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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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4. Heft. Preis 10 cents. 3. März 1898.


Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0100 c.jpg

Max Well & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio

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Inhalt.
Seite
Antons Erben. Roman von W. Heimburg. (3. Fortsetzung.) 101
Wie das erste Deutsche Parlament entstand. Ein Rückblick von Johannes Proelß. Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten.
II. Der Umschwung in Preußen (Schluß)
109
Der Stern Sirius. Von Dr. H. J. Klein 114
Hermann Sudermanns „Johannes“. Von Rud. Straß.
Mit Abbildungen
116
Sein Brautstand. Novelle von A. Lichtenstern. 117
Blätter und Blüten: Christenschulen in China. Von Ernst v. Hesse-Wartegg. (Zu dem Bilde S. 129.) S.128. – Rettung von Schiffbrüchigen. (Mit Abbildung.) S. 128. – Deutschlands merkwürdige Bäume: die Linde von Eckertsdorf. (Zu dem Bilde S. 101.) S. 130. – Guido Hammer †. (Mit Bildnis.) S. 131. – Auf Schneeschuhen über die Seißer Alp. (Mit Abbildung.) S. 131. – Eiskeller. Von Dr. Jul. Thilo. S. 131. – Im Lawinenschnee. (Zu dem Bilde S. 113.) S. 132. – Ein Löwensäugling. (Zu dem Bilde S. 105.) S. 132. – Rosetta. Von Woldemar Kaden. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 132.
Kleiner Briefkasten: S. 132.
Illustrationen: Deutschlands merkwürdige Bäume: die Linde von Eckertsdorf. Von W. Hoffmann. S. 101 – Im Lawinenschnee. Von M. Zeno Diemer. S. 105. – Abbildungen zu dem Artikel „Wie das erste Deutsche Parlament entstand“. Friedrich List. König Christian VIII. von Dänemark. Karl Biedermann. Wilhelm Beseler. S. 109. J. Ronge. G. Rießer. L. Uhlich. S. 110. Karl Mathy. A. Schott. D. F. Strauß. S. 111. Bassermann stellt den Antrag auf ein Deutsches Parlament. Mittermaier. v. Itzstein. Welcker. General von Radowitz. König Louis Philipp von Frankreich. S. 112. Prinz Johann von Sachsen. König Ludwig I von Bayern. König Wilhelm I von Württemberg. Lola Montez. S. 113. – Abbildungen zu dem Artikel „Hermann Sudermanns ‚Johannes‘“. Josef Kainz als Johannes. S. 117. Salome tanzt vor Herodes. Von E. Thiel. S. 120 und 121. – Ein Löwensäugling. Von F. Specht. S. 125. – Eine christliche Mädchenschule in Hongkong. S. 129. – Rettung Schiffbrüchiger. Von F. Tattegrain. S. 130. – Guido Hammer †. S. 131. – Schneeschuhläufer auf der Seißer Alp. S. 131. – Kochunterricht. Von R. Epp. S. 132.
Hierzu Kunstbeilage IV: „Rosetta“. Von E. von Blaas.




Kleine Mitteilungen.


Eine elektrische Eisenbahn in 24 Stunden zu bauen, und zwar über eine Entfernung von 4 km, war ein Kunststück, das, wie so viele seinesgleichen, den amerikanischen Technikern vorbehalten blieb. In Bound-Brook (New York) stand nach früheren Konzessionsverhandlungen das Recht, eine 4 km lange Straßenbahn längs einer Chaussee zu verlegen, zwei miteinander konkurrierenden Gesellschaften zu. So gern nun jede von ihnen die Bahn gebaut hätte, so machte doch die feindliche Haltung der anderen, die alsbald auf Grund ihrer eigenen Konzession mit einem polizeilichen Einhaltsbefehl bei der Hand war, jeden Versuch zunichte. Da indessen für die eine Gesellschaft viel davon abhing, die Eisenbahnlinie auszuführen und sich dadurch auch für die Berechtigung ihres Betriebes ein entschiedenes Uebergewicht zu sichern, so beschloß man zuletzt, doch den Versuch zu wagen, die Linie mit möglichster Geschwindigkeit hinzuzaubern, bevor die Konkurrenzgesellschaft Einsprache erheben konnte. Allerdings standen dafür nicht mehr als 36 Stunden zur Verfügung. Man mußte spät am Sonnabend abend mit dem Bau beginnen und ihn im Lauf der Nacht und des Sonntags, an welchem es voraussichtlich unmöglich war, einen polizeilichen Einhaltsbefehl zu erlangen, zu Ende führen. Vor allen Dingen wurde zunächst in genügender Entfernung von der zukünftigen Linie, um keinen Verdacht zu erregen, eine elektrische Centralstation gebaut, von der man sagte, daß sie zur Beleuchtung eines großen Hotels dienen sollte. Dann wurden in aller Stille in den benachbarten Städten Arbeiter geworben, und zwar 300 Mann in Philadelphia und 250 in Baltimore. An einem Sonnabend nachmittag wurde in Baltimore um 5½ Uhr ein Zug mit Arbeitern, Pferden, Geräten und Baumaterial abgefertigt, der wenige Stunden später Bound-Brook erreichte. Die erste Arbeit war die hinreichende Beleuchtung der ganzen Strecke für die Nachtarbeit durch zwanzig bis dreißig riesige Gasfackeln und eine Menge kleinerer, tragbarer Lampen. Um 1 Uhr nachts begann die eigentliche Arbeit. Die Hälfte der Leute fing an verschiedenen Punkten mit dem Aufreißen der Chaussee und dem Schütten der neuen Bettung für die Geleise an, die andere Sektion stellte in bestimmten Entfernungen die Masten für die elektrische Luftleitung auf und befestigte die Konsolen zum Tragen der Drähte daran. Die letztere Arbeit war morgens um 8 Uhr, die erstere um 10 Uhr so weit vollendet, daß das Aufhängen der Drähte und das Verlegen der Schienen beginnen konnte. Von 50 Gespannen wurden die Geleisstücke herangefahren, eine Abteilung der Mannschaft war beschäftigt, sie kunstgerecht auf den Schwellen zu verlegen, die zweite, die verlegten Stücke miteinander zu verbinden. Eine dritte Abteilung geübter Monteure war schon seit dem Abend mit der Herstellung einer Fachwerksbrücke von 22 m Spannweite über einen die Chaussee kreuzenden Wasserlauf beschäftigt, eine vierte stellte gleichzeitig eine 600 m lange Anschlußleitung zur Centralstation her. Am Sonntag nachmittag mußte ein Teil der Leute noch dazu verwendet werden, einen Angriff von hundert Bassermannschen Gestalten abzuwehren, welche von der anderen Gesellschaft nach vergeblichen Versuchen, die Polizei zum Einschreiten zu bewegen, zur Zerstörung der fertigen Strecke angeworben waren. Trotzdem brachte man es fertig, am Sonntag abend 11 Uhr den ersten elektrischen Wagen über die vollendete Strecke laufen zu lassen.

Ersatz für den Federtuff der Damenhüte. Es gereicht den deutschen Männern und Frauen zur Ehre, daß sie überall rührig in die Agitation gegen das Hinmorden der bunten Sing- und Tropenvögel mit eintreten. Der Erfolg blieb nicht aus: schon vergangenen Herbst brachten mehrere große Modezeitungen lauter Hutgarnituren von hochstehenden Bandschleifen mit ein paar Federn von Tauben und Hühnern, Perlhuhn, Fasan, kurz von solchen Vögeln geschmückt, die nicht singen und dem Bedarf der Küche dienen. Auch die wallende Straußenfeder darf ruhig weiter getragen werden, sie ist ein Produkt massenhafter Züchtung, und ihre Verwendung bedroht die Existenz der Strauße im allgemeinen nicht. So sehr man nun der Schutzbewegung für die armen Waldsänger und Zugvögel beistimmen muß, so ist anderseits nicht zu verkennen, daß die „Modethorheit“ des Federschmuckes für den menschlichen Kopf eine sehr alte, den meisten Völkern gemeinsame ist. Zur Kalamität steigert sie sich nur dadurch, daß heutzutage tausendmal mehr Frauenköpfe nach geputzten Hüten verlangen als früher, wo nur die Reichsten dergleichen trugen. Der Federputz hat außer dem Gutkleiden die großen Vorzüge der Unveränderlichkeit in Wind und Wetter, daher schreibt sich seine Beliebtheit. Bänder erschlaffen, Spitzen sinken in sich zusammen, selbst Straußenfedern verlieren die Kräuselung in Regenzeiten. Es wäre also jetzt eine große Aufgabe für unsere Fabrikanten, einen Ersatz für den Vogelschmuck zu schaffen, ein Etwas, elegant und doch widerstandsfähig, das kleidsam emporgipfelt, den Reiherbusch oder die graziösen Flügelspitzen imitiert, ohne dem Vogelmord sein Dasein zu verdanken. Heutzutage, wo man die feinsten Flockgewebe, die zartesten Farbentöne hat, wo Hartgummi, gesponnenes Glas, Metallfäden, Perlmutter, Celluloid, Schmelz und Jet in allen Schliffen zur Verfügung stehen, wo auch das Gefieder von Tauben und Hühnern gefärbt und mit verwendet werden kann, heute sollte eine derartige Erfindung einem talentvollen Kopfe wohl glücken! Sie allein würde dem Vogelmord im großen steuern, denn eine noch so schlechte und thörichte Mode wird nie durch vernünftige Vorstellungen, sondern immer nur durch eine neue Mode abgethan. Also Erfinder und Erfinderinnen, an die Arbeit! Hier winkt ein Feld, das der Mühe lohnt und reiche Frucht bringen kann!

Die Gaslaterne als Heißwassercentrale. Eine Londoner Gesellschaft zur Einführung von Verkaufsautomaten hat neuerdings eine originelle Anwendung von der Wärme gemacht, welche beim abendlichen Brennen von Gaslaternen neben der Leuchtkraft unbeabsichtigt erzielt und für gewöhnlich ungenutzt verschwendet wird. Die neue Erfindung bezweckt den in größeren Städten schon hie und da stattfindenden automatischen Verkauf von heißem, d. h. nahezu kochendem Wasser. Im Kopf der Laterne befindet sich über den Flammen ein drucksicherer Kessel, in welchem ein sich beständig und automatisch ersetzendes Wasserquantum bis zur Temperatur von etwa 120° oder bis auf zwei Atmosphären Dampfdruck erhitzt wird. Bei diesem beständig unterhaltenen Druck öffnet sich ein Ventil und läßt den überhitzten Dampf durch wärmegeschützte Rohre in den Sockel der Laterne abströmen, wo er mittels Schlangenrohrs ein Wassergefäß von einer Gallone oder 4½ l durchströmt und seinen Inhalt bis zur Siedetemperatur erhitzt. Der dann immer noch 100° besitzende Dampf durchströmt in einer weiteren Heizschlange einen größeren Wasserbehälter zum Vorwärmen von etwa 20 l kaltem Wasser. Aus dem letzteren Behälter wird das Gallonengefäß nach jedesmaligem Ablassen seines Inhalts automatisch gefüllt, wie sich auch der Inhalt des größeren Kessels selbstthätig ersetzt. Der Einwurf von 1 Penny bewirkt die Entleerung einer Gallone kochenden Wassers in ein darunter gehaltenes Gefäß, und die Heizkraft des Dampfes soll groß genug sein, um in 2 bis 2½ Minuten den erneuten Inhalt wiederum zum Kochen zu bringen. Der Gebrauch heißen Wassers aus Automaten hat sich in denjenigen Städten, die solche Automaten besitzen, wie z. B. Paris, schnell ein gewisses Publikum erworben. Im Winter sind es größtenteils die Kutscher, welche die zum Heizen ihrer Droschken dienenden Wasserbriquettes, d. h. flache, zum Aufnehmen des heißen Wassers bestimmte Blechkästen, an den Automaten füllen. Auch für kleinere Haushaltungen soll es unter Umständen bequemer, wenn nicht billiger sein, sich heißes Wasser vom benachbarten Automaten zu holen, als Feuer anzuzünden.

Herrenkrawatten praktisch aufzubewahren. Meines Eheliebsten Krawatten, die in einem der äußerlich so hübsch gestickten Kasten ruhten, machten mir manchen Kummer, wenn der ungeduldige Hausherr sie beim Suchen bunt durcheinanderwarf, oft verdrückte und verdarb. Die Idee, Schirme, Stöcke, Handschuhe an der Innenwand der Schrankthür aufzubewahren, die sich in der Praxis bewährte, brachte mich auf den Gedanken, auch die Herrenkrawatten dort unterzubringen. Der Versuch hat sich mir bewährt und als sehr praktisch erwiesen. Ich befestigte an der Innenwand einer Schrankthür der Breite nach eine starke Seidenschnur an zwei mit großen Köpfen versehenen Nägeln. Ueber diese Schnur hing ich die Krawatten so, daß der Halsteil zwischen Schnur und Holz gezogen wird, der Knoten aber frei bleibt. Aus buntem leichten Kongreßstoff schnitt ich einen passenden Vorhang, der die Krawattenreihe bedeckt und vor Staub schützt. – Für manche fleißige Hand dürfte an Stelle der Schnur auch das Sticken eines schmalen Stoffstreifens wie das Besticken des Vorhangs aus Kongreßstosf eine willkommene kleine Arbeit sein. He.     

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Copyright 1895 by Franz Hanfstaengl in München.

ROSETTA
Nach dem Gemälde von E. von Blaas

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Halbheft 4.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Antons Erben.

Roman von W. Heimburg.

 (3. Fortsetzung.)


Acht Tage vor Weihnacht findet endlich die Jagd auf Wartau statt. Anton ist ein bißchen nervös, er hat jetzt die vornehme, geräuschlose Gastlichkeit in den andern Herrenhäusern gesehen, und Christel besitzt doch so gar keine Erfahrung in diesen Dingen. Was haben sie auch bisher für Besuche gehabt? Zuweilen Pastors, und einmal Karl mit seiner Frau aus Dresden; da ging’s einfach und gut bürgerlich her, aber – jetzt?

Er macht ein paarmal den Mund auf, um ihr zu sagen: „Christel – so und so, und wenn du nicht weiter weißt, frage Fräulein von Wartau,“ aber er verschluckt es, er ist überhaupt so seltsam, als habe er das Sprechen verlernt, als koste es ihn eine große Ueberwindung, mit ihr gemeinsam etwas zu überlegen. Christel aber ist unermüdlich in Vorbereitungen für dieses Fest, schon Tage vorher; sie sieht ein bißchen blaß aus, sie leidet so häufig an Kopfweh, aber sie lacht, als sie darauf angeredet wird: „Das thut nichts, geht vorüber.“ Wenn sie es Anton nur recht macht!

Am Jagdtage selbst hat sie ein bißchen Fieber, aber sie hält sich tapfer. Anton fährt etwas besorgt zum Rendezvous. Auf drei Uhr ist das Mittagsessen angesetzt.

„Soll ich nicht Fräulein Edith auffordern?“ fragt Christel ihren Mann. „Liebe Zeit, die Trauer um den alten Großvater, den sie kaum gekannt hat, wird doch nicht beeinträchtigt durch dieses Herrendiner, und beim Nachtisch soll ich mich ja doch gleich zurückziehen, also sie ebenfalls; es wäre doch eine Abwechslung für das arme junge Ding.“

Er hat schon die Jagdmütze auf dem Kopf und bastelt noch an dem Muff herum. Sie sieht, wie seine Stirn sich unter der Mütze zusammenzieht und seine Zähne auf den Schnurrbart beißen. „Meinetwegen,“ sagt er dann kurz, „adieu, Christel!“

„Da wünsche ich dir recht viel Unglück!“ ruft sie ihm lachend nach, getreu dem alten Aberglauben, daß einem Jäger, der auszieht, etwas Schlimmes gewünscht werden muß, damit er Glück habe. Dann geht sie wieder an ihre Beschäftigung.

Als gegen drei Uhr die Wagen auf den Hof fahren, ist das untere Stockwerk völlig erleuchtet, des ungewöhnlich dunklen Wetters wegen; der Diener in einfacher Livree steht an der Freitreppe und öffnet die Schläge der Wagen. In Antons Zimmer machen die Herren ein wenig Toilette, und der Hausherr selbst eilt über den Flur, um nach Christel, nach den Zimmern, vor allem nach der Tafel zu sehen.

Gleich im ersten Gemach steht Christel in schwarzer Atlasrobe, das blonde Haar wie zu einer Krone über der geraden weißen Stirn hochgesteckt. Er stutzt, sie sieht stattlich aus, aber alt, recht alt und so stark in


Deutschlands merkwürdige Bäume: die Linde von Eckertsdorf.
Nach einer Skizze von H. Matthiae gezeichnet von W. Hoffmann.

[102] der engen Taille, die ein Leipziger Schneider nach neuester Mode anfertigte.

„Gefällt sie Ihnen? Ja? Gefällt sie Ihnen?“ jubelt da eine helle Stimme, und aus dem angrenzenden Gemach kommt im weißen Kaschmirkleid, das ohne jeden Schmuck in weichen Falten um den entzückenden Mädchenleib sich schmiegt – Edith – Edith so unsagbar reizend, daß er seinen Augen nicht traut. Wie wundervoll der zierliche Hals das Köpfchen trägt, wie köstlich das schwarze Haar absticht gegen das elfenbeinerne Weiß des Kleides! „Ja? Gefällt sie Ihnen?“ ruft sie noch einmal und umhalst Christel, „ich habe sie aber auch frisiert, denken Sie, Herr Mohrmann!“ Und Christel steht da, errötend wie ein junges Mädchen, und wartet auf ein Lob aus ihres Gatten Munde, und als er schweigt und sie die Augen hebt, kehren eben langsam seine Blicke von Edith zu ihr zurück.

„Sehr nett! Sehr nett, liebe Christel,“ stottert er, „und die Tafel? Kann ich rasch noch die Tafel sehen?“

Edith läuft wie ein Kind voraus. „O, Sie werden staunen!“ ruft sie. Und wirklich, als er in das Tafelzimmer tritt, sagt er befriedigt: „Ah! das lasse ich mir gefallen!“

Das köstliche alte Meißener Service auf blendendem Damast, Blumenschalen, Krystallschüsseln mit eingelegten Früchten, und auf schweren silbernen Armleuchtern, die Anton beim Kauf mit übernahm, schlanke weiße Kerzen. Möglich, daß die anderen neuere zierlichere Geräte haben, mehr Kinkerlitzchen, aber gediegener sieht es hier aus, wirklich gediegen.

„Nun?“ fragt Edith, „bedanken Sie sich nicht bei Frau Christel?“

Er reißt abermals die Blicke von ihr los und nickt seiner Frau zu, die im Rahmen der Thür stehen geblieben ist. „Sehr nett, sehr nett, Christel; und Sie, gnädiges Fräulein, Sie haben natürlich geholfen, also auch Ihnen Dank!“ Dann geht er rasch zurück, denn eben hört er über den Flur schon Stimmen seiner Gäste, und Christel und Edith folgen ihm.

Christel hat so etwas wie Lampenfieber und fühlt sich unsagbar angegriffen. Etwas linkisch wird ihre Verbeugung, und ihre Unterhaltung ist etwas unbeholfen, die konventionellen Redensarten sind ihr fremd. Sie hält Edith krampfhaft an der Hand, und das schöne kindliche Geschöpf in seiner natürlichen Anmut läßt sie noch ungewandter erscheinen. Bei Tische – sie hat den Ehrenplatz zwischen dem Altwitzer Grafen und dem Landrat von Logow – vergißt sie vor Angst, zu prüfen, ob auch die Gerichte gut zubereitet sind, die höflichen Fragen der Herren zu beantworten; auf ihrem Gesicht wechseln Röte und Blässe, hilfesuchend irrt ihr Blick zu Anton. Endlich beruhigt sie sich etwas; Graf Altwitz bringt die Rede auf Edith, da kann sie mitsprechen und warmes Lob fließt über ihre Lippen.

„So natürlich und liebenswürdig, so anhänglich ist Fräulein von Ebradt, mein ganzer Trost in diesem großen einsamen Hause,“ sagt sie.

„Der Trost Ihres Herrn Gemahls wohl auch?“ fragt mit völlig harmlosem Ausdrucke der als bösartig bekannte Landrat.

Christel sieht ihn groß an, und von ihm zu Edith. Anton und Edith, die sich gegenübersitzen, trinken sich eben zu. „Gewiß,“ sagt sie dann ruhig, „Sie wissen wohl, Herr Landrat, wir haben keine Kinder, da ist die Freude an solch liebem Geschöpf nur natürlich.“

„He – Scherbitz,“ flüstert jetzt leise der Landrat, der Edith unverwandt betrachtet, seinem Nachbar zu, „finden Sie nicht, daß Fräulein von Ebradt auffallend der Adoptivtochter von Neussens ähnlich sieht?“

„Hat denn Neussen ein Kind adoptiert?“ fragt der andere laut zurück.

„Ja, freilich! Wissen Sie denn das nicht? Und zwar – höchst romantisch – das Kind einer spanischen Zigeunerin, das sie auf ihren Reisen irgendwie und -wo gefunden haben.“

„Ja, versteht sich, das ist längst bekannt; ebenso sind es die kostbaren Anekdoten, die das Bändigen der Kleinen liefert,“ sagt ein vierter. Und jetzt schwirrt ein allgemeines buntes Gespräch über dieses Thema durch den Saal. Reizende Streiche des Kindes, auch wieder bedenkliche Momente aus der ersten Zeit seines Aufenthaltes in der Familie werden zum besten gegeben. Den Unterschied von Mein und Dein habe sie gar nicht begriffen, die kleine Schönheit mit den Murilloaugen, Kratzen und Beißen sei an der Tagesordnung gewesen, und als mal die Rute habe in Kraft treten sollen, sei sie auf die schmale Brüstung des Balkons gesprungen mit blitzenden Augen und geballten Fäusten, bereit, sich jeden Augenblick auf das Pflaster zu stürzen; von den regelmäßig wiederkehrenden Fluchtversuchen gar nicht zu reden.

„Wie kamen denn die Leute auch gerad’ auf solches Kind?“ fragt einer.

„Neussen ist eben ein Schönheitsfanatiker,“ sagt der Landrat und streift Ediths köstlich amüsiertes Gesichtchen.

„Aber bedenkt Herr von Neussen denn nicht die Konsequenzen?“ tönt jetzt Antons tiefe Stimme laut. „Mein Gott, was kann er erleben an solchem Kinde! Ich bin ein abgesagter Gegner von Adoption überhaupt, in diesem Falle erkläre ich sie für Wahnsinn.“

Christel ist es, als solle sie ohnmächtig werden bei diesen Worten. „Aber,“ wagt sie mit zitternder Stimme zu sagen, „wenn die Eltern des Kindes bekannt sind als rechtschaffene Leute, und – –“

„Gleichviel,“ erklärt ihr Mann, „es ist doch etwas Fremdes. Niemals kann ein solches Kind Ersatz sein für eigenes Fleisch und Blut.“

Ein Weilchen noch dreht sich das Gespräch um dieses Thema, dann wechselt es. Es wird lebhafter an der Tafel, nur Christel sitzt sprachlos wie ein Automat. „Ich bin ein abgesagter Gegner von Adoption“ – weiter hört und fühlt sie nichts. Ihre Nachbarn haben es längst aufgegeben, sich mit ihr zu unterhalten – sie antwortet gar nicht. Dahin – ihre Pläne, dahin alles lachende Zukunftsglück; einsam weiter, immer einsamer, denn Antons Herz ist nicht mehr dasselbe! Eine Last fühlt sie plötzlich auf sich, eine furchtbar schwere Last.

„Gnädige Frau,“ sagt der Landrat jetzt, „Ihr Herr Gemahl wünscht, glaube ich, Ihnen irgend etwas anzudeuten.“

Sie blickt hinüber zu Anton, er macht eine kaum merkliche Bewegung gegen die Thür. Ach ja, Butter und Käse ist längst genossen – sie soll die Tafel aufheben. Träge, als versagten die Glieder ihr den Dienst, erhebt sie sich. Ein allgemeines Rücken der Stühle, Händeschütteln, Verbeugungen vor Christel und Edith, die an ihrem Arme hängt, dann zieht sich der Schwarm ins Nebenzimmer zurück.

„Sorge für Kaffee, Liqueur und Bier,“ flüstert Anton ihr zu. Mechanisch geht sie hinaus in die Küche. Edith hat ihr vorhin einen Kuß gegeben und ist dann, ein Liedchen trällernd, die Treppe hinaufgesprungen.

Christel sitzt, nachdem der Kaffee hineingesandt, in der Hinterstube, wo die Lampe noch nicht brennt, im Lehnstuhl am Ofen. Ihre Hand gleitet unaufhörlich über den glatten weichen Atlas ihres Kleides. Der Kopf schmerzt so furchtbar, ihr ist, als werde sie krank; vielleicht, vielleicht stirbt sie und – Anton – –. Sie lacht plötzlich und dann kommt ein stechender körperlicher Schmerz am Herzen – da kann er ja die Edith heiraten, da wird alles Glück kommen!

Um Gottes willen, wie bitter macht sie der Schmerz, den ihre erstorbene Hoffnung in ihr zurückließ! Trägt er denn nicht dasselbe Leid wie sie? Ach, sich nur einmal aussprechen können, so von Herzen zum Herzen! Aber er weicht ihr förmlich aus, selbst in der vertrautesten Stunde fühlt sie, daß zwischen Seele und Seele nicht die Brücke geschlagen ist, auf der sich rückhaltloses Vertrauen begegnen kann. Er war ja auch früher nie so, aber sie hat es nur nicht so vermißt wie jetzt. Wann hätte er je mit ihr über etwas anderes gesprochen als über wirtschaftliche Fragen oder – über Alltagsdinge! Er hatte vielleicht geglaubt, darüber hinaus verstehe sie nichts! Aber er hatte auch nicht einmal den Versuch gemacht, das zu ergründen!

Und nun sollten sie so nebeneinander weiter wandern durch den Staub und die Alltäglichkeit des Lebens, ohne einen gemeinsamen Punkt, auf dem ihr beiderseitiges Interesse zusammentrifft?

Ein bitteres Schluchzen überfällt sie plötzlich. Herrgott da droben, warum hast du mir das versagt, was du dem hungernden, dem schlechtsten Weibe von der Straße giebst, die noch flucht über den Segen und wünscht, daß er verderbe!

Ach, das Weinen thut ihr heute nicht gut, bringt ihr keine Erleichterung! Wie furchtbar der Kopf schmerzt! – Sie geht in das Schlafzimmer, taucht ein Tuch in kaltes Wasser und legt es [103] um die pochenden Schläfen. Dann besinnt sie sich, daß sie wohl die edleren Sorten Wein wieder verschließen müsse, die Reste den Dienern geben, aber die sonst so sparsame Hausfrau rührt sich nicht. Ach, was bedeutet denn das alles gegen das Aufgeben ihres Herzenswunsches! In dumpfer Betäubung legt sie den Kopf an die lederbezogenen Kissen des Lehnstuhls.

Wie lange sie so zubringt, weiß sie nicht – Anton steht plötzlich vor ihr.

„Aber, Christel,“ sagt er vorwurfsvoll, „es ist drei Uhr morgens, und du noch hier?“

Sie fährt empor und starrt ihn an aus dick verweinten Augen.

„Ich bitte dich, Kind, was ist denn geschehen?“ fragt er, und ein bißchen heimliche Ungeduld klingt aus seiner Stimme. „Du hast ja geweint? Warum denn? Es war ja alles so gut und nett, du mußt doch selbst bemerkt haben, wie es ihnen schmeckte!“

Sie hat sich vorgebeugt und liest ihm jedes Wort von den Lippen. Plötzlich lacht sie laut auf. Sie weiß es ja lange – nach seiner Idee kann es nichts weiter geben, das sie weinen macht, als eine Wirtschaftsfrage. „Wirklich?“ sagt sie, sich erhebend, „es hat euch geschmeckt? Das freut mich ja sehr, dann ist ja alles gut! Warum weine ich denn da noch?“ Und sie geht an ihm vorüber in die Schlafstube, den Kopf starr in den Nacken gebogen, und die schwarze Seidenschleppe rauscht hinter ihr her.

Er blickt ihr erstaunt nach, aber er hat den Kopf so voll und er ist müde, es wurde auch stark getrunken. Und er fühlt keinerlei Lust, sie heute abend noch um die Gründe dieses stolzen Abganges zu fragen. Ach, es ist ja auch alles so gleichgültig! Wenn es weiter nichts wäre – morgen ist sie ja wieder die rührige vernünftige Christel – wenn er alles so genau wüßte wie das!

„Gute Nacht, Christel,“ sagt er wenige Minuten später und wirft einen mitleidigen Blick auf ihr gerötetes Gesicht und die Kompressen, die ihre Stirn verhüllen.

Aber sie antwortet nicht.


Droben in ihrer Mädchenstube, die mit allerhand mehr oder minder wertvollem Tand phantastisch aufgeputzt ist, sitzt Edith von Ebradt an einem zierlichen Rokokoschreibtisch und beantwortet einen Brief ihrer Freundin Emma von Zobel. Die sehr einfache Petroleumlampe, die wunderlich absticht gegen all die netten Nippes, welche sich das schöne Mädchen zusammengetragen, brennt trübe, und die Ecken und Winkel des großen Zimmers sind voller Schatten. Das große Himmelbett, dessen verblichene Seidengardinen von einer vergoldeten Putte gehalten werden, sieht beinahe aus wie ein Katafalk, so schwarz erscheint die tiefrote Seide in dieser mangelhaften Beleuchtung, und die Goldlitzen sind im Laufe der Jahre thatsächlich schwarz geworden. Ein Kleiderschrank mit eingelegten Wappen, eine bauchig geschweifte Rokokokommode. Bilder und Spiegel – alles an eine längst versunkene Welt erinnernd. Im Kamin glimmt ein Kloben Holz – das Zimmer besitzt noch keinen Ofen – zum Schlafen mochte es ja warm genug sein.

Edith hat sich ein Hauskleid übergeworfen, das sie selbst aus einem alten Brokatstoff zurechtbastelte, blaßblau mit eingewebten großen Rosenbouquets; irgend eine Urgroßmutter mag darin bei Hofe geglänzt haben. Sie sieht noch reizender aus als vorhin im weißen Wollenkleid, älter, reifer, wie eine kokette junge Frau.

Nun setzt sie noch unter den letzten Bogen ihren Namenszug mit einem Schnörkel und nimmt den ersten Bogen des viele Seiten langen Briefes, um ihn nochmals durchzulesen:

 „Liebe süße Ma!
Sechs Wochen lang habe ich Dein Schreiben unbeantwortet gelassen, aber Du darfst nicht böse sein, Maus. Zunächst war ich neidisch, weil Du mir so viel erzähltest von Deinem amüsanten Leben daheim, während ich hier wie in einem Kloster sitze. Du weißt ja, wie wir uns beide freuten, etwas zu erleben, wie entzückend wir uns unser gemeinsames Auftreten in der Welt ausmalten!

Da muß Großvater sterben und muß Wartau verkauft werden! Wenn ich Dir nur beschreiben könnte, wie furchtbar wütend ich auf das Schicksal bin und auf alle die Menschen, die den Zusammenbruch unseres Vermögens verschuldet haben! Sie sind alle tot, aber ich zürne ihnen noch im Grabe.

Tante Tonette ist schrecklich altjüngferlich, schrecklich vornehm und – edel. Wenn ich mal einen dummen Witz mache, rümpft sie die Nase. Neulich sagte sie: ‚So benimmt sich allenfalls eine Soubrette, aber keine Baronesse Wartau!‘ – Was wohl die Wartaus noch bedeuten in der Welt! Ich tausche gleich mit einer gefeierten Soubrette! – Der Frau Christel habe ich auch einen gräßlichen Schrecken eingejagt, als ich ihr erzählte, ich hätte zwar eine Liebe, wolle aber doch sehen, eine reiche Partie zu machen. Ja so – jetzt kommt, was ich Dir anvertrauen will, aber schwöre, daß Du diesen Brief gleich verbrennst! In der Pension sagten wir bei solchen Gelegenheiten dreimal ‚Wahrhaftig!‘ – ich nehme also an, Du hast es gethan!

Ich schrieb Dir ja damals, daß ein Herr Mohrmann das Gut gekauft hat, und daß ich ihn zum erstenmal bei Großvaters Leichenfeier sah. Ich dachte, als er in den Saal trat, es wäre einer der jungen Grafen Altwitz, oder ein Buhnau oder dergleichen. Wie ich hörte, es sei Mohrmann, hatte ich augenblicklich weiter kein Interesse für ihn. Weißt Du noch, Ma, wie wir uns stritten? Ich behauptete, es könne gar kein Spaß dabei sein, sich von einem verheirateten Manne den Hof machen zu lassen. Du schwärmtest damals für Bulß, und der ist ja doch auch Ehemann, und sagtest, es sei gerade sehr romantisch, daß er verheiratet ist. Alle unsere mühsam und heimlich beschafften neuesten Romane behandeln ja dieses Kapitel, die alten übrigens auch schon. Ich habe ein paar gefunden, in verblichener rosa Seide gebunden mit dem Wartauschen Wappen in Golddruck darauf, französische natürlich – ich sage Dir, Ma, dagegen ist Paul Heyse und Spielhagen gar nichts!

Und nun denke – aber ich kann wirklich nicht dafür und weiter nichts ist schuld als die tödlichste Langeweile in diesem alten Spuknest, meine Sehnsucht nach Unterhaltung und meine Lust, etwas zu erleben – ich – nein, so nicht, ich will ehrlich sein – –. Es kam mir auf einmal so in den Sinn, mit Herrn Mohrmann zu kokettieren. Was willst Du denn, Emma? Er ist der einzige Mann, mit dem ich zusammentreffe, ausgenommen heute abend; aber davon später.

Weißt Du, er hat mich vom ersten Augenblick an, wo er mich erblickte, mit Augen angesehen – ach, davon hast Du gar keinen Begriff! Dann bemerkte ich, wie er ohne jede einigermaßen verbindliche Art bestrebt war, mir Aufmerksamkeiten zu erzeigen. Er kaufte, als ich ein paar Thränen vergoß, weil die Ahnenbilder und alte wertvolle Familienstücke verauktioniert werden sollten, den ganzen Schwindel von Tante Tonette mit dem ausdrücklichen Versprechen, daß die Sachen stets in Wartau bleiben würden. Ach, und dergleichen mehr, und dies alles in einer solch stummen, ernsthaften Art, so respektvoll – weißt Du, wie wenn ich eine Königin wäre. Tante Tonette aber ist ganz entzückt von ihm. Er ist aber auch reizend, eine Lohengrinerscheinung, groß, blond, stattlich. Edi Waldenberg würde neben ihm recht abfallen. Uebrigens gebe ich Edi nicht etwa auf, Ma, ich hoffe vielmehr, er soll im nächsten Jahr auf den Bällen in Eurem Hause – Du hast mich eingeladen, Du weißt es doch noch? – mein eifrigster Ritter sein; heiraten kann ich ihn ja nicht, den herzigen Jungen, wegen des dummen Geldes. Bitte, grüße ihn von mir und erzähle ihm um Gottes willen nichts von Mohrmann!

Doch nun weiter. Stelle Dir vor, daß ich manchmal Angst habe, es könnte eine Strafe kommen für meinen Leichtsinn: ich empfinde so etwas wie Gewissensbisse, und zwar immer, wenn ich mit Frau Christel zusammen bin. Aber, gerad’ Frau Christel brauche ich so nötig als Folie für meinen Eroberungszug. Sie ist groß, voll, ein bißchen zu gesund und derb, und zieht sich unglaublich simpel an. Natürlich ließ sie bis jetzt Kleider und Stiefel im Dorfe arbeiten, aber auch heute in einem Damenschneiderkleide war sie merkwürdig robust – so – so – ich weiß nicht wie. Und wenn ich dann so neben ihr stehe, da müßte er ja gar kein Mann sein, wenn er nicht herausfände, daß – – na, wir haben uns ja gegenseitig schon gestanden, Emma, daß [104] wir schön sind. Siehst Du, und da bin ich nun so boshaft oder schlecht – ist es eigentlich schlecht, wenn man einem Herrn der Schöpfung etwas mehr Geschmack beibringt? – also, so schlecht, daß ich ihn das Bild ‚Christel die Brave und Edith die Hübsche Arm in Arm‘ sehen lasse, so oft es geht. Er beißt dann die Lippen aufeinander und sieht aus dem Fenster oder sonst wohin, aber ich weiß, er hat gesehen. Im übrigen bin ich so unbefangen und kindlich harmlos wie möglich, und Frau Christel verzieht mich riesig. Nur einmal sah ich ihr Gesicht lang werden, das war, als sie neulich in Tante Tonettes Zimmer platzte, wo Mohrmann gerade dabei war, mir Strickgarn zu halten, das ich wickeln wollte.

Es war gar nicht so leicht, ihn dahin zu bringen, aber schrecklich amüsant. Und gerade da muß Frau Christel kommen, die sonst nie unsere Wohnung betritt. Ich sah’s ihm an, es war ihm peinlich, und er ging, wie ein braver Ehemann, mit ihr zugleich ab – o, wie ich mich amüsiert habe! Es war zu drollig; ob er wohl eine Gardinenpredigt bekam?

Neulich dachte ich darüber nach, ob ich Mohrmann hätte heiraten können, wenn das Geschick gewollt, daß er als Junggeselle Wartau kaufte. Und weißt du, wie ich darauf kam? Höre nur, Tante Tonette schrieb an Tante Josepha, plötzlich stand sie vom Schreibtisch auf, legte die Feder hin und ging ganz blaß in ihr Schlafzimmer, hatte ihren Herzkrampf, der immer ein Weilchen dauert. Und da las ich ein bißchen in dem Briefe – auch eine Ungezogenheit aus der Pensionszeit – und was steht da?

‚Ich weiß nicht, ob ich mich irre, ich bilde mir ein, daß Mohrmann nicht glücklich lebt mit seiner Frau. Er ist doch ein recht gebildeter Mensch, sie die reine Küchenlampe. Eine Zeit lang kam er zuweilen in der Dämmerung in mein Zimmer, und dann unterhielten wir uns recht nett mit ihm; er kann über alles mitsprechen. Er sagte, in seines Vaters Hause sei sehr für Kunst geschwärmt worden, so sehr, daß er einen förmlichen Degout davor bekam und sich aus purer Opposition der Natur in die Arme warf. Er hat zwei Jahre in Heidelberg und Halle studiert. Wär’ er los und ledig: trotz seines bürgerlichen Namens wär’ er eine Partie für Edith; es kostete sicher bei unserm teuern König nur ein Wort, eine Erinnerung an Papa, und er gestattete, daß er sich von Mohrmann-Wartau nennen dürfte. Er würde dem Namen auch keine Schande machen, denn er hat sich seine Position spielend erobert. Aber das sind eben nur müßige Gedankenspäne, hübsche Unmöglichkeiten. – Gott weiß, was aus Edith werden soll, so schön und so oberflächlich!‘

Weiß Gott, das stand wirklich da, Ma! Ich spann die Phantasie von Tante noch ein bißchen weiter, abends in meinem Zimmer, das an den großen Bankettsaal grenzt, und fand die Idee gar nicht übel! Das Schloß müßte ganz ausgebaut werden; Mohrmann bemerkte neulich zwar, daß dazu viel Geld gehöre und daß er vorläufig gar nicht daran denke – er und Christel hätten überflüssig Platz im untern Geschoß. Ja, ja, das wäre so übel nicht, aber die brave Christel steht da wie der Engel mit dem feurigen Schwert vor dem Paradiese.

Ach, wenn doch Edi Waldenberg das Majorat erbte! Es ist Pech, daß sein schwindsüchtiger Bruder sich wieder so erholt hat, er sah doch aus, als ob er keine vierzehn Tage mehr leben könnte.

Addio, Ma! Bitte, verlobe Dich nicht zu schnell; ich freue mich so schrecklich auf nächsten Winter. – Findest Du auch, daß ich oberflächlich bin? Es kann ja sein. Ist man aber daran selber schuld? Heute abend war Jagddiner unten. Sie hatten mich eingeladen; Frau Christel saß oben an wie eine der Pagoden, die hier vor mir stehen; sie nickte dann und wann mit dem Kopfe und sah auf einen Fleck und lächelte wie geistesabwesend. Ihr Mann saß mir gegenüber, er war entschieden der hübscheste – sonst waren es meist ältere Herren.

Ach, ich bin müde – bitte, verbrenne den Brief, Du hast’s geschworen!!!

 In inniger Liebe und Treue
 Deine Ditta.“


Sie couvertiert und siegelt mit einem winzigen Wappenring, den sie am Finger zu tragen pflegt, und sucht dann ihr Lager auf, und dort liegt sie noch lange und starrt in die Dunkelheit. Das hat sie Emma von Zobel aber doch nicht geschrieben, daß „Lohengrin“ einen leidenden, gespannten Ausdruck im Gesichte trägt und daß er ihre Nähe meidet, wo er kann. Sie weiß ganz genau, daß das ernste Anzeichen sind, und ein bißchen dämmert ihr, unter Herzklopfen und leichtem Schauer, die Gefährlichkeit des Spiels, das sie treibt.

Aber – was soll denn passieren? Daß mal einer ihretwegen schlecht schläft, daß er sich ein bißchen toll in sie verliebt hat? Das ist ja weiter nichts als ein berauschendes Gefühl für sie; er liegt ja an der Kette, und diese Kette ist nicht zerreißbar; er ist auch viel zu vernünftig. Und Edith kommt sich unglaublich interessant vor, wie eine der Romanheldinnen, von denen ihr krauses Gehirn wimmelt. Emma hat ganz recht, ein unbeschreiblich interessantes Bewußtsein ist es, einen Mann in den berühmten Konflikt von Pflicht und Liebe gestürzt zu haben.

Scheiden lassen wird er sich ja nicht, Gott behüte! Das will Edith auch gar nicht; sie will nur etwas erleben; die brave Christel soll ihn behalten. – Jetzt gähnt sie ganz laut – der Edi, der nette Edi von den Gardedragonern, wird ja wohl das Majorat schließlich noch erben, und daß er sie dann heiraten wird, das unterliegt keinem Zweifel. Neulich, zu ihrem Geburtstage, hat er erst ein Bouquet geschickt. Tante Tonette war so neugierig, zu fragen: „Von wem?“ Als sie dann hörte, von Edi Waldenberg, zuckte sie die Achseln und sprach etwas von aussichtslosen Geschichten. – Wer weiß? Wenn Edis Bruder nur nicht auf die Idee kommt, noch zu heiraten, ehe er stirbt. Ach, diese Ungewißheit! Sie sehnt sich so nach einem behaglichen Heim, einer gesicherten Lage – es ist doch im Leben alles zu dumm, zu verkehrt eingerichtet!

Und Edith legt ihr schönes Köpfchen auf die weichen Kissen und ihr träumt, daß nebenan im Saal getanzt wird – sie mit Edi – nein, mit Lohengrin. Ach, wie er dahin wirbelt, und Edi steht und sieht ihr traurig nach.

Warum hat er das Majorat nicht geerbt, der thörichte Edi! Als ob sie dafür könnte.


Das Weihnachtsfest ist vorübergezogen, ganz still. Im Tafelzimmer hat die Bescherung stattgefunden. Der Pastorsfamilie ist am ersten Feiertage beschert worden, am Heiligen Abend wollte sie unter sich sein. Der kleine Anton ist für den großen nicht aufgebaut unter dem Christbaum im Schloß, die Ausstattung für den Jungen hat Christel ihrer Schwester heimlich zugeschickt.

Fräulein Josepha von Wartau ist am Heiligen Abend auf Besuch gekommen, und die drei Damen haben ihr Bäumchen oben in ihrem Zimmer angebrannt. Josepha hatte entschieden abgelehnt, die Feier gemeinschaftlich mit Mohrmanns zu begehen; so ist denn nur Edith unten bei ihnen gewesen, um den Dorfkindern bescheren zu helfen.

Christel hatte viel zu thun und freute sich, endlich allein zu sein. Ein Weihnachtsbäumchen für sich haben sie nicht angezündet, das erste Mal, seitdem sie verheiratet sind. Keins von beiden hat Verlangen danach gehabt, es liegt auf ihnen wie ein dumpfer Druck.

Aeußerlich, bis auf den Lichterbaum, ist ja alles wie sonst, Christel bemüht sich, freundlich zu sein wie immer, aber sie kann und kann’s nicht verwinden, daß er ihren Herzenswunsch, den kleinen Anton zu adoptieren, nicht erfüllen will. Und wenn’s dieser nicht gewesen wäre, dann ein anderes Kind, das ihm besser gefallen hätte; jedes würde sie mit Freude an ihr Herz geschlossen haben. Aber daß er die Idee überhaupt verwirft, das ist, als sei ihr die letzte Aussicht auf Lebensfreuden vernichtet.

Anton hat auf ihren Teller unter eine Serviette ein Geschenk gelegt. Sie öffnet das rote Sammetetui – eine kleine Brillantbrosche blitzt ihr entgegen – und sie sieht ihn an mit Blicken, die in Thränen funkeln. Was soll das mir? liegt darin. Aber sie giebt ihm doch die Hand und spricht ein herzliches: „Danke, Anto!“ Dann holt sie ihr Geschenk, einen Teppich vor den Schreibtisch und ein Paar Jagdhandschuhe, die sie selbst gestrickt.

[105]

Im Lawinenschnee.
Nach einer Originalzeichnung von M. Zeno Diemer.

[106] „Es ist wenig,“ sagt sie mit einem traurigen Lächeln, das die Thränen maskieren soll, „nimm so vorlieb, Anto; was ich dir am liebsten gäbe, das steht ja nicht in meiner Macht.“

„Kind! Kind!“ murmelt er, „laß uns trachten, zufrieden zu bleiben.“

„O ich – ich –“ bricht sie aus, „was liegt an mir! Aber du, denkst du denn, ich sehe dir nicht an, daß du – totunglücklich bist, weil wir allein geblieben sind?“

„Nein, Christel, das bin ich nicht – du denkst falsch und siehst falsch. Nein, was mich drückt, das – geht wieder vorüber, ganz bestimmt; hab’ Geduld mit mir, ich bitte dich, hab’ Geduld!“

Und sie, die nur nach einem guten Worte gedürstet hat, sie ist wie umgewandelt nach dieser Bitte.

„Verzeih’ mir nur, Anto, ich bin so unvernünftig und – du hast gewiß Sorgen. Nein, nein, ich frage nicht darum – wenn ich dir aber helfen kann, dann sagst du es mir wie in alten Tagen – ja?“

„Ja, Christel, wenn du mir helfen kannst, sag’ ich es dir.“

Dann sitzen sie beide in dem großen einsamen Zimmer, und totenstill ist es um sie, ach so totenstill! Auf dem Prunkschränkchen tickt die alte Uhr und spielt wie sonst ihr Liebesliedchen herunter, „La charmante Gabrielle“.

Nichts erinnert an Weihnacht, nichts.

Um zehn Uhr ist Christmette in der Dorfkirche. Anton und Christel gehen nebeneinander hin, sitzen nebeneinander auf der Bank mit der Frau Pastorin im Predigerstuhl. Christel hält die Hand ihres Mannes; mit der süßen Friedensbotschaft will Frieden auch in ihr Herz ziehen. Da fühlt sie, wie diese heiße Hand in der ihrigen zuckt, als gehe ein elektrischer Schlag durch den Körper des Mannes. Sie sieht ihn an und folgt seinen Blicken.

In dem Herrschaftsstuhl droben, gerade in der Mitte über dem Wappen der Wartaus, taucht aus der Dämmerung Ediths schönes blasses Gesicht auf. Die dunklen Wimpern sind noch im Gebet gesenkt. Dann schaut sie hinunter und nickt Frau Christel unbefangen zu.

Die hat jählings die Hand ihres Mannes losgelassen, ein rasendes Herzklopfen überfällt sie.

„Herrgott,“ betet sie, die Hände im Muff zusammengekrampft, „hilf mir diese Gedanken bannen –. Es ist nicht wahr – es ist nicht wahr!“

Anton sieht schon längst wieder gerade aus, und vom Chor herab schallt das alte liebe Weihnachtslied „Vom Himmel hoch da komm’ ich her –“

Das Ehepaar singt nicht mit, als aber der Gottesdienst beendet ist, ist auch Christel wieder Siegerin geworden über sich, und nichts weiter als die Liebe und die Sorge für Anton sind in ihrem Herzen. Und Anton hat ihr den Arm gegeben, obgleich Edith sich ihnen anschließt. Vor ihnen geht der Knecht mit der Laterne, und alle drei schweigen.

„Gute Nacht, Fräulein Edith,“ sagt Christel im Flur des Schlosses freundlich zu dem jungen Mädchen, das im Begriff ist, die Treppe hinaufzusteigen, „und wenn’s Ihnen Spaß macht, die Bescherung der Pastorskinder morgen mit anzusehen, so sind Sie willkommen.“

Und Edith wendet das entzückende Köpfchen und lächelt. „Ich weiß es noch nicht, Frau Christel; die Tanten wollen ja nach Altwitz zu der alten Frau Gräfin. – Ich glaube es kaum –“

Sie freut sich, wie Antons Aufhorchen bei Christels Worten bei den ihren einem Zug getäuschter Erwartung weicht. „Gute Nacht!“ ruft sie nochmals. Es ist natürlich kein Wort wahr, aber zur Strafe für sein mürrisches Schweigen soll er ein wenig zappeln. O, sie weiß ja so genau, was dieser Mann empfindet für sie, obgleich nie ein Wort über seine Lippen kam.

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Zu Neujahr reist Fräulein Josepha wieder ab. Die Damen oben und Mohrmanns unten atmen auf; denn sie ist umhergewandelt wie die gespenstische Ahnfrau selber und hat Unglück prophezeit.

Mohrmanns haben unter anderen Briefen auch die Nachricht von Freund Karl aus Dresden empfangen, daß Bube Numero Fünf eingetroffen sei, just am Weihnachtsabend. Frau Christel müsse Pate stehen, das sei hiermit gesagt, damit später eine Absage nicht komme unter dem Vorwande, die nötige Zeit zur Vorbereitung fehle. Mohrmann legt das Blatt, ohne ein Wort zu sprechen, auf den Tisch und geht seinen täglichen Geschäften nach: zu Festzeiten ist das Auge des Herrn doppelt nötig. Christel denkt, es hat ihm weh gethan, und schreibt sofort eine herzliche Gratulation und vorläufige freundliche Annahme der Patenschaft. Wenn’s Zeit ist, denkt sie, wird sich’s ja finden, ob wir reisen oder nicht.

Anton fängt sein altes Leben wieder an, das heißt, er ist wenig daheim. Einmal war ihm Christel auf der oberen Treppe begegnet, als sie bestimmt geglaubt hatte, er sei ausgegangen.

„Wo kommst du denn her?“ fragt sie.

„Ich habe nach dem alten Inventarverzeichnis in der Bibliothek gesucht,“ ist die Antwort.

„Hast du es gefunden?“

„Noch nicht.“

„Laß mich doch nachsehen, Anto, du kannst ja so schlecht finden,“ schlägt sie freundlich vor.

Er wehrt hastig ab: „Es ist sehr kalt oben, und ein Wust von Staub; wenn da planlos umhergestöbert wird, macht’s doppelte Arbeit nachher. Wir suchen später zusammen, Christel. Die ganze Aufräumerei steht uns so wie so bevor zum Frühjahr,“ fügt er hinzu.

Sie nickt. „Wie du willst, Anto – auf Wiedersehen! Ich muß nach der Wäsche schauen auf dem Boden.“

Als sie vor der Bibliothek vorüber geht, es ist das Turmzimmer, sieht sie ein schwarzes Gebröckel vor der Thür liegen, als sei Torf dort hineingetragen; auch etwas Holz liegt dabei. Sie steht ein Weilchen und sieht’s an, dann steigt sie die letzte Treppe hinauf. Droben hört sie die Waschfrauen miteinander schwatzen, die beim Aufhängen sind.

„Ich wollt’ sie schon ’nausgraulen,“ sagt eben die grobe Stimme der alten Wichern, „die jagte ich heute noch, wenn ich die Frau wär’. So’n Gehabe und Gethue um den Mann – nee – nee – so was –“ Sie verstummt jäh, und ihr erschrecktes Gesicht versteckt sich schleunigst hinter den eben aufgehängten Servietten. Christel taucht in der schmalen Treppenöffnung auf. „Du mein,“ kreischt die Frau, „bin ich erschrocken!“

„Doch nur, weil ihr gottlose Gesellschaft wieder gehörig geklatscht habt,“ sagt Christel heiter. „Dem gnade Gott, der in eure Mäuler gerät!“ Und sie geht an den Leinen entlang und tadelt das junge Hausmädchen, das so ganz gegen alle Regel die Strümpfe aufgehängt hat.

„So, jetzt zeig’ ich dir’s noch einmal,“ sagt sie, „knöpf’ die Augen auf! Das nächste Mal werde ich böse.“ Und dann fragt sie: „Wer von euch heizt denn auf seiner Kammer, ihr Mädchen? Oder thut’s das Fräulein oder der Wilhelm? Ich habe da Torfstückchen gefunden und Holzspäne. Ihr wißt, das soll nicht sein; die Essenanlage ist schlecht auf der Seite, wo ihr wohnt, es kann ein Schadenfeuer entstehen im Umsehen. Ihr habt unten euer warmes Zimmer, da mögt ihr feuern, bis ihr zu Bette geht; das kalte Schlafen wird euch nicht schaden, der Herr und ich heizen auch nicht im Schlafzimmer.“

Die Wirtschafterin zieht ein beleidigtes Gesicht; die Mädchen erklären, sie heizten nicht, und für den Wilhelm wollten sie auch einstehen.

„Vielleicht der Herr in der Bibliothek?“ bemerkt die Mamsell und fixiert Christel.

„Der Herr?“ sagt Christel ruhig, „reden Sie doch nichts, was Sie nicht verantworten können.“

„Ich habe nur Wilhelm neulich mit Torf und Holz nach oben gehen sehen,“ antwortet die Person schnippisch.

„Na, da haben wir’s,“ ruft Christel.

„Wilhelms Zimmer hat gar keinen Ofen,“ berichtigen sämtliche Angeklagte im Chor.

Ach ja! Christel besinnt sich: das ist ein Gelaß ohne Ofen. Sie schweigt, hat aber die Mamsell im Verdacht und beschließt, aufzupassen. Wie sie sich umwendet, zieht die eine der Mägde ein [107] Gesicht; Christel glaubt ein Kichern zu bemerken. Sie spricht noch mit der alten Waschfrau und geht dann hinab.

Unten ist Besuch angekommen, der neue Besitzer von Wirnitz, ein Herr Ramann, mit Frau und Töchtern. Wie es so auf dem Lande Sitte ist, werden sie gebeten, dazubleiben, und die Herren sind bald im tiefsten Fachgespräch.

Christel vergißt es auch später, nach den Torfspuren zu fragen; sie vergißt es auch am anderen Tage. Sie hat viel zu thun: Anton ist nach Leipzig gefahren und kommt erst nachts zurück.

Am Tage nach seiner Rückkehr, so zwischen drei und vier Uhr nachmittags, hört Christel die aufgeregte Stimme ihres Mannes: „Die Pferde sollen heraus und vor die Wartauer Spritze, in Altwitz brennt es!“ Sie sieht ihn auch gleich darauf über den Hof eilen und in den Ställen verschwinden. Ohne Besinnen eilt sie ihm nach in den Stall, wo die Leute beschäftigt sind, die Pferde anzuschirren. Anton kommt eben mit einem Sattel vom Geschirrboden und legt ihn dem Fuchs auf; sein Gesicht ist stark gerötet, es sieht aus, als habe er geweint. Aber darauf zu achten hat Christel keine Zeit; sie bemerkt, daß ihm Hut und Reitgerte noch fehlen, und eilt zurück, um sie zu holen. Sie muß sie ihm schon aufs Pferd reichen.

„Aengstige dich nicht, Christel,“ sagt er, „auch wenn ich länger ausbleibe.“

Dann wirft er das Pferd herum, ruft ihr ein kurzes „Adieu“ zu und reitet vom Hofe, und wie er vom Pflaster herunter ist, setzt er das Tier in Galopp und jagt wie toll an den Pferden vorüber, die die Spritze aus dem Gemeindehause holen sollen.

Christel sieht ihm nach, sie steht noch ein Weilchen neben der Inspektorin inmitten der Mägde, die allerhand Mutmaßungen Raum geben, ob es wohl auf dem Gute brennt oder im Dorfe, und wie es entstanden ist. Möglicherweise auch könnte es Brandstiftung sein, man habe in letzter Zeit so viel gehört und der Altwitzer Graf sei ein harter Herr, aber wie’s auch sein möge – die armen Menschen!

Die Mägde laufen jetzt auf den Hausboden, um besser sehen zu können; Christel geht ins Schloß zurück, schaut noch in Antons Stube, ob er alles verschlossen hat in der Eile, und klopft dann oben bei den Damen an, aber es ruft niemand Herein. Das kleine halbwüchsige Mädchen, das eine Art Zofe bei Fräulein Tonette vorstellt, kommt eben aus der Schlafstube mit einem Wischtuch und giebt den Bescheid: die Damen seien zu Fuß vor einer halben Stunde nach Altwitz gegangen; sie seien zum Kaffee eingeladen bei der alten Gräfin.

Christel sieht das Mädchen ganz erstaunt an. „Nach Altwitz?“ fragt sie – „zu Fuß?“

„Ja, Frau Mohrmann; nach zwei Uhr sind sie gegangen. Ich habe rechte Angst,“ setzt es wichtig hinzu.

Einen Augenblick bleibt Christel sinnend stehen. Es kommt ein scharfer Zug durch die offnen Fenster und die Glocken des Altwitzer Kirchleins klingen unheimlich hastig in abgebrochenen Schlägen herüber wie angstvolles, grelles Hilfegeschrei. Endlich steigt sie die Treppe zum oberen Geschoß empor, sie will von einem nach der Altwitzer Seite gelegenen Zimmer aus sehen, ob es wirklich Großfeuer ist. Wie sie auf dem Vorplatz ankommt, erblickt sie die Thüre zur Bibliothek halb geöffnet, und ohne Besinnen läuft sie dort hinein; vom Turme muß man es ja am besten beobachten können, er liegt direkt nach Altwitz zu. Hinter ihr fliegt krachend die Thüre ins Schloß, sie achtet es nicht, sie ist schon in dem runden Erker, den der Turm bildet.

Eine düstere, rotangestrahlte Wolke schwebt über den Bäumen, die das Dorf umgeben – es ist wirklich das Herrenhaus, das brennt. O ihr armen Menschen! Und da fällt Anton ihr ein – ob er bei dem tollen Ritt glücklich ankam? Ob er sich schont und an sein Leben, seine Gesundheit denkt? Ach, und die Damen - - Eine schreckliche Unruhe packt sie plötzlich, sie will hinüberfahren, vielleicht kann auch sie helfen.

Sie läuft zur Thür – die ist zu – das altmodische Schloß eingesprungen, der Schlüssel steckt von außen. Sie stößt mit den Fäusten dagegen, kaum ein Geräusch giebt’s an dem dicken Eichenholz. Sie rüttelt am Schloß – vergebens. Hilflos sieht sie sich um – es wäre doch schrecklich, hier oben eingesperrt zu sitzen in der Kälte, wer weiß wie lange? – Aber wie denn? Es ist absolut nicht kalt hier! Sie sieht sich erst jetzt groß um, ein einziges Mal war sie bis heute in der Bibliothek. Dann faßt sie sich an die Stirn – im Kachelofen flackert ja Feuer? Der Schreibtisch inmitten des großen Raumes ist offenbar eben benutzt worden, der Stuhl davor wie in Hast fortgeschoben, der Teppich zeigt sandige Spuren.

Christel lächelt ein wenig. Also daher der Torf? – hier oben verkriecht sich ihr Mann, stöbert in alten Urkunden und Büchern – heimlich? Und thut so geheimnisvoll damit, so ge – heim – nis – voll – –. Die Augen der Frau sind über die von oben bis unten mit Bücherregalen bedeckten Wände geschweift. Hunderte von Bänden, alle in gleichem Ledereinband, das Wappen der Wartaus auf dem Rücken. Die einzige freie Wand am Ofen ist mit Bildern behängt, alten vergilbten Kupferstichen in glatten, braunen Holzrahmen, lauter Darstellungen aus dem Leben Napoleons I, er selbst nach dem bekannten Gemälde von Delaroche. Christel betrachtet diese Schildereien wie geistesabwesend – Napoleon als General, als Konsul, Napoleon in Aegypten und in den Tuilerien als Kaiser und endlich der Gefangene auf Elba. Dort ist Marie Louise und der kleine König von Rom, dort auch Josephine, die schöne, graziöse Josephine, die ihr kaiserlicher Gemahl verstieß, weil sie ihm keinen Erben gab.

Christels Augen bleiben an einem dieser Bilder hängen – Josephinens Abschied von ihrem Gemahl. Er steht in der bekannten Haltung mit untergeschlagenen Armen vor ihr, die weinend sich abwendet; im Hintergrunde, draußen vor dem Säulenportal, hält der Reisewagen, der sie nach Malmaison führen soll; ein paar unmöglich lange Gestalten, als hätte sie Chodowiecki gezeichnet, und doch in all ihrer Steifheit so packend! „Napoleon litt furchtbar unter dieser Trennung,“ steht darunter, „aber er brachte Frankreich das Opfer, der Frau, die er am meisten liebte, zu entsagen.“ So lautet die altmodische Handschrift neben dem gedruckten französischen Text.

Beim Anblick dieses Bildes befällt es Christel wie eine böse Ahnung; sie starrt es immerzu an und dabei bekommen ihre Züge einen ganz verstörten Ausdruck. Sie läuft abermals zur Thür und ruft und rüttelt, niemand antwortet. Sie tritt wieder in den Turm und schaut nach Altwitz. Da lodern jetzt in den Winterhimmel gelbe Flammen empor – es muß ein entsetzliches Feuer sein – und das Wimmern der Glocken ist lauter und heftiger geworden.

Sie kann den Anblick nicht ertragen, sie geht ein paarmal unruhig in dem großen Raum hin und her und setzt sich endlich wie erschöpft auf den Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. Ihre Hand nestelt nervös im Haar, der Kopf schmerzt ihr, die Haarnadeln drücken sie und wie abwesend schweifen ihre Blicke über das beschriebene Briefblatt, das vor ihr liegt.

„Wenn ihm nur nichts geschieht, wenn er nur erst wieder da wäre,“ murmelt sie, und dabei bemerkt sie ganz äußerliche Dinge. Einen Schubkasten, der halb geöffnet ist, das ungeheure beklexte Tintenfaß, eine Feder, die wie hastig weggeschleudert neben dem Papier liegt, merkwürdiges Papier, so vergilbt, so grob und das Wasserzeichen –. Christel kann von diesem Platz durch das Fenster des Turmes direkt nach Altwitz sehen. Anton hat hier gesessen, und da hat er den Rauch bemerkt – ja, so ist’s gewesen! Er ist dann hinuntergestürzt und hat hier alles vergessen.

Ob er wohl wußte, daß Edith dort war? – –

Was für alte Schriftstücke studiert er denn nur hier? Sie zieht mechanisch das Blatt heran und liest. Dann schiebt sie es mit ganz verfallenem Antlitz wieder zurück, räuspert sich, faßt sich an die Kehle, will aufstehen und bleibt doch wie festgehalten sitzen.

Antons Schrift – ihr Name! Aber dieses alte Papier? Ach, dort liegt ein ganzer Stoß, er verbraucht es wohl, hat’s hier oben gefunden?

Sie sitzt davor, die Hände ineinander gekrampft, die Augen starr auf die ferne lodernde Brandstätte gerichtet. Dann streckt sie die Hand aus nach dem Papier, eine zitternde Hand, die sich zwei-, dreimal wieder zurückzieht, bevor sie das Briefblatt ergreift. [108] Aber endlich hält sie es und die Augen senken sich nieder zum Lesen. „Nur Gewißheit!“ murmelt sie, „ich kann so nicht mehr leben – ob er mich verstoßen will, wie Josephine verstoßen ward?“ Und wie sie nun liest, fällt jedes Wort gleich dem Tropfen eines starken Giftes in ihr armes jammerndes Herz.

 „Lieber Karl!

Die Einladung zur Taufe Deines Jungen ist in unseren Händen. Ich werde meine Frau überreden, ihr zu folgen – ohne mich. Entschuldige mich, Karl, gönne mir die paar Tage, wo ich nicht Komödie zu spielen brauche, meine Kräfte dazu sind fast am Ende; und was es werden soll in der Zukunft, das weiß ich nicht. Ich wollte, ein Blitzstrahl käme und machte ein Ende.

Es ist so schmählich, wenn ein Mann selbst – erschrick nicht, lieber Alter, laß mich es aussprechen gegen Dich, es ist mit so wenig Worten gethan. Du weißt, ich wählte Christel nicht aus himmelstürmender Liebe, und ich wähnte, in der Leidenschaft für die Fränze habe sich mein Herz, wie man so sagt, ausgeblutet. – Siehst Du, Alter, das ist ein Irrtum gewesen, die Liebe ist über mich gekommen, jäh wie ein Sturm!

Die Geschichte mit der Fränze damals? Mein Gott, sie verhält sich zu der, die mich jetzt gepackt hat, wie Aprilwetter gegen ein Gewitter im Hochsommer. Stelle Dir die Situation vor: da unten wohne ich mit Christel, meiner guten, braven Christel, die mich hegt und pflegt wie eine Mutter ihr Kind, die Tag und Nacht an ihre Wirtschaft denkt, die nur für mich lebt und für Wartau, und oben – über uns – da wohnt die andere, und die schlanke Gestalt huscht die Treppen hinunter, die süße Mädchenstimme dringt in mein Zimmer, und neben Christel steht plötzlich das schönste Geschöpf und lacht mich an, lieb und vertraut, als kennte ich sie seit Ewigkeit. Das Genre der Fränze ist’s, aber in tausendmal veredelter Form, ohne jene Gassenmädchenmanieren, ohne die soubrettenhafte Koketterie und ohne die kleinbürgerliche Sentimentalität – Edelblut in des Wortes bester Bedeutung.

Ich sah sie beim Begräbnis des alten Barons zum erstenmal; über den Sarg hinweg trafen sich unsere Blicke – wie so oft seitdem!

Ich weiß, was Du sagen wirst, Karl: Du bist verrückt! Wirf diese dummen Gedanken aus deinem Hirnkasten und die gefährliche Schönheit aus dem Hause! Lebe recht und schlecht mit deiner prächtigen Christel weiter! – Ja, lieber Alter, das habe ich mir bisher alle Tage auch gesagt, aber – wenn’s nur ginge! Wenn’s nur nicht Dinge gäbe in der Welt, die stärker sind als die Kraft des Menschen!

Fräulein Tonette von Wartau hat, laut Kaufkontrakt, so lange sie lebt, das Wohnungsrecht oben im Schlosse. Soll ich hinaufgehen und sagen: ‚Schicken Sie gefälligst Ihre Nichte fort!‘ Soll ich Wartau verkaufen und mit Christel auswandern? Auch das ist unmöglich, ohne mich finanziell schwer zu schädigen. Ich bin am Ende mit meiner Weisheit und müde von dem Kampf, den ich mit mir selbst kämpfe, ich kann nicht länger so fortleben, Karl!

Du kennst mich, Alter; Du wirst mir glauben, daß ich Christel zu kränken standhaft vermieden habe bisher. Ich flüchte förmlich vor Edith, bin unfreundlich, finster zu ihr, aber ich meide auch meine Frau; ich kann ihre Thränen nicht sehen, nicht sehen, wie sie sich grämt über mein verändertes Wesen; ich thue, als verstehe ich sie nicht. Ich flüchte hier hinauf in ein Versteck, von dem sie nichts weiß, und da, da kann ich endlich aufatmen. Sie beobachtet mich oft und lange, als wolle sie mir bis auf den Grund der Seele schauen. Nie vergesse ich es, wie sie einmal unversehens in Fräulein von Wartaus Zimmer trat und mich dort fand; Edith hatte mir eine Strähne Wolle über die Arme gelegt und wickelte ein Knäuel davon. Ich schämte mich unter dem Blick dieser großen erstaunten Augen wie ein Schulbube, der beim Naschen ertappt wird, und dann packte mich doch eine Wut auf sie, eine Wut – ich hätte am liebsten einen Zank vom Zaune brechen mögen, nur damit endlich meine Qual ein Ende habe. Aber die unbegrenzte Hochachtung vor ihrem schlichten geraden Charakter läßt mich stumm bleiben; ich würge alles hinunter, fühle mich krank davon und gehe doch ruhig neben ihr, als sei nichts gewesen, als sei alles ganz selbstverständlich.

Ich glaube fast, Christel hält mein verändertes Wesen für einen Vorwurf gegen ihre Kinderlosigkeit. Sie hat schon öfter darauf hingedeutet. Ich höre sie nachts zuweilen bitterlich weinen, und von ungefähr erfuhr ich durch Fräulein von Wartau, daß sie sich mit dem Gedanken getragen hat, mir einen ihrer Neffen als Adoptivkind zu Weihnacht zu schenken!

Du kannst dir mein Entsetzen vorstellen – ein fremdes Kind! Wenn man sich im Leben so geschunden hat wie ich, um eine eigene Scholle zu erwerben, und dann soll alles für ein Wesen geschehen sein, bei dessen Anblick sich nicht mehr im Herzen rührt als das oberflächliche Wohlgefallen, mit dem man schließlich jedes Kind ansieht! Ein Geschöpf, das schon angeerbte Eigentümlichkeiten hat, die einem bei den Eltern keineswegs sympathisch sind, zum Beispiel bei dem kleinen Anton die Handbewegung, mit der sein Vater mich von der Kanzel herab ärgert, das soll man so ohne weiteres an das Herz schließen, an ihm freudig thun, was man für das eigene Kind gethan hätte? Der Gedanke macht mich rasend!

Ich fand glücklicherweise Gelegenheit, Christel meine entschiedene Abneigung gegen Adoptivkinder, Söhne und Töchter, auszusprechen. Ich bemerkte auch, wie schwer es ihr wurde, den Plan aufzugeben, sie thut mir leid, so leid! Mir ahnet ja, was sie empfindet, aber ich bin nicht imstande, ihr zu helfen, denn ohne Edith – – ich kann so nicht weiter leben, und es wäre das beste – – “

Hier bricht der Brief ab.

Durch das Zimmer schwankt eine Frau und reißt die Fenster in dem Turme auf, als sei tödliche Luft in dem Raume, und mit den Händen das Fensterkreuz packend, steht sie da und schaut hinüber, wo gegen den erlöschenden Abendhimmel die rote Glut der Feuersbrunst lodert. Plötzlich geht ein Wanken durch diese große aufrechte Gestalt, mit einem Aufschrei sinkt sie zu Boden, faßt sich verzweifelnd in die Haare, und ein thränenloses hartes Schluchzen kommt aus ihrer Brust.

Wie lange sie so gelegen, sie weiß es nicht; es ist tiefe Dunkelheit um sie her, als sie emporfährt – eine Hand tastet und drückt an der Klinke, und sie rutscht auf den Knieen ganz nahe an die Vertäfelung des erkerartigen Turmes, der ein kleines Gemach bildet. Dann trifft ein Lichtschimmer ihre Augen und in diesem Schein sieht sie Anton – Anton, der in einer Hand das Licht trägt, dessen anderer Arm schlaff herunterhängt und dessen blasses Gesicht von Schmerz verzerrt ist. Er geht zum Schreibtisch, stellt das Licht hin, rafft das Briefblatt empor und birgt es in die Tasche seines Rockes; dann erfaßt er wieder das Licht, und mit einem unterdrückten Stöhnen geht er der Thüre zu.

Christel liegt im Erker schwer atmend auf den Knieen und starrt ihm nach, ohne sich zu rühren. Er wird sie einschließen, aber – was thut’s!

Doch auf einmal an der Schwelle schwankt der große Mann und bricht zusammen. Christel hört, wie sein Kopf gegen die Thüre schlägt, und hört, wie der Leuchter mit dem verlöschten Licht über die Gipsfliesen des Vorsaales rollt. Im nächsten Augenblick hat sie sich aufgerafft und ist neben ihm.

„Anto!“ jammert sie und tastet nach seinem Kopf. Und dann kommen auch schon Leute die Treppe herauf, Heine, der Arzt und ihr Schwager, die Diener und einige Mägde.

„Na ja, so geht’s,“ grollt der alte Doktor, „wenn einer durchaus auf seinem Willen besteht. Er mußte partout noch einmal hinauf, könnte nur er besorgen, na – da haben wir die schönste Ohnmacht! – Angefaßt, meine Herren! Da sind Sie ja auch, Frau Christel, wir suchten Sie bisher wie eine Stecknadel! Ihr Gatte hat einen gehörigen Eichenbalken auf die Schulter bekommen,“ schilt er weiter, „wer hieß ihn auch, so voran zu sein. – Doch wie Sie aussehen! Beruhigen Sie sich, ans Leben geht das nicht, aber ein zersplitterter Schulterknochen ist auch kein Zuckerlecken gerad’. So! Auf! Vorsicht, daß ihr nicht stolpert!“

(Fortsetzung folgt.)
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Wie das erste Deutsche Parlament entstand.

Ein Rückblick von Johannes Proelß.0 Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten.
II.0 Der Umschwung in Preußen. (Schluß.)


Noch vor der Gründung des Deutschen Bundes, im Jahre 1814, hatte Karl Theodor Welcker, damals ein junger Professor des Staatsrechts in Gießen, aus den Hoffnungen der im Befreiungskrieg siegreichen patriotischen Jugend den Plan gestaltet: ein neues Deutsches Reich, das seine Kraft und Einheit nicht allein durch ein Bundesverhältnis der deutschen Fürsten, sondern zugleich durch eine Nationalvertretung der deutschen Völker erhielte! Abgeordnete aus den Ständekammern der Einzelstaaten sollten dieses Parlament bilden. Stein und Hardenberg hatten den Plan willkommen geheißen, Metternichs Reaktionspolitik war über ihn höhnisch hinweggeschritten. Die Karlsbader Beschlüsse stempelten die Forderung Welckers zum Hochverrat, er selbst wurde eines der ersten Opfer der Demagogenverfolgung. Doch das von ihm geschaffene Ideal blieb das Ziel seines Strebens und Lebens. Und als nach der Pariser Julirevolution der von Frankreich drohende Krieg Metternich bestimmte, die Zügel seines Regiments ein wenig zu lockern, da brachte Welcker, wie wir sahen, im badischen Landtag von 1831 den Antrag ein: Die badische Regierung solle beim Bundestag eine Nationalvertretung durch Abgeordnete der deutschen Ständekammern erwirken. Die Vertreter der Regierung aber erhoben gebieterisch Einspruch gegen die Beratung des Antrags, und als Rotteck sie durchsetzen wollte, verließen sie drohend den Ständesaal. Die reaktionären Bundesbeschlüsse von Frankfurt, von Wien erstickten die kühne Forderung und den begeisterten Wiederhall, den sie bei allen Vaterlandsfreunden gefunden. Doch das verfolgte Ideal lebte fort in den Herzen seiner Märtyrer und Pioniere.

Friedrich Liest.

Karl Biedermann.

Eine stillschweigende Voraussetzung des Welckerschen Antrags war es gewesen, daß auch Preußen endlich die ihm versprochene konstitutionelle Verfassung erhalte; noch vor Ausbruch jener Reaktion wurde unter dieser Voraussetzung von dem Schwaben Paul Pfizer, von Dahlmann in Göttingen, W. Schulz in Darmstadt und anderen fast gleichzeitig die Idee vertreten, daß gerade Preußen den Beruf habe, die ersehnte Bundesreform durchzuführen, und daß aus diesem Grunde die kleineren und mittleren deutschen Staaten ihr Heil in einem festeren politischen Anschluß an Preußen suchen sollten. Wir sahen, wie dann diese Idee seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV im Jahre 1840 von den süddeutschen Politikern der Welckerschen Richtung, von den Vaterlandsfreunden, die heimlich bei Itzstein in Hallgarten tagten, wie von den Freiheitsdichtern der Epoche zum Gegenstand einer lebhaften politischen Propaganda gemacht wurde. Pfizer gab ihr in seinen „Gedanken über Recht, Staat und Kirche“ 1842 nähere Begründung. Aber auch außerhalb dieser Kreise hatte die Idee eifrige Wortführer gefunden. In Preußen selbst durch den pommerschen Großgrundbesitzer v. Bülow-Kummerow in dem Buche „Preußen, seine Verfassung, seine Verwaltung, sein Verhältnis zu Deutschland“, in welchem sich konservative, ja feudalistische Grundsätze merkwürdig mit der Forderung der Nationaleinheit unter preußischer Hegemonie mischten; in Braunschweig durch den Präsidenten der dortigen Kammer Karl Steinacker in der Schrift „Ueber das Verhältnis Preußens zu Deutschland“, die für die ersehnte Reichseinheit eine freiheitliche Verfassung, ganz im Sinne Welckers, verlangte. Mit seinem feurigen Enthusiasmus für eine starke deutsche Handelspolitik und den Ausbau eines einheitlichen Eisenbahnsystems für ganz Deutschland war der Schwabe Friedrich List für eine politische Ausgestaltung des in seiner Entwicklung stockenden Zollvereins unter Preußens Führung eingetreten; in Verzweiflung über das Scheitern seiner Pläne hatte er sich Ende 1846 das Leben genommen. Die nationale Bedeutung des seit 1834 bestehenden „Deutschen Zollvereins“, welcher die süddeutschen Staaten, Thüringen, Sachsen mit Preußen wenigstens handelspolitisch zu einer Einheit verband, und seine Entwicklungsfähigkeit wurden mit besonderem Eifer auch von dem jungen Leipziger Professor Karl Biedermann in seiner Aufsehen erregenden Schrift „Das deutsche Nationalleben“ und der von ihm gegründeten „Deutschen Monatsschrift“ betont. Das Ideal aber, das sich in all diesen Forderungen spiegelte, erhielt in poetischer Form durch Ferdinand Freiligrath wirksamste Gestaltung. Es geschah in seinem „Glaubensbekenntnis“, in jenem Gedichte, das den Schatten des „Alten Fritz“ beschwor und zeigte, wie der große Preußenkönig sich droben im Himmel mit seinen alten Generalen und den Helden der Befreiungskriege unterhält, ganz empört über die Zustände, die da unten in seinem geliebten Preußen jetzt herrschen, wo „Schall und Rederei“ die Stelle von Thaten vertreten, während die Zeit dringend mahnt, den „Staat der neuen Zeit“ zu gründen.

König Christian VIII von
Dänemark.

Wilhelm Beseler.

„‚Ich thät’s! Einschlüg’ ich mit der Faust dies Diplomatennetz!
‚Reichsstände! öffentlich Gericht! ein einig deutsch Gesetz!
Und überall das freie Wort!‘ Bei Gott, so trät’ ich hin!
Bei Gott dem Herrn, so schlüg’ ich durch! – so wahr ich König bin!‘ - - -

Und nach dem kurzen Wetter dann ein Land voll Sonnenscheins!
Ein neues Deutschland, frei und stark; ein Deutschland, groß und eins!
Ja, nach dem Sturm die Iris dann auf flieh’nder Wolken Grund!
Ein Bund der Fürsten mit dem Volk – ein rechter deutscher Bund!“

Der Dichter führte seitdem ein unstetes Dasein als Flüchtling: sein „Glaubensbekenntnis“ war verboten worden; aber das Bild, das sein prophetischer Geist von der Zukunft Deutschlands entworfen, prägte sich immer weiteren Kreisen des Volkes ein. Die nationale Freiheitsbewegung, welche seit dem Verfassungsbruch des Königs von Hannover zu so mächtiger Entfaltung gelangt war, ließ sich trotz aller Anstrengungen Metternichs und des Bundestags nicht mehr unterdrücken. Und noch ehe der Verfassungskonflikt in Preußen durch Friedrich Wilhelms „Nimmermehr!“ zum vollen Ausbruch gelangt war, hatte der Konflikt des Dänenkönigs mit Schleswig-Holstein die „deutsche Frage“ in einer Weise aufgerollt, daß sie sich auf die Dauer auch von den deutschen Mächten nicht mehr abweisen ließ. Am 8. Juli 1846 war der „offene Brief“ Christians VIII erschienen, welcher der alten [110] Verfassung der Herzogtümer, nach welcher diese unteilbar waren und nur unter der Lehnshoheit der dänischen Könige standen, die Anerkennung aufsagte. Er bezeichnete Schleswig geradezu als das unbeschränkte Eigentum der dänischen Krone. Der Protest der schleswig-holsteinschen Stände dagegen fand in Deutschland mächtigen Wiederhall. Noch ehe der Bundestag sich zu einem Widerspruch aufraffen konnte, der schwächlich genug ausfiel, war von Heidelberg aus, das seit Welckers Ansiedelung in Neuenheim zum Mittelpunkt der ganzen Bewegung geworden war, eine Adresse der badischen Liberalen an die Schleswig-Holsteiner und den tapferen Präsidenten ihrer Ständeversammlung, Wilhelm Beseler, ergangen, die sie zum kräftigsten Widerstand mahnte. Bald erklang das Chemnitz’sche Lied vom „meerumschlungenen Schleswig-Holstein“ in allen deutschen „Liederkränzen“ und Turnvereinen, wo immer solche noch geduldet waren. Die von Reyscher und Dahlmann ins Leben gerufenen Germanistentage in Frankfurt a. M. und Lübeck gestalteten sich zu weithinwirkenden Kundgebungen des nationalen Empfindens; die gefeiertsten Dichter und Forscher, die wissenschaftlichen Hüter des Deutschtums, ein Uhland, Jakob Grimm, Dahlmann, ergingen sich hier in glänzenden Reden, die der Wiedergeburt des Vaterlands galten. Ja auch das kirchliche Leben trug dazu bei, das Verlangen der Geister nach Freiheit mit dem nach nationaler Einigung zu verschmelzen; die „deutsch-katholische“ Bewegung unter Johannes Ronge und Robert Blum, wie die protestantische der „Lichtfreunde“ unter Lebrecht Uhlich trugen diesen Charakter; nicht minder die Bewegung in dem nach bürgerlicher Freiheit ringenden Judentum unter Gabriel Rießers Führung. Ein edler Drang, sich zu dem gemeinsamen Ideal zu bekennen, erfüllte die gebildete deutsche Welt, und als jetzt Gutzkows Tragödie der Gesinnungstreue „Uriel Akosta“ als Neuheit über die Bühnen ging, als das stolze Wort „Die Ueberzeugung ist des Mannes Ehre!“ bei jeder Aufführung rauschenden Beifall weckte, da zeigte sich, daß es Tausenden aus der Seele gesprochen war.

J. Ronge.   G. Rießer.   L. Uhlich.

In den Dienst all dieser Bewegungen und dieses idealen Bekenntnismuts stellte sich um die Mitte des Jahrs 1847 ein großes Zeitungsunternehmen, dessen Ursprung ein ganz eigentümlicher war. Am 8. August 1846 hatte wieder eine Versammlung von Führern der nationalen Freiheitsbewegung in Hallgarten bei Adam v. Itzstein getagt, dieselbe, zu welcher Robert Blum von Leipzig aus die uns erhaltene Einladung an Johann Jacoby vermittelt hatte. In diesem Briefe war die Notwendigkeit betont, einen festeren Zusammenhalt der Vaterlandsfreunde für ein gemeinsames und gleichmäßiges Handeln anzustreben auf Bahnen, die sich fruchtbarer erweisen könnten als die bisherigen; es war von einem Unternehmen die Rede, das die Herbeischaffung von Mitteln zur Hebung und Förderung desselben ganz besonders notwendig mache. Im folgenden November hielten die liberalen Mitglieder der badischen Volkskammer, welche jetzt wieder die Majorität hatten und zu denen auch der Landtagspräsident Professor Mittermaier von Heidelberg zählte, zu Durlach eine Zusammenkunft, auf welcher unter Leitung der alten Führer Itzstein und Welcker die Gründung einer großen Zeitung beschlossen wurde, bestimmt, dem Ringen nach Freiheit und nationaler Einigung in allen deutschen Staaten ein gemeinsames Organ zu werden. Verleger wurde Bassermann in Mannheim; Karl Mathy, der in den letzten Jahren ein kleineres Organ der badischen Kammeropposition, die „Landtagszeitung“, redigiert hatte, ward in den Redaktionsausschuß gewählt, während nach mancherlei Verhandlungen der in Heidelberg zu Welckers nächstem Umgang zählende Historiker Gervinus, der jüngste der „Göttinger Sieben“, die verantwortliche Redaktion übernahm. Seit Vollendung seiner „Geschichte der deutschen Nationallitteratur“ hatte sich dieser ganz der Politik zugewendet; die Heidelberger Adresse an die Schleswig-Holsteiner war von ihm verfaßt worden; seine liberale Gesinnung hatte er eben erst in einer besonderen Schrift über den Verfassungskampf in Preußen, im Wettstreit mit Welcker, bethätigt. Auch Mittermaier und der jugendfrische Historiker Ludwig Häusser gehörten dem Redaktionsausschuß an. In Heidelberg, wo das Blatt gedruckt wurde, gelangte es auch zur Ausgabe. Für die Kosten wurden von liberalen Männern aller Schattierungen in ganz Deutschland Geldbeiträge gesteuert, und aus ihren Reihen wurden die Mitglieder für einen Ehrenrat erwählt, der alljährlich mit den Redakteuren zu einer Beratung über Haltung und Ziele des Blattes zusammentreten sollte. Es befanden sich darunter von namhaften Führern der Opposition des preußischen Landtags: Hansemann, A. v. Auerswald, Graf Schwerin, ferner Freiherr v. Schön in Königsberg und Oberbürgermeister Binder in Breslau, von denen jener zu Johann Jacoby, dieser zu Heinrich Simon in nahen Beziehungen stand. Bayern war durch den Freiherrn v. Closen, einen Veteranen der früheren Verfassungskämpfe, und durch die Pfälzer Stadtrat Kolb in Speyer und Advokat Willich in Frankenthal, beide zu Itzsteins und Welckers nächstem Freundeskreis gehörig, vertreten, Sachsen durch den Vorkämpfer der dortigen Gerichtsreform K. Braun – einen Waffengefährten von Blum, Todt und v. Dieskau –, der jetzt als Präsident der sächsischen Kammer fungierte, sowie den liberalen Professor v. d. Pfordten in Leipzig. Die württembergischen Liberalen entsandten in den Ehrenrat den alten Prokurator Schott, Römers Schwiegervater, der ebenso wie die Vertreter Hessen-Darmstadts, Heinrich v. Gagern und Staatsrat Jaup, jetzt wieder bereit war, am politischen Leben praktisch teilzunehmen, nachdem dessen Stagnation diese Männer nun schon lange von solcher Thätigkeit ferngehalten. Noch seien genannt Schöff Souchay in Frankfurt a. M., Bürgermeister Smidt in Bremen, Professor Wurm in Hamburg – letzterer ein alter Freund Welckers – und Wilhelm Beseler in Schleswig, der obengenannte Präsident der schleswig-holsteinschen Ständekammer. Wie ein Gruß aus der Klassikerzeit berührten die Namen des alten Historikers Schlosser in Heidelberg und des Kanzlers Müller in Weimar.

Von diesen und anderen Männern war das Programm der „Deutschen Zeitung“ unterschrieben, das im Mai 1847, bald nach Eröffnung des „Vereinigten Landtags“ in Berlin, von Mannheim und Heidelberg hinaus in alle Gaue des Vaterlands flog. Als Aufgabe des Unternehmens war darin bezeichnet: das Gefühl der Gemeinsamkeit und Einheit der Nation zu unterhalten und zu stärken, alle Bestrebungen zur Ausgestaltung des Deutschen Bundes zu einem kraftvoll geeinten Bundesstaat zu fördern und das Prinzip der konstitutionellen Monarchie in einem freien Sinne, in allen seinen Konsequenzen und für alle Teile des Vaterlands zu verfechten, „wo es zu behaupten, wo es zu läutern, wo es herzustellen und wo es zu erringen ist“. Die staatsbürgerliche Gleichberechtigung aller Stände und aller Konfessionen ward als Grundsatz aufgestellt, der in den Verfassungen aller Einzelstaaten zur Durchführung gelangen müsse. Und am 1. Juli 1847, gerade als Friedrich Wilhelm IV seine störrigen „Stände“ zornig wieder nach Hause schickte, erschien die erste Nummer dieser „Deutschen Zeitung“, von der Gustav Freytag mit Recht sagt: „Nie trat eine deutsche Zeitung imponierender vor die Nation. Die [111] besten Liberalen aus allen Teilen Deutschlands dabei beteiligt, die Zeitung Mittelpunkt und Organ einer neuen Partei, die sich in jugendlicher Kraft rührte. Daß sie auf ganz Deutschland angelegt war und vom Süden aus vor anderem preußische Interessen besprechen sollte, war der größte Fortschritt.“ In dieser Richtung hat sie in jenem letzten Abschnitt der vormärzlichen Zeit Großes zur Versöhnung der partikularistischen Gegensätze und zur Anbahnung der Bundesreform auf Grund einer freien Verfassung geleistet. Aber wie ihre Redakteure zumeist Professoren waren, so blieb ihre Wirkung vornehmlich auf die Kreise von höherer Bildung beschränkt. Professoren und Studenten, liberale Beamte und Dichter waren ja die meisten Opfer der Demagogenverfolgung gewesen; so war es natürlich, daß auch die Gegenbewegung zum Sturze des Metternichschen Systems von solchen Männern ihren Charakter erhielt.

Karl Mathy.
Nach einer Lithographie von Ph. Winterwerb.

A. Schott.
Nach einer Lithographie von Schertle.

Doch die alterprobten Führer der badischen Opposition, welche bereits siegreich den Reaktionsminister Blittersdorf gestürzt hatten und sich gegenwärtig von seiten ihres einstigen Kampfgenossen, des Ministers Bekk, großen Entgegenkommens erfreuten, hielten auch jetzt noch an der bewährten Strategie, die einst in Hallgarten verabredet worden war, fest. Schon hatte Hecker im September in einer Volksversammlung zu Offenburg mit anderen demokratischen Forderungen die alte Welckersche einer Nationalvertretung aufgenommen und Robert Blum das sächsische Verfassungsfest in Leipzig mit begeisternder Wirkung zu demselben Zwecke benutzt. Da traten am 10. Oktober 1847 zu Heppenheim unweit Heidelberg wiederum zahlreiche Gesinnungsgenossen von Welcker und Itzstein zusammen, darunter Bassermann, Mathy, v. Soiron, Römer, Hergenhahn, v. Gagern, unter Beteiligung der neuen preußischen Landtagsmänner Hansemann und Mevissen. Man scheute nicht mehr die Oeffentlichkeit, und was man beschlossen, ging bald danach durch die Presse. Da erfuhr man denn – auch im Königsschloß zu Berlin – daß jeder der Teilnehmenden es übernommen hatte, bei jedem Anlaß dahin zu wirken, daß die Einheit Deutschlands „nur durch die Freiheit und mit derselben“ errungen werde. Wohl waren die Meinungen darüber geteilt gewesen, ob der politische Ausbau des Zollvereins, den Hansemann und Mathy befürworteten, oder eine Nationalvertretung am Bundestag nach Welckers altem Plan der bessere Weg zum Ziele sei. Einig aber waren alle darin, daß vom Bundestag selbst, wie er bestehe, nichts mehr zu hoffen sei. Und wie immer das Ziel erreicht würde: unerläßlich sei die Mitwirkung des Volkes durch gewählte Vertreter, unmöglich bei dem Entwicklungsgang des Jahrhunderts und Deutschlands die Einigung durch Gewaltherrschaft. Voraussetzung sei die Entfesselung der Presse, ein wahres konstitutionelles Leben, Oeffentlichkeit der Gerichte, überhaupt die Gewähr aller vernünftigen bürgerlichen Freiheitsrechte.

Das hatte den König in Berlin zu schleuniger Antwort herausgefordert. Die frechen „Mannheimer und Heppenheimer“, die sich herausnahmen, ihn, den preußischen König, über seine Aufgabe zu belehren, sollten erfahren, was in Wirklichkeit Preußens Beruf in Deutschland sei. Er sah in den Männern der „Deutschen Zeitung“ nur Gegner und wurde darin bestärkt, als im gleichen Verlag, bei Bassermann in Mannheim, jene geistreiche Satire des kühnen schwäbischen Bibelforschers David Friedr. Strauß erschien, die unter dem Titel „Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren“ in dem Bilde des römischen Kaisers Julian mit unverkennbarem Hinblick auf den Zollernthron den Nachweis führte, „daß jeder auch noch so begabte und mächtige Mensch, der eine ausgelebte Geistes- und Lebensgestalt wiederherzustellen oder gewaltsam festzuhalten unternimmt, gegen den Genius der Zukunft unterliegen muß“. Aber gerade in des Königs romantischer Geistesart wurzelten auch edlere Antriebe, die ihn in seiner Unnachgiebigkeit bestärkten. Wie ihn bei dem Verfassungswerk sein dynastisches Pflichtgefühl gegen die ererbte Krone verhindert hatte, der Freiheit ein herzhaftes Zugeständnis zu machen, so fand nun sein guter Wille, die deutsche Einheit zu fördern, eine unübersteigbare Schranke in seinem feudalistischen Treugefühl für Oesterreich und die anderen Bundesfürsten. Nur innerhalb der gegebenen Verhältnisse im „Deutschen Bund“ als einem Fürstenbund, dessen Spitze das kaiserliche Erzhaus in Wien, wollte er reformieren. Die Mahnung „Los von Oesterreich!“, die ihm aus geheimen Denkschriften des Fürsten Karl v. Leiningen und des englischen Prinzgemahls Albert von Koburg entgegenklang, wies er entrüstet als Verlockung zum Treubruch von sich. Ein Triumph der Legitimität sollte seine Bundesreform werden, genau wie sein „Vereinigter Landtag“. Mit einem jener geheimen Vertrauten, mit denen er über die Köpfe seiner Minister hinweg Politik trieb, seinem einstigen Studiengenossen in der Kronprinzenzeit, dem General v. Radowitz, verabredete er seinen Plan. Als außerordentlicher Gesandter an den Höfen in Karlsruhe, Darmstadt und Nassau hatte dieser in den letzten Jahren sich genaueste Kenntnis von den Absichten der süddeutschen Liberalen erworben. Radowitz war der Einzige, von dem sich der König willig beeinflussen ließ. Für die romantischen Ideen, die in ihm gärten, fand er in diesem geistreichen Gesinnungsgenossen einen scharfsinnigen Systematiker von bestechender Ausdrucksweise. Der war jetzt sein Mann! Radowitz mußte das gemeinsam Durchdachte in einer Denkschrift für den Wiener Hof ausarbeiten. Diese fußte mit ihren Vorschlägen für eine Bundesreform auf dem Bekenntnis, daß der Deutsche Bund seit den 32 Jahren seines Bestehens für Deutschlands Kräftigung und Förderung absolut nichts gethan habe. „Die gewaltigste Kraft der Gegenwart, die Nationalität, ist die gefährlichste Waffe in den Händen der Feinde der öffentlichen Ordnung geworden.“ Die Vorschläge selbst waren unklar. Sie forderten Kräftigung der Wehrhaftigkeit des Bundes – doch ohne Aenderung der bestehenden elenden Wehrverfassung, sie forderten Einheit des Strafrechts, des Handelsrechts, des Heimatrechts – doch ohne eine Volksvertretung für diese Gesetzesreform, sie verlangten Förderung der materiellen nationalen Interessen, insonderheit durch Ausdehnung des Zollvereins auf den Bund – eine hoffnungslose Sache, denn die bestehende und von ihm festgehaltene Bundesverfassung gab Hannover und den übrigen Seehafenstaaten vereinigt mit Oesterreich die Macht, in der Abschließung vom Zollverein ihren Vorteil zu suchen. Mit diesen Vorschlägen entließ Friedrich Wilhelm gegen Ende November 1847 seinen Vertrauten in geheimer Sendung nach Wien.

D. F. Strauß.

Metternich aber schüttelte den Kopf über die „pläneschmiedende Planlosigkeit“ seines königlichen Freundes. Nur jetzt keine Reformen! Ruhe brauchte er in Deutschland, Ruhe gerade jetzt, wo Ungarn gegen ihn aufsässig wurde, in Italien die Revolution direkt gegen Oesterreich das Haupt erhob und in der Schweiz das Prinzip der Revolution über das Prinzip der Legitimität zu siegen drohte. Und zur Aufrechterhaltung der Ruhe bot ja gerade der „Bund“, wie er war, bot sein „System“ die bewährtesten Mittel.

Doch sie verfingen auch in Deutschland nicht mehr. Nach wenigen Wochen hatte in Palermo, Neapel, Florenz, Turin die [112] stürmische Volksbewegung die Herrschaft des Metternichschen Systems gebrochen; in der Schweiz eine solche siegreich die vom Sonderbund gestörte Einheit erkämpft. Und schon dröhnte über den Rhein her vernehmlich das Grollen des Vulkans, dessen Ausbruch nach weiteren zwei Wochen den Thron Louis Philipps zerschmettern sollte. Da erklang am 12. Februar von der Tribüne der badischen Kammer in Karlsruhe das erlösende Wort „Ein Deutsches Parlament!“, das Wort, welches berufen war, in dem gleich danach auch in Deutschland ausbrechenden Revolutionssturm als Weckund Sammelruf aller Patrioten zu wirken.

Bassermann stellt den Antrag auf ein Deutsches Parlament.
Mittermaier.       v. Itzstein.   Welcker.

Itzstein und Welcker überließen einer jüngeren Kraft, dem Buchhändler Bassermann, die schöne Aufgabe, den Antrag auf Herbeiführung einer Nationalvertretung am Bundestag zur Erzielung gemeinsamer Gesetzgebung und kraftvoller Nationaleinheit zu stellen. In seiner Kritik des Bestehenden brauchte Bassermann nichts Schärferes zu sagen als was im geheimen auch Radowitz’ Denkschrift gesagt hatte. Er aber folgerte aus der bisherigen schmachvollen Pflichtvergessenheit des Bundestags: für die Wiedergeburt von Deutschlands politischer Größe giebt der Bund, wie er ist, keine Hoffnung. „Ein Reichsoberhaupt, ein Reichsgericht sind verschwunden, und das einzige Band politischer Einheit ist eine Versammlung zu Frankfurt, die selbst nach dreißig Jahren nicht vollbringt, was schon in der ersten Zusammenkunft zu geschehen gelobt war. Thätigkeit im Unterdrücken aller freiheitlichen Regungen, Unthätigkeit den gemeinsamen Wünschen und Bedürfnissen der Nation gegenüber, das sind bisher ihre Hauptcharakterzüge gewesen.“ Die unaufschiebbare Bundesreform könne man nach diesen Erfahrungen nicht von den Diplomaten erwarten; die Nation selbst müsse sie in die Hand nehmen. Das berufene Organ dafür sei ein Deutsches Parlament, das den Bundestag mit seiner Macht umgebe. Dasselbe würde am besten aus Bevollmächtigten der Landtage aller Einzelstaaten bestehen. Die Mehrheitsbeschlüsse dieses Parlaments müßten für die letzteren bindende Kraft haben. So werde aus dem zerklüfteten, nach außen ohnmächtigen Staatenbund ein festgegliederter Bundesstaat werden. „Nur in einem freien Parlamente ist die Kraft einer Nation bewahrt … Mit einem Deutschen Parlamente war kein Basler Friede, kein Rheinbund möglich, und nur mit einem Parlamente geht Deutschland der größeren Zukunft entgegen, die wohl viel besprochen und besungen, aber ohne Umgestaltung unserer ungenügenden politischen Formen nicht verwirklicht werden kann. Haben wir gelernt, uns als Eine Nation zu erkennen, so bleibt nun unsere Aufgabe, uns als Eine Nation zu konstituieren.“ An dem Beispiel der nordamerikanischen Union führte er aus, wie in einem großen einigen Staatswesen sehr wohl jeder Einzelstaat seine Selbständigkeit in Gesetzgebung, Rechtspflege und Verwaltung wahren könne, ohne zu hindern, daß sich über allen die feste Gliederung einer Reichsgemeinde erhebe, mit einer gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt, einer Finanz- und Militärverfassung, mit dem Recht, über Bündnisse, Krieg und Frieden zu entscheiden, mit der Vertretung der Nation nach innen und außen. „Das monarchische Deutschland kann bleiben wie es ist, aber offenbar ist ein Bund, der inmitten der kriegsgerüsteten Großmächte der Alten Welt seine Bestimmung erfüllen soll, in noch höherem Grade einheitsbedürftig als dieses Amerika … Deutschlands größtes Bedürfnis ist, nicht eine Revolution, sondern eine Reform, eine Reform seiner Verfassung! … Dem Zustande der Rechtlosigkeit müssen wir trachten ein Ende zu machen. Die allgemein herrschende Abneigung der Nation gegen ihre oberste Behörde in ein vertrauensvolles Zusammenwirken zu verwandeln, ist der deutschen Fürsten dringendste Aufgabe.“

General v. Radowitz.
Nach einer Lithographie von Schertle.

König Louis Philipp von
Frankreich.

Nach der Lithographie von J. Grund.

Der Antrag fand lebhafte Unterstützung durch die alten Führer Itzstein und Welcker, von lang her die eigentlichen Urheber desselben, ferner durch Kapp, Zittel, Peter und Hecker. Von seiten der Regierung fehlte es nicht an Bedenken, doch kamen sie ohne Schroffheit zum Ausdruck; Minister Bekk warnte davor, mit Revolution zu drohen, man könne damit den zu erwartenden Widerstand nur verstärken. Und dann gelangte der Antrag mit allen gegen 5 Stimmen zur Annahme und wurde zum Druck und zur weiteren Beratung an die Abteilungen verwiesen. Am wärmsten war Welcker für ihn eingetreten; er that es mit dem Feuer, das die Freude an der endlichen Erfüllung von Jugendhoffnungen verleihen muß, für die man gelitten und gestritten und deren Verwirklichung nun doch, trotz aller Macht der Gegner, herannaht. Unter stürmischem Beifall schloß er seine Rede: „Die Zeit geht im Sturmschritt vorwärts. Bevor noch an der Frühlingssonne das Eis der Gebirge taut, wird an der Sonne des Völkerfrühlings das Eis der Reaktion schmelzen. Sorgen Sie für Dämme, damit der Strom nicht Felder und Fluren verwüste! Bedenken Sie das ewige Wort Niebuhrs: das Recht der Völker ist älter und heiliger als das Recht der Dynastien. Möchten wir nie in die Lage kommen, dieses Wort auszusprechen. Wenn die Nationalrepräsentation nicht von oben kommt, so wird sie in anderer Weise kommen, denn Gott verläßt die nicht, welche sich selbst nicht verlassen. Zertrümmert fast liegt das System der Reaktion – die Zeit mehr als unsere Worte unterstützt den Antrag auf Nationalrepräsentation!“

Ja, die Zeit ging im Sturmschritt vorwärts. Und mit der Wucht eines Frühlingssturmes, der das zähe welke Laub abstreift und alles Keimende in jähen Schuß bringt, folgten vom 24. Februar an dem Ruf nach einem Deutschen Parlament die Nachrichten aus Paris: die Revolution hat gesiegt, Louis Philipp [113] ist mit den Seinen nach England entflohen, die Republik proklamiert! In allen Monarchien des Deutschen Bundes war die Wirkung von gleicher Stärke. In jedem Fürstenschloß weckte die Nachricht Furcht und Beklemmung: die Erinnerung an das Kriegsunglück, welches die erste französische Republik über Deutschland gebracht hatte, verband sich dort mit der Befürchtung, daß von einem Volk, dem 33 Jahre lang der Patriotismus mit allen Mitteln der Macht ausgetrieben worden war, ein patriotischer Heldenmut, wie er die Kämpfer der Befreiungskriege beseelte, kaum noch zu erwarten sei. Im Volke aber ging von Mund zu Munde der Jubelruf: der Tag der Freiheit, der uns auch die Einheit bringt, ist gekommen!

Prinz Johann von Sachsen.

In einer ganzen Reihe von deutschen Staaten herrschte, wie in Preußen, eine feindselige Spannung zwischen Fürst und Volk. In Sachsen wirkte der Konflikt nach, den die Vorgänge in Leipzig am 12. August 1845 heraufbeschworen hatten. Dort war bei Anwesenheit des Prinzen Johann, den man fälschlich für den Urheber von Eingriffen in die Religionsfreiheit hielt, jener Krawall vor dem „Hotel de Prusse“ entstanden, bei welchem Bürgerblut floß, und dessen weitere Ausdehnung dann nur der beschwichtigende Einfluß Robert Blums hintanhielt. In Bayern hatte das Verhältnis des für Kunst und Schönheit romantisch begeisterten Königs Ludwig zu der Tänzerin Lola Montez, die sich Uebergriffe ins politische Leben erlaubte, zu tumultuarischen Auftritten in München geführt, welche das Ansehen des Herrschers tief erschütterten. In Hannover war vom alten Welfenkönig Ernst August die Petition des Landtags um Oeffentlichkeit seiner Verhandlungen mit einem schroffen „Niemals!“ beantwortet und dadurch aufs neue die Erinnerung an den Verfassungsbruch geweckt worden, der zehn Jahre zuvor die „Göttinger Sieben“ aus dem Lande vertrieben. In Kurhessen hatte man endlich Sylvester Jordan von den gegen ihn erhobenen fälschlichen Anklagen freisprechen müssen – nach sechs Jahren schwerer Untersuchungshaft, und vom neuen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I war nach hannöverschem Muster beim Antritt der Regierung ein Verfassungsbruch, freilich vergebens, versucht worden. In Württemberg endlich hatte König Wilhelm I, der bei seinem Regierungsjubiläum fünf Jahre vorher zahlreiche Beweise seltener Volksbeliebtheit empfangen, den Stuttgarter „Brotkrawall“, den der herrschende Notstand erzeugt, mit militärischem Aufgebot unterdrückt, und die Drohungen, die sich aus der Menge gegen ihn richteten, hatten ihn tief erbittert.

König Ludwig I von Bayern.

König Wilhelm I von Württemberg.
Nach einer Lithographie von Fleischhauer.

Ein solcher Notstand, durch Mißernten bewirkt, hatte schon zwei Jahre lang auch in der Mehrzahl der anderen deutschen Länder, vor allem in Bayern, Sachsen und vielen Provinzen Preußens und Oesterreichs, geherrscht, und überall hatten sich die Regierungsorgane und Einrichtungen als völlig unzulänglich für das erforderliche Hilfswerk erwiesen. Der in vielen ländlichen Ortschaften, namentlich Schlesiens, geradezu grauenhafte Verlauf dieser Heimsuchungen offenbarte die Unzulänglichkeit des verrosteten Verwaltungsmechanismus des abgewirtschafteten Polizeistaats in ihrer ganzen Blöße. In Schlesien, wo es zum Ausbruch einer furchtbaren Hungertyphusepidemie kam, vergingen drei Monate, bis die von einem Landrat erbetenen Lebensmittel aus den Militärmagazinen geliefert wurden. Bis Ende 1847 waren allein im Kreise Pleß 7000 Menschen am Typhus gestorben, 961 dem Hunger direkt erlegen. Der König erfuhr von dem Elend erst, nachdem es den Höhegrad überschritten. Furchtbar rächte sich jetzt die gewaltsame Unterdrückung der öffentlichen Meinung und ihres hilfsmächtigsten Mittels, der Presse. Furchtbar trat auch die Pflichtversäumnis zu Tage, welche die kleinliche dynastische Eifersucht und die deutsche Kleinstaaterei durch die Hintanhaltung des Ausbaus eines Grenze mit Grenze verbindenden Eisenbahnnetzes begangen hatten. Während zwischen Englands Seehäfen und Industriecentren längst ein vielverzweigtes Schienennetz den Verkehr vermittelte, kam es zwischen den deutschen Hafenstädten und dem industriereichen Hinterland zu keiner solchen Verbindung, weil das alte Regierungssystem die Eisenbahn als gefährlichen Neuerer haßte und kein Land dem andern den daraus sich ergebenden Vorteil gönnte. Während in einzelnen deutschen Ländern die entstandenen Eisenbahnlinien Handel und Verkehr mächtig hoben, gerieten diese in den eisenbahnlosen ins Stocken; überall aber drückte die englische Konkurrenz auf die Preise der Fabrikindustrie, deren Arbeiterproletariat von der leidenden Landwirtschaft täglich Zuzug erhielt. Von 1840 bis 1847 schnellte die Auswanderung um das Dreifache empor, von 34000 Personen auf 110000.

Lola Montez.

So kam es, daß die Nachricht von dem kurzen Prozeß, den das Volk von Paris seinem mißliebigen König und dessen Minister gemacht, einen revolutionären Zündstoff in Deutschland vorfand, der nur des Funkens harrte, um aufzuflammen. Ueberall drängte sich in den Residenzstädten hinter den Führern aus dem gebildeten Bürgertum, welche jetzt die Forderungen der Liberalen direkt in die Kabinette der Fürsten brachten, eine zahllose Menge, die kein politisches Ideal, sondern das Elend der Zeit zum Aufruhr antrieb. Und wenn es den Führern der Volksbewegung für jetzt gelang, dieselbe – von Berlin abgesehen – überall in die Bahnen der Ordnung zu lenken, die Gewähr von Preßfreiheit, Oeffentlichkeit der Kammern wie der Gerichte, Volksbewaffnung nebst anderen Rechten durchzusetzen, ohne daß es zu größeren blutigen Zusammenstößen zwischen dem Volke und der Staatsgewalt kam, so war dies den bösen „Mannheimern und Heppenheimern“ zu danken. Sie hatten mit ihrer großangelegten Agitation dafür gesorgt, daß alle die einzelnen kleinen Erhebungen ein großes gemeinsames Ziel auf dem Boden gesetzlicher Ordnung fanden. Ueberall gab es politisch geschulte Männer, welche vor Ministern und Fürsten die Forderungen des Volkes wirksam zu vertreten vermochten, allen voran jene, die mit Itzstein und Welcker in Hallgarten und Heppenheim getagt hatten. Und unter den Forderungen befand sich überall die der „Nationalvertretung beim Bundestag“: ein „Deutsches Parlament!“ Das seit Jahren in den Turner- und Sängervereinen im stillen gepflegte und dort wie überall verfolgte Ideal eines neuen einigen und freien Deutschen Reichs hielt mit seinem berauschenden Glanze die Seele des Volkes im Bann. Die Verwirklichung dieses Ideals, durch eigene Kraft und nach eigenem Ermessen, durch Abgeordnete ihrer freien Wahl in einem freien Parlamente, schien der großen Mehrzahl gewährleistet durch das Versprechen seiner Einberufung. Die Erwartung einer „neuen, großen, guten Zeit“ unterdrückte für jetzt den Ausbruch der elementaren Volksleidenschaften. Nur in Berlin führte die Märzbewegung zu einem blutigen Straßenkampf.

(Fortsetzung folgt.)




[114]

Der Stern Sirius.

Von Dr. H. J. Klein.

Es giebt unter den Sternen wie unter den Menschen Große und Geringe, Berühmte und Unberühmte, solche, die einen weitbekannten Namen haben, und andere, von denen im allgemeinen nicht viel oder nichts zu sagen ist. Die Zahl der letzteren ist am Himmel wie bei den Menschen auf der Erde die bei weitem größte. Zu den Sternen, die einen altberühmten Namen tragen, gehört Sirius; ja wie er der hellste ist, so kann man ihn mit gutem Recht auch wohl als den interessantesten aller Fixsterne bezeichnen, die an der nächtlichen Himmelsdecke glänzen und den Blick des Beschauers auf sich lenken.

Wer in einem kleinen Orte wohnt und häufiger das Auge zum Sternenhimmel emporwendet, kennt den Sirius gewiß, denn er ist unter den funkelnden Sternen des Himmels bei weitem der glänzendste. Der Stadtbewohner wird ihn aber auch leicht auffinden, wenn er Mitte Februar abends zwischen 9 und 10 Uhr den Blick genau nach Süden wendet und gegen den Horizont hinschaut. Der funkelnde Stern, der sich dann dort zeigt, ist eben der Sirius. Mitte April geht dieser Stern schon zwischen 8 und 9 Uhr am westlichen Himmel unter; Mitte November dagegen wird er zwischen 11 und 12 Uhr abends am Osthimmel wieder sichtbar und geht immer früher auf, so daß er Ende Januar schon vor 8 Uhr abends hell strahlend am südöstlichen Himmel gesehen werden kann.

Dieser Stern Sirius spielt schon in den frühesten Zeiten der menschlichen Kultur eine große Rolle. Im alten Aegypten begann seine erste Sichtbarkeit morgens vor Sonnenaufgang um die Zeit, wo die Überschwemmung des Nils, von der die Fruchtbarkeit des Landes abhing, ihre volle Höhe erreicht hatte. Dieses Zusammenfallen des Siriusaufgangs mit dem Tage der „Verkündigung der Nilflut“ war natürlich nur ein Zufall und findet schon längst nicht mehr statt, allein im alten Aegypten glaubte man an einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem Hervortreten des funkelnden Sterns und dem Austreten des Nils, und man bestimmte aus seinem Sichtbarwerden auch die Jahresdauer. Der Sirius wurde zum Herrn des Jahres erhoben und der Tag seines Frühaufgangs auf den 15. des Monats Thot festgestellt. Nun beträgt aber, wie wir wissen, die Jahresdauer nicht genau 365 Tage, sondern noch 6 Stunden darüber, und diese Stunden mußten in irgend einer Weise berücksichtigt werden, wenn im Laufe der Jahrhunderte der Siriusaufgang stets auf den 15. Thot fallen und die Jahreszeiten an den Monaten haften sollten. Wie dies bewerkstelligt wurde, war ein Geheimnis der ägyptischen Priester, welches erst durch neuere Forschungen aufgedeckt worden ist. Es war indessen einfach genug und konnte nur da verborgen bleiben, wo die große Masse des Volkes und selbst die Gebildeten sich um die Zeitrechnung durchaus nicht kümmerten. Die ägyptischen Priester zählten nämlich alle 4 Jahre den Tag des Siriusaufgangs, den 15. Thot, doppelt, rechneten aber diesen Doppeltag nur für einen einzigen Tag. Dadurch gelang es ihnen, die Jahresrechnung mit der Bewegung der Sonne und des Sirius in Uebereinstimmung zu erhalten, und es ist wahrscheinlich, daß diese ägyptische Jahresrechnung bis ins achtzehnte Jahrhundert vor Christus hinaufreicht.

Diese Jahresrechnung fand auch später Julius Cäsar noch vor und er legte sie seiner neuen Kalenderrechnung zu Grunde, nur mit dem Unterschied, daß er alle 4 Jahre statt der Doppelzählung eines Tages einen Schalttag einfügte. Das erste Julianische Jahr begann mit dem 1. Januar 45 vor Christus und das damalige ägyptische Jahr war ein Jahr mit Doppelzählung des 15. Thot. Diesen hat Cäsar sogleich berücksichtigt, indem er seine neue Jahresrechnung mit einem Schaltjahr begann. Heute gilt bei uns der Gregorianische Kalender; da derselbe aber den Schaltkreis von 4 Jahren nicht verändert hat, so bildet also die altägyptische Kalenderregulierung noch gegenwärtig die Grundlage unserer Schaltung. In so inniger aber weit zurückreichender Beziehung steht der funkelnde Stern Sirius zu unserer heutigen Kalenderrechnung!

Betrachten wir diesen glänzenden Stern an einem recht klaren, mondscheinfreien Abend genauer mit bloßem Auge, so sehen wir, daß er von bläulicher Grundfarbe ist, aber ununterbrochen funkelt und dabei wie ein Diamant in allen Farben des Regenbogens vorübergehend glänzt. Diese Farbenstrahlung und dieses Funkeln sind indessen keine Eigentümlichkeit des Sternes selbst, sondern werden lediglich durch die Erdatmosphäre hervorgerufen. Könnten wir die Sterne von einem Standpunkt aus betrachten, der völlig luftfrei wäre, so würden sie alle in ruhigem klaren Licht glänzen. Das Licht des Sirius ist wie erwähnt bläulich im Vergleich zum Sonnenlichte. Dies hat sich mit Sicherheit aus der Untersuchung desselben mit Hilfe des Spektroskops ergeben, eines Instrumentes, welches das Licht der Sonne und der Sterne in ein farbiges Band, das sogenannte Spektrum, zerlegt. Das Sonnenspektrum zeigt alle Farben des Regenbogens von Rot bis zu Violett und es ist mit einer großen Anzahl dunkler Linien durchzogen, von denen viele in den blauen und roten Teilen desselben auftreten. Dadurch gewinnt der gelbe Teil ein gewisses Helligkeitsübergewicht und das Licht der Sonne ist ein wenig gelblich. Im Spektrum des Sirius sieht man auch zahlreiche dunkle Linien, aber sie sind feiner als diejenigen des Sonnenspektrums und im Blau weniger zahlreich. Der Gesamteindruck des Siriuslichtes ist daher ein bläuliches Weiß. Aber noch mehr! Wie die Spektralanalyse lehrt, werden die dunklen Linien des Sonnenspektrums durch gewisse Metalle hervorgerufen, welche als glühende Nebel in der Sonnenatmosphäre sich befinden, so daß man aus der Anwesenheit bestimmter Liniengruppen auf die Anwesenheit jener Metalle in der Sonne schließen kann.

Genau das nämliche gilt auch für das Spektrum des Sirius und die Untersuchungen haben ergeben, daß auf diesem Stern unzweifelhaft Eisen, Magnesium, Natrium und mehrere andere metallische Körper im Zustande glühenden Dampfes vorhanden sind. Diese Entdeckungen reichen nun schon mehrere Jahrzehnte zurück, aber in der jüngsten Zeit hat die Spektralanalyse noch weitere Fortschritte gemacht, die uns Aussichten in den Entwicklungsgang der Sterne verschafften, an die niemand hätte denken können. Das Aussehen des Spektrums giebt nämlich auch Aufschluß über die Höhe der Temperatur, welche auf jenen Sternen herrscht. Wie viele Grad dieselbe beträgt, ob 10000 oder 100000 Grad, wissen wir zwar zur Zeit noch nicht, wohl aber ist unzweifelhaft geworden, daß die Sterne, welche ein Spektrum wie Sirius zeigen, im allgemeinen für heißer zu halten sind als diejenigen, deren Spektrum demjenigen unserer Sonne gleicht. Sonach ist Sirius also ein Weltkörper, dessen Glut die Hitze unsrer Sonne erheblich übertrifft, und wenn die Erde sich um ihn bewegte in dem gleichen Abstande wie jetzt um die Sonne, so würde ihre ganze Oberfläche von den glühenden Strahlen des Sirius verbrannt und zu einer toten Wüste werden.

Solcher größeren Glut des Sirius entspricht wohl auch eine höhere Leuchtkraft. Um diese Vermutung zu prüfen, müßte man wissen, wie groß die Entfernung des Sirius von der Erde ist.

Diese Entfernung muß freilich von vornherein als eine über alle Vorstellung hinaus große betrachtet werden, denn selbst im stärksten Fernglase zeigt sich Sirius – wie alle übrigen Fixsterne auch – als Punkt. Außerdem hat sich in den spektroskopischen Messungen zu Potsdam herausgestellt, daß dieser Stern sich der Erde mit einer Geschwindigkeit von 2,1 Meilen in der Sekunde nähert. Er hat also seit den Zeiten der Römer seine Entfernung von unsrer Erde um 120 000 Millionen Meilen vermindert, ohne daß er dadurch aber merklich heller oder größer geworden wäre. In der That ist die Entfernung des Sirius so unermeßlich groß, daß es erst in der neuesten Zeit mit Hilfe der feinsten Meßinstrumente den Astronomen gelang, sie festzustellen. Sie ist hiernach fast genau eine Million mal größer als die Entfernung [115] der Erde von der Sonne. Da nun diese in runder Zahl 20 Millionen Meilen beträgt, so läßt sich durch Multiplikation beider Ziffern die Zahl leicht ausrechnen, welche die Distanz des Sirius von der Erde in Meilen ausdrückt. Für unser Vorstellungsvermögen ist diese Zahl freilich eine tote, denn vergebens zwingt unsre Fassungskraft sich, den Raum zu versinnlichen, den eine solche Entfernung umfaßt. Eine Kanonenkugel würde in Millionen Jahren diesen Raum nicht durchfliegen, der Lichtstrahl, der zwischen zwei Pulsschlägen viermal den Erdball umkreist, gebraucht 17 volle Jahre, um vom Sirius bis zur Erde zu gelangen.

Der Sirius ist aber trotz seiner Helligkeit nicht der unserm Sonnensystem am nächsten schwebende Stern. Nach dem gegenwärtigen Stande unserer astronomischen Kenntnisse ist der helle Hauptstern im Centauren derjenige, welcher sich am nächsten unserer Sonne befindet. Die Entfernung beträgt 265 000 Erdbahnhalbmesser, und das Licht braucht etwa vier Jahre, um von jenem Sterne zu uns zu gelangen. Gegenüber solchen Entfernungen erlahmt die menschliche Einbildungskraft! Aber lehrreich für unsere Vernunft sind jene Zahlen doch, denn sie bilden die Grundlage zu weiteren Schlüssen, die unsere Erkenntnis vermehren. Die Größe derselben ist es freilich nicht, wodurch die Bedeutung der hier besprochenen Forschungen gekennzeichnet wird. Solche Zahlen würden uns ebenso gleichgültig sein wie die Ziffern, welche die Summe aller Sandkörner der Wüste Sahara darstellen, wenn nicht jene Forschungen einen Beitrag lieferten zur richtigen Erkenntnis unserer eigenen Stellung im Weltall.

Wenn man einen leuchtenden Körper aus der Entfernung von 1 Fuß in die Entfernung von 2 Fuß bringt, so ist seine Leuchtkraft für den Beobachter nur noch 1/4 der anfänglichen. Bringt man ihn in die Entfernung von 3 Fuß, so ist sie nur 1/9, in der Entfernung von 4 Fuß nur 1/16 etc. Denkt man sich nun die Sonne in die Entfernung des Sirius gerückt, also eine Million Mal weiter von der Erde entfernt als gegenwärtig, so läßt sich leicht berechnen, daß sie uns 1000 Milliarden Mal schwächer leuchtend erscheinen müßte als heute. Sie würde dann, wie sich zeigen läßt, nur etwa den 60. Teil der Helligkeit des Sirius zeigen.

Sonach ist also klar, daß Sirius in seiner Heimat eine Sonne ist, welche unsere Sonne an Lichtfülle sechzigmal übertrifft. Für uns Menschen würde dieser Stern als Centralgestirn, um welchen sich die Erde bewegt, nicht geeignet sein; menschliche Augen könnten seinen Glanz nicht ertragen, für irdische Organismen würde seine Glut nur verderblich werden. Wenn also der glänzende Sirius den Mittelpunkt eines Weltsystems bildet, ähnlich wie die Sonne das Centrum unseres Planetensystems ist, so dürfen wir annehmen, daß dort eine ganz andere Anordnung der Dinge herrscht wie in unserem heimischen Sonnengebiete. Dieser Schluß findet in der That eine völlige Bestätigung in einer der schönsten Entdeckungen, welche jemals von Menschen gemacht wurden.

Wie schon erwähnt, erscheint uns Sirius unbeweglich am Himmel an einem und dem nämlichen Orte zu verharren, trotzdem er sich ununterbrochen durch den Weltraum fortbewegt. Durch Anwendung sehr feiner Meßapparate hat sich indessen ergeben, daß diese Fortbewegung doch meßbar ist. Der berühmte Astronom Bessel fand nun vor mehr als 50 Jahren aus seinen Beobachtungen, daß in dieser geringen Eigenbewegung des Sirius sehr kleine Unregelmäßigkeiten vorkommen; er meinte wahrzunehmen, daß der Stern seine Bewegung bald etwas beschleunige, bald etwas verzögere, ja daß derselbe in gewissen Jahren sich scheinbar sogar ein wenig rückwärts bewege. Bessel schloß daraus, daß Sirius in großer Nähe durch einen andern, uns unsichtbaren Stern in seiner Bewegung beeinflußt werde. Nachdem er alle Möglichkeiten mit höchster Sorgfalt geprüft und erwogen, sprach er zuletzt unumwunden aus, daß Sirius ein Doppelstern sei, d. h. ein Stern, welcher sich gleichzeitig mit einem andern uns unsichtbaren um den gemeinsamen Schwerpunkt bewege, in einer kreisförmigen Bahn mit einer Umlaufszeit von etwa 50 Jahren. Obgleich kein Fernrohr imstande war, diese „dunkle Masse“ in der Nähe des Sirius zu zeigen, beharrte Bessel bis zu seinem Tode fest in der Ueberzeugung, daß diese Masse vorhanden sein müsse und den Sirius zu einer Umlaufsbewegung um den gemeinsamen Schwerpunkt zwinge.

Und seine Behauptung wurde glänzend gerechtfertigt. Seit der Mitte des gegenwärtigen Jahrhunderts nahm die Kunst, mächtige Ferngläser herzustellen, einen gewaltigen Aufschwung; besonders in Nordamerika wurden ungeheure Teleskope gebaut, die an optischer Kraft ihre Vorgänger weit hinter sich ließen. Ein solches Riesenfernrohr, das damals mächtigste seiner Art, war im Januar 1862 gerade vollendet und sein Schöpfer, der Optiker Alvan George Clark, unternahm eine Prüfung desselben. Der Abend des 31. Januar war ein sternklarer, und da Sirius in ziemlich ruhigem Licht gerade sichtbar war, so richtete Clark sein neues Instrument auf diesen Stern. Er erblickte ihn als kleines, strahlenloses Scheibchen in stechend hellem blauweißen Licht und, wunderbar, neben diesem glänzenden Stern stand ein feines lichtschwaches Sternchen, das nur eben wahrgenommen werden konnte, ein Begleiter des Sirius! Die Clarksche Entdeckung machte bald die Runde durch alle astronomischen und Tagesblätter und es fand sich, daß der kleine Stern genau an der Stelle stand, wo die dunkle Masse Bessels stehen mußte. Die Beobachtungen in den nächsten Jahren zeigten ferner, daß Bessel auch die Umlaufszeit des Sirius annähernd richtig geschätzt hat, denn sie beträgt in Wirklichkeit 492/5 Jahre.

Wie aber in der Wissenschaft die Erkenntnis einer Wahrheit immer zu weiteren Ergebnissen leitet, so auch in diesem Falle. Da die Entfernung des Sirius von der Erde bekannt war, so konnte man die Entfernung seines Begleiters von ihm selbst leicht berechnen und fand dafür 740 Millionen Meilen. Wenn unsere Erde ebensoweit von der Sonne entfernt wäre, so würde sie ihre Bahn nicht mehr in einem Jahr durchlaufen können, sondern dazu 225 Jahre brauchen. Wäre unsere Sonne größer an Masse oder Gewicht, so würde die Umlaufszeit der Erde und jedes Planeten kürzer sein. Im Siriussystem ist die Umlaufszeit thatsächlich kürzer und hieraus folgt also mit Notwendigkeit, daß Sirius und sein Begleiter an Masse oder Gewicht unsere Sonne übertreffen müssen. Auf dem Wege der astronomischen Berechnung läßt sich dies ganz genau feststellen und es findet sich, daß Sirius unsere Sonne fast vierzehnmal, sein Begleiter dieselbe fast siebenmal an Gewicht übertrifft. Letzterer ist also in Bezug auf sein Gewicht halb so groß als Sirius selbst, aber seine Helligkeit ist sehr viel schwächer, sie beträgt kaum den fünftausendsten Teil von derjenigen des Sirius. Das sind die wunderbaren Ergebnisse, welche die Wissenschaft über das Wesen des glänzenden Sirius ermittelt hat, und diese sämtlichen Resultate gehören der neuesten Zeit an, sie sind in den letzten sechs Jahrzehnten errungen worden.

Der leuchtende Punkt, dem einst die Aegypter unter dem Namen Isis-Sothis göttliche Verehrung bezeigten, dessen Ruhm als Verkündiger der segenspendenden Nilflut sie in preisenden Inschriften der Nachwelt überlieferten, ist von der neuen Wissenschaft als eine Sonne erkannt worden, größer, glühender und strahlender als unsere eigene Sonne; diese menschliche Wissenschaft hat seine Entfernung gemessen und den Stern samt seinem Begleiter wie auf einer Wage gewogen! Mit Bewunderung erkennen wir hier, wie der Mensch, geleitet durch das Licht seiner Vernunft, von der kleineren Erde aus eingedrungen ist in die unermeßlichen Tiefen des Weltenraums; wie er den Maßstab seines Verstands gelegt hat an den Bau und die Einrichtung ferner Sonnensysteme und über Zeit und Raum sich aufschwang zum Verständnis von Einrichtungen im Bau des Weltalls, die seiner Wahrnehmung auf ewig entrückt schienen. Was unsere Nachkommen dereinst noch erforschen und erfahren werden, wer vermöchte dies voraus zu sagen? Nur so viel ist sicher, daß der Strom der Forschung nimmer versiegen, daß der Quell der Erkenntnis stets reicher fließen und die Herrschaft der menschlichen Vernunft sich stets siegreicher geltend machen wird.


[116]

Hermann Sudermanns „Johannes“.

Von Rudolf Stratz.
(Mit den Bildern S. 117 und 120 und 121.)

Aus der Messias-Stimmung ist diese Tragödie geboren, aus einem brünstigen Sehnen und Bangen nach der Erlösung, nach dem großen Wunder, das da kommen muß, weil, was da ist, nicht länger bestehen kann.

In die Zeit vor Sonnenaufgang führt uns der „Johannes“, in eine Wüstennacht voll Schwüle und Beklemmung, in der zwischen totem Gestein die Winde klagen und hoch oben kalt und stumm die Sternenpracht sich über Palästina wölbt. Fern am Horizont loht der Flammendunst des großen Brandopferaltars zu Jerusalem, ein blutiger Wiederschein der Vergangenheit, die dort noch lebendig ist. Aufrecht stehen dort im Schein der von Priesterhand geschürten Feuersäulen die starren Tafeln des Gesetzes, das, wie es die Schriftgelehrten auslegen, härter noch als die Faust des römischen Zwingherrn auf dem auserwählten Volke lastet. Aber nicht allen, die da zu Boden getreten auf den Messias harren, will noch genügen, was von ihm die alten Propheten verheißen. Durch die Nacht gleiten schattenhafte, flüsternde Gestalten dahin, Mühsame und Beladene, die es aus dem Feuerkreis des Altars hinaustreibt in die Schauer der Oede zu dem einsamen Büßer mit Pilgerstab und härenem Gewand, zu dem Prediger in der Wüste, zu Johannes dem Täufer. Er ist ihre Hoffnung, wie er den Pharisäern und Tempelpriestern ein Greuel ist, – er wird, wenn die Zeit sich erfüllt, den Messias erkennen und ihm den Weg bereiten, denn seine Augen haben schon einmal den Heiland geschaut .....

Im Jordan hat ihn Johannes mit bebender Hand getauft – so verkündet er den ihn umlagernden Jüngern und Jüngerinnen – und hat den Geist Gottes über ihn kommen gesehen gleich einer weißen Taube und die Stimme des Herrn gehört: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!“ Seitdem glaubt und hofft er es, wenn auch in immer wieder sich aufbäumenden Zweifeln: Der Erlöser ist da! Er wandelt schon auf Erden in der Gestalt jenes Jünglings aus Galiläa, den er nie wieder gesehen, dessen Namen über die Lippen zu bringen dem Täufer und Büßer halb die Ehrfurcht, halb die innere Unsicherheit verbietet.

Denn das Bild jenes milde lächelnden Zimmermannssohnes aus Galiläa war anders als er, Johannes, sich den Befreier Israels, den neuen König der Juden denkt. Vom Buchstaben des Gesetzes hat sich der Wüstentäufer wohl getrennt, aber der Geist des Gesetzes lebt noch in ihm. Johannes kann sich seinen himmlischen König nur als einen finstern Gott des Zornes und der Rache vorstellen, der an den Lauen in Israel und allen Feinden Israels ihre Sünden eifrig heimsucht bis ins dritte und vierte Glied.

Eben jetzt – und damit treten wir in die äußere Handlung der Tragödie ein – ist eine Missethat, ein Verbrechen gegen das Gesetz geschehen, das zum Himmel schreit: Herodes, der Vierfürst von Galiläa, will mit Herodias, seines leiblichen Bruders entlaufener Frau, am ersten Passahtage den Tempel zu Jerusalem betreten und dort von den Priestern die Ehebrecherin zu seinem Weibe segnen lassen! Die Priester scheinen dazu bereit. Das Letzte, woran sich Israel in Not und Fremdherrschaft klammert, das Gesetz, ist im Wanken, alles umher bricht in Schmach und Schuld zusammen – da richtet sich der Prediger in der Wüste auf. Von seinen Jüngern begleitet, steigt er hernieder aus der Wildnis in die menschenwimmelnden Gassen, wie Donner grollt seine Stimme im Ohr des schlafenden Volkes, Feuer geht aus seinem Munde und läßt ganz Jerusalem in einem einzigen Zorn wider Herodes, wider Herodias und die Priester aufflammen. Alle glauben dem grimmen Täufer. Nur er glaubt nicht mehr an sich selbst. Ihm ist plötzlich, unversehens und gewaltig, ein Hauch aus einer andern Welt entgegen geschlagen – ein paar arme Worte nur – rasch hingeworfen im Streit zwischen einem Pharisäer und einem Pilger aus Galiläa – und doch ihn erschütternd bis in die Tiefen seiner Brust.

Höher denn Gesetz und Opfer ist die Liebe“ hatte der Mann aus Galiläa gesagt und mitleidigen Herzens die Bettlerin getränkt, die jener Pharisäer als „unrein“ von sich stieß. Und immer stärker klingt in Johannes das geheimnisvolle Wort, die erste Kunde aus Galiläa, der erste Wiederhall aus dem Munde jenes, den er einst getauft im Jordan. Vor diesem erschütternden Rätsel wird ihm alles andere klein. Der Vierfürst Herodes mit seinen Weiberhändeln kümmert ihn kaum mehr. Er sucht nur eines noch: den im Volksgedränge verschwundenen Galiläer, und da er ihn als Leiche wiederfindet – getroffen vom Dolch eines Wüstenzeloten, der das beleidigte Gesetz an ihm rächte –, sucht er andere Galiläer und findet endlich im Morgengrauen vor dem großen Tempel ihrer zwei, die dort mit anderem Volk auf die Zeit zum Frühgebet warten. Arme, flache Köpfe sind es, stumpfsinnige Fischer von den Ufern des großen Sees, aber auch aus ihrem Munde klingt, als der Täufer sie fiebernd ausforscht, unverstanden, in kindischem Lallen die welterschütternde Mahnung: „Liebet eure Feinde! – Segnet, die euch fluchen! Thut wohl denen, die euch hassen!“

Noch versteht der Täufer das Gebot seines Herrn nicht. Aber ihm bleibt kein Zweifel mehr: Es ist kein Gott des Zornes, dem er den Weg bereitet, sondern ein Gott der Liebe, kein goldgepanzerter Rachekönig, sondern ein weißgekleideter Fürst des Friedens, und nicht im Hasse wird die Erlösung kommen, sondern im Verzeihen.

Da beugt sich Johannes stumm dem Geheiß des Größeren, dem er bangenden Herzens dient. Und als nun Herodes an der Seite der Ehebrecherin zum Tempel schreitet, den Segen der Priester zu empfangen, und der Täufer, von zürnendem Volk umringt, als sein Rächer und Richter erhobenen Armes vor ihm steht, um das verbrecherische Paar zu steinigen – da läßt Johannes aus der niedersinkenden Faust den Stein zu Boden rollen und schont das Leben des Feindes „– im Namen dessen, der – mich – dich – lieben heißt ....“

Die Lehre der reinen Liebe, zu der er nicht gerüstet war, bringt Johannes den inneren Zusammenbruch, den seelischen Tod. Sein äußeres Ende führt die sündige Liebe herbei, die ihm verlockend aus Herodias’ heißen Blicken und aus Salomes, ihrer Tochter, noch kindlich hellen Lasteraugen entgegenfunkelt. Der nach ihm kommt, der Größere, verzeiht der Ehebrecherin und fragt, wer den ersten Stein wider sie erhebe. Johannes aber hat des Philippus entlaufenes Weib mit den Feuerwellen seines Zelotenzorns überschüttet und weist in eisiger Verachtung die junge Salome ab, die sich ihm, dem Gefangenen im Turm des Herodes, schmeichelnd nähert. Damit erfüllen sich seine irdischen Tage. Die beiden Weiber, Tigerin und Tigerkatze, sinnen auf seinen Untergang und – getreu der Ueberlieferung – fordert Salome als Preis des Tanzes, den sie beim Gelage ihres Stiefvaters und seines Gastes, des römischen Legaten, ausgeführt: „auf goldener Schüssel das Haupt Johannes des Täufers ...!“ Dieses Verlangen wird ihr von dem schwachen Herodes, wenn auch zögernd, gewährt. Johannes wird herbeigeführt und vernimmt, daß sein Tod beschlossen. Er hängt nicht am Leben. Nur das Eine möchte er noch wissen, ehe er scheidet – ob wirklich dies Leben ein einziger großer Irrtum war, ob das Gesetz, von dem er sich losgerungen, um dem kommenden König den Pfad zu ebnen, – ob dies Gesetz sich in der Liebe erfüllt, die er überall von sich gestoßen, wo sie gläubig und vertrauend, verlockend und sündhaft die Hände zu ihm hob. Seine beiden letzten Jünger hat er ausgesendet dahin, wo Jesus von Nazareth weilt – und jetzt eben, in letzter Stunde, bringen sie ihm die Antwort des Erlösers: „Selig ist, der sich nicht an mir ärgert!“ Die Jünger des Täufers haben das Wort geheimnisvoller Weisheit nicht verstanden. Johannes aber begreift es. Er weiß jetzt: das Heil ist in der Welt! und geht lächelnd sterben. Jesus aber kommt. Draußen auf den Straßen braust das Hosiannah! – über den Häuptern der Tausende, die Gassen und Dächer übersäet halten, neigen sich zum Jubelgruß die Palmenzweige, und während hinter der Scene Salome in halbem Wahnsinn tanzt mit dem Haupt des Täufers auf der Schüssel – während die [117] Römer unbekümmert schmausen und des Herodes zitternder Hand der Becher entfällt, mit dem er zum Hohn dem neuen König der Juden zutrinken will, hält unten der König der weltüberwindenden Liebe seinen Einzug – ein Schlußbild von reinster Erhabenheit, Weihe und Kraft, in denen das gewaltige Drama ausklingt.

Sudermanns „Johannes“ ist also kein Theaterstück im gewöhnlichen Sinn des Wortes. Es ist ein Dichterwerk, das weit über den Spannkreis unseres alltäglichen Empfindens hinaus das umfaßt, was ewig in der Menschheit ist. An Werke von solchen Dimensionen gewöhnt man sich nicht auf den ersten Blick. Ihr volles Verständnis will errungen sein und lohnt dem Unbefangenen und Einsichtigen reichlich alle Mühen. Denn was in dieser Dichtung dem „Johannes“ in der Seele ringt, das bewegt noch heute die Herzen überall, wo Menschen ringen und streben und nach einem neuen Heile fiebernd spähen. Und welche Zeit wäre wohl reicher an solchem Dürsten und Sehnen als unsere Gegenwart? Wo ließe sich ein sittlich reinerer und erhabenerer Vorwurf finden als diese Tragödie des Einsamen, der nach Erlösung bangt und zu spät erkennt, daß die Erlösung längst in der Welt ist, daß sie Menschenliebe heißt und daß er blind und fühllos durch diese Welt voll Liebe gegangen?

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Josef Kainz als Johannes.

Die reine Wirkung der ersten Aufführung des Werks in Berlin wurde zweifellos durch den Umstand beeinträchtigt, daß der Behörde, die sich Berliner Theatercensur nennt, diese Quintessenz christlicher Weltauffassung irreligiös und unmoralisch schien, so daß sie den „Johannes“ verbot. So geschehen im August des Jahres des Heils 1897 in der Reichshauptstadt Berlin, in der – nebenbei bemerkt – die anrüchigsten Pariser Schwänke allabendlich an zwei, drei Bühnen unbeanstandet gespielt werden. Anderswo aber dachte man zum Glück anders und höher. Der Intendant Baron Putlitz nahm das Stück für das Stuttgarter Hoftheater an, sein Amtsgenosse Graf Seebach in Dresden folgte alsbald seinem dankenswerten Beispiel – und wir hätten beinahe das seltsame, aber für die gegenwärtigen Verhältnisse kennzeichnende Schauspiel erleben können, daß ein Werk auf zwei unserer größten Hoftheater im Reiche gespielt, von einer Privatbühne in der Reichshauptstadt aber ferngehalten wurde! Doch ehe es dazu kam, gab der preußische Minister des Innern den „Johannes“ unter einigen ganz unwesentlichen Kürzungen frei, und nun fand am 15. Januar im „Deutschen Theater“ die Erstaufführung mit einem Erfolge statt, der bei den Wiederholungen sich noch steigerte und gewiß ebenso auf jeder anderen Bühne und bei jedem anderen für ernsten Kunstgenuß empfänglichen Publikum sich einstellen wird. Es war ein Ehrenabend für das „Deutsche Theater“, nicht nur, was das Werk, sondern auch was die Darstellung betrifft. Die ersten Künstler, wie Agnes Sorma (Salome), Josef Kainz (Johannes), Luise Dumont (Herodias), Emanuel Reicher (Herodes), Hermann Müller (Pharisäer), Hermann Nissen, Hermann Leffler u. a. schienen, getragen von der Kraft ihrer Rollen, ihr eigenes Können überbieten zu wollen, und die ganze große Schar der Mitwirkenden eiferte ihnen getreulich nach.


Sein Brautstand.

Novelle von A. Lichtenstern.
1.

Paul Weilheim, müde und abgehetzt von den Strapazen des Winters, von der Jagd um seine Person und sein Vermögen – einer Jagd, der er schon so viele Jahre zum Ziel diente – Paul Weilheim hatte seine sechswöchigen Sommerferien angetreten. In seinem Drang, nur Ruhe, nichts anderes als Ruhe zu finden, war er in einen kleinen, unweit von Wien gelegenen Ort geraten – „Mariaschutz“ im Semmeringgebiete –, das dem Weitgereisten, Verwöhnten eigentlich gar nichts bieten konnte. Und doch war ihm wohl. Wer einen offenen Sinn für das Schöne hat, der genießt es auch dann, wenn er das Schönere und Schönste kennt. Und schön war’s in Mariaschutz, und lieblich und traulich – und still! Der einzige Gasthof des Oertchens freilich, obgleich nicht sehr stark besetzt und nur von einem ruhigen, soliden, gut bürgerlichen Publikum, war ihm immer noch zu laut. Früh morgens wanderte er vom Hause, seinen Photographenapparat auf dem Rücken, ein interessantes Buch in der Tasche, so weit in das schöne grüne Land hinaus, als ihn seine gesunden, weitausschreitenden, dreiunddreißigjährigen Beine nur tragen wollten. Fand sich irgendwo ein Mittagsmahl – gut, wo nicht, so war der junge Chef der alten Großhandlung, der über Millionen verfügte, auch mit einem Glas Milch und einer größeren Anzahl von Butterbroten zufrieden. Abends zurück in seinen Gasthof, auf der schon menschenleeren Terrasse ein kräftiges Abendbrot, sein Bier, seine zwei Cigarren, den Sternenhimmel über sich, das lichtumflossene Thal zu seinen Füßen, und Frieden, Ruhe und kräftigstes Behagen in jeder Faser seines Wesens. Darauf ein ganz unbezahlbar köstlicher Schlaf bis zum nächsten Morgen – und dann wieder mit Grazie so fort. Er war’s zufrieden und wünschte sich nichts Besseres – volle vierzehn Tage lang. Aber wenn man dreiunddreißig Jahre alt und überdies ein Stück Humorist und Menschenbeobachter ist, nimmt der Genuß der Einsamkeit bald ein Ende und man wendet sich wieder seinen geehrten Mitgeschöpfen zu. Von dem freilich, was seine Welt ausmachte – [118] der sogenannten Gesellschaft – wollte er noch immer nichts wissen. Nur keine eleganten Sportgigerln und Modedamen zum Umgang hier im grünen Wald, in der freien, tannenduftigen Luft! Wenn er so auf seinen einsamen Pfaden dahinschritt, mußte er manchmal vor sich hinlachen. „Ja,“ gestand er sich selbst, „ja, es ist Zeit, daß ich ein Ende mache, daß einmal Ernst wird! Ich will ja gar nichts Besseres. Ruhe muß einmal werden, ein Haus will ich haben, und Kinder! O ja, heiraten werd’ ich schon, so bald als es nur geht! Aber frisch muß sie sein und unverdorben, und darf nicht immer denken: Steht mir das auch originell, und bin ich so nur recht pikant?“ Und so bei sich denkend, war er rüstig weitergeschritten. –

Aber endlich, nach vierzehn Tagen stummen In-die-Welt-hinauslaufens, waren ihm die zweibeinigen, aufrechtgehenden Lebewesen doch wieder interessanter geworden, und er fing an, die Mariaschutzer „Kurgesellschaft“ neugierig zu mustern. Es war nicht viel an ihr zu sehen. Ein paar Wiener, Grazer und Wiener-Neustädter Bürger und Spießbürger; das männliche Geschlecht nur in älteren Exemplaren vertreten, Kinder in Menge und eine stattliche Anzahl junger Damen, von denen jedoch vorläufig keine einen Eindruck auf ihn machte.

Er stellte bald bei sich fest, daß das Publikum in drei Gattungen zerfiel: in die Vielessenden, welche die Mahlzeiten offenbar für den Hauptzweck ihres Aufenthaltes ansahen und so ziemlich alle zwei Stunden eine hielten; in die Vielgehenden, die es thaten wie er, und endlich in die müßig und offenbar sehr gelangweilt Herumstehenden.

Deshalb fiel ihm bald eine aus Vater, Mutter und Tochter bestehende Familie besonders auf, die er in keine der drei Gattungen einreihen konnte. Sie marschierten zwar ganz ausgiebig, machten aber durchaus keinen Sport aus der Sache; sie aßen nur viermal des Tags, zwar anscheinend gut und mit bestem Appetit, aber doch ohne Uebereifer und Uebermaß. Und schließlich – und das war das Merkwürdigste – sie wurden alle drei sehr häufig mit Büchern in den Händen gesehen – mit Büchern, in denen sie sogar lasen, und zwar mit einem unverkennbaren Ausdruck des Vergnügens und Interesses lasen. Ernsthaft lesende Menschenkinder – wie lächerlich – wie unmodern! Selbst unter den Mariaschutzer Spießbürgern unmodern! Und sie sahen gar nicht so aus, als ob nur leichte französische und englische Romane ihre Lektüre bildeten – sie sahen sehr gut aus, sehr fein, sehr intelligent – es waren weitaus die nettesten Leute in ganz Mariaschutz. Ja, er hatte überhaupt schon lange, schon sehr lange nicht so nette Leute gesehen. Die junge Dame nun schon gar, aber auch die Eltern waren sehr, sehr nett, und er studierte die kleine Gesellschaft immer eifriger.

An dem alten Herrn (Paul taxierte ihn auf drei- oder vierundsechzig Jahre) war eben nicht viel auffallend, außer seinen gescheiten, gutmütigen Spötteraugen. Die Frau aber, gewiß gut um zehn Jahre jünger, konnte Paul gar nicht oft genug ansehen: so ein feines, liebes, gutes Matronengesicht! Etwas verblüht, aber man sah, daß sie einmal sehr hübsch gewesen sein mußte, hübscher noch als ihre hübsche Tochter. Und wie sie sich trug! Strahlend von Nettigkeit und mit so außerordentlicher und dabei so geschmackvoller Einfachheit, daß Paul, der ein feines Auge für weibliche Kleidung besaß, nie eine besser angezogene Frau gesehen zu haben meinte. Die junge Dame nun – ein sehr junges Ding noch, wie Paul meinte, allerhöchstens neunzehn (er irrte aber, sie war einundzwanzig vorüber) – war sicherlich allerliebst, und ebenso sicher war ein großer Teil dieser angenehmen Eigenschaft auf ihre strahlende Jugendfrische zurückzuführen. Immerhin: die große, kraftvoll geschmeidige Figur, deren Bewegungen die unbefangenste Anmut zeigten, und die hellleuchtenden blauen Augen mit ihrem treuherzigen Blick waren an sich sehr schön. Sie trug immer hellfarbige Leinwandblusen, Lodenröcke und einen weißen Knabenhut, einen sogenannten „Girardi“, und schien zu jenen beneidenswerten weiblichen Wesen zu gehören, denen alles steht, aber die Einfachheit am besten.

Wie gesagt, sie gefiel Paul (wem hätte auch das frische Ding nicht gefallen?), aber das war’s nicht, was den Verwöhnten immer wieder mit Augen und Gedanken zu der kleinen Gruppe zurückkehren ließ. Die drei – es waren merkwürdige Leute! Vor allem genügten sie sich selbst, hatten offenbar gar kein Verlangen, mit irgend einem andern ein überflüssiges Wort zu sprechen, und das Wort „Langeweile“, das Paul auf den Gesichtern der Mariaschutzer Sommergäste gerade so deutlich las, wie er es in den Salons und in eleganten Weltbädern auf viel fashionableren Gesichtern gelesen hatte – das Wort schienen sie einfach nicht zu kennen. Sie hatten sich immer etwas zu erzählen, hatten immer etwas zum Lachen, wohl auch zum Spotten – aber sehr weh mochte dieser Spott wohl nicht thun. Oder sie saßen in schönster Eintracht und lasen, oder der Alte blies, in Gedanken verloren, seine Rauchwolken vor sich hin, während die beiden Damen mit Handarbeiten beschäftigt waren, und dazwischen schauten sie mit so hellen und interessierten Augen um sich und das kleinste Ereignis bereitete ihnen sichtlich so viel Spaß und Unterhaltung, daß auch Paul anfing, das Mariaschutzer Kurleben außerordentlich interessant zu finden – nämlich im Spiegel dieser drei Augenpaare.

Auf den Spaziergängen – er war ihnen manchmal in bescheidener Entfernung gefolgt – wurde meist eine eifrige Unterhaltung geführt; manchmal freilich war’s wieder ganz still, aber üble Laune oder Mangel an Gesprächsstoff waren schwerlich die Ursachen. Dann ging das Mädchen wohl mit ihrem raschen leichten Schritt ein Stückchen voraus, pflückte sich da eine Glockenblume, dort eine rotleuchtende Cyklame, sang mit leiser Stimme, ein paar Takte vor sich hin – und kehrte dann zu den Eltern zurück, den Schritt nach den ihrigen richtend und im öfteren Umblicken an ihrem Gespräch teilnehmend.

Ueberhaupt hatten die drei eine Art, sich anzusehen, sprechend und lachend, oder auch ganz ruhig, wenn eins von ihnen etwa ins Haus ging, während die anderen ihm nachsahen – mit freundlich heiteren, durchaus nicht sentimentalen oder überschwenglichen Blicken, aus denen aber Paul doch die Ueberzeugung schöpfte, daß jedes von ihnen für jedes nötigenfalls ins Feuer gehen würde. Und diese Thatsache, die ihn doch gar nichts anging, ihm eher hätte ein wenig lächerlich erscheinen sollen, erfüllte ihn mit einem sehr merkwürdigen Wohlbehagen.

Dazu kam noch, daß der alte Herr eines Tages seine Tochter beim Namen rief: „Emma!“ Nun war die Eroberung Paul Weilheims vollständig – Emma! Emma! So ein guter alter deutscher unverstümmelter und unverschnörkelter Rufname. Es war großartig!

„Franz!“ rief er laut dem Kellner (es war Frühstückszeit und „seine“ Familie saß nicht weit von ihm), dann leise zu dem Herbeigeeilten: „Wer sind die Herrschaften dort?“

Der durch schöne Trinkgelder anhänglich gemachte Franz beeilte sich, Auskunft zu geben: „Herr Doktor Freisinger – Hof- und Gerichtsadvokat – aus Wien! Kommt schon den dritten Sommer her!“

Doktor Freisinger? … Paul dachte nach. Freilich, von dem hatte er schon gehört (Pauls Schwager war einer der gesuchtesten Rechtsanwälte Wiens). Aelterer Advokat schon – nichts Lärmendes, Reklamesüchtiges wie sein Herr Schwager – aber schönes solides altes Geschäft – großartiger Ruf – aha, weiß schon! Und Paul sah sich, der Abwechslung halber, „seine drei“ mit erneuter und verstärkter Aufmerksamkeit an – und sein Entschluß war gefaßt.

„Seinen Leuten“ war zwar ganz entschieden eine stumme und doch deutliche Abwehr aufgeprägt, aber, wenn man nur will und wenn man nicht schüchtern ist – und Paul in seiner Eigenschaft als „große Partie“ hätte es wirklich schwer gehabt, schüchtern zu bleiben – da geht’s schon. Und es ging wirklich. Erst ein ausgesucht höflicher Gruß bei Begegnungen („wie reizend die Kleine dankt!“), dann ein gegen den alten Herrn hingeworfenes Wort über die Wetteraussichten für den Tag, über den Nebelstreifen oberhalb des Schneebergs. Dank den getreuen Kellnern war zur Mittagszeit der Tisch neben dem Freisingerschen bald erobert – und kurz, ein kleiner Schritt folgte dem andern, ein Wort gab das andere – und drei Tage nach seinem Entschluß stand Paul drüben an „seinem“ Tisch – die Freisingers wußten selbst nicht zu sagen, wie dieses Attentat auf ihre Ruhe und Ungestörtheit erfolgt war – und stellte sich in seiner weltmännischen Manier, einer hübschen Mischung von Freundlichkeit [119] und imponierender Sicherheit, „seinen Leuten“ vor: „Paul Weilheim – aus Wien.“

Der große, jedem Wiener geläufige Name machte wenig Eindruck – der alte Herr schien nicht daran zu denken, daß er „diesen“ Weilheim vor sich habe. Aber Unmenschen waren die drei doch nicht, und nach dem ersten kleinen Befremden entwickelte sich eine angeregte Konversation, in deren Verlauf die gedachte Kritik der beiden Alten lautete: „Ein netter Mensch! Ein sehr angenehmer Mensch!“ – – und die Pauls: „So seid ihr also! Aha! So hab’ ich mir’s gedacht!“ – – Fräulein Emma, anfangs etwas ernst und gemessen, machte ihm bald das aufrichtige Vergnügen, die blauen Augen voll und freundlich auf ihn zu heften. Auch wurde ihm die Genugthuung zu teil, mit seinen trockenen Bemerkungen mehrfach das ihm schon bekannte Lachterzett zu entfesseln (Fräulein Emma Oberstimme, goldklarer Sopran); und als Paul Weilheim sich nach diesem Tag, der ihm noch einen Waldspaziergang zu viert gebracht hatte, in sein Zimmer zurückzog, da hatte er vor dem Einschlafen das erstaunlich angenehme Gefühl: „Da hast du einmal einen klugen Streich gemacht“ – – und noch später, schon im Hinüberdämmern, das zweite: „Wunderhübsche Augen – ein liebes Ding!“


2.

Zehn Tage später – ein prachtvoller, nicht zu heißer Vormittag, Anfang August. Im Mariaschutzer Wald wandern einträchtiglich, in einiger Entfernung voneinander, ein altes und ein junges Paar. Das alte hat sich, wie immer, viel zu erzählen – das junge ist heute, durchaus nicht wie immer, sehr still.

„Mein gnädiges Fräulein,“ sagt Paul nach der soundsovielten längeren Pause – bleibt stehen, schweigt, und dann: „Mein Fräulein* – er geht weiter – „mit der Unterhaltung ist heute, wie Sie ja sehen, nicht viel los. Ich will mir’s also von der Seele sprechen – was mich heute so unbrauchbar macht – wenn Sie mir nämlich gütigst die Erlaubnis geben.“

Er schweigt wieder, atmet etwas tiefer und betrachtet mit großer Aufmerksamkeit die kleinen Steine auf dem Weg. Dann nach einer Weile: „Ich bin, wie Sie gewiß gemerkt haben, g’rad’ kein schüchterner Jüngling – Jüngling so wenig wie schüchtern – aber was ich Ihnen heute sagen will, das geht doch nicht so leicht von der Leber weg. Bitte, schau’n Sie mich mit Ihren – – Ihren Augen nicht so starr an – schau’n Sie doch lieber ein bissel“ – mit Handbeweguug – „da herum.“

Pause.

„Ich komm’ mir selbst mit all den Vorbereitungen und Vorreden sehr lächerlich vor. Ich brauch’ mich auch wirklich nicht zu schämen – ich hab’ schon viel dümmere Streiche in meinem Leben gemacht. Nein, bitte“ – etwas flüssiger: „schau’n Sie mir nur wieder mit Ihren lieben Augen ins Gesicht – jetzt wird’s schon gehen.“ Und von da an immer flüssiger, rascher und leiser: „Fräulein Emma – was soll das Hin- und Herreden – ich werd’ Ihnen wohl sehr lächerlich vorkommen, wir kennen uns jetzt g’rad’ zehn Tage und wissen eigentlich nicht gar viel voneinander – so äußere Sachen, mein’ ich – – und – – und ich will Ihnen auch gar nicht einreden, daß ich bis über beide Ohren in Sie verliebt bin. Ich muß Ihnen sogar gestehen, daß ich diese sogenannte Verliebtheit schon oft bedeutend stärker gespürt hab’ als just heute – – und doch, Fräulein Emma – was ich hier so von Ihnen gesehen hab’ – so lieb und schön und gut und unverdorben wie Sie sind – und die zwei prachtvollen Leute da hinten, Ihre Eltern – und wenn Sie wüßten, wie ich – es ist ja lächerlich, ein großer, alter, vom Leben hartgesottener Mensch und keine Spur von sentimental – wie ich mich sehne – nach einem Fleck, der einem allein gehört, nach einem guten Kameraden – nach einem Menschen halt – und jetzt Sie da vor mir, wo ich gar nicht mehr geglaubt hab’, daß so unverdorbene, unverzogene Mädeln noch existieren – – – Und kurz und gut, ich will Ihnen nicht die Beleidigung anthun und Sie fragen: ‚Magst du mich?‘ Was wissen Sie denn von mir, was kennen Sie denn von mir? Nur fragen wollt’ ich Sie eben“ – er bleibt wieder stehen und seine Stimme wird sehr leise und sehr sanft – „überlegen Sie sich’s halt! Erlauben Sie mir, daß ich um Sie und Ihre lieben Eltern bleib’, damit Sie drei mich kennenlernen! Der Papa soll herumfragen nach mir und soll mich mit den Brillengläsern durch und durch schau’n. Vielleicht sieht er dann, wie ich’s mein’, und daß ich vielleicht doch nicht ganz und gar zu schlecht bin für seinen Schatz. Und Sie – – vielleicht – wenn Sie mich kennen – – und sehen dann – und – – also kurz und gut, ich möchte gebeten haben – – und also, bitte recht schön, erlauben Sie mir’s – bitte – thun Sie’s!“

Seine Stimme ist immer leiser geworden – ganz leise. Er wirft einen raschen Blick auf sie, wird rot und sieht schnell wieder fort und auf die Steine auf dem Weg.

„Wollen wir nicht weiter gehen?“ sagt sie endlich sanft. Und bleibt nach ein paar Schritten stehen, streckt ihm eine leicht zitternde Hand entgegen und lächelt ihn mit feuchten und dankbaren Augen an. „Ich will Ihnen sagen, was ich denke. – – Sie sind nicht stürmisch verliebt – nun – ich bin’s auch nicht! Aber ich – sehen Sie – ich hab’ mich immer vor dem Heiraten gefürchtet. Ich weiß schon, es muß sein, denn die Eltern erwarten’s als ihr einziges Glück. Aber wenn mich die Mama gefragt hat – zwei- oder dreimal ist’s doch schon vorgekommen – der und der läßt dich fragen, ob –? Glaubst du, daß du könntest? – – Sie müssen mich ja nicht für eine wählerische Prinzessin halten – aber – ich hab’ nie können! Ich bin nicht so dumm, auf die große Verliebtheit zu warten – aber ich – sehen Sie – ich hab’s halt zu Haus so gut. Ich hab’ mir nie ein Herz fassen können. Sie aber“ – Augen, Mund und das ganze, purpurrotgewordene Gesicht lächeln ihn an – „Sie sind ganz anders. Ich hab’ keine Angst vor Ihnen – ich trau’ Ihnen. Wenn Sie auch spöttisch sind und ein Weltmann – o ja, Sie sind einer – und wenn Sie auch immer sagen, daß Sie nicht sentimental sind – Sie sind doch ‚sentimental‘. Sie sind gut, Sie sind lieb, bei Ihnen wird’s nicht kalt sein. Sie“ – Augen und Gesicht strahlen ihn an – „Sie haben meine Eltern lieb – – ich kenn’ Sie jetzt schon – ich weiß schon, was Sie sind! Ich dank’ Ihnen für das, was Sie mir vorhin gesagt haben – und jetzt, nicht wahr, jetzt wollen wir’s ihnen sagen.“

Und sie wenden sich leise und gehen Hand in Hand durch den Wald – durch den grünen schweigenden Wald – den Eltern entgegen.


3.

Was die drei Freisingers gesagt haben, als sie endlich erfuhren, daß „ihr“ Weilheim „dieser“ Weilheim war, und daß die kleine Emma in aller Unschuld sich das große Los aus der geheimnisvollen Urne gefischt hatte? Nun, es waren, wie gesagt, närrische, altmodische Leute. Sie waren überdies selbst wohlhabend – die Kanzlei ging sehr schön, trotzdem Doktor Freisinger das Goldmachen nicht so recht verstand und zahlreiche arme Verwandte besaß – und hatten, was sie brauchten: nämlich eine verfeinerte, aber nicht überfeinerte Lebensweise. Sie waren also von der großen Neuigkeit nicht eben überwältigt. Aber, daß das Kind damals im Wald mit einem so ruhig freudigen Gesicht dahergekommen war, und daß der glänzende Weltmann das einfache junge Ding mit einer Art von zärtlichem Respekt behandelte – das war freilich eine andere Geschichte und ging den Alten noch ganz anders im Kopf herum als die Millionen des zukünftigen Herrn Schwiegersohns. Und doch war des Vaters erstes Wort gewesen: „Nur ruhig – und nur nichts überstürzen! Sich kennenlernen – sehen, ob man zu einander paßt – und dann weiter schau’n!“

Dabei war’s geblieben. Aber der gestrenge Papa sah, daß das Kind schon seine Meinung gefaßt hatte, und die lautete dahin, daß man sich kenne, und daß man zu einander passe. Und der Vater hielt das Kind für weise und hatte die Erfahrung gemacht, daß, wenn das Kind sagte: so ist’s – daß es dann auch richtig immer so gewesen war. Und darum hielt er selbst das „Kennenlernen“ und den Aufschub der eigentlichen Verlobung für eine bloße Formalität; und die drei anderen wußten, daß er es dafür hielt, und waren’s zufrieden. Und so gab’s denn damals auf dem Semmering vier Menschen von ganz eigentümlicher Gemütsverfassung: zwei alte, die den ganzen Tag

[120]

Salome tanzt vor Herodes
Scene aus Sudermanns Tragödie „Johannes“.
Nach der Aufführung im „Deutschen Theater“ zu Berlin gezeichnet von E. Thiel.

[121] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [122] wie in einem Taumel herumgingen und jeden Abend sich selbst und einander, fragten: „Ist’s denn möglich, daß g’rad’ wir mit und an dem Kind so viel Freude haben sollen?“ – – Und zwei junge, die sehr ruhig, sehr blühend, sehr vergnügt waren, äußerst verständig, gar nicht „übertrieben“, gar nicht „übermäßig verliebt“ – aber dafür von ganzem Herzen glücklich.


4.

Also „sich kennenlernen“ lautete die Parole. „Gut, lernen wir uns kennen!“, war die fröhliche Antwort der beiden gewesen. Das erste, was Paul in dieser Warte- und Probezeit that, war, seine Wohnung im „Hotel Bellevue“ mit einer im Gasthaus oben auf dem Semmering zu vertauschen. In seinen Augen war Emma seit jenem Waldgespräch seine verlobte Braut – und warum seinen Schatz auch nur einem Achselzucken aussetzen? So war er denn, zum Schmerz des ganzen Dienstpersonals, mit Sack und Pack übergesiedelt. Aber täglich um sechs Uhr morgens war er wieder da, zu Pferd, Wagen oder Rad herübergekommen. Natürlich war um diese frühe Stunde keine Aussicht, etwas von „seinen Leuten“ zu sehen. Da strich er denn ein wenig im Wald herum, sorgfältigst bemüht, sich nicht zu weit aus dem Umkreis des Hauses zu verlieren – denn man kann ja doch nicht wissen!? Punkt sieben Uhr aber ging er dem alten Herrn und dem Fräulein entgegen. Ein Händedruck, ein lustiges „Guten Morgen“ von beiden Seiten – und dann noch, was die zwei Augenpaare dazu sprachen.

Und nun das gemeinsame Frühstück auf der Terrasse – ein sehr gutes Frühstück mit viel Gelächter, eifrigster Konversation und sehr viel Sonnenschein in sechs Augen! Dann kommt die Mutter, und er begrüßt sie – nun, wie man eben die Mutter begrüßt. Natürlich sehen sich die nach und nach erscheinenden Sommerfrischler mit großen, weitaufgerissenen Augen das interessante Schauspiel an – einen Tag wie den andern, obgleich sie sich ja nachgerade daran gewöhnen könnten. Ebenso natürlicher Weise wird gelächelt und geflüstert, und der Papa ist unglücklich. Aber, mein Gott, man muß sich doch kennenlernen! Und nun ist der Waldspaziergang an der Reihe. Paarweise hintereinander natürlich. Die Alten sind meist einsilbig und ganz von dem Bestreben erfüllt, etwas von der Konversation da vorn zu erhaschen. Die Jungen aber sind total von ihrer Beschäftigung in Anspruch genommen: eins liefert nämlich dem andern eine ausführliche Lebensbeschreibung. Sie: unverkürzt, wie jemand, der nichts zu verbergen hat; er aber stockt an mancher Stelle, legt sanft seine Hand auf die ihrige und meint: „Das heben wir uns für später auf!“ Sie nickt ihm darauf mit ihrem guten Lächeln zu; als Großstadtkind hat sie ja ihre stillen Ahnungen, aber felsenfest steht ihr Vertrauen, er könne Unwürdiges niemals gethan haben! Im übrigen bleibt ihr Benehmen zurückhaltend. Der Papa will „das“ nicht, und so thun sie’s nicht – auch in der grünen stillen Waldeinsamkeit nicht. Nur die Hand giebt sie ihm manchmal, und die bekommt sie dann nicht gar zu bald zurück. Und manchmal machen sie kehrt und gehen den Eltern entgegen. Und Emma streicht der Mutter über die Wange und hängt sich an Papas Arm, und jedes von den vieren denkt dann still bei sich, daß das Leben wirklich keine schlechte Sache sei.

Zur Mittagszeit freilich ist große Trennung. Der Papa will nicht, daß er mit an ihrem Tisch sitzt – auch den Tisch nebenan soll er nicht bekommen – und da giebt’s keine Widerrede. Sein Appetit leidet nicht übermäßig unter der Trennung, aber drei-, viermal während der Mahlzeit macht er einen Abstecher auf das verbotene Territorium. „Das muß er doch schnell dem Herrn Doktor erzählen“ – „und weiß denn die gnädige Frau schon, daß –,“ und so weiter. Beim schwarzen Kaffee findet indes die Wiedervereinigung statt, und da erzählt man sich so viel, als ob man sich drei Wochen nicht gesehen hätte. Dann aber kommt ein bitterer Augenblick. Nach Tisch ziehen sich nämlich die Freisingers auf ihre Zimmer zurück, nehmen, selbstverständlich, ihr Kind mit sich und lassen jemand zurück, der sich sehr einsam und überflüssig vorkommt. Dieser jemand schlendert zweck- und heimatlos um das Hotel herum und umkreist lange vor Ablauf einer Stunde (so lange dauert die Siesta der alten Herrschaften) die Hausthür. Fensterpromenaden sind aufs strengste untersagt. Es nimmt ja aber bekanntlich alles ein Ende, und so ist denn schließlich das vierblätterige Kleeblatt wieder glücklich beisammen. Und so, im Gehen und Schlendern, im Horchen, Sprechen, Lachen und Schweigen vergehen die stillen, warmen Sommertage. Zu Nacht ißt man zusammen – der Papa ist ja kein Tyrann – und hat das Mittagsessen geschmeckt, so schmeckt das Abendbrot noch um sehr vieles besser. Und dann kommt der Abschied. Nach Hause geht er (jetzt ist nichts zu versäumen), und wenn der Abend schön warm oder schön kühl ist, oder wenn der Mond sehr hell scheint, oder wenn sich sonst ein Vorwand findet – und er findet sich immer – so geht man ein kleines Stück mit. Paarweise, natürlich! Gewöhnlich geht man weiter, als man ursprünglich wollte, schließlich heißt’s aber ernstlich: umkehren. Er verabschiedet sich von den Eltern so, als ob er sie längere Zeit nicht sehen sollte und als ob ihm das leid thäte. Sie führt er ein paar Schritte weiter, nimmt erst eine, dann die andere Hand, und schließlich küßt er die beiden Hände – langsam, sanft, er will ja den weichen Händchen nicht weh thun, aber zu verschiedenen Malen und ziemlich ausführlich. Und endlich ist er doch gegangen. Bevor er in der Biegung verschwindet, hat er sich noch ein halbes Dutzend Mal umgesehen, und immer sind die drei noch gestanden und haben gegrüßt. Er aber hat wohl nicht alle drei gesehen. – – –

Und so vergehen die Tage, still und warm, einer nach dem andern – und so lernen sie sich kennen.


5.

Pauls Urlaub ist bald zu Ende, und seine Probezeit ist es nun endlich ganz. Eines schönen Tages hat ihn Doktor Freisinger in sein Zimmer gebeten, die Damen waren auch da, und dort hat er ihm eine kleine Rede gehalten, zu der die glänzenden Augen von Mutter und Tochter die stumme, aber angenehme Begleitung bildeten.

„Ich kenn’ Sie jetzt so ziemlich,“ hat der alte Herr unter anderm gesagt, „soweit man eben sagen kann, man kennt einen andern. Vielleicht ist’s eine Dummheit und ein Leichtsinn, daß ich Ihnen, den ich ja eigentlich doch nicht kenn’, das Kind da geb’, das einzige, das ich hab’. Ich bau’ eben auf Ihre ehrlichen Augen, und darauf, daß sie ein Herz zu Ihnen gefaßt hat, und daß Sie an ihr hängen. Sie ist gar nicht besonders glänzend, das muß ich schon selber sagen, und eigentlich ein schüchternes Ding, das sich oft nicht traut, den Mund aufzumachen. Daß Sie doch so bald gemerkt haben, was in ihr steckt, das spricht in meinen Augen mehr für Sie als alle Ihre Millionen. Was die Millionen betrifft – nun, Sie wissen’s am besten, daß wir drei nicht danach gefischt haben. Ich hab’ immer gehofft, daß mein Kind keinen Hungerleider bekommen wird, an so was hab’ ich natürlich nicht gedacht. Nun es da ist, will ich nicht behaupten, es sei mir unangenehm. Brauchen thut meine Kleine so was nicht zum Glücklichsein und Glücklichmachen, aber es wird ihr nicht schlechter stehen als einer andern. Und nun, lieber Bursch’, da hast du sie! Sei gut zu ihr, mach’ ihr’s warm und gemütlich, sie ist’s so gewöhnt, und sie verdient’s! – Und daß du“ – nach einer kleinen Pause, mit nicht gerade glänzend gespielter Heiterkeit – „statt einer – zwei Schwiegermamas bekommst und nicht mehr los wirst, das darf dich nicht stören. Wir wollen dir nicht gar zu arg zur Last fallen, aber ein bissel muß es halt doch sein. Wir haben nur das Eine auf der Welt – und wir haben’s lieb!“

Und welche Rolle hat Paul, der Spötter und Weltmensch Paul, in diesem Familienstück gespielt? Er hat sich auf der Eltern Hände gestürzt, hat sie, trotz allen Sträubens, abwechselnd gestreichelt, gedrückt und geküßt, und dazu recht unzusammenhängende und ungeschickte Worte gestammelt.

Er wolle sie glücklich machen – die Eltern werden schon sehen – und tausend Dank – und sie sollen auch ihn liebgewinnen – er bitte schön darum – und nochmals Dank – tausend Dank!

„Und Schwiegermamas wie euch beide noch ein Dutzend – nie zu viel – das ist ja ein Extrageschenk – ich hab’ mich ja zuerst in die Eltern und dann erst in die Tochter verliebt.“

„Verliebt?“ ruft da jemand, der bisher geschwiegen hat und jetzt nicht weiß, ob er lachen oder weinen soll – „Verliebt? Du bist ja gar nicht verliebt!“

[123] „Nein! Aber nein! Nein! Keine Spur!“ schreit Paul, läßt die Eltern los, zieht oder reißt vielmehr diesen Jemand an sich – und zeigt ihm dann, unbekümmert um die Zeugen, auf eine höchst einfache, eindringliche und verständliche Weise, wie er – nicht verliebt ist.


6.

Der Oktober ist ins Land gezogen, und unser Brautpaar ist nun sturm- und wetterfest, hat die mannigfachen Stürme und Leiden dieses Standes durchgekostet und befindet sich merkwürdigerweise noch immer recht wohl und zufrieden. Die Geschichte hat sehr schön angefangen. Kaum hatte damals im kleinen Mariaschutzer Gaststübchen der Vater dem ungestümen Freier sein Kind zugesprochen, da hat sich der auch um weiter nichts gekümmert, hat die neugebackene Braut genommen und mit sich fortgezogen, ins Freie hinaus. Mama hat dem Vater abgewinkt (sie meint, wenn sie ihm das Kind fürs Leben anvertraut, warum nicht für eine Stunde?), und so waren sie denn allein. Er, Paul nämlich, hat weder Scheu noch Scham gekannt, hat den Arm um sie gelegt, und wer immer ihm in den Weg kam, den hat er angelacht.

„Meine Braut, Herr Westermayer!“ hat er dem vorbeikommenden Wirt zugerufen, hat aber die Gratulation nicht abgewartet, sondern ist weiter, immer weiter geeilt mit ihr, die ihm lachend, willenlos, tief errötend und wunderhübsch aussehend, gefolgt ist. Vorüber an den kaffeetrinkenden, zur Salzsäule erstarrenden Sommerfrischlern; vorüber an weißhaarigen Bauernkindern, die er anhält und mit kleinen Silbermünzen beschenkt – in den Wald, in seinen Verlobungswald hinein! Dort zieht er sie weiter, immer rascher, immer toller, und endlich kommt er ins laute, übermütige Singen, wie ein freiheitstoller Schuljunge – und sie lacht dazu, und lacht und lacht – denn sprechen hat sie nicht können. –

So weit, wie gesagt, ging alles schön und gut. Lang hat’s nicht gedauert, denn Paul mußte wieder ins langvernachlässigte Comptoir zurück. Da gab’s denn die erste Trennung. Sie waren sehr ruhig, sehr verständig und gefaßt und ließen den Kopf nicht hängen – aber ein sonderbares Gefühl war’s doch – ein sehr sonderbares Gefühl! Es handelte sich übrigens nur um acht Tage, und schließlich, wozu sind denn Feder, Tinte und Papier auf der Welt? … Nach acht Tagen sind auch die Freisingers in die Stadt zurück, und zwar unter der schützenden und sorgenden Begleitung Pauls, der eines schönen Tages vor der erstaunten Familie stand, weil er es nicht über sich gewinnen konnte, seine drei schutzlos und verlassen den Gefahren und Beschwerden einer Semmeringfahrt auszuliefern. Ob Emma unter solchen Umständen sehr viel von der Aussicht gehabt haben mag? …

Zu Hause hat eine große und feierliche Vorstellung stattgefunden. Da waren nämlich die drei Freisingerschen Dienstboten zu einer feierlichen Gruppe vereinigt, alte, erprobte Hausmöbel, die in dem Punkt „Bräutigam von der Fräul’n Emma“ durchaus keinen Spaß verstanden und nicht wenig darauf brannten, das neue Familienglied kennenzulernen. Die Prüfung war rigoros, aber Paul bestand mit Auszeichnung. Dann wurde er im Triumphe durch das ganze Haus geführt, trotzdem inzwischen die Suppe kalt zu werden drohte. Die Wohnung glänzte schon in ihrer vollen Winterschöne, sie glänzte überdies noch in echt Freisingerscher Sauberkeit, und der Eindruck, den sie auf das neue Familienmitglied machte, äußerte sich zunächst darin, daß er nichts sprach und seine Suppe vollends kalt werden ließ.

„Dummkopf!“ lautete sein stummes Selbstgespräch, „was willst du eigentlich mit deinem dummen Geld Leuten bieten, die so wohnen!“

Er hatte nicht ganz unrecht; die Wohnung war ein Schmuckkästchen und im Freundeskreis eine Art Berühmtheit. Sie war, wie die Freisingers selber waren: sie war schlicht und echt. Da gab’s keine Ueberflüssigkeiten und keine sogenannte malerische Unordnung, alles war vornehm und ungemein behaglich. Große, helle Räume (das Haus, auf der Schottenbastei gelegen, war noch ziemlich neu), gediegene, ein wenig unmoderne Möbel, prächtige Perser Teppiche, gar keine Nippsachen (auch in Emmas Zimmer nicht), schöne Stiche überall, hier und da ein gutes Oelbild, eine geschmackvolle Handarbeit aus Emmas kunstreichen Händen, eine Menge grüner Blattpflanzen, und alles am rechten Platze, daß man das Gefühl hatte, es könne gar nicht anders sein.

Nun, der verstimmte Bräutigam gewann in kurzer Zeit Sprache, Humor und Appetit wieder, und das Mahl verlief so, wie die Mariaschutzer Diners und Soupers alltäglich verlaufen waren – also nicht eben ungemütlich. Paul that dem sehr gelungenen, aus vier Gängen und Nachtisch bestehenden Mittagsmahl die größte Ehre an, ein Umstand, der Mama, Tochter und das aufwartende Mädchen mit Stolz und Freude erfüllte. Nach Tische machte er sich beim Auspacken sehr nützlich und wurde dann zur Belohnung in Emmas Wohnstübchen geführt. Sie hatte nämlich ihr großes Zimmer in Schlafraum und Boudoir abteilen lassen. Er bekam natürlich nur letzteres zu sehen, und es wurden ihm alle Schätze des herzgewinnend freundlichen Kabinettchens vorgeführt und erläutert: die Bücher, Bilder, Blumen, Sammlungen, und so weiter. Ihm dünkte alles sehr merkwürdig und interessant, am meisten freilich, nach wie vor, ihre blauen Augen und frischen Lippen. Und so verlief denn dieser Tag still, philiströs, aber auch, wie er sich selber sagte, ganz lächerlich glücklich.

Dank dem Umstand, daß der beiderseitige Freundes- und Verwandtenkreis noch auf dem Lande weilte, war ihnen noch eine Reihe so guter Tage, oder eigentlich Abende beschieden, die nur den Fehler großer Kürze hatten – ein Fehler, der bekanntlich allen guten Dingen anhaftet. Dazwischen wurde auch über „Ernstes“ gesprochen. Die Hochzeit war, nach vielen ernsten Beratungen, auf den zehnten Januar angesetzt worden. Paul hatte rebellieren wollen, war aber durch Vernunftgründe, und noch durch andere Gründe, die blaue Augen und streichelnde Hände hatten, beschwichtigt worden. Vor dem November wollte der Papa, der einen altmodischen Abscheu vor einem kurzen Brautstand hatte, absolut nichts vom Heiraten wissen; im November wieder konnte Paul nicht vom Geschäft fort. Eine Hochzeit im Dezember ging auch nicht gut, denn Paul hatte großartige Reisepläne, die sich weit über Weihnachten erstreckt haben würden, und am Weihnachtsabend nicht beisammen zu sein, das hätte den drei Freisingers das Herz gebrochen. Der zehnte Januar aber war Mamas Geburtstag und zugleich auch ihr Hochzeitstag, und dieser Umstand entschädigte Emma ein wenig für die Wartezeit, die auch ihr lang genug erschien. Paul aber, der seine ungeduldige Sehnsucht kaum mehr bezwingen konnte, fand die Zeit bis zum Januar nicht „lang“, sondern einfach endlos. Wohl hatte er in seinem Leben schon so viel genossen, so viel erlebt, Schönes, Interessantes, Lustiges, Sensationelles; nur Glück, das hatte er eigentlich seit den Kinderjahren nicht mehr gekostet, und auch damals war’s wohl nicht das rechte und eigentliche gewesen. Und nun war das seltene Ding auf einmal bei ihm und umfing ihn mit so warmen, weichen Armen, daß er eigentlich nicht das Herz hatte, zu rufen: „Weiter, weiter! Es soll noch besser kommen.“

Er wußte, daß er durch grüne, duftende Fluren in ein noch reicher blühendes Land schritt. Es zog ihn wie an Ketten hinüber, und hielt ihn doch wieder mit sanften, leisen Banden hier fest … Und so, in den kleinen Ereignissen und Freuden, die jeder neue Tag brachte, verging denn auch ihm diese schreckliche Wartezeit im Grunde recht leidlich.

Unterdes steckten die Damen tief in Ausstattungssorgen. Frau Doktor hatte als sorgsame Mutter schon manches schöne und gediegene Stück vorbereitet, aber die Verhältnisse waren gründlich andere geworden; wenn sich Emma vorläufig auch noch so sehr und mit einem gewissen Trotz als Bürgermädchen und Tochter des Mittelstandes aufspielte, es ließ sich einmal nicht ändern: sie kam in die hohe Finanz hinein und mußte dem Rechnung tragen. Und schließlich, den Bürgerstolz in allen Ehren, aber welche junge Evastochter hat ernstlich gegen alte Brüsseler Spitzen und die tausend feinen Zierlichkeiten einer eleganten Ausstattung etwas einzuwenden? …

Die erwachende Saison brachte denn endlich auch Wolken und Dornen in das sonnige kleine Königreich Brautstand. Die Verlobungsanzeige hatte sowohl in Pauls, als auch in Emmas [124] Kreisen mit der Gewalt eines Elementarereignisses gewirkt. Der Freisinger-Kreis – nicht sehr groß, zumeist Advokaten- und Professorenfamilien – beruhigte sich bald und formulierte sein Urteil dahin: „Ein Riesenglück – aber die Leute verdienen’s!“ Anders Pauls Welt. ’So manche sah sich in diesen Kreisen auf der Jagd nach dem Eheglück um die kostbarste Beute geprellt. Ein Hohngelächter erhob sich von allen Seiten: also darum hatte dieser Weilheim jahrelang gewählt und gemäkelt und sich nirgends binden wollen, um endlich in die Netze einer kleinen Spießbürgerin zu gehen? Hat sie ein Mensch denn überhaupt gesehen? Geht sie denn in die Welt? Hat sie Manieren? Versteht sie, sich anzuziehen? Wenn dann irgend ein männliches Mitglied der entrüsteten Gesellschaft einwandte, ja, er habe sie da oder dort gesehen, sie sei hübsch gewachsen, mache auch ganz gut Toilette, so wurde das mit Grimm und Spott aufgenommen. Paul, der sich im Geist das Schauspiel so ziemlich richtig ausgemalt hatte und nun seine frohesten Ahnungen bestätigt fand (er las die Bestätigung aus den mehr oder minder überströmend herzlichen Gratulationen, die ihm zu teil wurden), Paul also hatte seinen Hauptspaß an der ganzen Aufregung. Und mit größtem Behagen begann er dann, seine Braut den enttäuschten Familien vorzustellen, in deren Häusern er so vielfach verkehrt hatte. Stolz wie ein Kaiser trat er mit ihr in die Salons unter die spähenden, stechenden Augen. Und wenn er sie dann bei den hübschen, eleganten, schauspielernden Mädchen sitzen sah, von welchen jede eine für die Gesellschaft berechnete Rolle spielte – in Haltung und Kleidung so verfeinert wie jene, aber sonst wie aus einer andern, einer frischeren und reineren Welt stammend, da vergaß er Artigkeit und alles, blieb seinem Nachbar die Antwort schuldig, warf fortwährend prüfende Blicke nach der gewissen Richtung, und was er dazu dachte, das war eitel Selbstlob und Selbstberäucherung: „Aber, daß du dich die Jahre her nicht hast fangen lassen! Daß du doch ordentlich ausgewartet hast! So ein Verstand! So ein Riesenglück! Das hast du wirklich famos gemacht!“ – War dann die Vorstellung zu Ende und das Brautpaar auf der Treppe, da hielt er sie an, zeigte nach der Thür und fragte mit einem Paar Augen voller Uebermut: „Na, wie gefallen dir meine schönen Damen?“

„Wie gefallen sie denn dir, jetzt, wo du nicht mehr an sie gewöhnt bist?“ fragt sie zurück. (Sie nährt nämlich in schwachen Stunden eine kleine Eifersucht auf das, was sie „seine Leute“ nennt.) Statt aller Antwort sieht er sich eiligst um, holt sich, wenn kein Störer naht, rasch ein paar gute, frische Küsse von ihrem Mund, und meint dann mit einem zufriedenen Aufatmen: „So gefallen sie mir!“

Etwas ernster sind schon die Vorstellungsbesuche im beiderseitigen Verwandtenkreis. Wie so viele Menschen, waren sowohl die Freisingers als auch Paul mit einer Sorte von Verwandten begabt, die – nun, die man sich just nicht aussuchen würde, wenn man eben die Wahl hätte. Paul denkt von der Sippe seiner Kleinen: „Ist’s denn möglich, daß meine noblen Menschen zu diesen abgeschmackten Spießbürgern gehören?“ Die Freisingers wieder fragen sich immerfort, wie denn nur ihr lieber unverdorbener Paul zu der gespreizten hochmütigen Gesellschaft kommt. Es dauert nicht lange, so hat einer des anderen Gefühl entdeckt und – verziehen. Aber Besuche müssen doch gemacht werden, und das Brautpaar muß sich durch einen Berg von ihm zu Ehren veranstalteten Diners und Soupers durchessen. Ach, und es wär’ so gern zu Haus! Es hat sich immer so viel zu erzählen, es hat so viel zu lachen! Oder beide spielen vierhändig, oder sie singt ihm mit ihrem kleinen süßen wohlgeschulten Sopran ein Schubert-Lied, welchen Kunstgenuß er dankbarst in der unter Brautleuten üblichen Münze honoriert. O ja, zu Haus ist’s besser! Aber gut ist’s auch, wenn sie alle vier in einer Burgtheater- oder Opernloge sitzen, sie nur Aug’ und Ohr, mit glühenden Wangen. Manchmal, im Uebermaß des Entzückens, drückt sie ihm die Hand und schaut ihn, wie um Teilnahme flehend, an. Den Blick bekommt sie wohl mit Zinseszinsen zurück, aber viel Teilnahme ist nicht darin; er hat einfach nicht aufgepaßt. Kunstgenüsse hat er schon viele gehabt, aber das liebe Stückchen Natur an seiner Seite, das ist ihm noch so neu, das muß er ordentlich studieren. Zu Hause, am Theetisch, wird er erst ausgezankt und dann darüber getröstet. Da haben sie dann noch gute Zeit, bis zum letzten „Gute Nacht!“ Um all das bringen sie die lästigen Einladungen. Und doch hat auch so ein Gesellschaftsabend seine guten Seiten. Vor allem sieht sie in Abendtoilette wunderlieblich aus in ihren hellen Mädchenkleidern, mit seinen Rosen. Und haben sie einmal beide wie brave Kinder vor jedem Gast ein schönes Kompliment gemacht, dann setzen sie sich in irgend einen Winkel und lassen sich durch nichts und niemand stören.

So sind sie denn also mit sich, mit den Eltern, mit Gott und der Welt vollkommen zufrieden. So lachen sie über die Dornen ihres Brautstands und pflücken mit vollen Händen seine duftenden Rosen, stehen mit wohligbanger Sehnsucht vor der verschlossenen Thür der Zukunft, wie Kinder vor dem versperrten Weihnachtszimmer – und glauben in ihrer jungen Glückseligkeit fest und sicher, sie leben in der besten aller Welten!


7.

Es giebt noch eine kleine Wolke an Pauls Brautstandshimmel, und das sind die Brautgeschenke. Das geht nämlich so zu: Während der Wartezeit hat er ihr auch nicht eine Blume schenken dürfen. Da hat er ihr eben ohne Erlaubnis täglich ein Sträußchen Waldblumen gepflückt – so klein, daß der väterliche Tyrann wohl ein Auge zudrücken konnte. Kaum war dann das erlösende Wort gefallen: „Da hast du sie!“ – so ist er täglich eine Stunde früher aufgestanden, und das Resultat dieses „Liebesopfers“ (aber es war kein Opfer) war der herrlichste, größte Strauß der schönsten, eigenhändig gepflückten Alpenblumen. Dann stand jeden Nachmittag auf ihrem Tisch ein Strauß Rosen. Gleich in den ersten Tagen der offiziellen Brautschaft hat er sich einmal sehr früh von seinen dreien verabschiedet, unter irgend einem Vorwand, aber mit schmerzbewegtem Gesicht. Ist auch des andern Tags später als sonst erschienen und hat mitten im Wald seiner Kleinen die schönste sechsreihige Perlenschnur um den Hals gelegt – mit komisch wichtiger Feierlichkeit, der doch ein kleiner Beigeschmack von Befangenheit nicht fehlte. Darauf hat er ihre herabhängende Hand genommen und ihr einen Ring angesteckt – einen Ring mit einer Perle und einem Brillanten, an Material und Arbeit ein kleines Wunder. „Gefällt’s dir?“ hat er darauf fast scheu gefragt, „hast eine Freude daran?“ „Noch nicht,“ hat sie, die erst glühend rot und dann blaß geworden ist, ihm geantwortet. „Es ist zu schön. Aber über dich hab’ ich …“ und dann kam der stumme, aber ihn doch recht sehr befriedigende Dank. Ein paar Tage darauf stand auf Emmas Tisch ein Etui, Inhalt: ein wundervolles Armband, gleichfalls eine Verbindung von Perlen und Brillanten. „O bitte, schenk mir doch nicht so viel!“ hat sie leise gesagt und ihm nur scheu und verlegen gedankt. Wie aber die Sache eine Weile so fort ging, da hat sie sich einmal – es war schon in Wien – ein Herz gefaßt, hat ihn auf ihr Zimmer genommen und ihm eine kleine Standrede gehalten.

„Schau einmal, Schatz“, hat sie gesagt, „ich weiß schon, es macht dir Freude, gut und großmütig wie du bist“ – hier muß sie sich notwendig unterbrechen, um seine Stirn zu küssen – „und, nicht wahr, du glaubst mir doch, daß ich dir eine Freude gönn’?“ Sie wartet auf die Antwort, die prompt erfolgt und befriedigend ausfällt. „Aber diese Freude, liebster Mensch, schau, die kann ich dir nicht gönnen – noch nicht! – Sei einmal ganz still und laß mich ausreden“ – da er sie unterbrechen will – „du weißt ja, das Reden ist nicht meine starke Seite, und man bringt mich gleich aus dem Konzept. Sei schön still, ja?“ Und sie nimmt, ihn zu beschwichtigen, seine Hand und deckt sie mit ihren beiden Händen zu. „Also, hör’ an: deine Geschenke, die so großartig sind, so fürstlich und tausendmal zu schön für mich – die, siehst du, Schatz – aber sei nicht bös’! – die thun mir weh. – – O, ich weiß schon, ich weiß –“ nach einer Pause, denn sie hat ja gestraft werden müssen – „wenn ich mich schon von meiner hohen Position herablasse, dich armen Kerl von einem Krösus zu nehmen“ – wie die beiden lachen über den Witz! – „so muß ich mich auch entschließen, die traurigen Konsequenzen in Gestalt von Schmuck, Theaterlogen, Spazierfahrten und so weiter auf mich zu nehmen. – Nein, du, hör’ einmal“ – unterbricht sie sich selbst – „da ist gar nichts zu lachen! Reich sein ist gewiß was Prachtvolles, und ich bin die Letzte, die was dagegen einzuwenden hat – aber – mußt du denn gerad’

[125]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0125.jpg

Ein Löwensäugling,
Nach dem Leben gezeichnet von F. Specht.

[126] so schauderhaft viel Geld haben? Schau einmal, du lieber, guter, herziger Mensch“ – und da ist sie auch schon bei ihm und hat die Arme fest, fest um seinen Hals – „mir wär’s viel lieber anders! Du erdrückst mich ja, ich schäm’ mich ja vor dir! Ich bin nicht reich, nicht schön, nicht geistreich – was hast du denn an mir? Und dann kommst du noch und bombardierst mich mit diesen Sachen, die für eine Königin gut genug sind – ja, das ist ja, um sich zu verkriechen! Wenn du mich lieb hast, du mein Lieber, Guter und ich weiß, du hast mich lieb, so wie ich dich – sehr, sehr! – dann thust du mir das nicht mehr an. Blumen ja, so viel du willst, Bücher auch – aber Schmuck keinen mehr, gelt, vor Weihnachten! Und nicht mehr jeden Tag den Wagen und die Loge – nicht wahr, nein? Einmal in der Woche, wenn du so gut sein willst – aber nicht öfter! Und wenn du schon entschlossen bist, so ein einfaches Bürgermädel zu nehmen, dann mußt du dir’s auch bei uns Spießbürgern gefallen lassen! Mußt schön mit uns spazieren gehen (das schadet deinen langen Beinen nichts) – und weißt du“ – immer näher an seinem Ohr – „später werd’ ich mich schon entpuppen! Mich in der Loge breit machen, das Geld hinauswerfen, die große Dame spielen – die Kunst werd’ ich schon treffen, da sei nur ruhig! Vielleicht besser, als dir’s lieb ist. – Nein, nein, hab’ keine Angst, es war nur Spaß – gar so schlimm wird’s nicht werden! Nur alles thun und haben, was sich für die Frau Weilheim, Großhandlungschefs- und Großgrundbesitzersgattin – uff! – gehört. Dann halt’ ich still. Aber jetzt bin ich noch die Emma Freisinger, und die schämt sich, wenn du ihr mit solchem Glanz kommst, und braucht nichts auf der Welt als drei Menschen, und von den dreien – aber das ist schlecht von ihr – dich vielleicht am allermeisten. Ja, und dann noch, daß du ihr sagst, du bist nicht bös’ auf sie. Sag’ mir’s, Paul – Alter – Lieber, Herziger – sag’ mir’s! Bist du bös’ – hab’ ich dir weh gethan? Gelt nein, mein Schatz – mein guter, lieber – nicht wahr, nein?“ –

Und was hat er auf all das Drängen und Bitten geantwortet? Nun, nichts – nur angesehen hat er sie. Aber sie weiß nun doch, daß er nicht – daß er nicht im mindesten böse ist.


8.

Anfang November sind die kleinen Wolken alle verschwunden, und es steht dafür eine einzige, große, und zwar ziemlich schwarz und drohend, am Himmel: Emma ist krank, sie hat eine Rippenfellentzündung. Sehr ernst ist’s nicht, von einer wirklichen Gefahr ist nicht die Rede, aber es bleibt immer ein tüchtiger Anfall, und man muß achtgeben.

Ihre drei verlieren den Kopf nicht unh auch nicht den Humor. Man braucht sich ja, gottlob, nicht zu fürchten, es ist ja nicht sehr bös’; man muß eben nur achtgeben. Und das thun sie denn redlich. Emma zwar braucht etwas Zelt, um sich in die ihr ganz neue Rolle der Patientin einzuleben, und findet es einfach lächerlich, still zu liegen, sich wie eine Prinzessin bedienen zu lassen und fortwährend über ihr eigenes Befinden reden zu hören. Aber sie hat entschieden das Talent, sich verhätscheln zu lassen, und ganz still und heimlich darüber glücklich zu sein; so findet sie sich denn endlich auch in diese Lage und gewinnt ihr einige gute und sogar sehr gute Seiten ab. Wie gesagt, sie ist wohl behütet. Die Mama ist nur dann aus dem Krankenzimmer zu bringen, wenn der Papa, auf Emmas kategorische Aufforderung hin, eine Art Gewalt anwendet. Was diesen Papa betrifft, so schaut er aus seinem Bureau, das Wand an Wand mit den Wohnräumen liegt, jede Viertelstunde zu seiner Tochter hinüber und etabliert sich dann immer für ungefähr dreißig Minuten oder auch mehr an ihrem Bett. Man kann also nicht behaupten, daß er sich momentan im Geschäft überanstrengt. Was Paul betrifft – – – ach, der arme Paul! Der hat böse Zeiten! Der Papa kann lachen! Die Mama kann schmunzeln! Die sind drin bei ihr, können sie bedienen, anschauen, berühren. Aber er!! – Denn, um es kurz zu sagen: er ist verbannt, er darf nicht hinein – sie will’s nicht – sie schämt sich! – – – Er hat nicht rebelliert, sondern sich ganz still in sein Schicksal ergeben; er wird doch nichts gegen ihren Willen durchsetzen, wenn sie gerade krank zu Bette liegt! So steht er denn also an der angelehnten Thür (so ziemlich den ganzen Tag), horcht auf ihre Stimme und weist dann doch diese ersehnte Stimme, wenn sie sich erhebt, mit großer Strenge zur Ruhe. Es ist ihm überhaupt nichts recht, was da drin im Zimmer geschieht; er behorcht natürlich alles und hat an allem zu nörgeln: sie spricht und lacht ihm zu viel und ißt ihm zu wenig; die Mama läßt ihr alles durchgehen; der Papa ermuntert sie noch, Dummheiten zu machen. Zur Belohnung wird der Moralprediger von allen dreien ordentlich ausgelacht.

Um ihm den Mund zu stopfen, schreibt sie ihm jede Stunde einen Zettel, manchmal auch zwei. Nach der Lektüre glänzen seine Augen so hell, als ob er sie schon wieder im Arm hätte, und lustig auflachend, setzt er sich hin und schreibt seine Antwort. Wenn’s niemand sieht, nimmt er ihre Zettelchen wieder hervor, besieht und betastet sie von allen Seiten und verwahrt sie dann voll Ernst und Andacht in der Brieftasche. Sie ist schon kecker und geniert sich gar nicht, seine Briefe eventuell auch vor den Eltern an die Lippen zu drücken. Diese sind nicht eifersüchtig und haben auch keinen Grund dazu. Das Herz ihres Kindes ist so eigentümlich organisiert, daß seine Leistungsfähigkeit zügleich mit den ihm gestellten Anforderungen wächst. Es hat für alle drei Platz und reichlich Platz. Das fühlen die alten Leute, und ihre überströmende Dankbarkeit ergießt sich naturgemäß über das neue Kind, über den Sohn. Der wieder lernt seine „Schwiegermamas“ jeden Tag mehr als „ein Extrageschenk“ kennen und schätzen. Und so überstehen die vier in treuer Gemeinschaft die Sorgentage mit frischem Mut.

Und endlich erbarmt sich Emma ihres armen Verbannten, macht eine große Kraftanstrengung, verliert die letzten unangenehmen Symptome und ist nach vierzehn Tagen so weit, ihrem künftigen Gebieter die erste Audienz zu ertheilen. Es ist nach allen Ereignissen des Morgens – Frühstück, Besuch des Doktors, die Toilette, die ersten Gehversuche – doch beinahe Mittag geworden, ehe sie, in einem weißen Morgenkleid, auf der Chaiselongue in ihrem blumengefüllten Wohnzimmer ausgestreckt, zum Empfang bereit ist. Sie liegt mitten im Sonnenschein, blaß, etwas abgemagert, mit großen, erwartungsvollen Augen. Zwei dicke Zöpfe fallen ihr über die Schultern und machen die Illusion, man habe ein sechzehnjähriges Kind vor sich, ganz und gar täuschend. Aber ein Kind, das wie ein bewegtes, sehnsüchtiges Weib dreinsieht und das jetzt, da es einen bekannten, eiligen Schritt hört, die Farbe wechselt und zu zittern beginnt. Und nun ist er auch schon im Zimmer. Ist mit einem Schritt bei der Chaiselongue, läßt sich auf die Kniee gleiten, schlingt sehr sanft zwei starke Arme um sie – und legt den Kopf auf ihre Hand. Gesprochen wird dabei nichts. Wie’s ihr dann doch zu lange dauert, hebt sie leise diesen Kopf auf, deckt ihm mit beiden Händen die Augen zu (zwar, die Eltern sehen nichts, die haben sich abgewendet und schauen eifrig durchs Fenster) und sagt, ganz leise, mit einer mütterlich beschwichtigenden Stimme, ein paar gute, unzusammenhängende Worte. Und da kommt auch wieder Leben in seine Gestalt. Er richtet sich auf, setzt sich, ohne zu fragen, auf die Chaiselongue, nimmt sie wie ein kleines Kind in die Arme, nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände, schaut sie an, als ob er sie zehn Jahre nicht gesehen hätte – und fängt plötzlich an, leise zu lachen, begräbt diesen blonden Kopf in seinen Armen, wiegt ihn zwei-, dreimal hin und her – und dann geht ein Ungewitter von Liebkosungen und närrischen, abgebrochenen Worten auf sie nieder, daß es ihr den Atem nimmt und sie nichts thun kann als das Haupt neigen, die Augen schließen, stillhalten – und selig sein.


9.

Diesem stürmischen Ereignis folgen drei sehr stille Tage. Während dieser Zeit befindet sich Emma so gut, daß sie die Erlaubnis bekommen hat, ihren Bräutigam so ziemlich den ganzen Tag um sich zu haben. Er liest ihr vor, er ergeht sich mit ihr in Mariaschutzer Erinnerungen, er entwirft mit ihrer Hilfe eine Tageseinteilung für „später“, die in der nächsten halben Stunde umgestoßen wird; er bringt ihr die Pläne zur „Villa Emma“, die er im Cottageviertel bauen läßt, über welche sich endlose Diskussionen entspinnen. Er überwacht ferner mit lobenswertem Eifer ihre Mahlzeiten, sorgt dafür, daß sie nichts stehen läßt, und wird zum Dank für seine Mühe von ihr mit Aepfelkompott [127] und Biskuit gefüttert. Das dauert wie gesagt drei Tage – drei sehr gute Tage – und dann kommt ganz plötzlich, ohne irgend eine auffindbare Ursache, ein Rückfall. Oder eigentlich, einen Rückfall kann man’s nicht nennen; es hat ein total anderes Gesicht als jene erste Entzündung, es tritt ganz anders auf – es ist, wie wenn ein Orkan über einen jungen, starken Baum dahinfährt. Die Eltern in ihrer treuen Liebe nehmen still und zuversichtlich den neuen Kampf auf und wehren mit starken Armen Dem, der hereinsieht, den Einlaß. Die Aerzte, die berühmtesten Wiens, kommen jede Stunde, thun, was sich eben thun läßt, schauen sich die Familie an, wollen reden – und bringen nichts über die Lippen. Und Paul? – – –

Paul sitzt jetzt, wie er’s früher so heiß gewünscht hat, drin bei ihr, denn daß er nicht hinein soll, davon ist mit einem Male nicht mehr die Rede. Er hat ihre heiße Hand und läßt sie den ganzen Tag nicht los. Wenn sie ihn in lichten Augenblicken ansieht, so lächelt er ihr zu. Wenn die Eltern ihm über das Haaaar streichen, ihn bitten, so sanft, als wenn er ein krankes Kind wäre, sich doch drin im anderen Zimmer ein wenig aufs Sofa zu strecken, so küßt er ihre Hände und lächelt ihnen zu. Sonst aber sitzt er, ihre Hand in der seinen und manchmal an seiner Wange, und schaut immer auf das Gesicht in den weißen Kissen, das ihm jede Stunde etwas kleiner erscheint. Oder er sieht mit großen, staunenden Augen auf die Eltern, die so ruhig und geschäftig um das Krankenbett schalten, und wenn die Aerzte da sind, wirft er auf sie scheue Blicke, die gleich wieder, wie schuldbewußt, den Boden suchen. So sitzt er stundenlang, ohne zu sprechen, ohne sich zu rühren, und all sein Leben hat er in seinen Augen.

Er glaubt, er träumt. Er glaubt, es ist nicht möglich, daß man vor zwei Tagen noch ein glücklicher Mensch war und daß sich auf einmal eine Spalte im Boden geöffnet hat, durch die man in einen Abgrund sieht. Er glaubt’s nicht. Er will nicht. Er kann nicht. Nein – nein – nein!

Und dann schaut er wieder auf das Gesicht da in den Kissen, das kleine, wächserne mit den geschlossenen Augen. Und er greift sich an die Brust und ringt nach Luft.


10.

Der Diener hat ihn ins Sprechzimmer des Doktors geführt, hat ihm Fauteuil und Zeitung zurecht gerückt und gebeten, sich nur ein paar Minuten zu gedulden; der Herr Hofrat sei eben erst aus der Klinik gekommen. Dann hat er geräuschlos das Zimmer verlassen. Paul, noch atemlos, bleibt stehen, stützt sich auf den Tisch und schaut mit schwarzumrandeten Augen nach der Thüre.

Draußen – nichts – kein Laut. Es ist so still im Zimmer, so still. Nur die Wanduhr tickt. Ihm wird auf einmal leicht und friedlich. Wird denn die Thür dort aufgehen? Wird der Mann dastehen und ihm antworten? Ihm Gewißheit geben – so oder – so? Er kann sich’s nicht vorstellen. Es ist so still, so heimlich, so warm im Zimmer – so ruhig – so gut! – – –

Ah – aber jetzt – jetzt kommt’s! Er steht und horcht mit geballten Fäusten. Nein – nichts – es geht vorüber. Ein zitternder Atemzug hebt seine Brust: Gott sei Dank! – Aber die Luft in dem Zimmer – so schwül, so schwer – man kann nicht atmen. Und ein Lärm – von dieser Uhr – und sein Kopf – dieses Sausen und Hämmern – man meint, er zerspringt! – –

Warten – er hat nie gut warten können. Sie hat sich oft darüber gekränkt. Aber jetzt – jetzt meint er, er könnt’ noch lang’ – noch lang’ so stehen. So dumm! So albern! Ob jetzt oder in fünf Minuten oder in zehn – kommen wird er! Dastehen wird er! Und ob jetzt etwas früher oder später – das ist ja so einerlei – da’s ja doch sein muß – und – ach, und die Hitze! Nicht zum Ertragen! – – – –

So ein Elend! So eine Folter! Man meint, man wird ein Narr! Das bissel Glück – das muß man ordentlich bezahlen. Ja – gut war’s! Süß war’s! Lieb und gut und süß! – Aber jetzt – so dastehen und zappeln – nein! Das ist zu viel! Dann lieber kein Glück kosten! Dann lieber gar nicht leben.

Aber – täuscht er sich nicht am Ende? Muß es – muß es denn g’rad’ schlecht – es könnt’ ja doch – es ist ja vielleicht doch nicht unmöglich – o, Herrgott! Herrgott!

Und bei dem bloßen Gedanken geht ihm glühheiß ein Strom von Glück und Leben durchs Herz.

Da, ein Geräusch – er sieht auf – und der Hofrat steht mitten im Zimmer. Paul will hin zu ihm – und kommt nicht vom Fleck. Er macht eine krampfhafte Anstrengung, zu sprechen – und bekommt ein heftiges Zittern. Und der Hofrat läßt ihn niedersitzen, giebt ihm zu trinken, netzt ihm die Schläfen. Und schließlich kann er doch wieder reden. – 00000000000000000000

Eine Stunde später tastet sich ein Mann mühsam und schwerfällig die Treppe zur Freisingerschen Wohnung hinauf.

Der Mann ist Paul Weilheim.


11.

Das Mädchen, das ihm draußen im Vorsaal Hut und Rock abnimmt, hat ihn erst nicht erkannt. Dann hat sie berichtet, das Fräulein sei wach und habe nach ihm gefragt. Jetzt ist er drin (man hat sie in das Schlafzimmer der Eltern gebettet, weil’s so groß und luftig ist) und kniet vor dem Bett. Eine grün verhängte Lampe brennt mit schwachem Schein – und so ist den Alten nichts an ihm aufgefallen.

„Zu thun gehabt?“ fragt sie nach der Begrüßungspause, und weil ihm die Stimme noch nicht gehorcht, so nickt er nur. „So blaß,“ meint sie mitleidig und streicht ihm mütterlich über die Wange. „Du mußt heute gut ausschlafen. Mir geht’s ja besser.“ Statt aller Antwort schmiegt er ihren Kopf noch etwas enger an seine Schulter. Sie ist’s zufrieden und ein paar Augenblicke lang herrscht tiefes Schweigen um die zwei.

Da richtet sie sich auf und sucht mit den Augen: „Wo sind …“ Er zeigt ihr, daß die Eltern in einer entfernten Ecke des sehr großen Zimmers sitzen – sie gönnen ihnen auch jetzt noch das Plauderstündchen. Sie legt sich wieder zurecht und – „Paul!“ klingt es wie ein Hauch an sein Ohr.

„Ja, Kind!“ sagt er, denn jetzt geht’s wieder mit dem Sprechen, und beugt sich tiefer, damit sie’s bequem hat.

„Paul – früher – wie ich aufgewacht bin – du warst fort – und die Eltern sind da gesessen – ganz allein – – da ist mir’s eingefallen – Paul, bitte – nicht wahr – du bleibst bei ihnen – – – immer – und bist gut zu ihnen – immer – nicht wahr – immer?“

„Ja,“ kommt seine Antwort wie aus weiter Ferne.

„Und, Liebster, Goldener“ – er fühlt seinen Kopf, von schwachen Händen herabgezogen und ihre Wange an seiner – „sei doch nicht so traurig. Ich war ja so glücklich. So riesig glücklich! Und“ – immer leiser – „ich hab’ dich ja so unendlich lieb – du weißt gar nicht – wie lieb. – Ich hab’ mich nie getraut – es zu zeigen – du hast gewiß oft gedacht – sie läßt sich nur lieben. Aber halbe Nächte hab’ ich wach gelegen – und hab’ mir jedes Wort – jeden Blick zurückgerufen – auch ganz gleichgültige Sachen – und war so froh. – Und noch jetzt – wenn ich denk’, wie du bist – so lieb – so gut – – noch jetzt – bin ich glücklich. Und tausend Dank für alles! Es war ja doch der Mühe wert. – Nicht wahr, Herz – nicht wahr?“

„Was sprichst du denn da?“ sagt er mit einer Stimme, die ihm völlig fremd aus der Kehle kommt – und dabei tanzen schwarze Schatten vor seinen Augen und auf seiner Stirn stehen die kalten Tropfen. „Was sprichst du denn da? Du bleibst ja doch bei mir!“

„Vielleicht – ich weiß nicht,“ meint sie und sieht mit einem hilflos traurigen Blick vor sich hin.

Und er – er kann ihr nichts mehr sagen. Er findet kein Wort mehr für sie, keine barmherzige Lüge, nicht einmal ein Lächeln. Er faßt sie nur fester noch in seine Arme, und dabei so sanft, wie eine Mutter ihr krankes Kind; beugt sich über sie, ganz tief, daß Wange an Wange ruht, schließt die Augen und sucht mit den Lippen ihre kalte Stirne. So bleiben sie – lang’ – lange Zeit – sind ganz still – und haben sich doch verstanden.


12.

Ein stilles, verhängtes, nach scharfen Essenzen duftendes Zimmer. Ein weißes Bett mit einem blassen, schlummernden [128] Kind. An dem Bett drei blasse Menschen, die nicht sprechen, die sich nicht rühren und die nur immer auf das Kind schauen.

Manchmal wacht sie auf. Sprechen kann sie nicht; aber ihre Augen sind noch voller Liebe. Sie schaut jedes von den dreien der Reihe nach an und sagt jedem etwas Gutes mit den Augen. Und sie knieen um das Bett, beugen sich über sie, flüstern ihr zu und jedes nimmt, was es g’rad’ bekommt – eine Hand – eine Flechte – ein Stückchen Decke. Und dann schläft sie wieder ein.

Paul steht dann wohl leise auf und geht zu den Alten. Er neigt sich über sie, streicht ihnen über das Haar, bringt ihnen weiche Kissen. Manchmal führt er sie ins andere Zimmer. Viel sprechen kann er nicht – aber er bittet, sie möchten sich ein wenig hinlegen; er bleibt bei ihnen, bis sie eingeschlummert sind. Dann geht er wieder hinein zu ihr, ganz leise und ganz schnell. Kniet vor dem Bett nieder. Beugt den Kopf vor und schaut auf das Kind, preßt die Hände zusammen – kniet und wartet – schaut unermüdlich, unverwandt – auf sein blasses, liebes Kind! …


13.

So viele Menschen waren heute in der Wohnung – Massen, Massen schwarzgekleideter Menschen – aber jetzt ist alles leer. Und still ist’s – grabesstill. Draußen in der Küche sitzen die Leute beisammen, blaß, verwacht, rotäugig, und wagen kaum zu flüstern. Die Zimmerflucht ist hell erleuchtet, alle Thüren offen – aber kein Mensch zu sehen. Nur das letzte Zimmer in der Front – das Schlafzimmer – ist dunkel – und dort sitzen die drei.

Von der Straße fällt Laternenschein in das große Gemach – die Umrisse der drei Gestalten sind gerade erkennbar. Sie sitzen alle um ein Bett – ein ganz leeres Bett, das man seiner Decken und Kissen beraubt hat.

Zusammengekauert sitzen sie und starren in die Dunkelheit. Sie weinen nicht – sie haben’s wohl verlernt – sie sprechen nicht, ja, augenblicklich leiden sie vielleicht gar nicht. Sie sind müde und gebrochen. Sie ruhen vielleicht aus.

Ihr werdet wieder weinen können, glaubt’s nur, ihr armen Eltern! Und dann werdet ihr in dem Gedanken, der jetzt brennende Qual ist – in dem Gedanken an sie – nicht etwa Trost finden, sondern einfach euren Lebensinhalt. Dann wird’s euch einfallen, wie sie war – von klein auf – und wie ihr drei miteinander gelebt habt. Dann werdet ihr wissen, daß sie nicht umsonst da war – daß sie Freude genommen und gegeben hat mit vollen Händen; daß sie Sonne war – nicht nur euch – sondern allen, die sie sahen; daß sie’s immer gut, immer warm gehabt hat – und zuletzt das reichste Jungfrauenglück. Und dann werdet ihr weinen – so reine, lindernde Thränen! – und werdet euch sagen: „Was wollen wir denn? Sie war ja glücklich – und den Schmerz – den haben ja nur wir!“

Und du – armer Betrogener, der das Glück nur hat kosten dürfen und dann wieder hinaus mußte, wo’s kalt ist und einsam – du wirst auch wieder leben lernen. Das Leben ist stark und nimmt dich mit und fragt nicht, ob du willst. Du wirst nicht kalt, nicht hart und bitter werden. Einsam wirst du nun sein – wie du’s warst. Und weil du das Glück gekannt hast, so wirst du’s wieder suchen. Aber oft – oft wirst du an sie denken – an sie – an die Junge, die Blonde, die Fröhliche – an die Tote – – und dann wirst du, reicher Mann, sehr arm sein.

Jetzt steht er auf – langsam, schwerfällig – und tastet sich zu den Eltern hin. Tritt zwischen sie, kniet nieder und nimmt ihre Hände.

„Ihr müßt euch jetzt mit einem Kind begnügen,“ sagt er, sehr leise, sehr mühsam. Antwort bekommt er nicht; aber seine Hände fühlen einen schwachen Druck. Dann nach einer Weile: „Sie hat mich einmal gebeten, ich soll bei euch bleiben. Sie hätt’ nicht zu bitten brauchen. Aber ich – ich möcht’ jetzt euch bitten – daß ihr mich – – – nur ein wenig – – denn sonst weiß ich nicht, wie ich’s aushalt’.“

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Es ist still im Zimmer – totenstill. Sie sitzen und starren ins Dunkel. Aber sie sitzen jetzt eng, ganz eng bei einander, umschlingen sich und halten sich an den Händen.

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BLÄTTER UND BLÜTEN


Christenschulen in China. (Zu dem Bilde S. 129.) Mit dem Schulwesen ist es in dem großen „Reiche der Mitte“ heute noch gar übel bestellt. Staatsschulen giebt es nur wenige, der Staat kümmert sich auch kaum um die Erziehung der Kinder, und der ganze Unterricht liegt in den Händen von Privatlehrern, welche von den verschiedenen Gemeinden, von Zünften, Familiengruppen oder einzelnen Familien für kärglichen Lohn, zwei- bis fünfhundert Mark im Jahre, angeworben werden. In dieser Beschränkung freilich besitzen in China auch kleine Dörfer ihre Schulen, und es ist sehr anerkennenswert, daß es sogar die ärmsten Familien für ihre Pflicht erachten, ihre Söhne notdürftig lesen und schreiben und die Grundlehren des Konfucius lernen zu lassen. Solche Schulen hat es in China schon vor Jahrtausenden gegeben, als in den weiten Urwäldern unseres hochcivilisierten Mittel-Europa noch wilde Völkerstämme umherschweiften und es noch gar keine Staatswesen gab. Aber die chinesischen Schulen sind auf dem damaligen Standpunkte zurück geblieben und wie vor Christi Geburt, so besteht die Schulerziehung der chinesischen Jugend heute noch im Auswendiglernen der ihnen großenteils unverständlichen Lehren der alten Klassiker ihres Volkes.

Für sie giebt es keine Kindergärten, Abc-Hefte, Bilderbücher, in welchen sie durch Anschauung die Bedeutung der einzelnen Wörter kennenlernen; es giebt auch keine Sonntage, Schulferien, Prüfungen und Prämien; man versucht nicht, den Kindern den Schulbesuch leicht und angenehm zu machen, mit Gesang, Turnübungen und Spielen abzuwechseln und ihnen, ihrer Jugend entsprechend, die erforderlichen Kenntnisse „spielend“ beizubringen. Die bezopften und bebrillten Herren Schullehrer beginnen etwa in derselben Weise, als wollten wir unseren Hänschen und Gretchen, die zum erstenmal in ihrem Leben in die Schule geführt werden, gleich einen Klassiker in griechischer Sprache in die Hand geben und ihnen die Aussprache jedes einzelnen Wortes, Satz für Satz, Seite für Seite, das ganze dicke Buch von Anfang bis zu Ende beibringen, ohne ihnen aber die Bedeutung der Buchstaben oder der Wörter zu erklären. Erst wenn sie das ganze Buch auswendig gelernt haben, folgt die Erklärung des tiefen, dem kindlichen Gemüte unverständlichen Sinnes. Die Sprache der aus früheren Jahrtausenden unverändert bis auf den heutigen Tag erhaltenen Lehrbücher ist ja eine ganz andere als jene, welche die chinesischen Hänschen und Gretchen in ihrem Vaterhause zu hören bekommen; dazu hat die chinesische Schrift keine Buchstaben; jedes Ding, jeder Begriff hat sein eigenes hieroglyphisches Zeichen, weniger anschaulich und desbalb unverständlicher, als es die ägyptischen Hieroglyphen sind, und derartiger Zeichen giebt es in dem ersten Lehrbuche der chinesischen Schuljugend tausend! Die ganze Sprache aber enthält deren weit über vierzigtausend. Unsere liebe Jugend sollte sich deshalb beglückwünschen, daß sie nicht in dem „Reiche der Mitte“ das Licht der Welt erblickt hat, und daß ihr das Lernen in unseren Schulen so bequem und anschaulich gemacht wird. Die chinesischen Schulen haben auch keine Klasseneinteilung. Jeder einzelne Schüler ist sozusagen eine Klasse für sich. Hat er eine Seite des unverständlichen Lehrbuches auswendig gelernt, so tritt er vor den Lehrer, dreht sich mit dem Rücken gegen ihn und sagt seine Lektion her; je leichter er lernt, desto schneller wird er mit der Schule fertig. Das Lernen geschieht dabei laut; die kleinen Jungen sitzen auf ihren Bänken, wackeln mit dem Kopf, schlenkern die Hände, stampfen mit den Beinchen und schreien dabei ihre Lektion herunter, je lauter desto besser. Unsere Schuljugend ist gewöhnlich in der Schule recht still und brav, und erst wenn die Schulstunde zu Ende ist, geht der Heidenlärm los. Bei den Chinesen ist es, wie man sieht, umgekehrt. Das Geschrei ist erst zu Ende, wenn die Schule aus ist. Dann gehen die Schüler sittsam und ernst, müde von ihrem Lernen, nach Hause und benehmen sich dabei viel verständiger, als es bei unserer jungen Welt hier und da der Fall zu sein pflegt.

Noch schlimmer als mit den chinesischen Jungen ist es mit den kleinen Mädchen bestellt, denn sie erhalten gar keinen Unterricht. Die holde Weiblichkeit spielt ja bei den Chinesen eine ganz andere, viel weniger bedeutende Rolle als bei uns, wie ich es in der „Gartenlaube“ (siehe Halbheft 18 des Jahrgangs 1896) schon geschildert habe. Nur in den wohlhabenderen Ständen lernen die kleinen Mädchen ganz notdürftig lesen und schreiben, so daß sie vielleicht imstande sind, wenn erwachsen, die einfachsten Briefe und Geschichtenbücher zu entziffern. Erst seit die Europäer nach China gekommen sind und in den ihnen offenen Hafenstädten Ansiedlungen gegründet und Schulen für ihre eigenen Knaben und Mädchen eingerichtet haben, sehen die in diesen Hafenstädten wohnenden Chinesen ein, wie gut es ist, auch ihren Töchtern eine Schulerziehung zu geben. Die Engländer haben dementsprechend in ihrer Kolonie Hongkong im südlichen China Schulen für chinesische Mädchen errichtet, auch in Shanghai und anderen Städten giebt es jetzt schon

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Eine christliche Mädchenschule in Hongkong.
Nach einer photographischen Aufnahme.

[130] solche. Am meisten haben aber für den chinesischen Mädchenunterricht die zahlreichen christlichen Missionäre beigetragen; mit einer großen Zahl von Missionen in den Hafenstädten wie auch im Inlande sind welche Mädchenschulen verbunden, und verständige Eltern senden ihre kleinen Töchter sehr gern in diese Christenschulen, wo sie an Stelle des Konfucius die Elemente unseres modernen Wissens kennenlernen.

Unser Bild zeigt eine solche Schule. Freilich sind die putzigen kleinen Mädchen noch ganz chinesisch gekleidet, aber an den Wänden hängen Landkarten mit den einzelnen Staaten, den Meeren, Gebirgen und Flüssen der Erde, von denen selbst erwachsene Chinesen in hohen Staatsstellungen häufig gar keinen Begriff haben. Die Schülerinnen lernen neben ihrer Sprache auch die englische lesen und schreiben, dazu Geschichte, Rechnen, allerhand Handarbeiten, und was das Wichtigste ist, sie lernen die Lehren unserer christlichen Religion, und wenn sie erwachsen sind, verbreiten sie diese in ihrem Familienkreise und wirken so selbst als Missionäre, nicht nur als Missionäre des christlichen Glaubens, sondern auch des allgemeinen Wissens und der europäischen Kultur. Während ihnen als kleinen Mädchen die Füßchen durch Einschnüren der Zehen so verkrüppelt werden, daß sie gar nicht gehen können und von Sklavinnen nach und aus der Schule getragen werden müssen, erfahren sie von ihren christlichen Lehrern, wie unsinnig und zwecklos diese Fußverkrüppelung ist; sie lernen körperlich auf eigenen Füßen stehen, durch den Unterricht, den sie genießen, auch geistig, und werden so zu nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft herangezogen. Freilich giebt es in dem großen Reiche fünfzig bis sechzig Millionen kleiner Mädchen, und vielleicht nur hundert Schulen; aber in ihnen wird der Same gesät, der mit der Zeit doch köstliche Früchte tragen und die chinesische Frauenwelt aus ihrer unwürdigen Stellung befreien wird.

Hoffen wir, daß in dem unserm deutschen Einfluß nunmehr eröffneten Gebiete deutsche Schulen erstehen und in altbewährter Weise für Bildung und Aufklärung wirken werden. Ernst v. Hesse-Wartegg.     


Rettung Schiffbrüchiger.
Nach dem Gemälde von F. Tattegrain.

Rettung von Schiffbrüchigen. (Zu dem obenstehenden Bilde.) Die graugelben Wogen jagen gegen den Strand und der wilde Nordwest fegt die Gischtspritzer über die Thäler. – Es war schon lange unsichtige Luft; der Vormann der Rettungsstation hat bereits stundenlang nach der nur schwach erkennbaren Yawl (Kutter) ausgesehen, die draußen an den Riffen entlang segelt. Entweder haben die Leute lange keine Sonne gehabt, um ihre Position ausmachen zu können, oder der Schiffer hat den um diese Jahreszeit hier längs der Küste laufenden Strom nicht gekannt, sonst wären sie unmöglich so nahe an die Riffe herangekommen. – Gespannt verfolgt der Vormann, häufig den grauen Kopf schüttelnd, die gewaltigen Anstrengungen des Fahrzeugs, das sich durch Segelpressung von der gefährlichen Küste freiarbeiten will. Ob es ihnen gelingen wird? Er bezweifelt es, und das Rettungsboot liegt klar zum Ablauf in die Brandung. Und früher, als er es noch gedacht hat, sieht er, wie das kämpfende Fahrzeug sich hebt und dann, sich umlegend, hinter den hohen Wellenkämmen verschwindet. Zweifellos hat eine Grundsee es gepackt und aufs Riff geschmettert. Man bildet sich ordentlich ein, den Krach zu hören, obwohl dies bei dem Heulen und Brausen von Wind und See und bei der großen Entfernung ganz ausgeschlossen ist.

Ja, jetzt ist es mit dem Warten vorbei! Das Leben aller der braven Männer, die, mit den Korkgürteln um den Leib, ernsthaften, stillen Angesichts, neben dem abzulassenden Boote stehen, muß an den Versuch zur Rettung der unbekannten Brüder da draußen gewagt werden. Das ist ihr Beruf, ihre Pflicht und ihr Wille.

Und nun geht’s unter dem stummen, angstvollen Zuschauen der herbeigeeilten Angehörigen in die tobende Brandung hinein. Gott sei Dank, die Abfahrt gelingt glatt! Die dicht gerefften Segel sind vorgeholt; und von der alten, aber noch krisenfesten Hand des Vormannes gesteuert, kreuzt das Rettungsboot, von den Seen überspült, gegen den Nordweststurm, in die Richtung der Riffe hinaus. Immerhin steht zwischen Land und Riff nicht so schlimme See als draußen, und so kommt man vorwärts, wenn es auch Stunden dauert. Endlich wird die Stelle erreicht, wo die Katastrophe beobachtet wurde. Wahre Berge von Schaum donnern über diese Stelle, und dann und wann sieht man aus dem wegsinkenden Weiß etwas Dunkles vortauchen: den Rumpf und die Masten der umgeworfenen Yawl! Nun erkennt man auch einzelne Menschen; aber ihr Schreien bleibt unvernehmbar. So dicht, als es ohne die Gewißheit, von der wegrollenden Brandung erfaßt zu werden, irgend geschehen kann, läßt der Vormann das Boot zu Lee an das Riff scheeren; dann werden die Segel niedergeworfen, der Anker fällt. Jetzt liegt es, mit dem Bug gut auf den Seen reitend, leidlich sicher und nahe genug, damit man den bereits klammen Händen der Schiffbrüchigen „Enden“ (Rettungsleinen) gegen den Wind zuwerfen kann. So gelingt es, die armen Leute nach und nach in Sicherheit zu bringen, auch einige, die bereits vorher auf einem Reserveholz abgetrieben waren, und einen, der sein „Ende“ vorzeitig losgelassen hatte und an einer Spier (Stange) eingeholt wurde. Die Yawl ist mit voller Ladung verloren; doch wenigstens ging so keins der jungen Menschenleben zu Grunde.

Viel Geschrei machen die Angehörigen der Rettungsbootsmannschaften nicht, als letztere, kaum minder erstarrt und abgearbeitet als die geretteten Seeleute, glücklich wieder auf den Strand gelaufen sind; sie bemühen sich, ohne auf eine Entschädigung dafür zu rechnen, vor allem die Schiffbrüchigen ins Warme und Trockene zu schaffen.

Der alte Vormann aber denkt: „Ja, die da im Binnenland, von denen man nur ein paar Groschen statt ihr Leben verlangt, sollten einmal leibhaftig so etwas mit angesehen haben, da würde kein einziger sich innerlich beruhigen und meinen: was geht’s dich an? Jeder deutsche Mann, der es bisher noch nicht gethan, würde dann vielmehr sein Scherflein freudig an die ‚Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger‘ beisteuern!“ J. W.     

Deutschlands merkwürdige Bäume: die Linde von Eckertsdorf. (Zu dem Bilde S. 101.) Acht Kilometer von der Bahnstation Rudczany in Ostpreußen steht in der Oberförsterei Gudczanka unweit des Dorfes Eckertsdorf auf einem kleinen Hügel die merkwürdige Linde, die wir unsern Lesern im Bilde vorführen. Sie ist durch einen mächtigen, etwa 1,10 m über die Erde hervorragenden, in der Mitte gespaltenen Steinblock gewachsen. Ihre Höhe beträgt etwa 15 m und ihre Krone ist frisch und gesund, während die unteren Aeste bis 3½ m Höhe über dem Boden abgestorben sind. Soweit der Stamm durch den Steinspalt geht, [131] ist er glatt zusammengedrückt, oberhalb desselben zeigt er aber bei einem Durchmesser von 0,3 m seine natürliche Rundung. Sowohl der Stamm wie die abgestorbenen Aeste sind mit zahlreichen eingeschnittenen Inschriften, Buchstaben und Jahreszahlen, bedeckt. Um dem Publikum diesen eigenartigen Baum zugänglich zu machen, hat die Forstverwaltung einen bequemen Fußpfad von der Landstraße ab herstellen lassen. Der Boden um den Stein herum ist vom Moos befreit und mit sauberem Kies bedeckt. Einwohner der Umgegend schätzen das Alter des Baumes auf etwa hundert Jahre.

Guido Hammer †.
Nach einer Photographie von G. Chr. Hahn Nachf. in Dresden.

Guido Hammer †. (Mit Bildnis.) Jahrzehnte hindurch haben die „Wild-, Wald- und Weidmannsbilder“ der „Gartenlaube“ alt und jung Freude bereitet. Was in ihnen geboten wurde, das war stets erlebt, und auch lebenstreu, naturwahr und mit unmittelbarer Frische geschildert. Guido Hammer war der Schöpfer dieser Rubrik und lieferte für sie sowohl die Bilder wie die Artikel, denn dieser echte deutsche Jägersmann verstand ebensogut den Pinsel wie die Feder zu führen. Erst in den letzten Jahren, wo das zunehmende Alter ihn im Arbeiten behinderte, fehlten uns seine Beiträge. Nun erhalten wir die Trauernachricht, daß dieser langjährige und so beliebte Mitarbeiter am 29. Januar in Dresden aus diesem Leben geschieden ist. Guido Hammer war ein Bruder des bekannten Dichters Julius Hammer. Er wurde als Sohn eines Ministerialbeamten am 4. Februar 1821 zu Dresden geboren. Schon früh offenbarte er Neigung für die Jägerei: als Schulknabe eilte er in die Dresdener Heide, um dort in stiller Waldeinsamkeit das rege Tierleben zu belauschen und nach Art der Jugend Tierfang zu betreiben. Dort schloß er seine ersten Bekanntschaften mit Feld- und Waldhütern und dort faßte er den Entschluß, Jäger von Beruf zu werden. Der Vater entschied aber, daß er sich der Kunst zuwende, und so wurde der junge Guido in dem Atelier von Julius Hübner zum Maler ausgebildet. Die Liebe zum Walde und zur Jagd gab er jedoch nicht auf; seine Besuche galten nunmehr der poesiereichen Umgebung des Jagdschlosses Moritzburg. Wie hier die Grünröcke den jungen Mann, der ihnen allerlei Dienste leistete und das Wild „so hübsch abmalte“, liebgewannen, das hat Guido Hammer ansprechend in seiner Selbstbiographie geschildert, die im Jahrgang 1874 (S. 770) der „Gartenlaube“ erschienen ist. Mit Jagen, Malen und Schreiben verbrachte er sein Leben. Im deutschen Wald war er wie kaum ein anderer zu Hause, denn er kannte aus eigener Anschauung Sachsens holzreiche Gebirge und die böhmischen und schlesischen Forste, das bayrische, Tiroler und steyrische Hochland mit seinen urwäldlichen Beständen, Almen und schneeigen Firsten. Ueberall hat er sich Freunde erworben und ist im guten Andenken geblieben, aber die schönste Erinnerung an ihn werden seine frischen „Wild-, Wald- und Weidmannsbilder“ bleiben, die vor einigen Jahren auch gesammelt als Buch im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig erschienen sind. In ihnen spiegelt sich das Leben und Wirken Guido Hammers in herzgewinnender Weise wider.

Auf Schneeschuhen über die Seißer Alp. (Mit Abbildung.) Der im hohen Norden von alters her heimische Schneeschuhsport ist erst seit wenigen Jahren in Deutschland wie in Oesterreich und der Schweiz eingeführt. Trotzdem haben sich die Ski (sprich: Schi) schon zahlreiche Freunde erworben, und Schneeschuhläufervereine sind an den verschiedensten Orten entstanden. In dem gegenwärtigen schneearmen Winter freilich werden die Liebhaber des Schneeschuhlaufens, wenigstens im Flachlands, ihre Geschicklichkeit nicht oft bethätigen können. Um so mehr dürfte unser untenstehendes Bild interessieren, das uns eine Schneeschuhpartie über die Seißer Alp vorführt. Diese größte und schönste Alp Tirols nimmt ein Hochplateau der Südtiroler Dolomitalpen, zwischen dem Eisak- und dem Fassathal, ein und bildet einen weiten Kessel von 60 km Umfang, in der Mitte gegen 1400 m, an den Rändern über 2000 m. Im Süden wird diese Hochfläche umfaßt von den Dolomitwänden und Zacken des Schlern und der Roßzähne, im Osten vom Langkofel und im Norden vom Puflatsch. Die Teilnehmer an der Partie waren durch das Grödener Thal gekommen. Sie stiegen von St. Ulrich in der Morgenfrühe über das kleine Bergdorf Pufels in drei Stunden bis zur Heißböckschwaige aufwärts, wo das Schneeschuhlaufen mit „Ski-Heil!“ begann. Diesen Augenblick stellt unser Bild dar. Sie glitten über Hügel und durch Mulden aufwärts, stets in der Richtung gegen die südwärts emporragenden Roßzähne, während die Aussicht immer umfassender wurde. Ab und zu ertönte ein helles Gelächter in dieser winterstarren Einsamkeit, wenn der eine oder der andere purzelte und kopfüber in den Schnee schoß. Nachdem der als „Paß Schouef“ bezeichnete breite Rücken erreicht war, gab es nur noch geringe Steigung zu überwinden. In einem kleinen Heustadel machte man Mittagsrast, und rasch wurde dann der erste Ausläufer der Roßzähne erreicht – zum erstenmal war die Durchquerung der ganzen Seißer Alp von Norden nach Süden einer größeren Schneeschuhläufergesellschaft gelungen. Die Bergfahrt von der Heißböckschwaige ab hatte 2½ Stunden erfordert, während nachher die Thalfahrt in sausendem Gleiten über die weiße schimmernde Bahn nur 18 Minuten in Anspruch nahm.

Schneeschuhläufer auf der Seißer Alp.
Nach einer photographischen Aufnahme von E. Terschak, St. Ulrich in Gröden.

Eiskeller. In Bezug auf die Tauglichkeit der verschiedenen Bauarten von Eiskellern sind nach einer Mitteilung der „Deutschen Brauindustrie“ neuerdings interessante Versuche angestellt worden. Es wurden zu diesem Zweck vier kleine Eiskeller im Freien improvisiert. Der Blechkasten, in dem sich das Eis befand – in jedem Keller 30 Kilo –, war in jedem der vier Keller mit drei Schichten von je 12 cm Dicke [132] umgeben. Diese Schichten bestanden in dem ersten Keller alle drei aus Backstein, in dem zweiten enthielt die innerste Schicht Backstein, die mittlere Korkstein, die äußerste Backstein. In dem dritten Keller bestand die innerste und äußerste Schicht aus Backsteinen, die mittlere aus einem leeren Luftraum; in dem vierten endlich waren für die zwei inneren Schichten Hohlsteine und für die äußere Backsteine verwendet. Der Wert der Keller wurde durch den Verlust an Schmelzwasser in gleicher Zeit und unter gleichen Temperatur- und sonstigen Bedingungen geprüft. Es erwies sich dabei der Keller Nr. 2, der in der Mitte Korkstein enthielt, als der bei weitem vortheilhafteste, denn er ergab einen Schmelzverlust von nur 0,7 bis 0,9 Prozent, während z. B. unter gleichen Bedingungen der mit Nr. 1 bezeichnete Keller 2,11 bis 4,35 Prozent Schmelzverlust zeigte. Die Korksteine, die aus zerkleinertem durch Kalk gebundenen Kork bestehen, sollen zum Schutz gegen Feuchtigkeit mit Steinkohlenpech eingesetzt werden. Dr. Jul. Thilo.     

Im Lawinenschnee. (Zu dem Bilde S. 105.) Erst vor zwei Wochen haben sie das Vieh auf die Alm getrieben, unter Jodeln, und Singen, an einem herrlichen Maientag. Es ist ungewöhnlich früh „aper“ (schneefrei) geworden auf den „Niederlegern“ (den unteren Alpen). Auf den „Hochlegern“ lagert allerdings noch der Winter. Diese höchsten Almen wird man erst unter dem Einfluß der wärmeren Junisonne beziehen können. Die Trennung des Viehes hat daher noch nicht stattgefunden. Das „Galtvieh“, unter welchem gemeinsamen Namen man alles nicht Milch gebende Rindvieh zusammenfaßt, ist noch mit dem übrigen Vieh auf den gleichen Almen vereinigt. Selbst die Schafe und Ziegen, die sonst die allerersten in der Höhe sind, müssen sich noch in den Niederungen der Almenwelt gedulden. – Das schönste gestickte Halsband und die größte „Schell’n“ hatte die Sennerin Rosl ihrer besten Milchkuh, der „Scheckaten“ angelegt, als man heuer auf die Alm trieb.

Vor einer Woche war plötzlich rauhe Witterung eingetreten. Es hatte fast bis zur Sennhütte hernieder geschneit. Mit der „Graswand“, die gerade über der Alm drohend emporragt, war es von jeher nicht geheuer. In den Rissen und Schrunden des mächtigen Felsriesen pflegten sich turmhohe Schneewehen anzusammeln … „Aber is dö ganze Zeit her nix g’schehen, wird uns Gott und unsere liabe Frau wohl auch weiterhin behüten!“ dachte sich die Rosl und widmete ihre ganze Sorgfalt der Milchwirtschaft. Jeden dritten oder vierten Tag kam der Hiasl, der Großknecht ihres Bauern, zur Alm herauf, um das Galtvieh zu salzen. In der Salztasche brachte er dann gewöhnlich noch einen Leckerbissen für die Sennerin mit. – Knapp auf das rauhe Wetter hatte sich der Wind gedreht. Seit zwei Tagen wehte ein „bacherlwarmer Südinger“ (Südwind).

Es ist noch zeitlich am Vormittag. Das Vieh ist auf die Weide getrieben, bis auf die „Scheckate“, den Liebling der Rosl. Vor einer Viertelstunde ist auch der Hiasl wieder „z’weg’n“ gekommen. Man war gerade im gemütlichsten Plaudern, als ein entsetzliches Getöse, donnerähnlich, jäh anschwellend, brausend und die ganze Luft erschütternd, jedes Wort im Munde ersterben machte. Dann Totenstille. Die Sennerin und der Knecht sind beide „kasweiß“ geworden. „Jessas! die Lahn!“ schreit die Rosl auf. Sie fliegt mehr, als sie läuft, nach der Alm. Der Hiasl folgt ihr. Der Anblick, der sich beiden darbietet, ist freilich trostlos genug.

Der Künstler hat auf unserm Bilde die Verwüstungen der Lawine naturwahr veranschaulicht. Das Dach der Sennhütte eingedrückt, die zunächst stehenden Bäume entwurzelt – alles unter den Schneemassen verschüttet! Auf einem Stein vor ihrer zerstörten Alm hockt die Rosl. Heiße Thränen rollen ihr über die Wangen. Sie denkt nicht daran, daß ihr geringes Hab’ und Gut dort unter der Lawine liegt – sie denkt nur an die „Schekate“, die von den Schneemassen erstickt und begraben wurde. Da legt sich ihr eine Hand tröstend auf die Schulter … „Schau’, Diandl, wein’ nit gar so! Wenn dich selber die Lahn in der Hütten erwischt hätt’ – das hätt’ i nit überlebt!“ Es ist der Hiasl, der so zu ihr spricht … Vielleicht blüht da mitten im Schnee „a Blüamerl“ auf, das sorgsame Pflege finden wird von zwei treuen Herzen. R. G.     

Kochunterricht.
Nach einem Gemälde von R. Epp.

Ein Löwensäugling (Zu dem Bilde S. 125.) F. Specht hat das originelle Bild, das uns den jungen, etwa drei Wochen alten König der Tiere auf dem Schoß seiner Pflegerin an der Milchflasche vorführt, nach dem Leben in Nills Zoologischem Garten zu Stuttgart gezeichnet. Solche Scenen sind in unseren Zoologischen Gärten nicht gerade selten, denn die Besitzer und Leiter derselben sehen sich oft genötigt, zur künstlichen Ernährung der in Gefangenschaft geborenen jungen Löwen zu schreiten. Bei vielen Löwinnen, die Junge zur Welt gebracht haben, fehlt nämlich die Milch oder sie versiegt früher oder später infolge der Ernährung, die natürlich der im Freileben nicht gleichkommen kann. Dieser Milchmangel verursacht nicht nur ein vorzeitiges Absterben der Jungen, sondern erweckt auch in den Müttern unnatürliche Instinkte, so daß sie oft ihre Jungen auffressen. – Um dies zu verhüten, versucht man allerorts die jungen Löwen künstlich aufzuziehen. Eine frischsäugende Hündin ist für sie die beste Amme, da aber nicht jede Säuglinge aus dem Katzengeschlecht annimmt, muß man häufig zur Aufzucht mit der Milchflasche greifen. Dieselbe erfordert viel Mühe und Erfahrung. Hat sie aber den gewünschten Erfolg, so wird man für diese Arbeit reichlich belohnt. Während die von der Mutter aufgezogenen Jungen wenig zugänglich sind, werden die „Flaschenjungen“ sehr anhänglich und machen durch ihr munteres und zutrauliches Wesen viel Freude.

Der auf unserm Bild dargestellte Stuttgarter Löwe verbrachte die erste Zeit seiner Jugend zumeist auf dem Arbeitszimmer des Herrn Adolf Nill, wo er sich „sehr anständig“ benahm. Freilich kommt bald die Zeit, wo man auch solche Tiere in den Käfig sperren muß, damit sie mit zunehmender Kraft und Wildheit kein Unheil stiften.

Rosetta. (Zu unserer Kunstbeilage) Wie befremdend! Vor drei-, vierhundert Jahren malten die großen Maler Venedigs ihre entzückenden Madonnen und irdisch schönen Weiber, und heute laufen ihre Modelle, es ist wie ein Traum, noch lebendig auf den Plätzen mit Blumen-, Frucht- und Fischkörben und Wassereimern herum!

Aber auch diejenigen Venetianerinnen, deren Angesicht nicht besonders schön ist, haben in ihrem Wesen, in Haltung und Sprache etwas ungemein Anziehendes. Und alle, besonders aber die Mädchen aus dem Volke, schreiten mit einer leichten Grazie, manchmal auch mit wahrhaft königlicher Majestät daher, das Haupt auf dem biegsamen Halse mit herausforderndem Stolz erhoben. Ihr Schmuck ist eine von jeder Künstelei freie Grazie, eine festliche Heiterkeit des Charakters, die in dem weichen Dialekt widerglänzt, der „wie auf Atlas geschrieben“ scheint.

Diese „Rosetta“ ist keine Karnevalsfigur, obgleich sie wie eine verkleidete Herrscherin erscheint, die dem ihr erstaunt Nachschauenden das Almosen eines ihrer Blicke zuwirft. Woldemar Kaden.     


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Mehrere Abonnenten in Hamburg. Es freut uns, aus Ihrer Zuschrift ersehen zu können, daß Inhalt und Ausstattung der „Gartenlaube“ Sie so besonders befriedigt haben. Die farbigen Illustrationen in Halbheft 1 des laufenden Jahrganges sind in der That überall mit Beifall aufgenommen worden. Wir werden darum nicht verfehlen, diese „erfreuliche Ueberraschung“ unsern Lesern von Zeit zu Zeit bei besonderen Anlässen wieder zu bereiten.

A. V. in Berlin. Auf Ihre Anfrage, ob in Deutschland Versuche mit ähnlichen Apparaten wie die von uns auf Seite 867 des Jahrgangs 1897 der „Gartenlaube“ abgebildete „Schneeschmelzmaschine“ in New York angestellt worden sind, können wir Ihnen folgende Auskunft geben. Im Jahre 1880 ließ Gustav Hennigke in Leipzig einen „Transportablen Eis- und Schneeschmelzapparat“ patentieren, bei dem sowohl die Wärme der Feuergase sowie die des Dampfes dem Schmelzprozeß zu gute kommt. Versuche mit diesem Apparat wurden im Jahre 1881 in Leipzig, Halle a. d. S. und andern Städten angestellt.

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Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.

Wandsims- oder Sofabehang. Die jetzige Beliebtheit gefälliger Zimmereinrichtungen stellt verschiedene Anforderungen an die schaffende Hand der Frauen und verlangt mannigfache Gegenstände, welche sonst wohl nicht für unbedingt erforderlich gehalten werden.

Stickerei für einen Simsbehang.

Zu diesen gehören die allerdings recht dekorativen Wandbretter (Paneele), auf welche Teller, Krüge, Gläser, Vasen etc. zum Schmucke aufgestellt werden. An älteren Sofas können solche Paneele auch improvisiert werden durch einfache, lange Bretter, welche mit Eisen an der Wand befestigt, beziehungsweise von diesen getragen werden.

Ottomane mit Simsbehang.

Auch über Ottomanen sehen dergleichen Bretter sehr wirksam aus. Unterhalb des Simses schmückt man das Bort mit einer herunterhängenden, lambrequinähnlichen Stickerei, für welche unsere obenstehende größere Abbildung eine gute Vorläge bietet. Je nach der Farbe der Tapete, des Sofas oder der Ottomane muß man die Farbe des Stoffes wählen und je nach dem Werte der gesamten Zimmereinrichtung mehr oder weniger gediegen die Art und Qualität des Stoffes, vom billigen Kreppstoff bis hinauf zu langhaarigem Plüsch. Die Stickerei selbst besteht zumeist aus einfachen Zierstichen; das Material hierzu aus Seide oder Baumwollengarn. Metallfäden sind gleichfalls zu empfehlen. Unbedingte Aufmerksamkeit hat man einer günstigen Farbenzusammenstellung des Materials zu widmen, jedenfalls muß die im Zimmer vorherrschende Farbe die des Stoffes oder doch die der Stickerei sein. Den Stickereistreifen schlägt man oben etwas um, nach hinten zu, und befestigt ihn von unten herauf mit Heftzwecken. Unsere Vorlage würde übrigens auch bei entsprechender Vergrößerung sehr gut zu Thür- oder Fensterlambrequins sich eignen.

Arbeiten aus Cigarrenkistenholz. Daß man das Holz von Cigarrenkisten zu mancherlei Gegenständen benutzen kann, dürfte allgemein bekannt sein, aber seine Verwendung war bisher eine gänzlich gelegentliche und planlose. Jetzt hat Professor Cranz in Stuttgart, ein eifriger Förderer des Hausfleißes, im Verlag von J. F. Schreiber in Eßlingen besonders für Arbeiten aus Cigarrenkistenholz berechnete Vorlagen erscheinen lassen, welche zeigen, daß bei richtiger Anleitung aus den großen und kleinen Brettchen der Cigarrenkisten ganz wundersame und originelle Gegenstände angefertigt werden können. Der Wert dieser Vorlagen namentlich für die liebe Jugend ist unbestreitbar, sie leiten in pädagogischer Weise zur Pünktlichkeit und Genauigkeit an, wecken Geschmack und Schönheitssinn, entwickeln die Kenntnis architektonischer Grundformen und bereiten das Verständnis technischer Zeichnungen vor, denn jeder Gegenstand ist in Perspektive, Seiten- und Grundriß nebst genauen Maßangaben dargestellt. Aber auch Erwachsenen bieten diese Arbeiten durch die reiche Abwechslung der Formen und die Vielseitigkeit der Handgriffe ein großes Interesse und eine reiche Quelle der Erholung. Vorteilhaft sind auch die geringen Kosten und die Benötigung nur einiger Werkzeuge, die übrigens mit Ausnahme des sogenannten Hakenmessers in jeder Familie wohl schon vorhanden sein dürften.

Alles in allem haben durch die Cranz’schen Vorlagen die vielerlei häuslichen Arbeiten eine sehr originelle und nützliche Erweiterung erfahren, auf die wir gern unsere Leserinnen und Leser aufmerksam machen.

Notiztafel für Wäsche- und Bücherschränke. Weit praktischer als die Wäschenotiz- und Büchermerkbücher, die leicht verlegt werden und zur Zeit des Gebrauchs oft erst gesucht werden müssen, sind Notiztafeln für diese Schränke, die man zierlich ausstattet und an der Innenseite der Schrankthüren befestigt. Man nimmt entweder weiße Tafeln für Bleistifte oder schwarze Tafeln für Kreidestifte und läßt diese Tafeln in einen Holzrahmen fassen, den man entweder mit Holzbrand- oder mit Oelmalerei sinngemäß verziert. Für den Wäscheschrank ist es sehr hübsch, den Rahmen mit einem leicht hingeworfenen Flachsblütenzweig oder mit einem mit Bändern umwundenen Spinnrädchen, auch wohl mit einer Spinnerin zu verzieren. Ist das Täfelchen für den Bücherschrank bestimmt, so kann der Rahmen eine Eule tragen, die auf losen Blättern sitzt, oder mit steilen aufsteigenden modernen Blüten geschmückt werden. An einem schmalen Seidenbändchen befestigt man Stift und Schwämmchen oder Lederball zum Schreiben und Abwischen und hängt sie über ein goldenes Knopfnägelchen, das man in der Mitte des Rahmens oben einschlägt. Aus etwas breiterem Seidenband näht man eine volle Rosettenschleife, befestigt sie hinten am Rahmen mit feinen Stiftchen und hängt daran die Tafel auf.

Für den Wäscheschrank nimmt die Tafel ein Verzeichnis des Wäscheinhalts des Schrankes, sowie Notizen über zum Waschen ausgegebene Wäsche auf, für den Bücherschrank giebt sie Raum für eine Liste der vorhandenen und ausgeliehenen Werke. Le.     


Für Naturfreunde.


Der Chanchito oder Chamäleonsfisch. Seit Adolf Roßmäßler im Jahre 1856 in der „Gartenlaube“ zum erstenmal ein Aquarium als „See im Glase“ beschrieb, hat sich die Liebhaberei für Aquarien und Terrarien derartig verbreitet, daß in einzelnen Städten große Vereine entstanden sind, die sich ausschließlich damit beschäftigen. Unter ihnen ist besonders der Berliner Verein „Triton“ von jeher bemüht gewesen, neue und interessante Zierfische aus dem Auslande zu importieren. Unter den heimischen Arten giebt es außer dem Stichling und dem Bitterling keine Fische, die im Zimmeraquarium sich fortpflanzen, während neben den chinesischen und japanischen Spielarten des Goldfisches der vor etwa fünfundzwanzig Jahren eingeführte chinesische Paradiesfisch oder Makropode gerade durch sein interessantes Laichgeschäft und durch die Brutpflege des Männchens überall die größte Teilnahme erweckte. Unser Bild zeigt nun einen neuen Zierfisch, den der Berliner „Triton“ vor wenigen Jahren eingeführt hat und den auch verschiedene Liebhaber in kleinen Zimmeraquarien bereits weiter gezüchtet haben. Es ist dies der südamerikanische Chanchito (Heros facetus Steind.), der seinen Namen – auf deutsch „Schweinchen“ – wohl nur seinem gekrümmten Rücken verdankt. Die Körperform zeigt unsere Abbildung, dagegen ist die daselbst angedeutete Zeichnung von schwarzen Querbinden auf grünlichgrauem Grunde nicht feststehend. Oft verblassen die Binden ganz oder es bleibt von jeder nur in der Mitte ein schwarzer Fleck übrig, der mit den übrigen Flecken zu einem schwarzen Längsstreifen zusammenfließt, ja oft färbt sich der ganze Fisch hellgrau und behält nur an der Schwanzwurzel einen einzigen schwarzen Fleck.

Der Chamäleonsfisch.

Schreck, Freude und Zorn beeinflussen die Färbung dieses „Chamäleonsfisches“, am meisten und am schönsten aber die Liebe. Zur Laichzeit zieren das Männchen, das dann mit gespreizten Flossen sein Weibchen umgaukelt, breite rote Streifen auf den oft tiefschwarzen Schwanz-, After- und Rückenflossen, während das Weibchen oft ganz citronengelb überlaufen erscheint. Auch die Färbung der Augen kann von Gelb in Rot übergehen. Im allgemeinen zeigen jedoch die Geschlechter keinen Unterschied in der Färbung. Nach dem Ablaichen bleiben Männchen und Weibchen in der Nähe der meist an den Glasscheiben angeklebten Eier und führen ihnen durch lebhafte Flossenbewegungen beständig frische Luft zu. Die nach wenigen Tagen ausgeschlüpften Jungen werden von den Alten mit dem Maule in eine Vertiefung des Bodengrundes gebracht, hier einige Tage behütet und dann gleich den Hühnchen der Gluckhennen ausgeführt.

Diese Wartezeit, während der die Alten sehr erregt und reizbar sind, dauert mehrere Wochen. Dann haben die jungen Fischchen schon eine Größe von mehr als einem Centimeter. Sie scheinen in einem Jahre auszuwachsen, wenigstens erreichte ein Chanchito, den ich 2 cm groß kaufte, in 10 Monaten die für diese Art gewöhnliche Länge von 12 cm. A. B.     

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Allerlei Kurzweil.


Bilderrätsel „Die Schlüssel“.
Von Al. Weixelbaum.


Ergänzungsaufgabe.

Nachstehende elf Bruchstücke sind zu ebensovielen Wörtern zu ergänzen, indem man an Stelle der Punkte Buchstaben setzt.

1) .le.na, 2) .ol.nd, 3) .ka.os, 4) .da.io, 5) .us.um, 6) .im.on, 7) .re.de, 8) .pi.al, 9) .oc.el, 10) .al.nt, 11) .fe.di.

Sind alle Wörter, die nunmehr aus je sechs Buchstaben bestehen, richtig ergänzt, so nennen die an erster und vierter Stelle eingefügten Buchstaben, beide in der oben gegebenen Reihenfolge der Wörter gelesen, die Anfangszeile eines Schillerschen Gedichtes. Oscar Leede.     


Rätsel.

Mein Wort mit – l – benennt
Ein schimmernd Waffenstück;
Wenn irgendwo, dann wohnt
In deinem – i – dein Glück.


Scherzrätsel.

Mein Wort, wenn ich die Mitte bin,
Wird Alten lästig in den Beinen;
Wenn du uns in die Mitte stellst,
Wird’s Künstlern förderlich erscheinen.


Dominoaufgabe.

A, B, C und D nehmen je sieben Steine auf. B hat auf seinen Steinen 4 Augen mehr als C, aber 22 Augen weniger als D.

A hat:

A setzt Doppel-Vier aus und gewinnt dadurch, daß er die Partie bei der sechsten Runde mit Blank-Vier sperrt. B kann nur bei der zweiten und fünften Runde ansetzen. C und D passen nur bei der vierten Runde. Die übrigbleibenden Steine haben bei den vier Spielern der Reihe nach 3, 23, 8 und 28 Augen. – Welche Steine behalten C und D übrig? Wie ist der Gang der Partie? A. St.     

Auflösung der Entzifferungsaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 3.

Schlüssel.

Schlag’ auf das gold’ne Buch, in das dein Herz einst schrieb
Die Namen jener ein, die dir vor allem lieb,
Und preise glücklich dich in allen Schmerzensnöten,
Wenn von den Namen all’ dich keiner macht erröten.
  Betty Paoli.


Auflösung des Verwandlungsrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 3.

1. Kiesel, Kassel, Karmel, Karmin, Jasmin, Jaspis.

2. Reiher, Retter, Kutter, Küster, Kastor, Kasuar.


Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 3. 0 Aller, Iller.


Auflösung der Schachaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 3.

1. D e 6 – a 6 0 K e 4 – f 3
2. D a 6 – f 1 + 0 beliebig
3. S d 5 – f 6 ≠

  A.
1. . . . . 0 K e 4 – d 5 :
2. D a 6 – b 7 + 0 beliebig
3. D b 7 – b 5 ≠

  B.
1. . . . . 0 K e 4 – f 5 :
2. D a 6 – e 2 0 beliebig
3. D e 2 – f 3, h 5 ≠

  C.
1. . . . . 0 beliebig
2. S d 5 – f 6 + 0 beliebig
3. D a 6 – f 1 ≠


Auflösung des Bilderrätsels „Der Cotillonorden“ auf dem Umschlag von Halbheft 3.

Man beginne bei den inneren Strahlen, nehme, von oben nach rechts gehend, zuerst die untereinander stehenden Buchstaben auf den Strahlen derselben Art, hierauf jene der anderen, dann in derselben Folge die Zeichen der äußeren lichten und hierauf jene auf den dunklen Feldern. Man erhält: „Ballsäle sind die Schießstätten Amors“.


Auflösung der Skataufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 2.

Die übrigen Karten sind so verteilt: Skat: g8, g7.

Vorhand: rW., sW., rZ., rK., eZ., e9, gK., gO, g9, sK. = 39.
Hinterhand: rD., eO., e8, e7, sD., sZ., sO., s9, s8, s7 = 38.

I. Gang des Spiels vor dem Platzwechsel:

1. gK., gZ.! rD. (– 25)
2. c7! e9, eK. (+ 4)
3. gW., s7, sW! (+ 4)
4. eW., s8, rW.! (+ 4)
5. r7!! sD., rZ. (– 21)
6. rK.! r8, sZ. (– 14).

Die übrigen Stiche bekommt der Spieler, die Gegner haben aber bereits 60 Augen hereinbekommen.

II. Gang des Spiels nach dem Platzwechsel:

a.

1. sD., rO., sK. (+ 18)
2. gW., sW., rD. (+ 15)
3. eW., rW., s7. (+ 4)
4. r7! rZ., sZ. (– 20)
5. gK., s8., gD. (+ 15)
6. r8, rK.! sO. (– 7)
7. g9. s9, gZ. (+ 10)
8. r9, gO., e7. (+ 3)
9. eD., e9, e8. (+ 11)
10. eK., eZ., eO. (– 17).

oder

b.

1. e7! eD., e9. (+ 11)
2. gW., sW.! rD. (+ 15)
3. eW., rW.! s7. (+ 4)
4. r7, rZ., sD. (– 21)
5. eZ., eO., eK. (– 17)
6. rK., sZ., r8. (– 14)
7. sK., s8., rO. (+ 7)

die übrigen Stiche bekommt der Spieler.



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Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.