hinsinkt.

Heilige Mutter Gottes – Veit! hört man die Johanne rufen, und sie will wie eine Verzweifelte zu ihm hinstürzen, aber eine Ohnmacht raubt ihr die Kraft, sie fällt besinnungslos ihren Kameradinnen in die Arme, die schaffen sie eilig nach Hause. Den Firmian, der mit einem blöden Lachen ganz ruhig dasteht, packen gleich einige der Buben, und er läßt sich auch geduldig abführen. Andere trugen den Veit in die Kirche; der Bader war gleich zur Hand, er konnte aber nichts machen. Die erste Kugel hatte die Brust nur gestreift, die zweite aber die Stirn getroffen und steckte noch in dem Schädel.

Als ich zu meiner Gevatterin hinauskam, fand ich, wie Sie denken können, das ganze Dorf in Aufruhr. Den Thäter hatte man schon von Polizeiwegen festgenommen und ins Gefängnis gebracht. Sein Opfer lag noch vor der Kirchenthür auf einer Bahre; der Wirt, bei dem er logiert hatte, hatte die Leiche nicht in sein Haus nehmen wollen.

Die Johanne konnt’ ich nicht sehen. Sobald sie wieder zu sich gekommen war, hatte sie alle, auch die Mutter, aus der Kammer getrieben und sich eingeriegelt. Auf keine Bitte oder Frage gab sie Antwort.

Ich blieb die Nacht und den folgenden Tag draußen, dann mußte ich wieder in mein Haus zurück, ohne das Begräbnis abzuwarten, zumal ich auch meine Pate nicht zu sehen bekam. Ich hörte dann, erst nachdem der Veit bestattet war sei die Johanne wieder zum Vorschein gekommen, aber stumm und starr wie ein gemaltes Bild, habe auch das Haus seitdem nicht verlassen und sich um den Stall und die Feldarbeit nicht mehr gekümmert. Nur um die Mutter, die der Schrecken aufs Krankenlager geworfen, habe sie sich gesorgt und nachts bei ihr gewacht, doch immer ohne ein Wort zu reden.

Dann, als die Sache vors Gericht kam, mußte sie freilich als Zeugin den Mund aufthun, gestand auch, sie fühle sich schuldig, da sie dem Veit Hoffnungen gemacht habe, trotzdem sie mit seinem Mörder versprochen gewesen sei. Daß sie selbst straflos ausging, wollte sie erst nicht glauben und sagte dem Firmian alles Gute nach, mehr als sie selber für wahr halten mochte. Das half aber so wenig als die Rede des Verteidigers, der die geminderte Zurechnungsfähigkeit behauptete und seinen Klienten überhaupt als schwachsinnig hinstellen wollte. Damit kam er aber nicht durch. Denn der Firmian selbst blieb dabei, er habe die That mit vollem Bewußtsein gethan, den Revolver nur zu dem Zweck gekauft, den verhaßten Menschen aus der Welt zu schaffen, wenn er nicht gutwillig sich selbst aus dem Wege räumte. Und wenn er jetzt geköpft würde, sei’s ihm ganz recht; denn ohne das Mädel könne er doch nicht weiterleben.

Die Geschworenen schienen sich aber zu erbarmen, und er wurde nicht des Mordes, sondern nur des Totschlags schuldig befunden, und statt zum Tode zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt.

Er hörte den Spruch an, ohne eine Miene zu verziehen. Nur als die Johanne, die selbst wie eine verurteilte arme Sünderin dagesessen hatte, auf ihn zuging, ihm die Hand hinhielt und etwas zu ihm sagen wollte, stieß er einen dumpfen Laut aus, in sein fahles Gesicht schoß das rote Blut, und mit beiden Armen wehrte er sie ab, als ob sie eine Pestkranke wäre. Dann ließ er sich ruhig abführen.

(Schluß folgt.     )


[28]

Das Sakramentshäuschen in der St. Lorenzkirche zu Nürnberg.
Nach dem Gemälde von Paul Ritter.

[29] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [30]

Die „Frau von Auvernier“.

Wer ist die Frau von Auvernier? Diese Frage wird sich jedem sogleich aufdrängen, der diese Zeilen zu lesen beginnt und das beigefügte Porträt aufmerksam betrachtet. In der That gehört das Gesicht zu denjenigen, welche man nicht so leicht wieder vergißt, und die Trägerin desselben wird vielen auf den ersten Blick als eine ganz eigenartige Person erscheinen. Das ist sie für uns wirklich; denn das Urbild dieser Büste hat vor mehreren Jahrtausenden in einem Pfahldorfe am Neuenburger See in der Schweiz gelebt, zu einer Zeit, als ein großer Teil Mittel- und Nordeuropas noch ein sehr rauhes Klima besaß und der Mensch sich mit steinernen Geräten und Waffen behelfen mußte. Bildhauer, die eine Porträtbüste anzufertigen imstande waren, gab es damals natürlich noch nicht, und wenn es uns heute möglich ist, nach Verlauf von manchem Jahrtausend, den Gesichtsausdruck dieser ehemaligen Pfahlbaubewohnerin zu betrachten, so verdanken wir dies lediglich den Fortschritten der wissenschaftlichen Forschung. Diese Büste ist nämlich auf Grund anatomischer Untersuchungen von J. Kollmann und W. Büchly rekonstruiert worden. Der Schädel, welcher als Grundlage diente, wurde in Auvernier am Neuenburger See, von Schlamm bedeckt, aufgefunden, nachdem er dort jahrtausendelang gelegen hatte.

Büste einer Pfahlbaubewohnerin aus der Steinzeit Europas.
Nach einer Vorlage aus der „Naturwissenschaftlichen Rundschau“.

Es ist bekannt, daß die Paläontologen aus den Knochen vorweltlicher Tiere nach den Lehren der vergleichenden Anatomie deren Skelett aufzubauen wissen und, indem sie es nach denselben Lehren mit Weichteilen bekleiden, uns das vorweltliche Tier nach seinem wirklichen Aussehen vorführen. In derselben Weise läßt sich auch die Büste eines Menschen, der vor langer Zeit gelebt hat und von dem nur der Schädel noch vorhanden ist, herstellen. Der erste Versuch dieser Art wurde vor einigen Jahren in Leipzig ausgeführt.

Der berühmte Komponist Johann Sebastian Bach wurde am 31. Juli 1750 auf dem Johannisfriedhofe zu Leipzig in der Nähe der gleichnamigen Kirche begraben. Im Laufe der Zeit ist aber die Stelle, an der sich die Gruft befand, in Vergessenheit geraten. Als man nun im Jahre 1894 zum Neubau der Kirche schritt, stellte man Nachgrabungen an, um die Gebeine Bachs zu finden. Am 22. Oktober 1894 hob man in der That die Gebeine eines Mannes aus, die allem Anschein nach die sterblichen Ueberreste des großen Komponisten bildeten. Mit der Untersuchung derselben wurde u. a. der Professor der Anatomie an der Leipziger Universität Dr. Wilhelm His beauftragt. Um die Streitfrage zu entscheiden, wählte er folgenden Weg.

In Leipzig waren gute Porträts von Bach erhalten. His meinte nun, wenn der fragliche Schädel wirklich der von Bach war, so müßte ein Bildhauer um denselben eine Büste modellieren können, die in ihren charakteristischen Zügen den Bildnissen Bachs ähnlich wäre. Mit der Lösung dieser Aufgabe wurde der Bildhauer Karl Seffner beauftragt. In der That gelang es ihm leicht, eine solche Büste zu schaffen. Es wurde aber der Einwand erhoben, daß ein Künstler wohl imstande sei, über jeden Schädel einen beliebigen Kopf zu modellieren. Seffner modellierte nun über den Schädel von Bach den Kopf Händels; die Büste schien gelungen; aber das war sie nur bei oberflächlicher Betrachtung. Die nähere Untersuchung lehrte vielmehr, daß sie ein anatomisches Unding war. Stellen, die im Leben nur wenig Weichteile über den Knochen aufweisen, erschienen auf dieser Büste stark gepolstert, und umgekehrt.

Um nun alle Einwände zu beseitigen, stellte Professor His Untersuchungen an, in welcher Weise beim Menschen die Knochen des Schädels mit Weichteilen bedeckt sind. Es ergab sich dabei, daß die Verhältnisse immer die gleichen seien, wenn es sich um Menschen gleichen Alters, gleichen Geschlechts und gleicher Ernährung handelt. Für die Rekonstruktion der Bachschen Büste wurden darum nur Maße von Personen, die im Alter von 50 bis 70 Jahren standen, verwertet. Die Ergebnisse seiner genauen Messungen übergab der Anatom dem Bildhauer. Seffner arbeitete nun ganz genau nach den gegebenen Zahlen, indem er stets die vorgeschriebene Dicke der Weichteile im Modellierthon auf einen Gipsabguß des Schädels auflegte. So fertigte er eine neue Büste, deren Züge eine geradezu überraschende Uebereinstimmung mit den vorhandenen Bildnissen Bachs aufwiesen.

Gegen die Berechtigung dieser Rekonstruktion läßt sich nichts einwenden. Bach lebte vor 150 Jahren, und seit jener Zeit hat sich der Bau des menschlichen Körpers gewiß nicht verändert. Die Messungen, die der Anatom an jetzt lebenden Menschen angestellt hatte, ergaben Resultate, die ohne Zweifel auch für die Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts maßgebend waren.

Ist es aber erlaubt, in derselben Weise nach einem gefundenen Schädel Büsten von Menschen zu modellieren, die vor Jahrtausenden gelebt und einem anderen, heute völlig verschollenen Volke angehört haben? Man glaubt, diese Frage wohl bejahen zu dürfen. In den letzten Jahrzehnten hat die mächtig emporblühende Wissenschaft der Anthropologie festgestellt, daß die Menschenrassen sich in Bezug auf ihre charakteristischen Eigenschaften seit Jahrtausenden nicht geändert haben, sondern heute noch die gleichen Merkmale aufweisen wie in jener altersgrauen Vorzeit, als unsere Ahnen den Gebrauch der Metalle noch nicht kannten. Die direkten Beobachtungen und Erfahrungen der letzten Jahrhunderte zeigen, daß die äußere Umgebung zwar einen gewissen Einfluß auf manche individuellen Eigenschaften des Menschen ausübt, daß aber die Merkmale der Rasse dadurch nicht verändert werden.

Wenden wir uns nach Aegypten, so sehen wir auf den dortigen Denkmälern, die mehrere Jahrtausende alt sind, Darstellungen von Menschen, die in ihrem ganzen Typus den heute dort lebenden Eingeborenen völlig ähnlich sind. Weder die Neger noch die Semiten noch die Indogermanen (Arier) haben ihren Typus seit Jahrtausenden verändert, und während die einzelnen Völker, wie Griechen, Römer, Kelten, Helvetier etc., im Laufe der Jahrhunderte emporkamen und wieder verschwanden, haben die Rassen alle Zeiten überdauert. Um daher Rassenporträts vorhistorischer Menschen zu liefern, hat man lediglich die Dicke der Weichteile der jetzt lebenden Varietäten wissenschaftlich festzustellen und entsprechend auf einen der vorgeschichtlichen Schädel zu übertragen.

Dies ist von Professor Kollmann geschehen; auf Grund genauer Messungen an einer Gipskopie des obengenannten Schädels, der sich durch tadellose Erhaltung der Gesichtsknochen auszeichnet, hat er mit größter Genauigkeit die entsprechenden Dicken der Weichteile aufgetragen, und so ist die Büste entstanden. Sie hat von den obengenannten Forschern den Namen „Frau von Auvernier“ erhalten.

Dieses Gesicht ist also das älteste Menschenantlitz aus Mitteleuropa, welches wir heute kennen. Es ist breit, hat eine flache Stirn, vorspringende Wangen, kurze etwas aufstrebende Nase, vollen Mund und schwellende Lippen und deutlich markierte Kieferwinkel. Diese Darstellung beruht nicht auf Phantasie, sondern für all diese Merkmale liegen, wie die genannten Forscher sagen, die unverrückbaren Dimensionen in den Knochen, die das Fundament darstellen! Jahrtausende sind ins Meer der Ewigkeit gezogen, seit diese Frau an dem Ufer des Neuenburger Sees lebte, aber ihre Gesichtszüge sind uns nicht fremd, wir sind ähnlichen unter den heute Lebenden schon begegnet, und sie werden sich auch noch viele Jahrtausende hindurch erhalten. z     


Die Wahrheit und die Legende über die Pariser Bastille.

Von Felix Vogt.


Wenn man Paris vom Lyoner Bahnhof aus betritt, so ist das erste große Monument, das man zu sehen bekommt, die Julisäule auf dem Bastillenplatz. Auf hoher Säule schwebt da ein vergoldeter Genius aus Bronze, der in der einen Hand eine Fackel hält und in der andern eine zerrissene Kette schwingt. Die Fackel bedeutet die Aufklärung und die Kette die gesprengten Sklavenfesseln. Zwei revolutionäre Ereignisse werden durch dieses Denkmal verherrlicht: die Einnahme der Bastille am 14. Juli 1789 und der Sturz Karls X durch die Julirevolution im Jahre 1830. Betrachtet man den Platz, dessen Mittelpunkt die Säule bildet, recht genau, so sieht man auch in der westlichen Ecke eine durch weiße Pflastersteine gebildete Linie. Diese Linie giebt den alten Umriß der Bastille an, welche das Volk zu Beginn der großen Revolution von Grund aus zerstört hat. Seit zwanzig Jahren ist außerdem der Tag des Bastillensturms zum Nationalfest erhoben worden, das ungefähr so gefeiert wird wie vordem der Napoleonstag des 15. August. Das ist viel Ehre, und da darf man sich wohl fragen, ob sie auch gerechtfertigt ist!

[31] Durch diese hohen Auszeichnungen des Ortes und des Zeitpunktes hat die Bastille in den Augen der Welt erst recht die Bedeutung einer finsteren Burg grausamer Tyrannenwillkür und ihre Einnahme die einer großartigen und mutigen volksbefreienden That erlangt. Sie wird noch immer als der erste Schritt zur Revolution begrüßt, welche zuerst Frankreich und mittelbar auch andere Länder Europas vom Willkürregiment des Absolutismus befreite. Diese Auffassung ist jedoch nur insofern richtig, als die Zerstörung der Bastille durch das Pariser Volk aller Welt die Ohnmacht des französischen Königtums offenbarte und dessen Sturz, der erst drei Jahre später erfolgte, wirksam vorbereitete. Es ist auch zuzugeben, daß die Bastille ein besonderes Wahrzeichen der unumschränkten Herrschergewalt war, weil hier vorzugsweise solche Gefangene untergebracht wurden, die ohne gerichtliches Verfahren auf eine lettre de cachet, d. h. einen bloßen Brief mit dem königlichen Siegel hin ihrer Freiheit beraubt wurden. Alles übrige dagegen ist Uebertreibung oder freie Erfindung, gegen die alle neueren Historiker Stellung genommen haben. Die Schleifung der unnötig gewordenen Bastille war vom König und seinen Ministern schon seit fünf Jahren beschlossen, als das Volk sie niederriß. Sie enthielt damals bloß noch sieben Gefangene, von denen sechs nach jetzigem Recht viel strenger bestraft worden wären als damals. Der Pöbel, gegen dessen Ausschreitungen die wahren Bürger alsbald eine Bürgerwehr bilden mußten, war sich auch anfangs gar keiner befreienden That bewußt, als er nach der Bastille zog, sondern wollte dort nur Waffen holen, um seine Plünderungen in der Stadt und der Umgegend fortzusetzen. Die Festung wurde ferner nicht mit Todesmut erstürmt, sondern von der ausgehungerten Besatzung unter der Bedingung freien Abzugs übergeben. Trotzdem wurden der Gouverneur und ein Teil der Garnison niedergemacht.

Statt den Beginn der Revolution von der Einnahme der Bastille zu datieren, rückt man ihn besser um drei Wochen weiter und setzt ihn auf die Nacht des 4. August an, wo die Nationalversammlung in feierlicher Sitzung alle Privilegien der Geburt und des Standes aufhob. Dieser großartige Beschluß wäre auch ohne die Einnahme der Bastille gefaßt worden, so gut war er durch Montesquieu, Voltaire, Rousseau und die Encyklopädisten vorbereitet. Neben ihm kann jene Gewaltthat höchstens die Bedeutung einer symbolischen Handlung beanspruchen.

Richtig ist freilich, daß die Bastille schon lange vor 1789 allen Pariser Bürgern ein Dorn im Auge war, viel mehr als die übrigen Gefängnisse der Stadt, wo die Gefangenen zahlreicher waren und viel schlechter behandelt wurden. Der Grund davon war die Heimlichthuerei, die zu den grausigsten Legenden Anlaß gegeben und diesen eine ungeheure Zahl gläubiger Abnehmer verschafft hatte, und diese Heimlichthuerei war eine notwendige Folge des von Richelieu begründeten, von Ludwig XIV auf die Spitze getriebenen und von seinen Nachfolgern nur wenig gemilderten Regierungssystems der königlichen Allgewalt. Es ist nicht schwer, dies an der Geschichte der zwei berühmtesten Gefangenen der Bastille nachzuweisen, durch welche sie zumeist zu ihrem üblen Rufe gekommen ist, an der Geschichte der Eisernen Maske und an der von Latude, für die wir hier nach den neuesten Untersuchungen[1] Wahrheit und Legende nebeneinander stellen wollen.

Was war die Bastille ursprünglich? Nichts anderes als eine Befestigung des Thores von Saint-Antoine, die zur Zeit gebaut wurde, da die Engländer das Land unsicher machten.

Damals nannte man jede derartige Thorbefestigung Bastide oder Bastille. Es war auch nicht König Karl V, der am 22. April 1370 ihren Grundstein legte, sondern der Bürgermeister von Paris oder, wie man damals sagte, der prévôt des marchands Hugues Aubriot. Schon früh wurden, wie in jeder Festung, gelegentlich Gefangene in der Bastille untergebracht, aber zwei Jahrhunderte lang blieb sie nicht nur Festung, sondern war sogar oft der Schauplatz königlicher Feste und Lustbarkeiten, so namentlich unter Ludwig XI und Franz I. Noch unter Heinrich II wurde die Befestigung durch die Anlage einer Bastei verstärkt, die später den Gefangenen als Promenade diente. Unter Richelieu trat der Wechsel ein. Vor ihm waren die vornehmsten Herren des Hofes Gouverneure des „königlichen Schlosses der Bastille“, wie der offizielle Titel lautete, gewesen. Er ernannte dazu den Bruder seines Faktotums, des Paters Joseph, einen gewissen Leclerc du Tremblay, der nichts als ein finsterer Gefängniswärter war.

Aber auch von da an bis auf ihr Ende unter Ludwig XVI war die Bastille kein Gefängnis für jedermann, sie öffnete sich bloß für Leute von Stand oder Rang. Sie war ein vornehmes Gefängnis, wo die Leute mit Rücksicht, ja oft mit Auszeichnung behandelt wurden, wenn sie sich nicht durch schlechte Aufführung die zeitweise und nie lange dauernde Versetzung in die Kellerverließe zuzogen. Die Zeugnisse sind haufenweise vorhanden, wonach die Bastille ein ebenso „fideles Gefängnis“ war wie das in der Operette „Die Fledermaus“. Da verlangte z. B. einmal eine Dame, die an einem Komplott zur Entthronung des unmündigen Ludwig XV teilgenommen hatte, ein weißes Kleid mit grünen Blumen. Die Frau des Gouverneurs suchte alle Kramladen von Paris ab, um den nötigen Stoff zu finden. Er war nirgends zu haben, und so entschloß sie sich zu einem weißen Stoff mit grünen Streifen. Der Bericht, der darüber erhalten ist, schließt mit der Hoffnung, daß die verwöhnte Hochverräterin, der man nebenbei auch eine Liebeskorrespondenz mit einem Mitgefangenen gestattete, mit diesem Kleide zufrieden sein werde. Ungefähr ein Jahr vor der Zerstörung mußten zwölf bretonische Edelleute, die dem König eine Bittschrift mit Reformvorschlägen überbracht hatten, dafür zwei Monate in der Bastille zubringen. Um ihnen die Zeit zu verkürzen, wurde vom Gouverneur ein Billard angeschafft. Einem Edelmann, der mit seinem Bedienten in die Bastille einzog, was bei vornehmen Herren die Regel war, wurde am ersten Tag ein Mittagsessen in die Zelle gebracht, das ihm vortrefflich schmeckte. Es war gesunde und sehr reichliche kräftige Kost. Als er damit zu Ende war, brachte man ein zweites Mittagsessen, das aus den erlesensten Leckerbissen bestand. Jetzt bemerkte er seinen Irrtum: er hatte die Mahlzeit seines Bedienten eingenommen, und nun blieb ihm nichts anderes übrig, als die vornehmeren Tafelgenüsse diesem zu überlassen. Unter Ludwig XVI erhielt der Gouverneur täglich hundertfünfzig Livres (nach jetzigem Geldwert mindestens dreihundert Mark) für den Unterhalt von fünfzehn Gefangenen, eine Zahl, die zu dieser Zeit fast nie erreicht wurde. Es wurde ihm also geradezu zur Pflicht gemacht, die Opfer der Tyrannenwillkür fürstlich zu verpflegen. Freilich hatte das Wohlleben in dem Gefängnis seine schlimmen Seiten. Der allzu reichlichen Nahrung bei geringer Bewegung oder Arbeit ist vielleicht die große Zahl von Wahnsinnsanfällen in der Bastille zuzuschreiben.

Doch kommen wir endlich zur Eisernen Maske, die zu so viel Schauerromanen und gewagten historischen Hypothesen Anlaß gegeben hat! Das Geheimnis darf jetzt als gelöst betrachtet werden, nachdem die boshafte, jeder sicheren Grundlage entbehrende Vermutung Voltaires, die Alexandre Dumas im „Vicomte de Bragelonne“ mit seiner ebenso fruchtbaren als oberflächlichen Phantasie in die weitesten Kreise getragen hat, endgültig überwunden worden ist. Schon im Jahre 1770 war die Wahrheit von dem in Pfalzburg lebenden elsässer Baron von Heiß entdeckt und im „Journal Encyclopédique“ mitgeteilt worden; aber der bescheidene Gelehrte konnte nicht aufkommen gegen den berühmten Patriarchen von Ferney, der dreimal ansetzte und immer bestimmter den Mann mit der eisernen Maske als einen Stiefbruder Ludwigs XIV bezeichnete.

Die Wahrheit ist weniger romantisch, aber historisch um so interessanter, weil sie für die zugleich gewaltsame und heimtückische auswärtige Politik des „Sonnenkönigs“ charakteristisch ist. Im Jahre 1632 war die feste Stadt Pinerolo (Pignerol) in Piemont in französischen Besitz gelangt. Das machte Ludwig XIV und seine Minister lüstern, noch mehr Erwerbungen in Oberitalien zu machen und das Haus Savoyen zu verdrängen. Sie warfen ihre Augen auf Casale, das dem liederlichen und tiefverschuldeten Herzog von Mantua gehörte. Im Besitz von Pinerolo und Casale hätten sie Turin wie mit einer Zange packen können. In Mantua war im Jahre 1674 nächst dem Herzog der damals 37jährige Graf Ercole Antonio Mattioli (in Frankreich meist Matthioli geschrieben) die wichtigste Persönlichkeit im Staate. An ihn machte sich nun der intrigante französische Gesandte in Venedig, der [32] Abbe d’ Estrades, und schlug ihm den Verkauf von Casale vor. Mattioli ging darauf ein. Es wurde ein Preis von hunderttausend Thalern ausgemacht und Ludwig XIV schrieb eigenhändig am 12. Januar 1678 an Mattioli einen Dankesbrief. Im folgenden Winter kam dieser nach Paris, und am 8. December wurde der Vertrag in Versailles unterzeichnet. Mattioli erhielt einen Diamantring und hundert Doppellouis zum Geschenk. Zwei Monate später erfuhr man jedoch, daß Mattioli selbst das Geheimnis um Geld an die Höfe von Wien, Madrid und Turin und die Republik von Venedig verraten hatte und daß deswegen der französische Gesandte Baron d’ Asfeld, der mit Mattioli die Ratifikationen austauschen sollte, in Mailand verhaftet und den Spaniern ausgeliefert worden war. So entging den Franzosen Casale und stand der König von Frankreich obendrein beschämt den übrigen Höfen gegenüber. Um aber noch zu retten, was zu retten war, und allen weiteren Indiskretionen die Spitze abzubrechen, lockte der Abbe d’ Estrades den Grafen Mattioli, der noch nicht wußte, daß er durchschaut war, nach Turin und entführte ihn von dort mit Hilfe des Generals Catinat nach Pinerolo. Es scheint, daß sowohl der Herzog von Savoyen als der von Mantua mit diesem Handstreich einverstanden waren. Es war aber dennoch eine Verletzung des Völkerrechts, denn Mattioli hätte in Mantua zu gerichtlicher Verantwortung gezogen werden sollen. Ludwig XIV maßte sich also widerrechtlich die Rolle des Richters an und verurteilte Mattioli mit noch stärkerer Rechtsverletzung ohne Prozeß zu lebenslänglicher Haft, die er zuerst in Pinerolo und dann bis zu seinem Tode am 19. November 1703 in der Bastille zubrachte.

An der Legende von der Eisernen Maske ist schon der Name falsch. Mattioli trug keine eiserne Maske, die er nie hätte abziehen dürfen, sondern, wie mehrere andere Gefangene der Bastille, eine Maske aus schwarzem Sammet, wenn er mit den übrigen Gefangenen oder mit Fremden zusammenkam. Nach und nach wurde jedoch das Geheimnis weniger ängstlich gehütet und in den letzten Jahren Mattioli oft mit andern Gefangenen in die gleiche Zelle gelegt. Als er starb, wurde auf dem Register der Kirche Saint-Paul der Name Marchialy oder Marchioly (die Schrift ist sehr nachlässig und inkorrekt) eingetragen, der sich mit Matthioli näher berührt als mit irgend einem andern der von den Forschern in Betracht gezogenen Namen.

Das ist die wahre Geschichte der Eisernen Maske. Wie entstand nun die Legende? Im Jahre 1745 erschien zuerst in einer anonymen Hofchronik, in der die Skandale von Versailles nach Persien versetzt wurden, die Vermutung, daß der geheimnisvolle Gefangene der Graf von Vermandois, der Sohn Ludwigs XIV und der Louise de la Valliere, gewesen sei. Da derselbe aber urkundlich am 18. November 1683 in Courtrai gestorben ist, so kann er unmöglich bis 1703 unter der schwarzen Maske in der Bastille gelebt haben. Voltaire hatte damals schon zweimal auf kurze Zeit in der Bastille gesessen, vom Mai 1717 bis zum April 1718 wegen eines ebenso beleidigenden als unflätigen Gedichts auf den Regenten und seine Tochter, und im April 1726 zwölf Tage lang, weil er sich an einem Chevalier de Rohan-Chabot, der ihn auf der Straße hatte durchprügeln lassen, in ähnlicher Weise rächen wollte. Er griff den Gedanken auf, daß der maskierte Gefangene von königlichem Geblüte gewesen sei, und machte aus ihm einen Sohn Mazarins und der Königin Anna, einen älteren Stiefbruder Ludwigs XIV. Er beschrieb auch zuerst genau die eiserne Maske, deren unterer Teil nach ihm verschiebbar war, damit der Gefangene sie sogar beim Essen tragen konnte. Er beschrieb sie so gut, daß man in unserem Jahrhundert diese Maske unter einem Haufen alten Eisens in Langres wirklich fand. Eine herzbrechende Inschrift bezeugte ihre Echtheit für fühlsame Herzen und ihre Unechtheit für jeden Vernünftigen.

Unter dem Kaiserreich wurde die Legende dahin umgewandelt, daß die Eiserne Maske der legitime älteste Sohn Ludwigs XIII war, den Mazarin durch seinen eigenen Sohn verdrängt habe. Auf der Insel Sainte-Marguerite habe sich der Gefangene mit der Tochter eines Wärters vermählt und einen Sohn erzeugt, der nach Korsika gebracht wurde und den Namen Buonaparte erhielt. So wurde sogar für die strengsten Legitimisten bewiesen, daß nicht Ludwig XVIII, sondern Napoleon der rechtmäßige Herrscher Frankreichs sei. Noch heute giebt es überdies einen Privatgelehrten Namens Loquin, der in zwei Büchern behauptet hat, Moliere sei nicht im Jahre 1673 nach einer Vorstellung des „Malade imaginaire“ gestorben, sondern auf Betreiben der Jesuiten wegen des „Tartuffe“ in die Bastille gesperrt und als Eiserne oder Sammetne Maske im Jahre 1703 begraben worden.

Noch mehr als das beängstigende Rätsel der Eisernen Maske haben die Memoiren von Latude im achtzehnten Jahrhundert die Bastille mit Schrecken und Grauen umgeben. Der vierundzwanzigjährige Chirurg Jean Henry Aubrespy, der Sohn einer armen Nähterin von Montagnac in Languedoc, hatte in Paris seine bei der Armee gemachten Ersparnisse verpraßt und verfiel nun auf den Gedanken, den Lebensretter der Marquise de Pompadour zu spielen, um eine königliche Belohnung zu erhalten. Zu diesem Zwecke schickte er durch die Post ein kleines, scheinbar explodierbares, in Wahrheit ganz ungefährliches Paket an die Geliebte des Königs, kam aber dessen Ankunft in Versailles in eigener Person zuvor und denunzierte dort zwei unbekannte Attentäter, die er in Paris auf der Straße belauscht haben wollte, wie sie die Absendung ihrer Höllenmaschine beschlossen. Die Geschichte klang so verdächtig, daß sich die Polizei zuerst des Denunzianten bemächtigte und in seiner Wohnung eine Haussuchung anstellte. Diese ergab sehr klar, daß Aubrespy, der sich damals Jean Danry nannte und sich erst später in der Gefangenschaft den Titel eines Vicomte de la Tude beilegte, gleichzeitig Attentäter und Denunziant war.

Trotz dieser Aufklärung zeigte sich die Pompadour, die eben damals den Minister Maurepas hatte in Ungnade fallen lassen und seine Rache fürchtete, sehr beunruhigt. Sie argwöhnte hinter dem Bubenstreich des jungen Feldschers irgend ein Komplott ihrer vornehmen Gegner, und deshalb wurde das einfache Vergehen von der Polizei als hochpolitisches Geheimnis behandelt und Danry wie ein Verbrecher von Rang und Stand am 1. Mai 1749 in die Bastille gebracht. Er selbst leistete diesem Irrtum durch lügenhafte und widerspruchsvolle Aussagen Vorschub, und so kam es, daß sich sein Prozeß ungebührlich in die Länge zog.

Am 28. Juli wurde Danry nach der Festung von Vincennes in der Nähe von Paris übergeführt, die ebenfalls ein Gefängnis für die feine Welt war. Am 15. Juni des folgenden Jahres entwich er von dort auf die einfachste Art. Beim Spaziergang im eingeschlossenen Garten sah er, wie ein großer Hund durch bloßes Anstoßen eine Thüre öffnete, die sonst fest verschlossen war. Durch sie gelangte er ins Freie und floh nach Paris.

Die Freiheit dauerte jedoch nicht lange. Von allen Mitteln entblößt, schrieb Danry an den Leibarzt der Pompadour, den später als Nationalökonom berühmt gewordenen Dr. Quesnay, der ihm einiges Interesse gezeigt hatte. Die Polizei fing den Brief auf und entdeckte so das Versteck des Flüchtlings, der alsbald in die Bastille zurückgebracht und zur Strafe in eines der Kellerverließe gesperrt wurde.

Lange dauerte diese Strafe übrigens nicht. Danry erhielt bald darauf eine gemeinsame Zelle mit dem Marseiller Mathematiker Allègre, der in der Bastille saß, weil er ebenfalls durch die Denunziation eines falschen Komplotts die Pompadour beunruhigt hatte. Danry und Allègre reizten sich gegenseitig auf, da sie beide heftigen Charakters waren, und galten alsbald bei ihrem Wärter für halb oder ganz verrückt. Danry schrieb abwechselnd unterwürfige und beleidigende Briefe an die Pompadour, und als man ihm Tinte und Papier entzog, malte er mit seinem Blut Buchstaben auf Leinwandstücke. Er fand diese Beschäftigung so interessant, daß er sie noch fortsetzte, als man ihm sein Schreibzeug wiedergegeben hatte. In der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1756 entflohen endlich Danry und Allègre, indem sie durch das Kamin auf die Plattform stiegen und sich von dort an einer Strickleiter hinunterließen, die sie mit großer Kunst aus ihren Bettdecken gefertigt hatten und die noch heute im städtischen Museum Carnavalet zu Paris zu sehen ist. Allègre, der später wirklich ganz verrückt wurde, gelangte nur bis Brüssel, weil er die Thorheit beging, von dort seine mächtige Feindin brieflich zu beschimpfen. Danry wurde am 1. Juni in Amsterdam entdeckt und als Ausreißer vom Bürgermeister ohne Bedenken der französischen Polizei ausgeliefert.

Diesmal mußte er drei Jahre im Verließ der Bastille zubringen; aber die haarsträubende Beschreibung, die er in seinen durch und durch lügenhaften Memoiren davon macht, ist stark übertrieben, wie zahlreiche Aktenstücke des Archivs der Bastille, [33] die jetzt gesichtet und katalogisiert in der Arsenalbibliothek zu Paris liegen, darthun. So will er z. B. diese ganze Zeit an Händen und Füßen gefesselt zugebracht haben, während ein Bericht darthut, daß ihm schon nach sechs Monaten die Fußschellen abgenommen wurden. Daß die Nahrung gut blieb, zeigt eine Notiz, wonach sich Danry lebhaft darüber beklagt, daß man ihm Geflügel vorsetze, das nicht gespickt sei. Auch in der Kleidung war er sehr anspruchsvoll. Einmal verlangte er einen blauen Schlafrock mit roten Streifen, und der Bericht eines Offiziers erklärt umständlich, warum dieser kühne Wunsch nicht befriedigt worden sei.

Am 19. April 1764 starb die Pompadour, die man mit Recht die schwerste Last Frankreichs genannt hatte. Der sehr humane Polizeidirektor de Sartine bemühte sich nun ernstlich um Danrys Freilassung. Der Gefangene wurde wieder nach Vincennes gebracht, wo er häufiger ins Freie gehen konnte. Hier verwandelte er sich in den Vicomte Masers de la Tude, weil er gehört hatte, daß in seiner Heimat ein Marquis dieses Namens gestorben war, den er nun ohne weiteres als seinen Vater annektierte. Als Vicomte verlangte er neben seiner Freilassung auch eine Entschädigung von 150 000 Franken und das Ludwigskreuz.


Die Bastille.


Trotz dieser neuen Extravaganz war Sartine auf dem Punkte, seine Befreiung durchzusetzen, als Latude, wie wir ihn von nun an nennen wollen, die Thorheit einer neuen Flucht beging, als er in starkem Nebel von einem Soldaten spazieren geführt wurde. Er wurde alsbald wieder eingefangen, weil er in Paris blieb und von dort aus allerlei technische Erfindungen verschiedenen berühmten Persönlichkeiten anbot. In der neuen Gefangenschaft vermehrten sich seine Wutanfälle, so daß er im September 1775 in die Irrenanstalt von Charenton versetzt wurde. Sein Zustand besserte sich dort rasch, und am 5. Juni 1777 wurde ihm endlich die langersehnte Freiheit unter der Bedingung geschenkt, daß er in seine Heimat Languedoc zurückkehre. Latude blieb aber in Paris, schrieb Drohbriefe und Bettelbriefe an alle Welt und wurde am 16. Juli 1777 wieder gefangen gesetzt, weil er in Saint-Bris bei Auxerre in das Haus einer alleinstehenden Edelfrau eingedrungen war, um von ihr durch Drohungen Geld zu erpressen. Diesmal wanderte der selbstgeadelte Vicomte weder nach der Bastille, noch nach Vincennes, sondern in das Diebsgefängnis von Bicêtre. Aus Rücksicht auf seine usurpierten Ahnen nahm denn auch Latude hier den bürgerlichen Namen Jedor an. Die fünf ersten Jahre in Bicêtre waren in der ganzen Reihe der dreiunddreißig Kerkerjahre allein wirklich bitter zu nennen. Latude hatte immerhin auch hier Gelegenheit, Bittschriften über Bittschriften in die Welt zu schicken. Im Jahre 1782 fand nun zu seinem großen und unverdienten Glück die Händlerin Legros eine solche Bittschrift auf der Straße, wo sie ein Gefangenwärter von Bicêtre verloren zu haben scheint. Diese Frau Legros und in geringerem Grade ihr Mann sind die wahren Helden der Geschichte des zwar beklagenswerten, aber höchst unwürdigen Latude. Von seinem Schicksal tief gerührt, setzte diese einfache Frau aus dem Volke alle Hebel zu seiner Erlösung in Bewegung.

„Es ist ein erhabenes Schauspiel,“ sagt Michelet nicht mit Unrecht, „diese arme Frau in bescheidenem Gewand von Thüre zu Thüre gehen zu sehn, wie sie die Lakaien zu gewinnen weiß, um in die vornehmen Häuser zu dringen und vor den Großen ihre Sache zu verteidigen.“ Dank der Frau Legros entstand in kurzer Zeit in Paris eine allgemeine Bewegung zu gunsten des unglücklichen Latude, an deren Spitze sich die junge Königin Marie Antoinette und die Gattin des Ministers Necker stellten. Am 24. März 1784 verfügte endlich der König, von allen Seiten gedrängt, obschon er den Fall genau kannte, die Freilassung und bewilligte obendrein dem Opfer der Pompadour eine Pension von 400 Livres (nach heutigem Geldwert gegen 1000 Mark).

Der befreite Latude wurde nun erst recht der Held des Tages. Die königliche Pension war bald nur noch der kleinste Teil seines Einkommens. Mochte sein Adel noch so schwindelhaft sein, er erhielt aus der Kasse für arme Edelleute eine Pension von 600 Livres, von der Herzogin von Kingston ebensoviel, vom Präsidenten Dupaty 500, vom Herzog von Ayen 300 Livres, und zwar immer als laufende Pension. In allen vornehmen Gesellschaften war er der begehrteste Gast. Seine lügenhaften Memoiren waren das gelesenste aller Bücher und trugen ihm ebenfalls viel Geld ein. Trotzdem konnte sich der alte Adam nicht ganz verleugnen: bei einer Versteigerung versuchte er mit einem falschen Goldstück zu zahlen und leugnete dann, daß es von ihm herkomme. Bei einem Besuch in England strengte er von dort aus eine Klage an, um von den Erben der Pompadour und andern Leuten 1 800 000 Livres Entschädigung zu fordern. Unter der Republik zog der Vicomte de la Tude seinen Namen vorsichtigerweise in Latude zusammen und gerierte sich als eifriger Sansculotte, um seine Pension zu retten. Im Jahre 1791 wagte es der Abgeordnete Voidel trotzdem, vor der Nationalversammlung die wahre Geschichte Latudes zu enthüllen, und infolgedessen wurde die Pension unterdrückt. Noch war aber die Schwärmerei für den berühmten Gefangenen so groß, daß das Parlament dem Drucke der öffentlichen Meinung nachgeben und die Pension wenige Tage nachher wiederherstellen und auf 2400 Livres erhöhen mußte. Latude erreichte in trefflichster Gesundheit, die dem Regime und der Kost der Bastille ein gutes Zeugnis ausstellt, sein achtzigstes Jahr und starb am 1. Januar 1805 plötzlich an einer Lungenentzündung.

Dies ist die wahre Geschichte des „rührendsten Opfers“ der Bastille. An ihrem üblen Anfang ist die Maitressenwirtschaft am Versailler Hofe schuld und an ihrer langen Dauer die unvernünftige Aufführung des Opfers selbst. Sie hat dennoch das meiste dazu beigetragen, die hochragenden finsteren Mauern am Ende der Rue Saint-Antoine so verhaßt zu machen, daß sich der aufrührerische Pöbel am 14. Juli 1789 nicht mit der ursprünglich beabsichtigten Plünderung des Waffenvorrats begnügte, sondern, wie erwähnt, den Gouverneur und einen Teil der Besatzung niedermachte und das ganze Gebäude zerstörte. Ein eigentlicher Kampf fand dabei nicht statt. Nachdem das Volk über die erste Zugbrücke, die ein geschickter Beilschlag niederfallen ließ, in den Hof des Gouverneurs eingedrungen war, wurde parlamentiert, aber trotz des bewilligten freien Abzugs gleich darauf der Gouverneur de Launey, einige Offiziere und einige Invaliden niedergemacht. Beinahe hätte man in der Verwirrung die Gefangenen vergessen. Man fand ihrer im ganzen Gebäude nur sieben, und wie wenig Teilnahme verdienten sie! Vier davon waren Wechselfälscher, die man keineswegs dem gewöhnlichen Gericht entzogen hatte, sondern deren Prozeß regelrecht instruiert wurde. Der Fünfte hatte sich an einem Attentat auf Ludwig XV indirekt beteiligt und war schon seit langen Jahren geisteskrank. Der Sechste war bereits als Narr in die Bastille gekommen, da seine Familie sie einem [34] Irrenhause vorzog. Diese beiden wurden nach der Zerstörung nach Charenton gebracht, wo sie sicher schlechter aufgehoben waren als in der Bastille. Der Siebente war der Graf von Solages, der als ganz junger Mann ein an Wahnsinn grenzendes abscheuliches Verbrechen begangen hatte und auf Wunsch und Kosten seines Vaters seit 1784 gefangen gehalten wurde. Nach dem damaligen Recht hätte er hingerichtet werden sollen. Er blieb aber als Gefangener der Bastille geheiligt und starb erst 1825 in seiner Familie in Languedoc. Da diese sieben Opfer wenig interessant waren, so erfand die geschäftige Phantasie ein achtes, einen ehrwürdigen Greis und Freiheitshelden, den man den Grafen de Lorges nannte. Er sollte in einem der Kellerverließe gefunden worden sein, aber niemand hat diesen alten Herrn je mit eigenen Augen gesehen. Trotzdem fehlte in der 1888 in Paris aufgestellten sehr interessanten, aber etwas freien Nachbildung der Bastille auch das Verließ mit der Wachsfigur des Grafen de Lorges nicht! Eine konfiszierte Buchdruckmaschine, die man in der Bastille fand, und ein mittelalterlicher Panzer wurden als Folterwerkzeuge ausgegeben. Die Gebeine der im katholischen Kirchhof nicht geduldeten und daher auf der Bastei beerdigten Protestanten, die unter Ludwig XIV in der Bastille ziemlich zahlreich waren, wurden ebenso leichtsinnig als Beweise geheimer Hinrichtungen angesehen. Das alles war freilich thöricht, aber es zeigt wie die ganze Geschichte der Bastille, daß das französische Königtum mit seiner Heimlichthuerei nur das eine erreichte, daß die harmlosesten Dinge zu Ungeheuerlichkeiten aufgebauscht wurden und die geschäftige Fabel die nüchterne Wirklichkeit zu einem phantastischen Zerrbild machte.



BLÄTTER UND BLÜTEN.



Ein Seminar für allgemeine Krankenpflege. Anstalten, in denen Privatpersonen sich in der klinikgemäßen Krankenpflege ausbilden können, bestehen noch nicht in genügender Zahl, so viel Einzelkurse auch da und dort abgehalten werden. Es ist darum ein Verdienst des von Professor Zimmer in Berlin-Zehlendorf gegründeten Evangelischen Diakonievereins, derartige Seminare einzurichten. Kürzlich wurde das siebente in einem Danziger Lazarett eröffnet, wodurch nun der Verein imstande ist, jährlich über 150 Jungfrauen und Frauen von entsprechender Vorbildung in der Krankenpflege zu unterweisen. Die einjährigen Kurse, bei freier Station und freiem Unterricht, zugleich ohne jede Verpflichtung für die Zukunft dargeboten, sind eine vortreffliche Bildungsanstalt für Erwachsene; es haben sich schon viele Bräute von Pfarrern und Aerzten daran beteiligt, um später den Gatten mit ihrer Thätigkeit unterstützen zu können. So ist in den vier Jahren, seit der Verein besteht, über ein halbes Tausend arbeitsfreudiger Kräfte der Krankenpflege in Anstalten und Gemeinden zugeführt worden. Für Mädchen mit Volksschulbildung sind besondere Anstalten, „Pflegerinnenschulen“, eingerichtet, deren Lehrgang ein langsamerer ist. Fragen und Anmeldungen sind zu richten an Professor Dr. Zimmer, Berlin-Zehlendorf.

Armin bei der Seherin. (Zu dem Bilde S. 4 und 5.) Wie die Römer ihre Auguren und Weissager hatten, welche die Zukunft verkündeten nach den Zeichen der Opferschau, so unternahmen auch die Germanen kein kriegerisches Wagnis, ohne vorher die Götter um Rat befragt zu haben; aus den Eingeweiden von Tieren, die am Opferstein von Priestern oder Priesterinnen geschlachtet wurden, erforschten sie die günstige Zeit des Kampfes und den Ausgang desselben, Sieg oder Niederlage. Solche Kunde wurde in der Regel von den Seherinnen offenbart, den Walas oder Albrunen, von denen einige wie Velleda, die Priesterin der Brukterer, sogar einen großen politischen Einfluß hatten; bei den Verhandlungen mit den Römern hat Velleda eine wichtige Rolle gespielt. Nach dem Hain oder Hag, in dem sich die Priesterinnen aufhielten, wurden sie auch Hagadisen genannt. Ferdinand Leeke wurde zu seinem trefflichen Bilde durch F. Stilkes Dichtung von „Rinold und Tuiskomar“ angeregt. Sie schildert uns, wie Armin mit seinen Begleitern die Hagadise aus der Mooshütte im Hage holen und zum Opfersteine geleiten läßt. Hier zündet sie ein Feuer an und setzt den Kessel darüber. Dann holt sie ein schwarzes Huhn, durchschneidet ihm den Hals und läßt das Blut in den Kessel träufeln. Daraus kündet sie Armin und seinen Begleitern, die vor der Entscheidungsschlacht mit Germanicus am Ufer der Weser zu ihr kommen, um die Gunst oder Ungunst der Götter zu erforschen, daß die Reihen der Römer sich zum Rhein zurückziehen werden. „Heil dir, hoher Held, Wodans Erwählter, du Rächer und Retter des stolzen Stammes Tuiskos.“ Freudig vernehmen die Cherusker die Kunde und die Priesterin selbst freut sich so herrlicher Verkündigung. Wohlgelungen ist dem Künstler die erhabene Frauengestalt, die in ihrer göttlichen Sendung aufgeht, nicht weniger die Charakterköpfe der Heerführer, des noch jugendlichen Armin, der ja zur Zeit des Kriegs mit Germanicus noch nicht lange das dreißigste Lebensjahr überschritten hatte, und seiner in höheren Lebensjahren stehenden Begleiter. Auch die Scenerie des Urwalds ist stimmungsvoll: die alte Eiche mit dem mächtigen Stamm und dem weitausgebreiteten Geäst und der Opferstein mit seinen geheimen Orakeln. †     

Die „Harfe“ bei Frauenberg.

Die „Harfe“ bei Frauenberg. (Mit Abbildung.) In dem schönen Mürzthale zwischen den Stationen Bruck und Kapfenberg in Obersteiermark liegt der Wallfahrtsort Frauenberg. In der Nähe des Kirchleins steht im Walde nicht weit vom Wege ein sonderbar gewachsener Nadelbaum, der im Volksmunde die „Harfe“ genannt wird. Er ist eine etwa vierzigjährige Fichte, die in ihrer Jugend vom Sturme oder einem anderen Mißgeschick auf den Boden niedergelegt wurde. Aus dem Hauptstamme, der mit seiner Spitze im Bogen nach aufwärts strebte, wuchsen im Laufe der Zeit neun senkrechte Aeste empor, von denen einer mit dem Hauptstamme an Stärke wetteifert und für sich einen hübschen schlanken Baum abgeben würde. Diese „Harfe“ erinnert in ihrer Gestalt an die „umgewehte Tanne“ im Forstenrieder Park, die wir als einen der „merkwürdigen Bäume Deutschlands“ im Jahrgang 1897 auf S. 291[WS 1] in Bild und Wort unseren Lesern vorgeführt haben. A. S.     

Der Tribut. (Zu dem Bilde S. 9.) Unter der Fahne des Propheten zu einem Volke vereint, unternahmen die Araber im siebenten Jahrhundert ihre Eroberungszüge in Afrika. Aegypten fiel ihnen als leichte Beute zu; denn die aus Kopten und Griechen bestehende Bevölkerung war nicht kriegstüchtig genug, um den fanatischen Scharen erfolgreichen Widerstand zu leisten. In dem reichen Nilthale, auf Stätten uralter Kultur, richteten sich die Sieger häuslich ein, und die Macht der arabischen Statthalter in Aegypten wurde so groß, daß sie später sich von den Kalifen unabhängig machten. In diese Zeiten der Araberherrschaft im Nillande versetzt uns das treffliche Bild von L. Deutsch. Die Abgesandten einer fernen Provinz sind in dem Palasthofe des Statthalters erschienen, um dem Machthaber den schuldigen Tribut zu entrichten. Sie schreiten gegen das Thor, vor dem ein nubischer Krieger Wache hält. Der würdige Greis an der Spitze der Abordnung trägt in einem silbernen Behälter eine Pergamentrolle, auf welcher Versicherungen der Unterwürfigkeit und Treue geschrieben stehen; ernst folgen ihm seine Begleiter,


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Seite 291 ist die Fundstelle in der Halbheft-Ausgabe; in der Wochen-Ausgabe 1897 steht der Beitrag auf Seite 276.

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Nur immer bescheiden
Nach dem Gemälde von C. v. Reth


ein Krieger und ein reicher Kaufmann; ihnen schließt sich ein Neger an, der in einer kostbaren Truhe die als Tribut festgesetzte Geldsumme trägt, während im Hintergrunde Diener mit dem Auspacken kostbarer Geschenke noch beschäftigt sind. In den Mienen der Gesandten malt sich deutlich schwere Besorgnis; denn hart ist die Herrschaft der Araber und „Wehe den Besiegten!“, wenn sie die Habgier des Tyrannen nicht befriedigen. *      


Nur immer bescheiden!

(Zu dem obenstehenden Bilde.)

Nur immer bescheiden, Fox! Es spricht
Von feiner Art und Erziehung nicht,
Die Pfoten so frech auf den Tisch zu stellen,
Beim ersten Bissen mich anzubellen;

5
Indessen deine Kameraden

Stumm bettelnd warten, bis man aus Gnaden
Beim Ende der Wurst auch ihrer gedenkt
Und ihnen das schöne Wurstfell schenkt.
Da nimm dir ein Exempel dran!

10
So stellt ein braver Hund sich an;

Nur brave Hunde – merke dir das! –
Bekommen am Ende vielleicht auch was.

Mein ist die Wurst, und erst komm’ ich;
Kannst du nicht warten, so trolle dich.

15
Nur immer bescheiden! und nie vergessen:

Andere Leute wollen auch essen.
 Ernst Muellenbach.

Die Werbung. (Zu dem Bilde S. 13.) Defreggers Bilder aus den tiroler Bergen haben neben ihrem hohen künstlerischen Wert noch den weiteren, ein getreuer Spiegel von Landesart und Volkssitte zu sein, mögen sie harmlose Lustigkeit in den Sennhütten schildern oder dramatische Vorgänge, wie den hier dargestellten.

Das ungeheure, unverhoffte Glück tritt in die Stube eines sorgenvollen Kleinhäuslers: der Brandhofer Franzl, der Sohn reicher Bauersleute, hat sich in die blonde Loni verliebt und will sie heiraten. Kämpfe mit seinem Alten hat’s genug gegeben, er ist standhaft geblieben, hat seinen Kopf aufgesetzt, mit Fortgehen gedroht und endlich den Sieg erstritten. Einen vollständigen! Denn nun, nachdem seine strenge, kluge aber doch herzensgute Mutter einmal nachgegeben und ihren Sinn gewandt, auch den Vater zur Ruhe geredet hat, nun will sie auch das Letzte thun, was ihr übrig bleibt: sie will in eigener Person mithelfen, die Werbung bei den Eltern anzubringen, und es mit ansehen, wenn die glückselige Loni ihrem Franzl an den Hals fliegt.

Aber oho! was ist denn das?!! Die Loni denkt gar nicht ans Fliegen; verdrossen bleibt sie am Ofen sitzen, nachdem der Werbespruch verklungen, und bricht ihr Schweigen nicht, so dringend auch Vater und Mutter in sie hineinreden und ihr das ungeheure Glück vorstellen. „Ja“ soll sie sagen! Aber sie sagt’s nicht, nicht um alles, sie hat ja im stillen einen ganz anderen gern, der jetzt bei den Kaiserjägern in Wien steht, arm wie sie, aber brav und hübsch – und die Eltern wissen’s und thun nicht dergleichen, jetzt, wo der reiche Freier ins Haus kommt!

Wie wird die Sache enden? Wahrscheinlich nicht erwünscht für den guten Franzl, dessen Stirne bereits tief gefaltet ist, während neben ihm die Mutter trotz höchster Mißbilligung noch an sich hält und den Ausgang erwartet. Des Zuschauers Herz muß geteilt sein zwischen [36] so verschiedenen Interessen, aber mit ungeteilter Freude betrachtet er die prächtigen Charakterfiguren, welche Meister Defregger hier wieder so glücklich zum Bilde vereinigt hat. Bn.     


Anna Ritter. (Mit dem Bildnis der Dichterin.) Vor einigen Jahren hat Anna Ritter ihre ersten Gedichte in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht. Der Klang dieser Lieder war so eigenartig und bezaubernd, daß man schon nach diesen Proben deren Schöpferin ein hohes dichterisches Talent zuerkennen mußte. Was das Frauenherz bewegt, Liebesglück und Liebesleid, das spiegelte sich in den Gedichten wieder mit einer solchen Frische und Ursprünglichkeit, daß die Kritik für die Dichterin nur Worte des Lobes und der Ermutigung finden konnte.

Nunmehr sind die Gedichte Anna Ritters gesammelt in einem schmucken Bändchen bei A. G. Liebeskind in Stuttgart innerhalb weniger Monate in zweiter Auflage erschienen und bilden in der That eine der herrlichsten Gaben, mit welchen die deutsche lyrische Dichtung im Laufe der letzten Jahre bereichert wurde. Was in ihnen geboten wird, ist weder schüchterne Mädchenpoesie, noch sind es naive Reime einer Volksdichterin, deren Gesichtskreis engere Grenzen gezogen sind. Anna Ritter hat die weite Welt kennengelernt, hat in ihrem Leben höchstes Frauenglück und herbstes Weh empfunden; sie weiß von heißem Sehnen zu singen und von schweren Herzenskämpfen des Entsagens, und eine Meisterin der Form, findet sie für die Stimmungen, die ihre Seele so mächtig bewegten, stets den schönen künstlerischen Ausdruck. Wir sind in der angenehmen Lage, zwei neue Gedichte der schnell berühmt gewordenen Dichterin (vgl. Seite 20 dieses Halbheftes) unseren Lesern zu bieten, und werden demnächst auch Beiträge in Prosa von ihr zum Abdruck bringen.

(Anna Ritter.)

Anna Ritter wurde im Jahre 1865 zu Koburg geboren. Ihre Kinder- und erste Jugendzeit verlebte sie in Kassel, wo ihr Vater ein idyllisches Besitztum hatte. Dort empfing sie die ersten poetischen Anregungen, denn in dem elterlichen Hause war die schöne Litteratur heimisch und zu den Freunden, die in ihm verkehrten, zählte unter anderen auch [[Rudolf Genée]]. Frühzeitig heiratete sie den Mann ihrer Herzenswahl und zog mit ihm, der zuletzt Regierungsrat war, nach Berlin, Köln, Münster und dann nach dem ihr lieb gebliebenen Kassel. Ihr Vater war inzwischen gestorben, und an der Stätte des sonnigen Jugendglücks sollte sie das bitterste Leid erfahren. Im Jahre 1893 wurde ihr der geliebte Mann nach kaum neunjähriger Ehe durch einen frühzeitigen Tod entrissen. In der Trauer um diesen Verlust entstanden die herrlichen Witwenlieder, die zu dem Schönsten zählen, was über Frauenliebe und -leben gesungen wurde. Anfangs nervenleidend, zog sich Anna Ritter nach dem stillen Frankenhausen am Kyffhäuser zurück, um dort zu genesen und ihre drei Kinder zu erziehen. Von frischer Schaffenslust beseelt, sucht sie zeitweilig Berlin auf, um in der Reichshauptstadt neue Anregungen zu schöpfen.

Der Steuermann. (Zu dem Bilde S. 21.) Der markige Mann am Steuer ist noch einer von jener alten Art von Seeleuten, die in Wind und Wetter groß geworden sind, sich wohl auskennen auf einem Segelschiff, sei’s ein Dreimast-Schoner oder auch ein viermastiges Vollschiff, die aber nichts wissen mögen von den Dampfern mit ihren unheimlichen riesigen Maschinen. Trotz dieser Abneigung gegen das „Neue“ ist er ein tüchtiger Fahrersmann, denn er hat von seinen vierzig Lebensjahren fünfundzwanzig auf dem Salzwasser verlebt und so manches Schiff in die ferne Welt hinaus und glücklich in den heimatlichen Hafen zurückgesteuert. Nun hat er wieder die Reise mit dem stolzen Dreimaster zu fast drei Vierteln hinter sich. Noch aber sind der „Kanal“ und die tückische Nordsee zu durchsegeln. Da heißt es gut aufpassen, damit nicht noch in „letzter Stunde“ etwa bei dickem Wetter die tüchtige schlanke „Venus“ gar vielleicht „’en Buren in de Fenster loopen deiht“, auf den flachen Küstensäumen festgerät, gerade herausgesagt: strandet! Na, dafür steht ja der Steuermann am Ruder; der hat schärfere Augen als die Möwen und ist pflichtgetreu wie der beste Soldat. Außerdem wird er aber mit geheimen Fäden nach Land gezogen, dorthin, wo am Deich ein sauberes Häuschen auf seine Heimkehr wartet. Nur wenige Tage noch – dann ist’s erreicht!

Junges Glück. (Zu dem Bilde S. 25.) Uralt und ewig neu, wie Frühling und Liebe, ist die erste Elternseligkeit. Was der Mann auch vorher erstrebt und erreicht, welche Abenteuer er in wechselnden Lebenslagen rasch erjagt und genossen haben mag – nichts von alledem reicht an das Glück seines jetzigen Besitzes, an die Empfindung für die holde reine Mutter seines Erstgeborenen. Wie er so im blühenden Garten sich über sie beugt und beide das kleine blonde Köpfchen voll Zärtlichkeit mit den Blicken umfassen, da schweigt jeder andere Erdenwunsch in ihren Herzen und sie fühlen in stiller Seligkeit, daß sie jetzt des höchsten Menschenglückes teilhaftig geworden sind. Bn.     

Das Sakramentshäuschen in der St. Lorenzkirche zu Nürnberg. (Zu dem Bilde S. 28 und 29.) Die jüngere der beiden Nürnberger Hauptkirchen, die Lorenzkirche, hat den außerordentlichen Vorzug, daß sie noch nie restauriert wurde und daher ein treffliches, sehr malerisches Bild eines reich ausgestatteten mittelalterlichen Gotteshauses bietet. Zu den hervorragendsten Werken altdeutscher Kunst aus Nürnbergs großer Blütezeit, welche die Lorenzkirche birgt, ist vor allem Meister Adam Kraffts weitberühmtes Sakramentshäuschen zu rechnen, das an einer Säule des hohen Chores angelehnt ist und bis zu einer Höhe von etwa 64 Fuß emporragt. Es ist das größte, reichste und phantasievollste der Gehäuse mit turmartigem Aufbaue, welche im 15. Jahrhundert zur Aufbewahrung der Hostie errichtet wurden.

Der reiche Kaufherr Hans Imhoff d. Ae., Pfleger der Pfarrkirche von St. Lorenz, schloß am 25. April 1493 mit „Meister Adam Krafft Bildhauer“ einen Vertrag, wonach sich dieser verpflichtete, „ein schön wolgemacht künstlich und werklich Sakramentshaus von Steinwerk“ nach seinem eigenen Entwurfe zu machen. In drei Jahren hatte der wackere Meister sein großartiges Werk vollendet, für welches ihm außer den vereinbarten 700 Gulden noch 70 Gulden als Ehrengeld ausbezahlt wurden. Das wunderbare Werk wird von den knieenden Figuren des Meisters und der beiden Gesellen, die ihm hauptsächlich dabei geholfen, getragen. Ueber ihnen befindet sich eine Galerie mit prächtiger Brüstung und dem Tabernakel. Dasselbe wird durch eine großartige, wie Filigran wirkende Spitze von durchbrochener Arbeit gekrönt, in welcher mit Bezug auf die Bestimmung des Kunstwerkes die ganze Leidensgeschichte des Herrn in vornehmem Ernste dargestellt ist. Die Leichtigkeit und Zierlichkeit, mit welcher dieses liebliche harmonische Werk in großer Kühnheit himmelan strebt und am Gewölbe angekommen sich leicht abwärts senkt, als ob es bedaure, das Gewölbe nicht durchsprengen zu können, machen es erklärlich, daß das Volk glaubte, Meister Adam Krafft besitze das Geheimnis, die Steine weich und wieder hart zu machen. Paul Ritter hat dieses Kleinod deutscher Bildnerkunst zum Mittelpunkt seines außerordentlich anziehenden Bildes gemacht. Es stellt den Chor der Lorenzkirche dar, in welchem soeben der Sprößling einer Patrizierfamilie getauft werden soll. Ritter hat es trefflich verstanden, die höchst malerische Erscheinung des Chores wiederzugeben. Während an den Pfeiler im Mittelpunkte sich das Sakramentshäuschen lehnt, sind andere weit hinauf mit den Totenschilden Nürnberger Geschlechter geschmückt; unten aber stehen kunstvoll geschnitzte, reich bemalte und vergoldete Altäre, auf welche aus den farbensprühenden glasgemalten Fenstern unterhalb der reizenden Chorgalerie gar seltsame Lichter fallen. Hoch oben von der Decke herab aber hängt der köstliche Rosenkranz von Veit Stoß mit der Verkündigung in der Mitte, dieses Meisterwerk deutscher Holzschnitzkunst, das ein würdiges Seitenstück zu dem großartigen Kunstwerk des deutschen Steinmetzen Adam Krafft bildet. Möge das Innere der Lorenzkirche noch recht viele Jahre unverändert in seiner ursprünglichen malerischen Schönheit erhalten bleiben; sie allein schon ist den Besuch der altehrwürdigen Reichsstadt wert. H. B.     

Zu unseren farbigen Bildern. Frisch aus dem Leben sind die drei farbigen Bilder herausgegriffen, die wir in diesem Halbheft unseren Lesern und Leserinnen bieten. – Wo zwei hübsche junge Freundinnen im verschwiegenen Mädchenstübchen bei einander sitzen, da ist es nicht weit zu vertraulichen Mitteilungen über das bekannte große Thema. Die beiden Freundinnen auf unserer Kunstbeilage „Besuch der Freundin“ sind bereits bei der Lektüre eines jüngst erhaltenen Briefes angelangt, welcher der übrigen Mitwelt in einem sorglich verschlossenen Kästchen vorenthalten wird. So kurz er ist – sein Inhalt scheint geeignet, große Heiterkeit hervorzurufen: sie glänzt voll auf dem Gesicht der hübschen Blondine und spiegelt sich im Lächeln der lesenden Freundin. Hoffentlich war die Absicht des Schreibers auf einen solchen Heiterkeitserfolg gerichtet. Wenn er ihn unfreiwillig erzielte, dann wäre er doch wirklich zu bedauern! – Das lebensvolle Bild „Der Stolz der Familie“ (S. 8) versetzt uns in ein Schloßgemach. Das junge Schloßfräulein, das schon seit seiner Geburt den Stolz der Familie bildet, hat seine Gespielinnen um sich versammelt. Da fiel es der Mutter wiederum auf, wie herrlich im Vergleich zu den anderen ihr Töchterchen entwickelt ist, wenn man selbstverständlich das Alter in Betracht zieht. Und damit der Beweis geliefert wird, daß das Mutterauge nicht parteiisch geurteilt hat, wird sofort eine Messung der Größe an der Wand veranlaßt. Die braven Gespielinnen stimmen der Ansicht der Schloßfrau rückhaltlos bei, und ihr offener, freudiger Gesichtsausdruck während dieses Vergleichs, bei dem sie vielleicht zu kurz wegkommen, erweckt in dem Beschauer Sympathien für Goldelschen. Wer sich so treue Freundinnen erwirbt, hat gewiß ein gutes Herz und braves Gemüt. – Nach dem Leben hat der Maler die Vorlage zu dem stimmungsvollen Bilde „Ihr Lieblingsblatt“ (S. 1) entworfen. Wir wollen hoffen, daß der anmutigen Leserin ihr Lieblingsblatt auch im Laufe des neuen Jahres ebenso gefallen werde wie während des verflossenen Sommers in dem herrlichen Feriensitz an den malerischen Ufern des stillen Alpensees.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.

Genähtes und besticktes Handschuhetui. Um sich ein hübsches und praktisches Handschuhetui selbst herzustellen, braucht man verhältnismäßig wenig Stoff und wenig Mühe. Man schneidet aus irgend einem feinen Zeuge, zum Beispiel Piqué oder dünnem Tuch, ein Längenviereck von ca. 29 cm Länge zu 14 cm Breite und näht an dasselbe vier dreieckig zugespitzte Klappen vom selben Stoffe, so daß das Ganze etwa die Form eines auseinandergelegten Briefcouverts hat. Auf das Mittelstück sowie auf die vier Seitenteile werden mit Seide in Stielstich leichte gefällige Muster gestickt; dann füttert man die Arbeit inwendig mit Satin oder Futterseide in der zur Stickerei passenden Farbe.

Genähtes und besticktes Handschuhetui.

Um die Nähte, mittelst welcher die Klappen befestigt sind, zu verdecken, besetzt man erstere von außen mit Rüschen aus ganz schmalem Seidenband oder feiner farbiger Borte. Das Etui wird in der Weise geschlossen, daß nach dem Hineinlegen der Handschuhe erst die beiden Klappen der Schmalseiten mit Hilfe eines an deren Spitze angenähten Seidenbändchens zusammengebunden werden; dann kommen die Klappen der Längsseiten darüber und werden durch ein Perlmutterknöpfchen und eine korrespondierende Schlinge zusammengehalten. H. R.     


Wäschebeutel. Die geschmackvollen und reich dekorierenden Stoffe, welche die Textilkunst jetzt liefert, machen für manche Gegenstände die doch viel Zeit beanspruchenden Stickereien und Häkelarbeiten ganz überflüssig. So kann man zum Beispiel aus den reizenden geblümten Baumwollstoffen oder eleganter aus Libertyseide sehr hübsche Wäschebeutel herstellen.

Ein gerader Stoffteil von 60 cm Höhe zu 75 cm Weite wird seiner Höhe nach durch französische Naht geschlossen, dann am oberen Rande 9 cm breit nach der Rückseite umgelegt und zu einem 2 cm breiten Zugsaum abgenäht; am unteren Rande ist der Beutel durch festes Zusammenziehen zu schließen und mit einem quastenartigen Abschluß zu versehen, für den 2 cm breites farbiges Band in mehreren, je 3–10 cm langen Schlupfen und Enden geordnet wird. Gleiches Band ist mit Gegenzug durch den Zugsaum zu leiten und an den Enden mit kleinen Schleifen zu verzieren.

Kalender aus Ansichtskarten. Man kauft jetzt so entzückende Ansichtskarten, die wahrhaft künstlerisch ausgeführt sind, daß man aus ihnen einen allerliebsten Hängekalender auf die einfachste Weise herstellen kann. Man schneidet aus starker Leinwand einen genügend langen und passend breiten Streifen und beklebt ihn auf beiden Seiten mit sechs solcher hübschen Ansichtskarten, deren unbeschriebenen Raum man vorher mit den Blättern eines Taschenkalenders beklebt hat. Der Leinwandstreifen wird ringsum mit einem farbigen Seidenband eingefaßt, welches nach oben hin in einer flotten Bandschleife endigt, an welcher man den Kalender aufhängt. – Man kann den Kalender übrigens auch aus beschriebenen Ansichtskarten herstellen, dann muß man den beschriebenen Raum erst mit einem reinen Blatt Papier verdecken, bevor man den Kalender aufklebt, damit nicht etwa Schriftzüge durchschimmern. L.     

Imitation von Holzbrand. Die so beliebte Brandmalerei hat unter ihren Verehrerinnen auch solche, die selbst keinen Apparat dafür besitzen und ebenso nicht die Zeit aufwenden können, welche zur wirklich sicheren Handhabung des Brennstiftes gehört. Allen diesen sei folgendes, in seinen Resultaten dem Holzbrand ganz ähnliches Verfahren empfohlen. Man spannt über den zu bearbeitenden Gegenstand, der aus weichem Holz sein muß, ein Stück Pauspapier, auf welchem das zu übertragende Muster sich befindet, und zeichnet letzteres mit einem nicht zu spitzen Metallstift, stark aufdrückend, nach.

Briefpult mit imitiertem Holzbrand.

Am Schluß dieser Prozedur ist das Papier voller Risse, das Holz aber mit lauter vertieften Linien bedeckt. In diese kleinen Furchen streicht man nun mit feinem Pinsel gebrannte Terra di Siena (Oelfarbe), welche durch Beimischung von Mastixfirnis und Terpentinöl flüssig gemacht wurde; an Stellen, wo die Farbe schwärzlicher wirken soll, kann man etwas Schwarz und eine Spur von Kremserweiß zusetzen. Bei beabsichtigter Kolorierung werden die verschiedenen Farben ganz in gleicher Weise, mit denselben Flüssigkeiten gemischt, aufgetragen. – Die beschriebene Arbeitsweise hat, wie schon gesagt, mit Holzbrand die größte Aehnlichkeit und ist äußerst bequem. In dieser Weise ist die Verzierung an dem vorstehend abgebildeten Briefpult angebracht. H. R.     


Allerlei Kurzweil.

Auszählrätsel „Ein Freudenschuß“.
Von Alex. Weixelbaum.

Diagonalrätsel.

Die Buchstaben dieses Quadrates sind so zu ordnen, daß die eine Eckenlinie eine russische und die andere eine österreichische Universitätsstadt nennt, während die wagerechten Reihen bezeichnen 1. die Hauptstadt eines deutschen Herzogtums, 2. eine Hafenstadt an der Ostküste von Afrika, 3. eine Insel in der Nordsee, 4. eine geometrische Figur, 5. eine Stadt südlich vom Kaukasus, 6. ein Metall. A. St.     


Rösselsprung.

 Scherzrätsel.
„Mei Schatz is a Reiter,“ singt froh die Sophie.
„Was ist er denn da?“ inquiriert die Marie.
Stolz lächelnd giebt jene das Rätselwort an.
„Wie heißt er denn?“ fragt ihre Freundin sodann.
Und wiederum nennt sie des Scherzrätsels Wort,
Nur läßt sie die ersten vier Buchstaben fort.
 Oscar Leede.

[36 b]
Prospekt.

Die „Gartenlaube“ eröffnet mit dem vorliegenden Hefte ein neues Jahresabonnement, zu welchem wir hierdurch freundlichst einladen.

Als ein weithin wirkendes Organ freimütiger Aufklärung, echter Volksbildung und warmer Vaterlandsliebe ist die „Gartenlaube“ seit Jahrzehnten überall, wo die deutsche Zunge klingt, wohlbekannt. Von einem nach Millionen zählenden Kreis von Lesern und Leserinnen aller Stände und aller Altersklassen wird sie im deutschen Lande als eine reiche Quelle herzerhebender Unterhaltung und nützlicher Belehrung Jahr für Jahr willkommen geheißen.

Dieser dauernde Erfolg bestärkt uns in dem Vorsatze, auch im kommenden Jahre auf der altbewährten Bahn fortzuschreiten, bei strengem Festhalten an dem frischen, volkstümlichen Charakter unseres Blattes den neuen Anforderungen und Fortschritten der Zeit nach Kräften gerecht zu werden.

Den neuen Jahrgang werden wir mit dem spannenden Hochlandsroman

„Das Schweigen im Walde“ von Ludwig Ganghofer
eröffnen. Ihm werden sich anschließen:
„Nur ein Mensch.“0 Zeitroman von Ida Boy-Ed.
„Fräulein Johanne.“0 Novelle von Paul Heyse.

„Galeerensklaven!“ von Hans Arnold.
„Frau Stehles Antipathie“ von H. Villinger.
„König und Abenteurer“ von Rudolf v. Gottschall.
„Ritter Ewald“ von Eva Treu.
„Ausgeglichen“ von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach.)
„Didiers Braut“ von A. Noël.
„Müthchen.“ Bilder aus dem Kinderleben von Anna Ritter.

Ferner können wir Romane und Erzählungen von W. Heimburg, E. Werner, O. Verbeck, Ernst Eckstein, J. C. Heer, Sophie Junghans, Adolf Wilbrandt, E. Wichert, Rudolf Lindau, Victor Blüthgen, Marie Bernhard, L. Westkirch u. a. in Aussicht stellen.

Aus der reichen Fülle der zur Verfügung stehenden Beiträge auf den Gebieten der populären Darstellung der Wissenschaft und Technik, der Beleuchtung von Zeitereignissen und Schilderung von Land und Leuten heben wir nur folgende hervor:

Schiffszusammenstöße von Vizeadmiral a. D. Reinhold Werner. – Schill und seine Offiziere von Rudolf v. Gottschall. – Die Wahrheit und die Legende über die Pariser Bastille von Felix Vogt. – Schlösser und Burgen des Harzes von W. Heimburg. – Die deutschen Achtundvierziger in Amerika von General Sigel. – Riesenfernrohre von Dr. H. J. Klein. – Der Scheintod von Dr. W. A. Nagel. – Ueber den Schwindel von Dr. O. Dornblüth. – Neue Heilbäder von Prof. Dr. E. Heinrich Kisch. – Deutschtum im Thal von Gressoney von Woldemar Kaden. – Eine deutsche Bauernschlacht in Amerika von Rudolf Cronau. – E. Marlitt von Moritz Necker. – Blütentage in Florenz von Isolde Kurz. – Eine Wanderung über die Diavolezza von J. C. Heer. – Die Leuchten unserer Väter von F. Bendt. – Geheimbünde in China von C. Falkenhorst. – Verhängnisvolle Sinnestäuschungen von M. Hagenau.

Die Aubrik der kleinen illustrierten Mitteilungen und Winke für allerlei nützliche Beschäftigungen und Arbeiten im Hause wird sorgfältig weiter gepflegt werden.

Dieser mannigfaltige Inhalt wird noch durch einen reichen und künstlerisch wertvollen Bilderschmuck gehoben. So dürfen wir denn nicht zweifeln, daß die „Gartenlaube“ auch im kommenden Jahre ihren alten Ehrenplatz im deutschen Hause behaupten wird.

Alle Buchhandlungen des In- und Auslandes nehmen Abonnements an.

Leipzig, im Januar 1899.
Redaktion und Verlag der „Gartenlaube“. 



Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.

  1. Sie sind vortrefflich zusammengestellt worden von F. Funck - Brentano in seinen „Légendes et Archives de la Bastille“ (Paris, librairie Hachette 1898).

Anmerkungen (Wikisource)