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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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3. Heft.  Preis 10 cents.   17. Februar 1898.



Max Weil & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

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Inhalt.
Seite
Antons Erben. Roman von W. Heimburg (2. Fortsetzung) 69
Der rheinische Karneval. Von Dr. J. Nover. Mit Abbildungen 76
Maskiert! Humoreske von Hans Arnold. Illustriert von F. Hlavaty 80
Die Frauen von Berghausen. Gedicht von Martin Greif. Mit Abbildungen 93
Wie das erste deutsche Parlament entstand. Ein Rückblick von Johannes Proelß.
     Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten.
     II. Der Umschwung in Preußen (Anfang).


93

Blätter und Blüten: Heinrich Findelkind. S. 98. – Feuerfestes Holz. (Mit Abbildung.) S. 98. – Neckerei. (Zu dem Bilde S. 88 und 89.) S. 98. – Butter im Handel. Von Reinh. Brand. S. 98. – Ernst Ludwig Taschenberg f. (Mit Bildnis.) S. 99. – Verteilung von Kohlen an die Wiener Armen. (Mit Abbildung.) S. 99. – Die Wartburg im Winterkleide. Von A. Trinius. (Zu dem Bilde S. 97.) S. 99. – Pierrot als Troubadour. (Zu dem Bilde S. 69.) S. 100. – Fastnachtszug der Schiffer in den Haveldörfern. (Mit Abbildung.) S. 100. – Auf der Redoute. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 100.

Illustrationen: Pierrot als Troubadour. Von St. Grocholski. S. 69. – Abbildungen zu dem Artikel „Der rheinische Karneval“. Vom Kölner Karneval: der Zug auf dem Waidmarkt. Von Chr. Heyden. S. 72 und 73. Initiale. S. 76. Vom Kölner Karneval: Aufzug der „Funken“. Von G. Franz. S. 77. Die Mainzer Stadthalle im Karneval 1897. Von C. Sutter. S. 79. – Abbildungen zu der Humoreske „Maskiert!“ Von F. Hlavaty. S. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 87. 90. 91. 92. – Neckerei. Von M. Volkhart. S. 88 und 89. – Abbildungen zu dem Gedicht „Die Frauen von Berghausen“. S. 93. – Abbildungen zu dem Artikel „Wie das erste Deutsche Parlament entstand“. H. Th. v. Schön. Johann Jacoby. Heinrich Simon. Arnold Rüge. General v. Boyen. S. 94. G. v. Vincke. Graf Schwerin. A. v. Auerswald. Hansemann. L. Camphausen, v. Beckerath. Mevissen. S. 95. E. v. Bodelschwingh. Die Eröffnung des ersten „Vereinigten Landtags“ durch König Friedrich Wilhelm IV. Von W. Pape. S. 96. – Die Wartburg im Winterkleide. Von H. G. Vogel. S. 97. – Eine Brandprobe mit feuerfestem Holze. S. 98. – Ernst Ludwig Taschenberg †. S. 99. – Verteilung von Kohlen an die Wiener Armen. Von M. Ledeli. S. 99. – Fastnachtszug der Schiffer in den Haveldörfern. Von P. Colanus. S. 100.

Hierzu Kunstbeilage III: „Auf der Redoute“. Von Adolph Menzel.




Kleine Mitteilungen.


Ein Preisausschreiben des Nordamerikanischen Sängerbundes. Im Jahre 1899 wird in Cincinnati, Ohio, das fünfzigjährige Jubiläum des Nordamerikanischen Sängerbundes stattfinden. Aus diesem Anlaß ist von dem dortigen Bürger Fred. H. Alms ein Ehrenpreis von 1000 Dollars gestiftet worden für die beste Komposition eines Chores, welcher zur Eröffnung des Festes von sämtlichen Gesangskräften Cincinnatis zum Vortrag kommen soll. Die Komposition soll aus einem gemischten Chor, Soli und Orchester bestehen, und der Vortrag des Werkes darf nicht weniger als vierzig und nicht mehr als sechzig Minuten in Anspruch nehmen. Da das Werk von einem Massenchor von etwa 1500 Stimmen vorgetragen werden soll, darf die Komposition keine allzugroßen Schwierigkeiten bieten. Was ihren Charakter anbelangt, so wird die Darstellung einer Huldigung der schönen Künste, im besonderen der Musik, gewünscht. Die Arbeiten müssen bis spätestens den 1. August 1898 zu Händen des Musikkomitees für das fünfzigjährige Jubiläums-Sängerfest des Nordamerikanischen Sängerbundes gelangen. Nähere Auskunft erteilt der Vorsitzende des Komitees Pfr. Hugo G. Eisenlohr, 1213 Elmstraße, Cincinnati, Ohio.

Das großblumigste Veilchen, welches wir kennen, ist das neue Veilchen Princesse of Galles. Seine Blüten sind tiefblau, haben sehr angenehmen Duft und werden beinahe so groß wie unsere Stiefmütterchen. Dabei stehen die Blüten auf oft 15 bis 20 cm langen kräftigen Stielen und lassen sich infolgedessen zur Binderei ganz vorzüglich verwenden. – Wie alle anderen Veilchen wird es vorzugsweise aus Stecklingen vermehrt. Man kann jedoch alle Veilchen auch leicht aus Samen ziehen und hat dabei den Vorteil, daß die Blumen dieser Sämlinge im allgemeinen größer sind als die der Mutterpflanzen. Veilchensamen findet man im Juli und August an den Büschen. Er sät sich selbst aus, und die jungen Keimlinge werden später meistens mit dem Unkraut vernichtet, weil man nicht auf sie achtet. Es ist deshalb besser, den Samen zu sammeln und ihn auf ein kleines sonniges Beet in Reihen auszusäen, gleich nachdem man ihn geerntet hat. Die jungen Pflänzchen müssen im nächsten Frühjahre, da sie zu dicht stehen, verpflanzt werden und geben im anderen Jahre kräftige Büsche. – Je tiefblauer die Blüte der Veilchensorte ist, desto mehr Wert hat die Sorte im allgemeinen. Unsere gefüllten Veilchen haben fast alle dunkelblaue Blüten. Sie können sich aber weniger einbürgern, weil sie im Winter empfindlich sind und leicht eingehen. Weiße Veilchen pflückt man im allgemeinen nicht gern. In Frankreich hat man jetzt auch ein gelbes Veilchen. Es ist wohl die Frage, ob diese Farbe mehr Anklang findet. Ein Veilchen muß nun einmal blau sein, wenn es seinen ganzen Reiz auf uns ausüben soll.

Die älteste Stadt der Welt. Auf Veranlassung der Universität von Pennsylvanien übernahm im Jahre 1888 Dr. J. P. Peters eine Durchforschung Babyloniens, die im Jahre 1893 von J. H. Haynes fortgesetzt wurde. Der letztere Forscher erhielt den Auftrag, die großen Erdhügel von Nuffar in Nordbabylonien, die Gegend der alten Stadt Nippur, zu untersuchen. Die Ergebnisse seiner Nachgrabungen sind für die Altertumskunde ungemein wichtig. Indem er den ganzen 10 m mächtigen Schutt, auf dem die Tempelruinen von Nippur stehen, Schicht für Schicht untersuchte, fand er eine große Anzahl von Ueberbleibseln ältester babylonischer Civilisation. Es werden wohl Jahre vergehen, bis das gesammelte Material von Gelehrten bearbeitet und erläutert wird. Soviel steht aber schon heute fest, daß die in der untersten Schuttschicht gefundenen Ueberreste aus einer Zeit stammen, die bis in das siebente Jahrtausend v. Chr. zurückreicht. Haynes hat also die Trümmer der ältesten uns bis jetzt bekannten Stadt bloßgelegt, und die unter denselben gefundenen Inschriften sind die ältesten Dokumente aus der Geschichte der Menschheit. Wie aus einer dieser Inschriften ermittelt werden konnte, regierte in jener grauer Vorzeit in Unterbabylonien ein König Namens „Eschagsagana“, der mit der Stadt „Kisch“ und den wilden Horden „des Landes der Bogen“ mit wechselndem Glück Krieg führte. Ein ausführlicherer Artikel über diese Ausgrabungen wurde neuerdings in der „Oesterreichischen Monatsschrift für den Orient“ veröffentlicht.

Ueber den Einfluß der Kälte auf die Keimfähigkeit von Pflanzensamen haben Brown und Escombe interessante Versuche angestellt und darüber neuerdings an die „Royal Society“ in London berichtet. Es wurden gesunde Samen verschiedener Pflanzen gewählt, davon die eine Hälfte wie gewöhnlich aufbewahrt, die andere aber in trockenem Zustande während der Dauer von 110 Stunden der enormen Kälte von –183° bis –192° C. ausgesetzt. Hierauf wurden die Samen während fünfzig Stunden allmählich entkältet. Man säte nun sowohl die der Kälte ausgesetzten wie die unter gewöhnlichen Umständen aufbewahrten Samen aus. Beide keimten gleich gut, und die aus beiden entstandenen Pflanzen entwickelten sich in voller Gesundheit und brachten gleich guten Samenertrag.

Ballschuhtasche. Die feinen Lackschuhe der Herren wie die zartfarbigen Tanzschuhe der Damen müssen sehr sorgfältig aufbewahrt werden, wenn sie sich längere Zeit frisch halten sollen. Nach jedem Gebrauch müssen die Schuhe erst sorgsam gesäubert werden: die Lackschuhe reibt man mit feinem Oel ab, die Stoff- und Seidenschuhe werden mit warmem Kartoffelmehl und peinlich sauberer Bürste abgebürstet. Dann aber muß man einen Ort haben oder einen Behälter, in dem die Schuhe nicht feucht werden, sich nicht berühren und nicht gedrückt werden. Stiefeltaschen, die man beliebig in unbeachteter Ecke, im Schranke oder wo man will, aufhängen kann, sind dazu am praktischsten. Ebenso hübsch wie einfach stellt man sie aus sandfarbener Leinwand her. Man schneidet vier Streifen von 60 cm Länge und 57 cm Breite – für Damenschuhe entsprechend kleiner – und bestickt zwei dieser Streifen ringsherum oder an drei Seiten mit einer Kreuzstichkante, worauf man je zwei Streifen, einen bestickten und unbestickten, zu einer Tasche zusammenfügt. Der obere Rand wird etwa 3 cm breit gesäumt und mit drei Knopflöchern und Knöpfen zum Schließen versehen. Eine etwa 38 cm lange und 4 cm breite Spange desselben Stoffes, der dazu doppelt genommen und mit schmalem Börtchen versehen wird, verbindet die beiden Taschen miteinander. Für sehr zarte Schuhe kann man die Taschen noch mit hellem Satinfutter versehen, sie auch aus besticktem Flanell mit Seidenstickerei reicher – aber auch unpraktischer arbeiten. L.     

Regenwürmer in Blumentöpfen kann man am besten durch einen Extrakt vertreiben, welcher aus den Hülsen der Roßkastanie gemacht wird. Wenn man im Winter dieses Hilfsmittel nicht zur Hand hat, muß man sich mit warmem Wasser oder mit Seifenwasser behelfen. Das Wasser kann 28° R. warm sein. Die Würmer erscheinen danach, wenn man den Topf derb gießt, bald an der Oberfläche. Im allgemeinen schaden die Regenwürmer in den Blumentöpfen nicht so sehr, wie häufig angenommen wird. Sie nähren sich von den abgestorbenen Wurzelteilen und sind besonders dann viel in den Töpfen zu finden, wenn die darin wachsenden Pflanzen anhaltend zu viel gegossen wurden und die Erde sauer und schlecht geworden ist. Dann sterben die Wurzeln ab, die Regenwürmer aber sind in solcher Erde gerade in ihrem Elemente. Wer viel Regenwürmer in seinen Blumentöpfen hat, sollte deshalb auch einmal nachsehen, ob er nicht beim Gießen zu viel gethan und dadurch seinen Pflanzen selbst geschadet hat.

Reinigen der Silbergeräte. Bei den Gesellschaften, die jetzt an der Tagesordnung sind, holen wir unsere Silberschätze, die sonst wohlverwahrt im Schranke stehen, hervor, und gar oft werden wir sie stark angelaufen finden. Durch gewöhnliches Putzen werden sie ihren ursprünglichen Glanz kaum wieder erhalten; man muß sie auf folgende Weise reinigen. Aus Ammoniak und Schlämmkreide rührt man eine breiartige Flüssigkeit, die man je nach der Form der Silbersachen und ihrer Verzierungen mit einer kleinen Bürste oder einem Läppchen aufträgt. Man läßt sie kurze Zeit auf den Sachen, reibt diese dann gut mit einem Leinenläppchen ab und poliert sie mit Putzleder nach. He.     

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AUF DER REDOUTE:
„RATE, WER IST’S ?“
Nach einer Lithographie von Adolph Menzel.

[Die] Gartenlaube 1898.       Kunstbeilage 3

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Halbheft 3.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Antons Erben.

Roman von W. Heimburg.

 (2. Fortsetzung.)

Der erste Advent; weiße kleine Flocken in schneidend kalter Winterluft und prachtvolle Schlittenbahn. Von den Dächern hängen große Eiszapfen; die Putten im Park, die Schäfer und Schäferinnen, ja die Göttin Flora selbst, alle haben riesige Puderperücken auf. Die meisten Fenster des Schlosses zeigen glitzernde Eisblumen, nur die mit Doppelscheiben versehenen der bewohnten Zimmer nicht. Hinter diesen letzteren zeichnen sich die Spitzenmuster der Gardinen deutlich ab.

Christel sitzt im sogenannten Damenzimmer am Fenster und blickt in den Garten hinaus, in den schweigenden weißen Garten. Es ist ein erhöhter Platz, von Holzschranken umgeben; vor ihr steht der neue Nähtisch, hinter diesem baut sich eine Gruppe Blattpflanzen auf. Ein grüner altdeutscher Kachelofen strahlt behagliche Wärme aus. Die Sessel und Sofas sind bequem und stehen in hübscher Anordnung zwanglos auf weichem Smyrnateppich. An den Wänden hängen alte Familienporträts der


Pierrot als Troubadour.
Nach einer Originalzeichnung von St. Grocholski.

[70] Wartaus, und ganz in der Ecke hat Christels Reliquienschränkchen Platz gefunden. Die Photographien ihres verstorbenen Vaters, der Mutter und die der Schwestern, des Herrn Pastors und der Kinder hängen in der tiefen Fensternische; Christel kann sie da immer sehen. Auf einem Zierschränkchen tickt eine köstliche alte Uhr im Schildkrotgehäuse, reich mit Gold verziert, die zum Schloßinventar gehört hat. Es ist alles sehr schön, sehr behaglich, aber Christel hat Heimweh, furchtbares Heimweh nach ihrem alten einfachen Stübchen im Pächterhause drüben.

Sie hätte so gern das Eckzimmer bewohnt, es wäre ihr wenigstens der Blick auf den Hof geblieben, hinüber zu der verlassenen Stätte ihres bisherigen Lebens, aber das Eckzimmer ist die Stube mit den Wandmalereien, und Anton hat trotz seines Versprechens, tapezieren zu lassen, plötzlich erklärt, er wäre kein Barbar und werde sich hüten, solch interessante Fresken zu verkleistern. Anton hat gewiß recht, und sie versteht nichts von Kunst, Fräulein Tonette aber hat ihr soviel darüber vorgeredet, daß ihr ganz schwindlig geworden ist. Sie ist stillschweigend in das zweite Zimmer retiriert; freilich, dessen Fenster gehen nach dem winterlichen Garten, und außer ein paar Krähen ist dort jetzt nichts zu sehen als Schnee, endloser Schnee; und Christel hat so sehr viel Zeit jetzt, aus dem Fenster zu schauen. Christel ist krank aus Mangel an Arbeit; die Milchwirtschaft hat die Frau des Inspektors Heine übernommen, eine von Christels ehemaligen Milchstudenten; sie macht ihre Sache ordentlich, das ist wahr.

In der Herrschaftsküche waltet eine perfekte Köchin. Christel läßt es sich natürlich nicht nehmen, nach wie vor die oberste Stimme in diesem Ressort zu haben; sie führt auch Speisekammer- und Kellerschlüssel noch immer am Haken des Gürtels, giebt alles heraus, ordnet jedes an; sie ist beim Gänse- und Schweineschlachten noch auf dem Platze von morgens bis abends, aber sie hat doch an den gewöhnlichen Tagen sehr, sehr viel Zeit.

Anton wünscht, daß sie von elf Uhr vormittags an in einer Toilette ist, in welcher sie Besuche empfangen kann, und sie fühlt sich am wohlsten in ihrem Arbeitskleid und der großen Wirtschaftsschürze. Aber freilich hat er recht, diese vornehmen Besuche kann man nicht empfangen mit rotem Gesicht vom Herdfeuer. Ach, das Damespielen fällt Christel recht schwer! Schon die Fahrten nach den Gütern rings umher, die Erwiderung der Besuche – sie sitzt immer da wie auf den Mund geschlagen und fühlt, daß sie bald rot, bald blaß wird. Anton freilich macht ihr linkisches Benehmen wieder wett, er ist sofort mitten in einem Gespräch und weiß es spielend im Fluß zu erhalten. Woher er das nur hat? Ob er das früher schon konnte? Ihr ist bei solchen Gelegenheiten stets, als lerne sie ihn jetzt erst kennen.

Anfangs hat es Christel Spaß gemacht, in den Räumen des Schlosses umherzustöbern. Was hat sie da alles gefunden an Urväterhausrat und wunderlichem Krimskrams. Jetzt ist’s tödlich kalt in den weiten unbewohnten Räumen, und das völlige Ordnen des Inventars ist bis zum Sommer verschoben. Christel näht nun und strickt, aber ihr an Bewegung gewöhnter Körper verträgt das Stillsitzen nicht, sie fröstelt leicht, was sie sonst nicht kannte. Sie liest auch viel. Anton hat versprochenermaßen für Lektüre gesorgt, aber da sind Bücher darunter, die sie nicht begreift, die sie unruhig machen. „Nicht denken möcht’ ich’s, was darin steht,“ sagt sie zu Anton, „viel weniger schreiben. Nichts als Schlechtigkeiten, nichts als Untreue! Gottlob, so etwas liegt unserem Leben so meilenfern!“ Mitunter aber liest sie diese Geschichten doch, bis ihr der Kopf schmerzt und sie traurig wird bis zum Weinen. Das geschieht, wenn Anton auf die Jagd gegangen ist und erst spät heimkommt, oder wenn er in seiner Stube sitzt und Berechnungen macht.

Sie freut sich immer, wenn ein leises Klopfen an ihre Thür ertönt und dann ein schöner brünetter Mädchenkopf in die Stube schaut.

„Darf ich eintreten, Frau Christel?“ fragt Edith von Ebradt, „stör’ ich nicht?“

„Zu keiner Stunde, Fräulein Edith.“

Die Langeweile hat das Kind zu ihr getrieben. Bald schon nachdem die Mohrmanns ins Schloß übergesiedelt, kaum daß sie ein wenig eingerichtet waren, da hat’s zum erstenmal geklopft und auf Christels „Herein!“ ist das junge Geschöpf über die Schwelle gekommen. „Ach, liebe Frau Mohrmann, entschuldigen Sie – droben kann ich’s nicht mehr aushalten bei der Tante – lassen Sie mich ein wenig bei Ihnen bleiben.“ Und Christel, die das Kind bisher nur flüchtig sah, hat sie, ganz gerührt durch ihr Vertrauen und von dem schönen traurigen Gesicht, willkommen geheißen, und seither vergeht kaum ein Tag ohne einen Besuch des jungen Mädchens. Es hockt dann auf den Stufen der Estrade bis in die Dämmerung, und wenn Tante Tonette gerade Migräne hat, dann bleibt es sogar abends zu Tische bei Mohrmanns.

Fräulein Josepha ist richtig in ihr Stift übergesiedelt, sie konnt’s nicht ertragen, hier Fremde schalten und walten zu sehen. Tonette lebt dort oben weiter mit der jungen Nichte; mittags speisen die Damen mit Mohrmanns gegen eine geringe Entschädigung. Edith zulieb hat Tonette von Wartau eingewilligt, unten im Tafelzimmer mit ihnen zu essen; „man hört da doch mal ein Wort reden,“ sagt das alte Fräulein.

Tonette ist eine ganz vernünftige Person, sie sucht sich mit der Wandlung der Dinge abzufinden. Wunderlich nur, daß Mohrmann in Gegenwart der beiden Damen auffallend wortkarg ist, mitunter beinahe unhöflich gegen Edith. Christel berührt es unangenehm, sie glaubt zuweilen, es sei nötig, ihn zu entschuldigen. „Er muß an so vieles denken, Fräulein Edith, und zu Galanterien hat er sein Lebtag keine Anlage gehabt,“ sagte sie einmal.

„Ich weiß nicht, was Sie wollen, Frau Christel,“ antwortet das junge Mädchen. „Scherwenzeln mag ich nicht leiden und, wozu sollte er denn auch galant sein? Es liegt gar kein Grund vor!“ und dabei verzieht sich das Gesichtchen und sieht geradezu hochmütig aus.

Auch heute ist also Edith wieder in Christels Zimmer geschlüpft. Sie hat einen Korb in beiden Händen, dessen Inhalt sie lachend auf den Teppich schüttet, einen bunten Inhalt, lauter Puppen, nichts wie Puppen, große und kleine. „Da, Frau Christel,“ sagt sie, „die wollen wir den Gutskindern zu Weihnacht verehren; nur eine habe ich zurückbehalten, die hebe ich auf für meine Kinder.“

Christel muß lachen. Das junge Mädchen ist reizend, wie sie das so sagt, mit drolliger Ernsthaftigkeit auf dem Teppich sitzend unter den Schreikindern und Balldamen.

„Warum lachen Sie denn?“ fragt sie, und die von eigentümlich langen Wimpern verschleierten strahlenden Augen sehen zu Christel empor. „Sie denken wohl, ich werde mich nicht verheiraten? So etwas! Aber sicher werde ich es thun – was denn auch sonst? Ehe ich ins Fräuleinsstift gehe – lieber lege ich mich irgendwo in den Schnee und lasse mich totfrieren.“

„O, Fräulein Edith, freilich werden Sie heiraten,“ beschwichtigt Christel, noch immer lächelnd, „vielleicht haben Sie gar schon einen, den Sie – –“

„Natürlich habe ich den, aber heiraten werde ich ihn höchstwahrscheinlich nicht,“ unterbricht Edith von Ebradt aufstehend und den bunten Haufen ihrer Lieblinge mit der kleinen Fußspitze zusammenschiebend.

„O, das wäre schade!“

„Je – nun, das ist richtig,“ erklärt das junge Mädchen, „aber ich kann doch nur einen nehmen, der Geld hat, das ist mir von Mama gesagt worden, solange ich überhaupt hören und sehen kann; und sie hat recht, darauf bin ich angewiesen, und das ist nun mal so. Wie Mama darf ich’s nicht machen, das gäbe ein neues Elend; die hat’s mit aller Gewalt durchgesetzt, den Mann zu kriegen, den sie liebte, und er war arm. Wenn man aber Geld hat, kann man nie ganz unglücklich werden. Meine Freundin, Emma von Zobel, und ich, wir wollen überhaupt nur einen, der sehr reich ist.“

Christel bleibt bei dieser nüchternen Auffassung des bildschönen Kindes, das wie die verkörperte Poesie selbst aussieht, die Antwort in der Kehle stecken. „Ah,“ sagt sie endlich, „wenn Sie so sprechen, dann lieben Sie ja auch keinen – wenn man liebt, denkt man anders.“

„Doch, ich liebe den Edi von – wie er heißt, brauchen Sie aber nicht zu wissen, Frau Christel; ich liebe ihn sogar sehr!“

„Nein, liebes Fräulein Edith, das bestreite ich.“

„Sie denken wohl, weil ich nicht weine und wie ein Gespenst umherwandle vor Kummer? O, das macht nichts aus, ich liebe ihn auf meine Weise, Frau Christel. Treue habe ich ihm nicht geschworen, das hasse ich; sie kann ja nur in den seltensten Fällen gewahrt werden. Ich fühle mich also völlig frei und brauch’ nicht, wie üblich, Trübsal zu blasen.“

[71] Christel ist natürlich fest der Ansicht, daß das Kind gar nicht weiß, was es spricht, und will eben von etwas anderem beginnen, da sagt Edith: „Tante Tonette behauptet nämlich, sie sei in gräßlicher Sorge um mich, sie wüßte gar nicht, wo ich überhaupt eine ‚Partie‘ kennenlernen sollte – wir verkehren ja nirgends, aus leicht begreiflichen Gründen.“

„Machen Sie sich auch Sorge darum, Fräulein Edith?“ lächelt Christel.

„Ich? Gar nicht!“ sagt stolz das Mädchen und überläßt es Christel, die Gründe für dieses „Gar nicht!“ zu suchen. Ob es Siegesgewißheit ist, daß ihr so und so viele huldigen werden, oder das Bewußtsein, daß sie noch viel, sehr viel Zeit hat mit ihren achtzehn Jahren?

Christel will eben dieserhalb fragen, da tritt ihr Mann ins Zimmer: er ist in der Hausjoppe und hält einen weichen Filzhut in der Hand. Er grüßt das junge Mädchen übertrieben respektvoll und wirft Christel einen verdrießlichen Blick zu, als wolle er sagen: „Schon wieder ist sie hier?“ Dann, den Haufen Puppen auf dem Teppich gewahrend, bleibt er stehen und betrachtet ihn nachdenklich.

„Für die Tagelöhnerkinder zu Weihnacht opfert Fräulein Edith ihre Puppen,“ erklärt Christel.

„Ja,“ nickt das Mädchen, „ich hoffe, die Würmer bekommen beschert im Schloß? Meine Mutter hat mir erzählt, es sei hier früher so Brauch gewesen. Und ein bißchen weihnachtlich muß es doch sein,“ spricht sie weiter, und mit einem unbeschreiblich holden, naiven Mitleid sieht sie von Christel zu dem stattlichen Mann hinüber. „Wie schade, daß Sie keine Kinder haben, ich würde Ihnen gern helfen bei der Weihnachtsvorbereitung, es ist zu süß und lieb! Emma von Zobels kleinem Bruder habe ich einen herrlichen Elefanten gemacht im vorigen Jahr, aus grauem Barchent, und Puppenkleider schneidern, das ist nun gar meine größte Lust!“

Christel ist blaß geworden, und ihre Blicke hängen angstvoll an Anton. Der steht und streicht seinen blonden Bart und sieht Edith an, als habe er kaum gehört, was sie sagte, und in seinen Augen liegt es wie Schatten. Das Stubenmädchen, das meldet, der Kaffee sei serviert, überhebt das Ehepaar einer Antwort. Christel steht auf, hängt das Schlüsselkörbchen an den Arm, und an den andern hängt sich Edith.

„Darf ich mitkommen? Ach bitte, Frau Christel, lassen Sie mich! Tante Tonette kramt ja doch nur wieder den ganzen Nachmittag in alten Briefen – – ach Gott, wenn wir doch wenigstens Eisbahn hier hätten!“ ruft sie.

Anton geht hinter den Frauen her. Edith ist so groß wie Christel, aber sie hat ein Figürchen, wie um ins Rokokoschränkchen gestellt zu werden, mitten zwischen die Schäfer und Schäferinnen aus vieux Saxe, die Fräulein Tonette nun doch an einen Antiquitätenhändler verkaufen will, so biegsam und schlank. Das Trauerkleid läßt sie noch elfenhafter erscheinen; dazu steht der kindliche Schnitt der Bluse reizend im Gegensatz zu ihrer Größe, und der griechische Knoten am Hinterkopf giebt dem Gesicht im Profil etwas von einer antiken Kamee. Zum erstenmal fällt ihm auf, wie plump Christels Taille in den letzten Jahren geworden ist.

Er spricht bei dem Vesper fast kein Wort; Christel ist ganz ärgerlich über ihn. „Gehst du nachher einen Augenblick mit zu Pastors?“ fragt sie endlich. Er schüttelt den Kopf. „Ich fahre im Schlitten nach Wehrden: ich will den Schmied selbst sprechen, der Beschlag der Rappen kann so nicht bleiben, beide streifen sich vorn.“

„Anto, da könntest du – –“ bittet Christel.

„Nun?“

„Dem kleinen Anto sein Geburtstag ist – du könntest ihm ja keine größere Freude machen: hole ihn ab aus der Pfarre, bitte, bitte!“

„Offen gestanden, Christel, das paßt mir nicht; es ist bitterkalt und Ostwind – der Teufel kann ja sein Spiel haben. Mit anderer Leute Kindern? – nee!“

Mit anderer Leute Kindern? Sie sieht ihn ganz befremdet an, es hat so eigentümlich geklungen. Natürlich hat er recht, aber – „der Ton macht die Musik“, pflegt ihre Mutter zu sagen.

Edith hat während dieses Gespräches zum Fenster hinausgesehen, und auf einmal sagt sie und die Lust dazu blitzt ihr unter den Wimpern hervor: „Nehmen Sie mich mit, Herr Mohrmann, bitte!“ Er setzt seine Tasse, die er eben zum Munde führen will, wieder hin und über seine Stirn fliegt ein hohes Rot. „Sie werden mir verzeihen, wenn ich Ihren Wunsch nicht erfülle,“ sagt er forciert kalt, „die Rappen gingen noch nie vor dem Schlitten, sie sind jung und etwas heftig. Später, gnädiges Fräulein, wenn die Pferde sich an die Schellen gewöhnt haben –“ Und er erhebt sich, macht eine Verbeugung und verläßt das Zimmer.

„Diesmal haben Sie recht, Frau Christel,“ lacht Edith von Ebradt unbefangen, „er ist nicht sehr zuvorkommend. Aber Sie wollen zu dem kleinen Geburtstagskinde, ich darf Sie nicht länger stören. Auf Wiedersehen!“ Sie umhalst plötzlich die blonde starke Frau und giebt ihr einen Kuß. „Ach, ich freue mich auf die Schlafenszeit,“ ruft sie von der Thür zurück: „wozu wacht man eigentlich auf? Ich möchte schlafen – schlafen –“

„Bis der reiche Freier kommt,“ sagt Christel scherzend. Edith ist verschwunden, aber ihr Lachen schallt noch von draußen herein.

Nach einem Weilchen klingen Glocken, und just als Christel das Portal betritt, fährt der Schlitten vor. Sie steht da, sehr stattlich, in einem modernen seidenbezogenen Pelz, ein Capotthütchen mit Straußfedern auf dem Kopfe, und ruft ihrem Gatten, der im Begriff ist, die Zügel dem Kutscher abzunehmen, freundlich zu: „Ich möchte nur wissen, ob ich auch einen Korb bekomme, wenn ich dich bitte, mich mitzunehmen?“

„Bitte, fahr’ nur mit,“ sagt er, zur Seite rückend.

Sie steigt hinunter und setzt sich neben ihn. „So, mir schadt’s nichts, wenn die Rappen durchgehen?“ fragt sie heiter.

„Die Rappen gehen nicht durch,“ antwortet er, ohne eine Miene zu verziehen.

„Aber – Anto! Und dann lügst du so?“ schilt sie, während sie langsam über den Wirtschaftshof fahren.

„Ich finde, Fräulein von Ebradt kommt recht oft jetzt,“ bemerkt er ausweichend.

„Laß sie doch, Anto! Sie ist ein zutrauliches Geschöpf und so einsam: die alte Tonette mag nicht gerad’ sehr unterhaltend sein.“

Er sieht jetzt beinahe ärgerlich aus. „Sind wir dazu verpflichtet, sie – sie – –?“

„Nein! Aber ich muß dir sagen, Anto, in den langen Wintertagen, wo ich so allein bin, besonders wenn du auf die Jagd gehst – es zieht mich so ab von meinen Gedanken, wenn sie kommt, und wenn sie da so sitzt auf der Estrade, dann –“ Sie verstummt, sie will sagen: „ist es mir, als wär’s meine Tochter.“ „Sie ist zu originell,“ spricht sie statt dessen.

Der Schlitten fährt jetzt in der Allee; der Kutscher, in langem Pelz und russischer Bärenmütze, sitzt hinten auf.

„Denke dir nur,“ fährt Christel fort, „sie erzählte mir da, sie hätte eine Liebe – Jesus!“ schreit sie dann auf, die Rappen sind im Galopp angesprungen und rasen an hundert Meter in der Allee dahin, dann beruhigen sie sich. „Kannst du aber böse aussehen, Anto,“ sagt Christel aufatmend, „was war denn das? Bitte, halte dort an der Ecke, ich will ja zu Pastors!“

Er hält nach ein paar Sekunden. „Adieu, Anto, komm’ nur gut wieder heim,“ wünscht sie, ihn besorgt anschauend.

„Aengstige dich nicht,“ antwortet er ruhig. „Wie lange bleibst du? Soll ich dich abholen auf dem Rückwege?“

„Das wäre nett von dir, besonders wenn du dann noch einen Augenblick herein kommst.“

Er verspricht es, und dann geht Frau Christel die Dorfstraße entlang; die Seide ihres Pelzes raschelt, und sie kommt sich vor wie auf einer Maskerade, wenn sie daran denkt, daß sie vor ein paar Monaten noch einfach im Umschlagetuch über dem Hauskleid und in der Wirtschaftsschürze genau denselben Weg gegangen ist; aber das erlaubt Anton nicht mehr. Im Pastorhause ist sie schon lange erwartet, und die Kinderschar, der kleine Held des Tages voran, stürzt ihr jubelnd entgegen. Frau Pastorin hat festlich den Theetisch gedeckt, auf ihm prangt die Geburtstagstorte, die Tante Christel schon am Morgen geschickt, und die Sparbüchse mit dem Goldstück von Onkel Anto hält der Kleine in der Hand und läßt es klappern. Sie sitzen dann bald um den Tisch, Tante Louischen schenkt Kaffee ein und nebenan in der Wohnstube wird von den Kindern – es sind noch des Gemeindevorstandes und des Kantors Jungen eingeladen – Lotto gespielt.

Christel sieht von Zeit zu Zeit mit traurigen Augen hinüber nach dem Zimmer, wo sich acht bis zehn braune und blonde Köpfe über den Tisch beugen, und es muß etwas sein in ihren [72] Augen, das die alte Mutter bemerken läßt: „Ja, hm – wenn du dir so eine Tasche voll davon mitnehmen könntest –.“

„Ach, Mutter,“ bittet sie abwehrend, „man muß nicht alles haben wollen; ich glaube auch, Anto vermißt gar nicht Kinder.“

Ein halbes Dutzend verwunderter Blicke trifft sie. Tante Louischen sagt, daß es Christel wie ein Blitz durch die Seele fährt, der das Dunkel der Nacht erhellt: „Wenn er so thut, als entbehre er sie nicht, so geschieht’s nur, weil er dich nicht traurig machen will.“

Christel sieht wie Hilfe suchend umher. „Aber – er hat doch nie eine –“ stammelt sie.

„Vor kurzem soll er aber doch geäußert haben, daß er Gott weiß was gäbe um so ein Häuflein Flachsköpfe,“ behauptet die Mutter. „Tischler Pappritz hat’s mir selbst erzählt: ‚Sie sind doch zu beneiden, Meister,‘ hat Anton gesagt, ‚und unsereiner, der sie ernähren kann, dem werden sie nicht gegeben‘.“

Christel schweigt, aber in ihrem Kopfe jagen sich die Gedanken nur so. Der Pastor, der es recht gut versteht, auf was die alte Frau hinaus will, spricht von andern Dingen, und mühsam schleppt sich die Unterhaltung fort, denn Christel ist wie abwesend. Plötzlich zieht die alte Frau sie zu sich, und ihren Mund an das Ohr der Tochter legend, flüstert sie:

„Wenn ihr den Anto adoptieren wollt, müßt ihr’s klug anfangen mit Pastors.“

Christel sieht die alte Frau ganz erschreckt an. Wie hat sie denn ihre eigensten Gedanken erraten können? Dann schüttelt sie heftig den Kopf. „Anderer Leute Kinder!“ Das Wort klingt vor ihren Ohren, als werde es noch einmal von Anton gesprochen. Am liebsten ginge sie nach Hause, aber sie hat ja versprochen, zu warten; und er bleibt so lange. Endlich kommt er; wie ein Schneemann tritt er ein, den Kragen hinaufgeschlagen, die Pelzmütze herabgeklappt, in der linken Hand einen Sack, in dem es von Nüssen und Aepfeln rasselt, in der andern eine Rute.

„Der Niklas! der Niklas!“ jubeln die Kinder. Da schreit er mit verstellter Stimme: „Wo ist der Anto? Komm’ her, Anto, kannst du beten?“

Der fünfjährige Bursche, mit dem köstlichen krausen Blondkopf und den großen blauen Augen, tritt vor.

„Bete!“

„Nee!“ sagt ganz patzig der Wicht.

„Warum nicht?“ brüllt Niklas.

„Weil du gar nicht der Niklas bist – du bist ja Onkel Anto!“

Da läßt der Niklas den Sack mit Aepfeln fallen und nimmt das Kind in die Arme und küßt es ab. „Prachtbengel du!“ ruft er. Christel steht mit leuchtenden Augen dabei, und doch dreht sich ihr das Herz um vor Weh.

„Guten Abend, alle zusammen! Guten Abend, Christel! Wollt’ dich nur abholen, da fiel mir ein, wie wir als Kinder vor dem Niklas zitterten, ließ mir von der Obstfrau Kurzen einen Sack zurecht machen – he, Anton, für dich steckt noch etwas drin!“ ruft er dann, und in der nächsten Minute hat der Junge eine sächsische Soldatenmütze auf dem Kopfe, eine Gardereitermütze, und zittert ordentlich vor Stolz.

„Wein? Nein, Schwager, danke,“ lehnt Anton ab. „Wir fahren wohl bald, Christel? Oder möchtest du bleiben heut’ abend – dann –“

Sie verneint und macht sich eilig fertig. Auf ihrem Gesichte liegt ein wehmütig glückliches Lächeln, er ist ein so guter treuer Mensch – wie nett, an den Niklas zu denken! Sie muß es ihm auch sagen, als sie nebeneinander im Schlitten sitzen. „Der Allerbeste bist du auf der ganzen Welt,“ flüstert sie und streichelt den Aermel seines Pelzes. Als sie dem Schlosse zufahren, steht droben an dem erleuchteten Fenster eine dunkle Mädchengestalt.

Vom Kölner Karnevalszug auf dem Waidmarkt.
Nach dem Gemälde von Chr. Heyden.


Anton sieht so starr hinauf, daß er fast einen Prellstein umgeworfen hätte. „Aber Anto!“ sagt Christel lachend.

Er entschuldigt sich nicht einmal, er murmelt nur ein „Donnerwetter!“ in den Bart.




Was Christel im Pfarrhaus gesehen und gehört, hat sie im Innersten erschüttert. Sie hatte es geahnt, daß Anton sich im geheimen nach Kindern sehne wie sie, nun weiß sie es sicher. Am nächsten Tage geht sie im Hause umher wie eine Träumende; wenn sie mit Anton spricht, sieht sie ihn immer an mit einem Ausdruck von Mitleid und stillem Jammer und die hellen guten Augen sind beständig feucht. Er merkt es gar nicht, er sagt nur, gleichsam als fühle er, daß er ihr eine Erklärung geben müsse für seine Zerstreutheit, es gehe ihm soviel [73] jetzt im Kopfe herum, sie möge verzeihen, wenn er mal eine Frage überhöre.

Christel seufzt und denkt: ich weiß es wohl, armer Kerl, was dir das Herz schwer macht; könnt’s was helfen, daß ich die Erde aufwühlte, ich wollt’s dir klaftertief ausgraben, was du wünschst, und müßt’ ich sterben darüber, aber – es hilft ja nichts. Sie hantiert fleißig umher in der Wirtschaft, und mehr und mehr drängt sich ihr der Plan auf, den kleinen Anton aus der Pfarre zu adoptieren.

Wie rührend lieb Anton das Kind hat! Einen solchen Ausbruch von leidenschaftlicher Zärtlichkeit hat sie nicht in ihm vermutet. Sie zweifelt auch nicht, daß er sofort zugreifen würde, das Kind an Sohnes statt zu nehmen, wenn es eben ganz – ganz abgetreten würde! Pastors müßten sich verpflichten, alle und jede Rechte an dieses Kind aufzugeben.

O, lieber Gott, welch’ Verlangen! Sie kann sich ja nur unvollkommen hineindenken in das Gefühlsleben einer Mutter, aber sie sagt sich, daß sie eher sterben würde, ehe sie das Kind, solches Prachtkind, hergäbe. Es hat doch auch jeder so seine eigenen Ansichten vom Aufziehen der Kinder. Und dann, so von weitem stehen und mit gefalteten Händen zuschauen, und alles mit ansehen müssen und nicht laut schreien dürfen: nein, nein, ihr müßt ihn anders behandeln, ihr kennt ja den Charakter des Kindes gar nicht!

Es ist doch Unmögliches, was sie verlangt! Und dennoch, für Anton – was hätte sie für Anton nicht gethan, für diesen zartfühlenden Menschen, der nicht eine Klage hatte über die kinderlose Ehe in ihrer Gegenwart? O, sie wollte bitten und in die Eltern des Kindes dringen, sie wollte versprechen und betteln, ihr ganzes Leben für den kleinen Anton, wenn nur der große wieder lächeln möchte. Vielleicht zu Weihnacht – – wenn sie den Jungen aufbauen könnte unter dem Baum für den geliebten Mann, der kleine Wicht müßte ihm entgegenspringen und „Lieber Vater“ sagen.

Auf einmal schreit eine helle Stimme halb singend: „Frau Christel! Frau Christel!“ und hinter ihr steht Edith Ebradt im kurzen, etwas ausgewachsenen Winterjackett, das Pelzmützchen schief auf dem Kopfe, in der Hand, die im dicken gestrickten Handschuh steckt, die Schlittschuhe hoch haltend und schüttelnd, daß es nur so klappert.

„Nun bitten Sie mal gleich Ihrem Manne ab – was? Ist er galant oder nicht, Frau Christel? Gestern habe ich nur einmal so etwas hingehaucht von einer Eisbahn und – was hat er gethan, der gute Mensch? Im Rondell zwischen den Buchenhecken spiegelt das herrlichste Eis, die ganze Nacht haben die Knechte Wasser geschleppt! Nun sagen Sie mir, wo er ist, liebe Frau Christel, ich muß ihm doch danken!“

„Das hat er gethan?“ fragte Christel, „das freut mich aber.“

Sie ist wirklich ganz rot geworden und ihre Augen strahlen.

„Wie nett! Sie glauben gar nicht, Fräulein Edith, wie gern er Kinder – Jugend,“ verbessert sie sich, „hat. – Wo er ist? Ich glaube, in seinem Zimmer.“

„Nein, nein, da klopfte ich schon,“ unterbricht das lebhafte Mädchen, „aber niemand rief ‚Herein!‘ Und da machte ich ein bißchen – ein ganz klein bißchen nur die Thür auf, er saß aber nicht am Schreibtisch.“

„Vielleicht ist er in den Ställen, Fräulein Edith, oder bei der Dampfdreschmaschine?“

„Ach, dann bedanke ich mich später bei ihm, jetzt will ich die Eisbahn probieren!“ und ein Kußhändchen ihr zuwerfend, läuft sie hinaus.

Christel lächelt noch immer, und als sie mit ihren Anordnungen fertig ist, stülpt sie sich, wie sie steht und geht, eine etwas verbrauchte Kapuze über den Kopf, nimmt ein Tuch um und wandert in den herrlichen Wintermorgen hinaus, quer durch den Park, dem großen Rondell zu. Sie sieht ein bißchen grotesk aus, denn sie hat zum Ueberfluß noch die Holzpantinen des Küchenmädchens über ihre Hausschuhe gezogen, aber wer sieht sie denn hier? Und sie will sich die Eisbahn ansehen und das schöne kindliche Geschöpf dazu. Sie kommt etwas wankend und unsicheren Schrittes näher. Das Rondell, einst eine Gartenbühne für die Schäferspiele des vorigen Jahrhunderts, liegt völlig geschützt hinter hohen Buchenhecken. Einige davon bilden Lauben. Das Ganze macht den Eindruck eines weiten eirunden Saals unter freiem Himmel. Und wo ehemals das aus Rasen geschaffene Podium sich befand, das längst dem übrigen Boden gleichgemacht ist, stehen zu beiden Seiten aus Sandstein gemeißelte Gruppen, Schäferscenen, die, wie Christels Schwager stets behauptet, eigentlich polizeilich verboten werden müßten, so frivol sind sie.

[74] Als Christel eintritt durch eine Oeffnung in der Buchenhecke, die wie eine Rundbogenthür geschnitten ist, erblickt sie Edith bereits in zierlichen Bogen umherfahrend. Spiegelblank ist die Fläche, kein Zuglüftchen trifft die eifrige Läuferin, über ihr als Decke der tiefblaue Winterhimmel; es ist etwas Heimliches, Lauschiges um diesen Platz.

Sie sieht jetzt auch Anton, Anton, der, die Arme untergeschlagen, in dem Eingang der gegenüberliegenden Laube steht und die graziösen Bewegungen des jungen Mädchens verfolgt. „Anto,“ ruft Christel fröhlich, „das hast du nett gemacht!“

Er wendet sich hastig um und es fliegt etwas wie ein ärgerlicher Schatten über sein Gesicht. Als sie hinübergeschwankt ist zu ihm auf ihren Pantoffeln, liegt schon wieder die alte gleichmäßige Ruhe auf seinen Zügen.

„Welch nette Ideen du hast,“ lobt sie, „und welche Freude für das Kind! Schau nur, wie reizend jede Bewegung! Sie ist doch ein schönes, schönes Geschöpf, Anto, und ich freue mich, daß du endlich einmal eine Freundlichkeit für sie hast!“

„Na komm’, Christel,“ sagt er als Antwort, „es ist doch scheußlich kalt hier, und du hast dich doch wohl nicht genügend für einen Spaziergang angezogen?“

Sie blickt an sich herunter und muß lachen. „Aber, im eigenen Garten?“ entschuldigt sie sich, und gleich darauf möchte sie am liebsten in die Erde sinken, denn hinter dem atemlosen Stubenmädchen erscheint der Graf Altwitz. Er begrüßt Christel respektvoll wie immer, aber der befremdete Blick, mit dem er ihren etwas marktweiberhaften Aufzug prüft, entgeht weder ihr noch Anton. Er redet ein wenig über Wetter und Eisbahn, ruft Edith ein altmodisches galantes Kompliment zu und verschwindet dann mit Anton, da sein Besuch zu der frühen Stunde – es ist elf Uhr vormittags! – selbstverständlich nur dem Hausherrn gelte.

Christel und Edith bleiben allein in dem umfriedigten Platz, und Edith lacht, indem sie in kleinen Kreisen vor Christel umherfährt. „Nein, Frau Christel, wenn Sie sich nur sehen könnten! O, zu köstlich!“

Christel kann nicht mitlachen, und als sie annehmen darf, die Herren sind im Hause, angelangt, geht sie rasch hinterher und macht eilends Toilette. Sie will Anton sagen, es solle nicht wieder vorkommen, daß sie sich nach ihrer früheren Gewohnheit in die derben Sachen einer Wirtschafterin kleidet, sie könne nur so schlecht hantieren im besseren Anzug; so toll wie heute darf sie es nicht mehr machen, er hat recht.

Aber Anton redet kein Wort darüber, als sie sich bei Tische wieder treffen. Er ist genau wie alle Tage, seitdem sie hier im Schlosse wohnen, still und fast unfreundlich, solange die Damen von oben dasitzen, weich und ungewöhnlich nachgebend, wenn er mit Christel allein ist.

Bei Tische erfährt Christel, daß der Verkauf der den Fräulein von Wartau verbliebenen Antiquitäten, den diese für nächste Woche angesetzt hatten, nicht stattfinden wird, da Anton auch noch diese Sachen erstanden hat um den Preis, den der Sachverständige aus Leipzig aufstellte. Sie legt Messer und Gabel hin und sieht Anton erstaunt an, aber er vermeidet ihren Blick.

Fräulein Tonette reicht ihm mit besonderer Herzlichkeit die Hand.

„Lieber Mohrmann,“ sagt sie, „Sie haben mir einen großen Schmerz erspart, indessen – ein schlechtes Geschäft haben Sie auch nicht gemacht, es sind Stücke darunter von großem Wert. Aber ich bin Ihnen so dankbar, daß die Sachen hier bleiben dürfen. Ich weiß ja, uns gehört kein Ziegel mehr auf dem Dache, aber trotzdem ist mir’s in unsern traurigen Verhältnissen ein so wohlthuendes Gefühl, zu wissen, daß das teure Besitztum in Hände gerät, die pietätvoll bemüht sind, es gut zu erhalten. Auch dafür nochmals Dank, lieber Mohrmann, daß Sie damals so bereitwillig davon abstanden, das Eckzimmer tapezieren zu lassen. Diese alten Rokokogestalten an den Wänden, die haben schon in die Kinderträume unserer Voreltern hineingespielt, und ebenso in die meinen und die meiner Schwester. Auch unsere Edith, die ja hier geboren wurde, hat an ihnen als Kind die erste Unterhaltung gefunden. Sie war noch nicht ein Jahr alt, da streckte sie schon die Händchen nach ihnen aus und rief: ‚Mann – tata – tata!‘ Das sollte ‚Tanzen‘ heißen.“

Edith lächelt, aber Christels Augen haften noch immer an dem Gesicht ihres Mannes. Also deshalb wollte er nicht tapezieren lassen? Diese Enthüllung verwirrt sie plötzlich, macht ein bitteres Gefühl in ihrer Seele lebendig, das sie bisher nicht gekannt hat.

Sie sitzt nach Tische stumm auf ihrem Fensterplatz und schaut hinaus in den Garten, der in blendender Schneepracht daliegt. Es stört sie auch niemand; Edith klopft heute nicht, sie tummelt sich auf ihrer Eisbahn, und Anton kommt nie zu dieser Zeit, er hat mit dem Inspektor zu reden, oder dergleichen. Er ist überhaupt viel abwesend, ohne daß Christel weiß, wo er sich befindet. Früher, in der kleinbürgerlichen Engigkeit da drüben, da wußte sie um einen jeden seiner Schritte – ach, wie anders ist alles geworden!

Sie nimmt das Strickzeug und beginnt hastig zu arbeiten, dann läßt sie es wieder sinken und starrt vor sich hin. Und da meint sie zu hören, wie in ihrem Innern eine Stimme ganz laut räsonniert und schilt: „Pfui, Christel, daß du dich nicht schämst! Seit so vielen Jahren bist du mit ihm durchs Leben gegangen ohne Arg und Mißtrauen, nicht ein unlauterer Gedanke durfte dir kommen um deinen Mann – jetzt willst du wohl gar wegen alberner Lappalien – – Christel, mach’ keine Thorheit, nichts erschüttert die Ehe mehr als Mißtrauen; höre, sei wieder vernünftig, dumme Trine!“ Und dann sagt sie halblaut zu sich: „Warum soll er dem armen Wurm nicht den Gefallen thun und das bißchen Kram im Hause belassen, an dem sie schier närrisch hängt?“

Und die tapfere rechtschaffene Seele redet sich wirklich vollständig zur Ruhe und zwingt sich, daran zu denken, daß Anton eine große Jagd abhalten will, die erste als Besitzer von Wartau, und daß es für sie eine Ehrensache ist, das darauf folgende Diner tadellos herzurichten. Dann drängt sich wieder der kleine Anton in den Kreis ihrer Gedanken.

Als ihr Mann in der Dämmerung zum Vesper kommt, ist sie so freundlich und aufgeräumt wie nie, legt ihm das Menü für das Jagddiner vor und fragt, wo alle die Bilder, Nippsachen und wunderlichen Möbel bleiben sollen, die er gekauft hat in seiner Gutmütigkeit.

„Mögen sie doch oben stehen bleiben auf ihren alten Plätzen,“ antwortet er, „aber, was ich sagen wollte – Gutmütigkeit, Christel? In den Sachen steckt wirklich ein Wert, ich bekomme vom Antiquitätenhändler leicht das Doppelte.“

„Nein, nein, Anto,“ erwidert Christel und legt die Arme um seinen Hals, „ich kenne dich besser: willst den armen Würmern da droben einen Schmerz ersparen. So ist es – red’ kein Wort dagegen!“ Und ihren Kopf an seine Schulter legend, eine Zärtlichkeit so scheu und ungewohnt, daß man merkt, sie hat sie nur selten gewagt, setzt sie mit einer Stimme hinzu, halb verquollen von aufsteigenden Thränen: „Du verdienst, so glücklich zu sein, so viel glücklicher als ich dich machen kann, Anto!“

Er erwidert nichts, aber sie fühlt, wie sich seine Brust hebt in einem unterdrückten Seufzer, wie die Hand, die über ihre Wange streicht, zittert. „Christel,“ tröstet er, „wie kommst du auf solche Dinge? Hast du je bemerkt, daß ich unzufrieden bin? Sag’ lieber, du habest einen bessern Mann verdient.“

Sie denkt plötzlich wieder an ihr kinderloses Heim und fängt an zu schluchzen, leidenschaftlich wie nie. Er ist ganz betroffen, so hat er sie noch nicht weinen gesehen, die sonst immer gleichmäßige, ruhige Frau. Und auf einmal hat sie sich losgerissen und geht aus der Stube.

Er sieht ihr nach, ohne sich zu rühren, mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen, dann giebt er dem Stuhl, der ihm im Wege steht, einen Tritt, daß er durch das halbe Zimmer fliegt, rafft den Hut, den er auf ein Seitentischchen gelegt hat, empor und geht ebenfalls hinaus.

Christel ist ruhiger geworden, nachdem sie sich ausgeweint hat, das Herz ist ihr ordentlich leicht; sie hat auch Anton beruhigen wollen, aber der ist nirgends zu finden. Vermutlich bei Heine drüben, oder er spricht mit dem Zimmermeister wegen der Brennerei, die er im Frühjahr bauen will. Sie ist ganz beruhigt und setzt sich mit roten Wangen an die Weihnachtsarbeit für ihn in die Hinterstube, die an ihr Schlafzimmer grenzt. Die einfachen Möbel, die sie mitbekam, stehen in dieser Stube, in der sich schneidern und flicken und [75] bügeln läßt, und in der es so heimlich ist wie auf keinem Fleck der Welt.

Dann erscheint Frau Pastor mit dem kleinen Anton und dem jüngeren Mädelchen auf Besuch, und Christel freut sich über die Kinder, die sich einen großen Teller Waffeln gut schmecken lassen. Die Frau Pastor kommt im Auftrage ihres Mannes, der sehr beschäftigt ist; am Vormittag sei eine Frau bei ihm gewesen, Frau Rienhart, die um seine Vermittlung gebeten habe – sie bezog eine kleine Pension vom alten Baron von Wartau als Witwe eines Schloßbedienten, des früheren Kutschers, und Fräulein von Wartau kann dieselbe nicht mehr zahlen; ob Herr Mohrmann wohl etwas für die Frau thun wolle.

„Wieviel ist es denn?“ fragt Christel.

„Ja, da liegt eben der Hase im Pfeffer,“ erklärt Frau Pastor, „sie hat uns trotz allen Ausfragens die Höhe der Summe nicht bezeichnet. ‚Herr Mohrmann wird’s schon wissen‘ – ‚Herr Mohrmann wird’s schon machen‘ – natürlich in der Hoffnung, daß Herr Mohrmann etwas mehr giebt als der selige Baron.“

„Wart’ ein bißchen,“ sagt Christel, „Fräulein Tonette muß es wissen. Ich glaube übrigens bestimmt, daß Anton die kleine Verpflichtung übernehmen wird, er thut ja alles mögliche für die Wartaus, sie dauern ihn so schrecklich. Eßt, Kinder, iß doch, Charlotte, ich frage unterdes bei den Damen mal an; – Anto ist nicht zu Hause; wenn die Summe nicht zu hoch ist, kann ich wohl garantieren, daß er sie zahlt.“

Und Christel steigt die Treppe hinauf und klopft an Fräulein von Wartaus Zimmer. Eigentlich geht sie nie zu den Damen, nur im Fall einer Frage einmal; sie fühlt sich beängstigt in dem mit Möbeln und Bildern vollgepfropften Zimmer, dessen Luft erfüllt ist von einem eigentümlich süßen, schweren Parfüm, in dem sie nur mit Mühe atmen, nur mit leiser Stimme sprechen kann.

„Herein!“ ruft eine helle Mädchenstimme.

Christel tritt ein, ihr Fuß wurzelt fast an der Schwelle – das hat sie nicht erwartet! Am Kaminofen, vor dem ein kleines Etablissement von Sitzmöbeln um ein Tischchen arrangiert ist, dessen Platte eine rot verschleierte Lampe trägt, sitzt Fräulein Tonette im bequemen Sessel, zur Seite aber auf einem niedrigen Taburett – Anton und hält über den ausgespreizten Armen rotwollnes Garn, das Edith, vor ihm stehend, abwickelt; auf dem schönen Mädchengesicht liegt ein übermütiges Lachen.

Christels erstaunter Blick heftet sich auf Anton, und sie fühlt, daß sie rot wird. Er kommt ihr so unsagbar albern vor, der ernste Mensch in dieser tändelnden Situation. Sie hat nie den Mut gefunden, ihn um dergleichen zu bitten, nicht einmal in der kurzen Brautzeit.

„Aber so treten Sie doch näher, meine liebe Frau Mohrmann!“ ruft Fräulein Tonette. Edith hat inzwischen dem Manne das Knäuel zugeworfen und schiebt einen Stuhl herzu für Frau Christel.

„So, und nicht wahr, Sie wollen Ihren Ausreißer holen?“ lacht sie.

Anton ist aufgestanden und streift das Garn von den Händen, indem er es vorsichtig auf ein Nebentischchen legt. „Soll ich hinunterkommen, Christel?“ fragt er.

„Nein,“ antwortet sie, „ich suche nicht dich, ich wollte Fräulein von Wartau fragen – es ist in zwei Minuten abgethan, lassen Sie sich, bitte, nicht stören. Anto, wenn du das Garn nur nicht verwirrt hast? Bitte, Fräulein von Wartau,“ wendet sie sich an diese, „wieviel Pension zahlte doch Ihr Herr Vater der Witwe des Kutschers Rienhart?“

Fräulein von Wartau schüttelt den Kopf. „Liebste, ich glaube, aus dem Kopfe weiß ich das nicht.“

„Gleichviel,“ fällt Anton ein, „ich weiß ja schon, ich werde es übernehmen.“

„Danke, Anto,“ sagt Christel. „Verzeihen Sie die Störung, meine Damen.“

„Aber bleiben Sie doch ein wenig hier!“ ruft Edith, „wir sprachen eben von den mutmaßlichen Bewohnern der Sterne und Herr Mohrmann erklärte mir, daß sie wahrscheinlich weit kultivierter sind als wir: ach bitte, bleiben Sie noch, Frau Christel, es ist so furchtbar interessant.“

„Davon verstehe ich nichts, Fräulein Edith,“ antwortet Christel, „und außerdem wartet meine Schwester unten mit den Kindern auf Antwort. Guten Abend!“

„Ich komme mit,“ sagt Anton.

„Aber du kannst wirklich noch – ich meine, es ist noch Zeit bis zum Abendbrot, Anto.“

Er beachtet es nicht, verbeugt sich vor den Damen und geht neben Christel die Treppe hinunter. Es ist ein sonderbarer Weg, dieses kurze Stück nebeneinander; sie muß ihn immer von der Seite ansehen, es ist ihr, als sei er kleiner geworden, als sei er ein anderer.

„So!“ ruft sie der Schwester etwas forciert fröhlich zu, „hier bringe ich ihn selbst und gute Nachricht dazu – Anto wird die Pension zahlen.“

„Ich wußt’s im voraus,“ meint Frau Pastor herzlich und schüttelt ihrem Schwager die Hand, „Anto ist immer nobel. Nun sagt dem Onkel Guten Abend, Kinder!“

Anton setzt sich mit an den Tisch, fährt den Blondköpfen über die Wange und schenkt jedem eine Mark in die Sparbüchse. Die Frauen sprechen von dem Befinden der Mutter, die Pastorin erzählt, daß Louischen ein wenig kränkle und daß es dem Trudchen, ihrer Aeltesten, gut gefalle in Dresden in ihrer Stellung als Stütze der Hausfrau, und daß sie sogar schon im Theater gewesen sei.

„Das möchte ich auch einmal haben,“ sagt Christel. „Ach, Lotte, es war doch herrlich, wenn wir in Leipzig für unsre fünf Neugroschen auf dem ‚Olymp‘ standen und ‚Lohengrin‘ hörten!“

„Hör’, du, Anto,“ neckt die Pastorin, „du bist der Christel noch immer die Hochzeitsreise schuldig, könntest wohl mal mit ihr nach Dresden –“

„Das läßt sich ja machen,“ antwortet er, „anstatt nach Leipzig zu den Weihnachtsbesorgungen, nach Dresden.“

„O!“ macht Christel, ganz rot, „und dann besuchen wir deinen Freund Karl!“ Plötzlich stockt sie; sie erinnert sich, daß Edith neulich gesagt hat: „Wenn Sie einmal nach Dresden reisen sollten, nehmen Sie mich doch mit; Tante Tonette ist so schrecklich altmodisch und will mich nicht allein reisen lassen. Ich möchte so gern Emma von Zobel wiedersehen!“ – Die Freude an dem Plan ist Christel jählings geschwunden, aber, als wolle sie sich selber beschämen, sagt sie:

„Fräulein Edith kann sich uns ja anschließen, sie möchte so gern auch hin.“

Der gespannte Zug um seinen Mund läßt nach. „Das wollen wir noch überlegen, Christel; es könnte doch stören, besonders, wenn wir öfter mit Karls zusammen sein wollen.“

Sie atmet auf, es ist alles wieder vergessen. Und dann begleiten beide die Frau Pastor hinaus.

„Anto, möchtest du nicht hier bleiben?“ fragt Christel den Kleinen, „bitte mal Onkel, ob du es darfst!“

„Nein, ich will nicht,“ antwortet das Kind und reißt sich los, als habe es Angst, festgehalten zu werden, und der große Anton lacht:

„Hast kein Glück damit, Christel.“ – – –

Weihnacht kommt immer näher. Christel hat jetzt viel zu thun, ihre Wangen sehen wieder frischer aus, und nicht zum wenigsten macht dies die Aussicht, möglicherweise ihren Wunsch erfüllt zu sehen hinsichtlich des kleinen Anton. Der Pastor, mit dem sie vorsichtig sondierend sprach, hat ihr erklärt, er halte es für strafbaren Egoismus, wollte er dem zeitlichen Wohle eines lieben Kindes hindernd in den Weg treten, und er habe sowohl zu Christel wie zu ihrem Gatten das feste Vertrauen, daß sie den Jungen in Gottesfurcht und Rechtschaffenheit aufziehen würden. Die Mutter werde sich freilich nicht so leicht drein finden, aber er hoffe doch, mit ernster Zusprache sie dahin zu bringen, daß auch sie es als eine Fügung Gottes ansehe, wenn Anton aus ihrer Pflege scheide. Sie wisse ja doch auch, in wessen Hände sie das Kind gebe.

Christel hat unzählige Heimlichkeiten. Sobald Anton den Rücken wendet, läßt sie den Jungen holen, denn auch er muß gewonnen werden. Alles, was sein Kinderherz ergötzen und bestricken kann, bietet sie auf in ihrem Bemühen, dem Manne, den sie liebt, einen Ersatz für das versagte Glück zu schaffen.

Aus der Dresdner Reise ist nichts geworden: Karls haben gebeten, den Besuch aufzuschieben bis nach Neujahr. Um Weihnacht erwarten sie den Storch, aber dann, zur Taufe, da müßten [76] sie kommen. Die junge Frau Doktor hat diese vertrauliche Mitteilung in einem Brief an Christel gemacht, und diese erzählt es ihrem Manne.

„Wieviel haben sie denn schon?“ fragt er.

„Vier – vier Buben!“

„Vier Buben?“ wiederholt er und schaut durchs Fenster, als liefen sie da draußen umher. –

Edith ist jetzt wieder viel unten bei Frau Christel, ganz Feuer und Flamme für die Weihnachtsfeier. Schlittschuhlaufen kann sie ja so wie so nicht, die Kälte ist recht unweihnachtlich einem argen Schlackerwetter gewichen und der Spiegel der Eisbahn ist nur noch eine versickernde Pfütze.

In Christels Zimmer sieht es zuweilen kunterbunt aus von allerhand Christkindchens-Vorbereitungen, besonders an den Tagen, wo Anton nicht zu Hause ist. Und er ist recht oft unsichtbar jetzt; alle Augenblicke eine Jagdeinladung, und wenn das nicht, so ist er doch oft abwesend. Zuweilen hat Christel ihn weder fortgehen noch wiederkommen sehen, oder sie sucht ihn, aber er ist nirgends zu finden. Einigemal ist sie in Versuchung gekommen, nachzuschauen, ob er wieder droben bei den Damen sitzt, um wissenschaftliche Gespräche zu führen oder Edith einen kleinen Ritterdienst zu leisten. Zweimal kam just in dem Augenblick, wo sie den Fuß auf die Treppe setzen wollte, das junge Mädchen ihr entgegen: „Liebste Frau Christel, darf ich Sie besuchen? Störe ich nicht?“ Und ein drittes Mal sah sie Edith und ihre Tante, von einer Parkpromenade zurückkehrend, in die Thür treten, und jedesmal schämte sich Christel bis ins innerste Herz ihres Verdachtes und war tagelang unglücklich über sich selbst.

„Und wenn er wirklich bei ihnen oben sitzt,“ sagt sie sich, „ist’s denn ein Verbrechen?“

Oben im zweiten Stock, wo das Billardzimmer und die große Bibliothek sich befinden, wo das Napoleonszimmer ist und eine Reihe unbenutzter Fremdenstuben, hat sie in einer derselben alles zusammengetragen, was für Anton den Großen und Anton den Kleinen zu Weihnachten bestimmt ist. Eine ganze Ausstattung an Wäsche für das Kind liegt da, denn Christel hat ohne Bedenken ihre früheren Ersparnisse angegriffen, Matrosenanzüge, Spielsachen, kurz alles mögliche ist angeschafft. Einmal ist sie einen ganzen Tag lang allein in Leipzig gewesen und von Laden zu Laden gewandert mit so unruhigem, seligem Herzen.

Ach, wenn es ihr gelänge, Anton froh zu machen! Wenn er und sie in treuer Elternliebe zusammen sorgten für den netten Jungen! Sie ist ihrer Schwester so dankbar, daß sie sich ihren Plänen nicht mehr so abgeneigt zeigt. Was denn aber werden sollte, hat die Pastorin gefragt, wenn Christel noch eigne Kinder bekäme und der arme Junge, der Anton, bei ihr so recht verwöhnt worden sei.

Da hat Christel traurig den Kopf geschüttelt und dann – „wenn es wirklich wäre, Lottchen, so würde er doch immer unser Aeltester bleiben. Anto ist viel zu gerecht, um ihn je zu verstoßen.“

„Ja, das sprichst du so, Christel,“ war die bekümmerte Antwort gewesen, „aber ehe ich nicht weiß, wie Anto denkt – –“

„Ach Lotte, Lotte, laß mich den Versuch machen,“ bettelt sie, „du weißt ja nicht, welche Hoffnungen an seinem Gelingen für mich hängen,“ hat Christel gerufen. Und Frau Pastor hat seufzend gesagt: „So mache denn den Versuch, ich will es nicht hindern.“

(Fortsetzung folgt.)




Der rheinische Karneval.

Von Dr. J. Nover.

„Ein reiches, wildes, lust’ges Leben
Hat allezeit der Rhein gepflegt,
Ihm hat Natur den Kranz der Reben
Umsonst nicht auf die Stirn gelegt.“

So singt Julius Wolff in seinem Schelmenlied „Till Eulenspiegel redivivus“ mit Recht, und wenn überhaupt den Rheinländer eine regsame und heitere Sinnesart kennzeichnet, so gilt dies in ganz hervorragendem Grade von den Bewohnern jener Gegenden am Rhein, wo der beste Rebensaft als heilsamster Sorgenbrecher und Heiterkeitsspender gedeiht. Zu der angeborenen Daseinsfreude kommt aber wohl auch noch als belebendes Element eine gewisse Kampflust hinzu, die am Rhein das Blühen und Gedeihen der volkstümlichen Narren- und Spottfeste befördert hat.

Beachten wir noch die alten Ueberlieferungen, welche besonders in den aus den alten Römerkolonien erwachsenen Städten am Rhein, wie Köln, Koblenz, Mainz, Bingen u. a., als Nachklänge der antiken Bacchanalien und Saturnalien sich erhalten haben, so ist es begreiflich, daß der Prinz Karneval vorwiegend und dauernd seinen Sitz am schönen Rheine aufschlug.

Schon frühe gab es hier einzelne Maskengruppen, sogenannte Bände, die von Haus zu Haus zogen, überall Gastfreundschaft fanden, dafür ihre Neckereien verübten und förmliche Komödien aufführten. Schon in Cäsar v. Heisterbachs Schriften aus dem 12. Jahrhundert wird derselben Erwähnung gethan, und in den Kölner Ratsprotokollen aus dem 14. Jahrhundert finden wir Verbote gegen Vermummungen, weil sie oft zu Erpressungen von Geld und Speisen mißbraucht worden waren. Bei kirchlichen und bürgerlichen Wirren wurden Verbote gegen die Anwendung von Mönchs- und Nonnentrachten erlassen. Mitunter wollte man auch zu Kriegszeiten dem Einschleichen von Spionen,

[77]

Vom Kölner Karneval: Aufzug der „Funken“.
Nach einer Originalzeichnung von G. Franz.

[78] ferner Streitigkeiten zwischen Militär und Civil durch solche Verordnungen vorbeugen. Trotzdem brach sich die Maskenfreiheit immer wieder aufs neue Bahn.

Schon lange vor den eigentlichen drei Fastnachtstagen hört man allenthalben von nichts anderem als den Vorbereitungen zu Maskenscherzen. Heimlich zischeln sich die Frauenzimmer unter Lachen ins Ohr, die Männer horchen neugierig oder schmieden abends beim Schöppchen ihre Gegenpläne, die Kinder erzählen sich fast den ganzen Winter von Fastnachtsscherzen. Flachsperücken und Nasenungetüme jeder Art werden zubereitet, Komödien und Possen eingeübt. Am Sonntag vor Fastnacht beginnen dann schon die Mummereien der Kinder in den Straßen, am Montag folgen die Erwachsenen zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen. Ein festliches Getümmel wälzt sich in Köln von der Hochstraße zum Altenmarkt hinab. Alle Fenster sind geöffnet und dicht mit Köpfen besetzt. Den Masken stehen die Häuser offen und überall werden sie bewirtet. Das übliche Gebäck sind die sogenannten Muzen, anderwärts „Krebbel“ (von „Krapfen“) geheißen. Unter den Fastnachtsscherzen wurden schon im Anfang unseres Jahrhunderts manche wegen ihrer moralischen Wirkung hervorgehoben, so die Darstellung einer Spielhölle, der Advokatenkniffe u. dergl.

Der ursprüngliche Kölner Karneval begann mit einer Vorfeier in den Klöstern am Donnerstag vor Fastnacht in der sogenannten Pfaffenfastnacht oder Weiberfastnacht. Bis 1797 vergnügten sich die Klostergeistlichen an diesem Tage mit Maskenscherz und Schauspielen, die auf eigens erbauten Theatern aufgeführt wurden. Einige dieser Fastnachtsspiele sind im Druck veröffentlicht. Als typische Figur tanzte an diesem Tage der mit Schellen behangene „Bellengeck“ mit Pritsche und Citrone in den Händen, von Geigern begleitet, durch die Straßen und sprach vor den Häusern der Reichen seine Sprüche, wofür er sein Trinkgeld erhielt. Mit der französischen Revolution verschwand diese Figur, tauchte aber 1801 wieder auf, als ein von Paris kommendes Dekret den Karneval wieder erlaubte. Damals las man die Erlaubnis des Platzkommandanten an allen Ecken: „Il est permis au citoyen Bellengeck de faire son tour“ („Es wird dem Bürger Bellengeck erlaubt, seinen Umzug zu halten“). Sofort bildeten sich die üblichen Festzüge wieder, und 1812 nahm sogar die französische Besatzung der Stadt Köln durch einen gewaltigen Reiterzug an dem öffentlichen Feste teil. Von da ab begann eine neue Aera des rheinischen Karnevals, die wir nach dem Vorgang des Kölner etwas näher betrachten wollen.

Am Tage der Vorfeier pflegten die Frauenzimmer sich gegenseitig zu foppen, indem sie sich die Hauben vom Kopfe rissen. Dies war die sogenannte Weiberfastnacht am Donnerstag vor dem eigentlichen Feste. Sie ward besonders von den „Damen der Halle“ auf dem Marktplatze mit einem grotesken Elfenreigen gefeiert, und für einen Mann war es nicht geraten, den Tanzenden zu nahe zu kommen; sonst rissen sie ihm den Hut vom Kopfe und spielten damit Fangball („Liwweraaz“). Dies nannte man „Mützenbestot“, d. h. Mützenregiment.

Am Sonnabend vor Fastnacht ward dann vom Altan des Rathauses herab öffentlich die Freiheit verkündigt, und nun begann ein dreitägiges tolles Treiben. Maskenzüge und -Gruppen trieben allenthalben ihren Scherz, und jeden Abend fanden Bälle statt. Demütig eilten dann am Aschermittwoch die ausgelassenen Fastnachtsschwärmer zur Kirche, um sich das Aschenkreuz auf die Stirne machen zu lassen. Mittags scherzte man noch einmal bei solennen Mahlzeiten, und am folgenden Sonntag (Lätare) fand eine Nachfeier der Karnevalsfreunde statt. In dieser Form ward das Fest bis 1823 gefeiert. Von da an kamen förmliche Komitees und Generalversammlungen hinzu. Aus letzteren, dem sogenannten „großen Rat“, schied sich ein Komitee aus, der „kleine Rat“, der sich ausschließlich mit den Vorbereitungen zum Feste beschäftigte und sich seinen Sprecher oder Präsidenten wählte. Unter dem Präsidenten stehen die Ausschüsse, die alljährlich vom 11. des 11. Monats, also vom 11. November, ab wöchentlich bis zum Aschermittwoch zusammentreten; denn 11 ist die Narrennummer.

Den Ursprung der Narrenziffer 11 hat man verschieden erklärt. Einmal hält man sie für ein Symbol der Eintracht, weil die Rechte soviel besagt wie die Linke, dann der Beständigkeit, denn sie fängt an, wie sie aufhört; ferner der Schönheit, denn sie zeigt Einheit in der Mannigfaltigkeit und umgekehrt; endlich des Unbegreiflichen, denn die Hälfte der römischen Ziffer XI ist quer durchschnitten VI. Auch die einzelnen Buchstaben des deutschen Wortes „E–l–f“ hat man als die Initialen des Narrenspruchs: „Ei, lustig, fröhlich!“ gedeutet. Schließlich mußten noch die 11 Funken im Kölner Stadtwappen zur Erklärung herhalten. Bekanntlich führt auch die im Karnevalszuge typisch auftretende Kölner Stadtgarde den Titel „Funken“.

Die Generalversammlungen der regelmäßigen wöchentlichen Sitzungen des „großen Rats“ beginnen von Neujahr ab. Alle Teilnehmer müssen die preisgekrönte dreifarbige grün-rot-gelbe Narrenmütze aufsetzen und erhalten beim Eintritt ein Liederbüchlein. Präzis 11 Minuten nach der festgesetzten Stunde bezieht das Festkomitee unter den Klängen des üblichen „Narrhallamarsches“ seine Tribüne und eröffnet mit launiger Begrüßung die Sitzung. Alsdann verliest sein Sekretär ein närrisches Protokoll über die vorige Versammlung. Nun lösen sich Vorträge mit Liedern ab. Gefällt ein Vortrag, so wird er lebhaft belacht und beklatscht und mitunter vom Präsidenten mit Orden oder einem närrischen Titel belohnt. Hat er aber mißfallen. so erregt das Publikum Tumult und der Redner muß verschwinden, sei es durch Erscheinen einer aufsteigenden Wand oder durch eine unterirdische Versenkung. Mitunter stürzten zwei fratzenhafte Affen auf den Redner, zum Zeichen, daß sein Vortrag „unterm Aff’“ war.

In den Vorträgen fehlt es nie an politischen, lokalen, ja selbst persönlichen Anspielungen, die, je treffender sie sind, mit um so größerem Beifall aufgenommen werden. Ist der Getroffene unter den Anwesenden, so darf er nicht den Verdrossenen spielen, sondern das Beste ist, wenn er herzlich mitlachen kann.

Ohne persönlichen Stachel freilich sind die allgemeineren Hänseleien auf ganze Stände, wie auf Lieutenants, Advokaten und so weiter. So war einmal in Mainz von einer drastischen, wahrhaft zwerchfellerschütternden Komik die scenische Vorführung des Testamentes eines alten Winzers auf dem Sterbebette. Scheinbar mühsam richtet sich der alte Weinpanscher auf seiner Matratze in die Höhe und versammelt um sich seine Söhne, ihnen mit heiserer, erlöschender Stimme vor seinem Hinscheiden noch ein hochwichtiges Geheimnis anzuvertrauen. Begierig und atemlos lauschend horchen die Söhne auf die letzten Worte des dunklen Ehrenmannes. „Tretet näher an mich heran, meine lieben Kinder,“ – so flüstert der Biedermann – „vernehmt das heilige Vermächtnis eures sterbenden Vaters. Ein Geheimnis von schwerwiegender Bedeutung will ich euch mitteilen, das euch in eurem Berufe als Weinfabrikanten von großem Vorteil sein wird. So hört denn und bewahrt es als letztes Testament eures erfahrenen Vaters in eurem Busen: man kann auch Wein bloß von Trauben machen!“ – Sprach’s und hauchte vor den in starrem Erstaunen und tiefer Ehrfurcht verharrenden Söhnen seine edle Seele aus.

Auf die Vortrüge folgen in geeigneten Abständen Lieder, die von der Versammlung im Chorus gesungen werden. Oft wird zum Refrain an die Gläser geklungen, in die Hände geklatscht, geniest, oder es werden alle möglichen Tierstimmen nachgeahmt.

Es hat nicht an ernsten und wissenschaftlich bedeutenden Männern gefehlt, die dem Karneval ihre Sympathie bezeigten und ihm seine Berechtigung zuerkannten. So vor allem unser Altmeister Goethe (1824). Infolgedessen lud ihn das Kölner Komitee zum nächsten Fasching ein, und Dr. Dillschneider dankte ihm in einem warm empfundenen Sonett. Goethe erwiderte mit einem Gedicht, dem wir folgende Verse entnehmen:

     „Auch dem Weisen fügt behaglich
Sich die Thorheit wohl zur Hand,
Und so ist es ganz verträglich,
Wenn er sich mit euch verband …
     Löblich wird ein tolles Streben,
Wenn es kurz ist und mit Sinn;
Heiterkeit zum Erdeleben
Sei dem flüchtigen Rausch Gewinn!“

Außer Goethe nahmen viele berühmte Männer die ihnen zugesandten Narrendiplome mit humoristischen Antwortschreiben an, so E. M. Arndt, Bechstein, Dickens, Duller, Freiligrath, [79] Just. Kerner, Lachner, Lortzing, Mendelssohn-Bartholdy, Mosen, Rückert, Simrock, Bendemann, Schadow, Schnorr, Ad. Stöber, Tiedge, Zschokke u. v. a.

Die Mainzer Stadthalle im Karneval 1897.
Nach einer Originalzeichnung von C. Sutter.

Der Karneval schuf sich eine eigene Litteratur. Es entstanden am Rhein eigene Karnevalsschriften und -Zeitungen, in Köln zuerst 1808 die „Curiosa Descriptio“. Auch Fastnachtsstücke wurden geschrieben. Von 1826 ab erschienen förmliche Karnevalszeitungen, die, wenn sie zu scharf waren, periodisch unterdrückt wurden. Ein hervorragender Karnevalsschriftsteller ist Ludw. Kalisch, der Verfasser des „Buches der Narrheit“ und der „Schlagschatten“. Dieser gründete die Mainzer Karnevalszeitung, die „Narrhalla“, die bis in die 70er Jahre bestand. Außer Kalisch arbeiteten Langenschwarz, Prof. Schumacher, der gemütliche Dichter F. Lennig, Horneyer, Dr. Wiest, Ed. Reis, Ferd. Hey’l, der bekannte rheinische Schriftsteller, und andere an Mainzer Witzblättern mit. Solche waren außer der schon genannten „Narrhalla“ „Die neue Mainzer Narrenzeitung“ und „Des Narren Sonntagsblatt“. In Köln erschienen die „Kölnischen Funken“ und die Wochenprotokolle, betitelt „Karnevalsulk“. In Frankfurt a. M. schrieb Friedrich Stoltze die „Krebbelzeitung“. Sind auch die meisten dieser litterarischen Produkte schon ihrer lokalen Anspielungen wegen von nur vorübergehendem Wert, so haben doch manche Karnevalsdichter, wie die eben genannten, Produkte voll poetischen Humors geschaffen, die zu jeder Zeit, wenn der geeignete Sinn erwacht ist, aufs neue zünden.

Naht die eigentliche Faschingszeit heran, so ziehen in Köln die sogenannten „Funken“ in der Tracht der alten kurkölnischen Stadtsoldaten auf. Am Sonntag vorher findet in der Regel eine Kappenfahrt der Karnevalsmitglieder statt und am sogenannten Rosenmontag (welchen Namen einige von „rasen“ ableiten) der große Festzug, von dem uns unter anderen Hackländer in seinem „Künstlerroman“ eine so lebendige Schilderung entworfen hat und der in jedem Jahr nach einer besonderen Idee ausgeführt wird. Es fehlen dabei in der Regel nicht die charakteristischen und typischen Figuren, die mit der Geschichte der Stadt Köln, sowie mit den im Geruche der Narrheit stehenden Orten und Personen zusammenhängen. Das gilt vor allem von dem bewährten Ritter „Jan von Werth“ und dem Urtypus aller Schalksnarren Till Eulenspiegel, ferner vom ehrenfesten Stadtfähnrich „Wackerschwenk“, dem berühmten Kölner Bürgermeister Gryn, dem Sieger in der Worringer Schlacht, im Kettenpanzer, und dem unvermeidlichen „kölnischen Bauer“ mit seinem Sinnspruch: „Halt faß, do kölscher Boor, am Rich, fall et söß or soor (süß oder sauer)!“ Auch schreiten wohl die Vertreter der alten Rittergeschlechter, die zur Steffen, von Spee, die Overstolzen, Leparten und andere daher; dann die Zünfte, angeführt von den charakteristischen Figuren des Kölner Hänneschen, wie Bestevader und Maritzebill. Unter den Vertretern der Zünfte sind bekannte Typen der Brauermeister Schwabbelich, der Bäckermeister Kleienfaß, der Schuhmacher Pechklotz, der Metzger Beihau, der Faßbinder Polterklopf, der Schmied Tubalkein, der Schneider Fips, der Grobschmied Tombak, der Fischmengermeister Rümpchen. Und so giebt es unzählige andere im Laufe der Jahre auftauchende und wieder verschwindende Gestalten. Ständig [80] erscheinen auch beliebte Sagen- und Opernfiguren, wie der Rodensteiner und Lohengrin, wie Don Juan, Faust und Mephisto, Vertreter der Narrenstädte Schilda, Dülken, Cochem u. a.

Den Triumphzug eröffnet die geschichtlich gewordene Figur des sogenannten Geckenbänchen, die, wie man glaubt, den Vortänzer bei Prozessionen in früherer Zeit darstellen oder auf David vor der Bundeslade anspielen soll. Unsere Abbildungen stellen zwei Gruppen des Kölner Karnevals dar. Das erste Bild (S. 72 und 73) führt uns eine Tanzscene auf dem Waidmarkt vor. Es ist ein Holzschnitt nach einem der Gemälde, die Chr. Heyden im Auftrage der „Großen Karnevalsgesellschaft“ gemalt hat und die den Sitzungssaal derselben schmücken. Auf dem Bilde von G. Franz (S. 77) sehen wir den Auszug der „Funken“ mit der Spitze des Zuges und einem als Schiff gestalteten Prachtwagen. Im Hintergründe erhebt sich die Apostelnkirche.

Es ist unmöglich, sich auch nur einen annähernden Begriff von dem Gewühl und dem tollen Treiben auf den Straßen, sowie von dem Jubel und den tausendstimmigen Zurufen aus den dichtbesetzten Fenstern der festlich geschmückten Häuser zu machen, wenn sich der buntschillernde Zug mit den hochaufgebauten Prachtwagen vorüberbewegt. Blumenbouquets und Confetti fliegen hin und wider, Fahnen flattern, Tücher wehen, Champagnerpfropfen knallen und ein sinnverwirrender, vieltöniger Lärm von Musik, Gejohle, Gelächter und Zurufen wie das übliche: „Geck, loß Geck elans!“ (d. h. Narr, laß Narr vorbei!) braust durch die Luft.

Nicht minder tumultuarisch geht es bei den Maskenbällen her, die früher besonders glänzend im Gürzenich zu Köln abgehalten wurden, jetzt zumeist in geräumigeren Lokalen, in Mainz in der überaus prächtig geschmückten Stadthalle stattfinden. Fast alle Jahre prangt das Innere dieses, soweit uns bekannt, nächst dem Wintergarten des Centralhotels in Berlin größten Gesellschaftslokals in eigenartigem karnevalistischen Schmuck. So trug die Ausstattung vorigen Jahres nach dem Entwurf des dortigen genialen Architekten C. Sutter das Gepräge einer mittelalterlichen Stadt, wobei, wie unsere Abb. S. 79 zeigt, den Thoren, Türmen und Pechnasen charakteristische Physiognomien aufgesetzt waren. Den Hintergrund des Karnevalpodiums schloß eine altdeutsche Burg ab. Von nicht geringerem malerischen Reiz ist das Getümmel von etwa 6000 Personen auf einem solchen Maskenball. Hier muß man sich unter das bunte Gewühl aller möglichen Charaktermasken stürzen, foppen, Abenteuer suchen oder sich necken lassen. Gar mancherlei seltsame Begegnungen und unverhoffte Überraschungen sind hier schon vorgekommen. Der Reiz dieses Vergnügens ist so groß, daß nach Saphir zu dieser Zeit der Himmel voll Geigen und die Erde voll Versatzzettel hängt.

Damit haben wir eine Nachtseite des Karnevals berührt, die Gefahr finanziellen und moralischen Ruins. Die Versuchung ist ja allerdings groß, lockt wohl aber auch zu anderen Festzeiten den Haltlosen, über die Schnur zu hauen. Anderseits weckt und hebt der Karneval Kunstsinn und Geschmack, fördert Witz und Geist, er schwingt die Geißel über Verkehrtheiten und sittliche Schäden, und keine Waffe wirkt erfolgreicher als der Spott. Endlich muß auch angeführt werden, daß die bedeutenden Überschüsse aus den Karnevalsbeiträgen den Stadtarmen zu gute kommen. Als 1857 zu Mainz die furchtbare Pulverexplosion einen Teil der Stadt in Trümmer legte, verzichtete die „Narrhalla“ nicht nur auf ihre Vergnügungen, sondern sie gab ihre Mitgliedsbeiträge mit Extrazuschüssen zur Linderung der Not. Aehnliches geschah bei den verheerenden Rheinüberschwemmungen. So zeigt der wahre Narrhallese, daß er nur zur rechten Zeit zu Scherz und Ausgelassenheit geneigt ist und daß in seiner sonst so lebenslustigen Brust doch auch ein fühlend Herz für das Unglück seiner Mitmenschen schlägt. Und hiermit bethätigt sich die Wahrheit des Horazischen Spruches: „Dulce est desipere in loco,“ d. h. „Schön ist Thorheit zur rechten Zeit!“


Maskiert!

Humoreske von Hans Arnold. Illustriert von F. Hlavaty.

Nun, und wie hat sich die Verlobung schließlich so rasch gemacht?“ frug der Major und streifte die Asche behutsam von der Cigarre.

„Ich glaube, er hat die Großmama für sich zu gewinnen gewußt,“ bemerkte ein anderer aus dem kleinen Kreise, „die hat sich für ihn verwandt, und da war die Angelegenheit schon halb im reinen!“

„Also eine Gönnerin!“ sagte der Major und sah nachdenklich ins flackernde Kaminfeuer, „das kommt wieder auf meine Theorie heraus, – ich habe immer sehr viel auf Gönnerinnen gehalten und in jeder Garnison, wo ich war, immer ein paar im Vorrat gehabt. – Eine, die mir Pasteten und Kuchen backen mußte, eine, die mich mit Lektüre versorgte, und eine, der ich meine Geldsorgen und dummen Streiche beichtete – letztere freilich mit Auswahl, wie sich das von selbst versteht. Die Beichtgönnerin, oder Beichtmutter, wenn man mir den Ausdruck verstatten will, war übrigens in der sonst recht stattlich langen Reihe meiner Gönnerinnen nur ein einziges Mal vertreten. Denn zu solch einer Vertrauensrolle bei einem jungen, übermütigen Lieutenant, dazu gehört eine Person von Herz und Verstand nicht nur, sondern auch von einer gewissen Genialität – und derlei Leute wachsen nicht so oft am Wege. Diese also, meine einzige, erste und letzte Beichtmutter in Portemonnaie- und Herzensnöten hat mir zum Schluß ihrer ehrenvollen Laufbahn als Protektrice noch zu meinem Lebensglück verholfen – und den Streich danke ich ihr heute noch, wo die gute alte Seele längst nicht mehr auf Erden wandelt.

Das war noch ein Original,“ setzte der Major nachdenklich hinzu, „aber im besten Sinn des oft gebrauchten und noch öfter mißbrauchten Wortes! Ein baumlanges, knochiges Frauenzimmer, mit schon ziemlich angegrauten Haaren, die ihr etwas wirr um den Kopf saßen – mit einer tiefen Mannesstimme, die sich in Ernst und Scherz, im Sprechen und Lachen durch ihre herzhafte Lautheit wohl Gehör zu schaffen wußte – mit ein paar Händen wie die Wurfschaufeln und mit einem Gesicht, das wohl nie reizend genannt worden ist. Ein oberflächlicher Beurteiler wenigstens hätte es unbedingt so bezeichnet – ich und wohl jeder, der ihr nahe stand, fand sie nicht häßlich, denn aus dem grob geschnittenen und gefärbten Gesicht guckte so viel frische Herzensgüte und ein so kreuzfideler Sinn heraus, daß man bald aufhörte, sich zu fragen, ob sie die Nase anders in der Länge und den Mund anders in der Quere stehen habe wie sonstige Sterbliche. Ja, sie war bei ihren vorgeschrittenen Jahren so famos – so beneidenswert jung geblieben, daß man nie darüber nachdachte, wie alt sie eigentlich wäre, und bei ihr blindlings und mit Recht Verständnis und Humor für jede – mit Nachdruck sei’s gesagt! – harmlose Dummheit voraussetzte, eine Zuversicht, die mich wenigstens nie getäuscht hat. Kurz, um sie mit einem Wort zu charakterisieren, sie war eines der seltenen Frauenexemplare, die man mit Fug und Recht ‚einen netten Kerl‘ nennen kann.

Dies alte Fräulein – sie hieß Adelheid von Stettendorf – lebte in G..., wo ich damals als Lieutenant im xten Regiment stand. Wir hatten bald eine Verwandtschaft von Adams Gnaden herausklamüsert, und auf Grund und Rechnung dieser Verwandtschaft gewöhnte ich mir’s an, alle paar Tage nach ihrem netten Quartier hinaus zu gehen oder zu reiten, wie es Dienst und Zeit mit sich brachten, mir ein Frühstück auszubitten oder [81] der guten Dame in der Dämmerstunde zuzuhören, wenn sie auf ihrem heisern, alten Klavierchen spielte, was sie mit einer für ihre ganze Person merkwürdigen Zartheit zu thun verstand. Wie lebhaft erinnere ich mich noch jener Abendstunden! Sanft und leise überkam uns die Dämmerung, bis das rote Fünkchen an meiner Cigarre das einzige Sichtbare im Zimmer war, und dabei ließen sich, so gewissermaßen von unsichtbarer Hand gespielt, die einfachen, alten Melodien hören, die doch immer am sichersten den Weg zum Herzen finden. Ja, diese Stunden waren sehr hübsch – wirklich sehr hübsch! Man sieht, Fräulein von Stettendorf und ich waren mit der Zeit sehr gute Freunde geworden, wie dies manchmal mit jung und alt so gehen kann.

Ich war in dieser Zeit auch gerade recht auf solche Art Verkehr gestimmt und zugeschnitten, denn ich hatte mir aus meiner letzten Garnison eine beträchtliche Herzenswunde mitgebracht, die mich etwas irritierte, weil sie ganz und gar keine Anstalt machte, so schnell zu heilen, wie das derartige Wunden sonst bei mir zu thun in der Mode hatten. Zu dieser inneren Verfassung stimmte die dämmerige Klavierspielerei meiner alten Freundin sehr gut – es ließ sich dabei so hübsch von Dingen träumen, die gewesen waren, und die noch kommen sollten – oder doch kommen konnten.

Meine Gönnerin hatte natürlich in Andeutungen die ganze Geschichte mit anhören müssen, so weit man sie eine Geschichte zu nennen berechtigt ist.

Ich hatte ihr mit dem in solchen Fällen üblichen schmerzlichen Behagen erzählt, wie ich in meinem vorigen Anfenthaltsort eine junge Dame kennengelernt hätte, die sich der blondesten Zöpfe und der blauesten Augen auf diesem elenden Erdenball erfreute – wie mich das Schicksal mit militärischer Rücksichtslosigkeit fortgeschleudert, ehe ich mir die geringste Gewißheit, oder auch nur Ahnung hatte verschaffen können, ob ich in der Erinnerung der heimlich und öffentlich Angebeteten nur im geringsten figurierte. Denn das kleine Fräulein verstand es, sich eine verdammt kühle und undurchdringliche Miene wie eine zierliche Larve vor das reizende Gesicht zu halten – hatte auch ein so beträchtliches Gefolge von Freiern, daß der einzelne in diesem Kometenschweif nur wie ein sehr unbedeutendes Lichtfünkchen zu erscheinen berechtigt war – kurz, ich war mit einem Hasenherzen abgereist und wußte nicht, ob die Herrin meiner Gedanken dem Zuge, der mich von dannen führte, auch nur das kleinste Seufzerchen nachgeschickt hatte – ein sehr unbehaglicher Zustand für einen Mann von Gemüt!

Diese halt- und gestaltlose Liebesgeschichte hatte ich, wie gesagt – natürlich ohne einen Namen dabei zu nennen – meiner alten Freundin so nach und nach anvertraut, und sie kletterte zwar zeitweise ganz tapfer mit mir in den verschiedenen Etagen meines Luftschlosses umher, lachte mich aber noch öfter herzhaft aus ob meines Mangels an Selbstvertrauen. Zu meiner Rechtfertigung sei es gesagt, daß ein solcher Ueberfluß von Bescheidenheit wirklich nur in diesem einen Fall mein Fall war – im ganzen kann ich mit Stolz behaupten, daß ich für einen ganz unverschämten Bengel galt! Meine alte Freundin schüttelte denn auch kräftig den Kopf über die Angelegenheit und gab mir mehrfach zu bedenken, ob es denn nicht im Grunde eine große Thorheit sei, sein Herz einem solchen Prinzeßchen zu Füßen zu legen, welches sich am Ende nicht mal die Mühe nahm, es vom Boden aufzuheben. So standen die Sachen, als ich wieder einmal des Abends zu Fräulein von Stettendorf auf einen kurzen Augenblick hereinguckte. Ich fand sie an ihrem Lieblingsplatz, am Kaminfeuer, eben beschäftigt, einen Brief zu lesen. Sie nickte mir zu, ohne sich durch meinen Eintritt stören zu lassen, wie das eben so ihre Art war. Ich setzte mich ihr gegenüber, den Säbel zwischen den Knieen, die Hände darauf gestützt, und wartete, bis sie mit ihrer Lektüre zu Ende sein würde.

‚So!‘ sagte sie und legte den Brief säuberlich in seine Falten, ‚da bekomme ich Besuch ins Haus, und noch dazu einen, bei dem Sie mir als Adjutant helfen müssen, Rotenberg, die Tochter einer alten Jugendfreundin, die jetzt, mitten in der Saison, fort und zu mir auf die Weide geschickt wird, weil sie ein paar Körbe, und noch dazu ein paar recht unbegreifliche ausgeteilt hat. Ein Goldfischchen, lieber Sohn – ja, spitzen Sie nur die Ohren – und ein niedliches noch dazu! Das wäre am Ende eine homöopathische Medizin für Sie – na? wie denken Sie über die Sache?‘

Ich zuckte seelenvoll die Achseln. ‚Für mich ist Spiel und Tanz vorbei!‘ sagte ich mit dem Brustton des Besitzers einer unglücklichen Liebe.

‚Nur nicht elegisch!‘ erwiderte sie munter, ‚Sie wissen, das vertrag’ ich nicht in größeren Dosen. Na, sei dem, wie ihm wolle – – wenn Sie das nächste Mal herkommen, finden Sie etwas Junges und Hübsches am Kaminfeuer, und das müssen Sie mir unterhalten helfen – Vergnügungsprogramm entwerfen, Schlittschuh laufen, für Tänzer sorgen – kurz, was man so von einem Jüngling Ihres Alters und Aussehens ungefähr zu verlangen und zu erwarten berechtigt ist. Zum Glück haben wir ja den vielbesprochenen Maskenball in sicherer Aussicht, da kann mein junger Besuch gleich mit beiden Flügeln ins schönste Amüsement hinein flattern – und Sie flattern mit – nicht wahr, das thun Sie mir zuliebe?‘

Ich erklärte mich selbstverständlich für Wachs in ihren Händen und als solches widerstandslos bereit, mich zum Bärenführer für unbekannte Nichten oder Freundinnen umkneten zu lassen.

Mit einer Art von trotzigem Vergnügen oder vergnügtem Trotz ging ich wirklich an die Aufgabe, in der für mich insofern ein gewisser Reiz lag, als sich hier vielleicht eine Gelegenheit bot, mir selbst zu beweisen, daß ich nicht für alle junge Mädchen so ungefährlich sei, als ich es für die blonde Ines gewesen war, die mir so hartnäckig im Kopfe herumging.

Nach einiger Zeit erfuhr ich, das erwartete Fräulein sei eingetroffen, und beschloß, nun auch das meinige zu thun.

Ich legte meinen besten Ueberrock an, wichste mir den Schnurrbart höchst unternehmend in die Höhe und schickte mich an, so als Herzbrecher frisiert, mich zu meiner alten Gönnerin zu begeben. Wenn sich die Nichte nicht in mich verliebte und in dieser Empfindung genügend Amüsement und Zerstreuung für ihren Besuch bei der Tante fand – an mir sollte es wenigstens [82] nicht gelegen haben! Ein bißchen neugierig war ich nebenbei auch, wie das Goldfischchen aussehen möchte, das da so glitzernd auf der unbekannten Zukunftswelle angeschwommen kam – das Unbekannte hat ja für die Jugend immer einen besondern Zauber – kurz, die Sache ließ sich hoffnungsreich an!

Als ich so, gerüstet, gestiefelt und gespornt wie ein junger Ritter zu seiner ersten Waffenthat, ausziehe und die Anlagen herunter klirre, kommt mir eine junge Dame entgegen, mit ein paar Päckchen in der Hand und einem Veilchenstrauß im Knopfloch, das Näschen etwas hoch in die Luft gereckt. Ich denke denn doch, der Blitz schlägt vor mir ein: meine Angebetete aus M……. in eigenster, anmutigster Person!

Sie erkannte mich auch sofort, das sah ich, denn ein tiefes Rot der Ueberraschung schoß ihr in die Wangen. Aber diese Signalflagge der Herzensbefangenheit brauchte ich mir gar nicht zu meinen Gunsten zu deuten; sie wurde, wie ich erfahren und beobachtet hatte, für Freund und Feind, für ehemalige Lehrer und augenblickliche Tänzer aufgezogen, wie das so manche zarte Mädchengesichter an sich haben – sich selbst zum tiefen Verdruß – und andern Leuten zu Spaß und Vergnügen. Nun, in jedem Fall wurde sie rot und ich noch röter – alle meine Vorsätze und Absichten auf die Nichte der Tante zerschmolzen in dem Augenblick wie Schnee an den Strahlen der Märzsonne. Ich war mit zwei Schritten neben ihr, und ohne zu bedenken, wie sehr mein Verfahren gegen die hergebrachte Form verstieß, die es verbietet, eine junge Dame auf der Straße so mir nichts, dir nichts anzureden – ohne dies oder irgend sonst etwas zu bedenken, legte ich die Hand an die Mütze –

‚Mein gnädiges Fräulein – welch unerwartetes Vergnügen –‘

Aber sie – die Nase noch einen Zoll höher gereckt, sieht mich so recht von oben bis unten kühl und abweisend an.

‚Sie sind auch hier, Herr von Rotenberg? sehr nett!‘ sagt sie, neigt den Kopf, genau gerechnet um zweiundeinenhalben Centimeter, macht eine kleine Wendung auf dem spitzigen Absatz und dreht um – einfach um – wie man gar nicht „ummer“ drehen kann – und da stand ich, und dachte, wie das dem Normalmenschen in solchem Fall zukommt und gebührt: ‚Da hast du’s!‘

Ich sah dem schlanken, zierlichen Mädchen noch ein paar Augenblicke halb betäubt und ganz verdonnert nach, ich hatte wieder einmal die Empfindung, ein so recht hübsches kaltes Sturzbad über den Kopf bekommen zu haben, wie mir dergleichen von derselben niedlichen Hand schon öfter zu teil geworden war – und wenn das nicht immer angenehm ist, so kann es doch unter Umständen sehr zuträglich sein!

Man muß – jetzt, wo die schönen Tage von Aranjuez vorbei sind, kann ich’s ja wohl ruhig sagen! – man muß ein hübscher Bursche gewesen sein, einer, der im großen und ganzen ein ebenso unverdientes wie erfreuliches Glück bei Damen hatte, der sich vor Cotillonschleifen und -Orden auf den Bällen nicht zu lassen und zu fassen wußte – ein solcher Bursche mußte man sein, um zu empfinden, wie heimtückisch es das Schicksal manchmal einrichtet, daß gerade die eine, von der man gern ausgezeichnet sein oder der man doch wenigstens nicht unsympathisch sein möchte, was doch wirklich ein bescheidener Anspruch ist – daß gerade diese eine, sag’ ich, jedesmal zwei Grad unter Null gefriert, wenn man ihr zufällig oder absichtlich in die Nähe kommt.

Aber alles findet seine Grenze und der Mann hat seinen Stolz. Mir war nun genug widerfahren – oder ich glaubte es doch wenigstens – und ging im frischen Eindruck dieses Erlebnisses mit doppeltem Feuereifer daran, der unbekannten Nichte meiner Gönnerin zu hofieren.

Einen Tag oder zwei vor meiner unerwarteten Begegnung mit Ines war sie – die Nichte – angekommen; da war es ja immer noch Zeit, ihr einen Willkommensstrauß zu schicken. Ich bestellte denn einen, so groß wie ein Schulglobus für die Prima, und schickte ihn mit meiner Karte an Fräulein von Stettendorf – denn als ich adressieren wollte, fiel mir zu meiner Beschämung ein, daß ich mich nach dem Namen der Nichte noch gar nicht erkundigt hatte.

Ich schrieb daher auf die Karte ein paar gefühlvolle Worte von ‚aufgehender Sonne‘ und ‚ehrfurchtsvollster Begrüßung‘, die nicht undeutlich durchblicken ließen, daß ich gesonnen und gewillt sei, mich mit Leib und Leben für die nächste Zeit in den Dienst dieser Sonne zu stellen – ich schrieb, was wahrscheinlich sehr blödsinnig ausfiel, mir aber sehr wirkungsvoll vorkam. Ich sagte mich ferner auf derselbigen Karte zu demselbigen Abend an – kurz, ich wollte die Feindseligkeiten nun auch energisch eröffnen.

Die ganze Stadt war in diesen Tagen mit Vorbereitungen und Gedanken zu dem schon erwähnten Maskenball beschäftigt – alles that höchst geheimnisvoll, denn der Hauptspaß in der unter sich so genau bekannten Gesellschaft war, sich einmal möglichst unbekannt gegenüber zu treten und unter dieser Tarnkappe in Scherz und Ernst, in Huldigung oder leichter Bosheit sich allerlei zu sagen und merken zu lassen, was man im Alltagsleben für sich behielt.

Ich hatte mich noch gar nicht mit irgend welchen Gedanken in betreff meines Kostüms beschäftigt und, ehrlich gesagt, jetzt und heute den ganzen Maskentrubel so ein bißchen aus dem Sinn verloren – besonders bei dem unerwarteten Wiedersehen, das mir geworden war. Aber als ich an diesem Abend zu meiner alten Freundin kam, war dafür gesorgt, daß mir das betreffende Fest wieder nahe vor Augen gerückt wurde.

Das große Wohnzimmer bei Fräulein von Stettendorf war im ganzen ziemlich dämmerig, die Lampe, aufs Kamintischchen gerückt, gab nicht genug Licht, um alle Ecken zu erhellen. Als ich hereinkam, sah ich, selbst im Dunkeln stehend, die altbekannte Tante und die unbekannte Nichte in jenem hellerleuchteten Teil des Zimmers sitzen und einen ganzen Stoß Modebilder miteinander beaugenscheinigen, die Trachten von Anno dazumal Anna Domini, wie ein Freund von mir ganz unbefangen sagte, der diese Anna wahrscheinlich für eine Heilige hielt – also Trachten von Anno dazumal zu beaugenscheinigen, über die [83] so eifrig beraten wurde, daß mein Eintritt unbemerkt zu bleiben schien.

Die Nichte saß mit dem Rücken zu mir gewandt, aber ehe ich mir noch Zeit genommen hatte, mir die verwirrende Frage, ob wohl zwei Mädchen in Deutschland solche blonde Prachtzöpfe im Nacken trügen, mit einiger Deutlichkeit beantworten zu können, drehte die Eigentümerin der Zöpfe den Kopf – und da hatten wir die Bescherung!

Die Nichte und meine Prinzessin Ines waren ein und dieselbe, und der Blumenstrauß mit den überschwenglichen Redensarten, den ich heute abgeschickt hatte, stand preislich auf dem großen Sofatisch und war an die unrichtige, oder – wie man’s nehmen will – an die richtige Adresse gegangen!

Meine alte Freundin nickte mir zerstreut zu; Ines machte ihre mir nur zu wohl erinnerliche kleine Kopfneigung, und die Tante wollte mich eben vorstellen, als ich sie unterbrach: ‚Ich hatte schon in meiner vorigen Garnison die Ehre‘ – und mit ausgestreckter Hand, wie das damals eben erst Mode wurde, das Fräulein zu begrüßen gedachte.

Aber sie ließ die beiden Hände so schlapp an den Seiten des Kleides herunterhängen, als wüßte sie gar nicht, was sie mit diesen zierlichen Anhängseln eigentlich anzufangen habe, und sagte mit ihrer kühlen, klaren Stimme: ‚Danke sehr für die schönen Blumen, Herr von Rotenberg – es war sehr freundlich von Ihnen!‘ Die Tante sah starr und erstaunt von einem zum andern: ‚Was, ihr kennt euch schon? Und das hat mir keiner von euch gesagt?‘

Während ich den triftigen Grund, daß mir der Name des erwarteten Gastes nicht mitgeteilt worden sei, hervorbrachte, zuckte Ines nur in fluchtiger Verlegenheit die Achseln.

‚Es giebt ja mehrere des Namens in der Armee,‘ sagte sie – weiter nichts.

Inzwischen hatten die Tante und ich uns gegenseitig je einen Blick an den Kopf geworfen. Sie verstand sich vorzüglich auf diese Zeichensprache, und man kann es ihr nicht verdenken, wenn sie den ganzen Abend überaus pfiffig aussah und sich vorkam – ein Behagen, das ich ihr von Herzen gönnen konnte, wenn es mir auch leider versagt war, es mit ihr zu teilen.

‚Nun, und hier ist man schon in hochwichtigen Konferenzen mit der gütigen Fee Mode?‘ unterbrach ich endlich die beklommene Stille, die der ersten Begrüßung gefolgt war.

Aber Ines legte die Blätter, nach denen ich greifen wollte, rasch übereinander.

‚Das sind Damenangelegenheiten und Sie dürfen uns doch auf dem Ball nicht erkennen, Herr von Rotenberg,‘ sagte sie, nahm den ganzen Stoß Modebilder und ging damit hinaus.

Die Tante sah mich einen Augenblick sehr durchbohrend an, mit einem wahren ‚Röntgenblicke‘ würde ich sagen, wenn man von dergleichen damals schon gewußt hätte – und dann sagte sie, gewissermaßen als Antwort auf meine gänzlich ungesprochene Frage:

‚Ja, lieber Sohn, das ist eine eigene Sache! Das Prinzeßchen gefällt mir – gefällt mir sogar sehr gut; aber es ist ein kühles Nixchen, und ich habe in den drei Tagen erst ein einziges Mal Gelegenheit gehabt, mich über sie zu verwundern, was sonst, wenn ein achtzehnjähriges Mädchen drei Tage im Hause ist, eher und öfter zu passieren pflegt.‘

‚Und worüber haben Sie sich gewundert, gnädigste Tante?‘ frug ich – denn den Namen gab ich ihr schon lange.

‚Ueber den finstern Zug von – ich hätte beinahe gesagt, verächtlichem Zorn, mit dem unser Fräulein heut’ das Bouquet in Empfang nahm und den ich mir im Augenblick gar nicht – jetzt schon ein bißchen besser, und nicht zu Ihren Ungunsten – zu deuten verstand,‘ fuhr Fräulein von Stettendorf in fliegender Hast fort, immer den Blick nach der Thür, durch welche die Besprochene ja im nächsten Augenblick herein kommen konnte, ‚ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll.‘

,Das passiert Ihnen doch sonst nicht so leicht?‘ warf ich lachend dazwischen. – Sie drohte mir mit dem Finger.

‚Artig!‘ sagte sie, ‚aber wissen Sie, Rotenberg, ich hatte das Gefühl, als wenn sie – falls man so sagen kann – auf sich selber eifersüchtig wäre – auf die Unbekannte, der da ein so effektvoller und gefühlvoller Gruß wie eine Bombe vor die Füße geflogen kam. Denn als ich frug: ‚Nun, was sagst du denn zu meinem galanten Pflegesohn, dem Lieutenant von Rotenberg?‘ da erwiderte sie – abermals mit jenem Zuge, dessen ich vorhin erwähnte: ‚Er mag wohl eben ein solcher Allerweltscourmacher sein, daß er sich für eine unbekannte, junge Dame sofort begeistern kann – eben weil’s eine junge Dame ist – und‘‘ – das alte, gute Fräulein stockte.

‚Und?‘ drängte ich, ‚da sagte sie doch gewiß noch irgend eine Teufelei – ich sehe es Ihnen an, Tantchen! Es ist gewiß das beste, ich weiß ganz genau, woran ich bin!‘

‚Und,‘ fuhr die Tante widerwillig fort, „und solche Leute sind gar nicht mein Genre‘ – das sagte sie, wenn Sie’s denn durchaus wissen wollen! Und da erwiderte ich – halten Sie sich mal die Ohren zu, Kindchen! – ‚Sieh’ ihn dir nur erst an!‘ – freilich ohne zu wissen, daß das schon lange besorgt war!‘ In dem Augenblick und während ich noch zweifelhaft und ungewiß vor mich niedersah, kam Ines wieder herein.

Sie warf einen kurzen, etwas fragenden Blick von mir zur Tante, und von der Tante zu mir, und schritt auf den Samowar zu, um den Thee zu bereiten.

Alle solche kleineren Aemter und Pflichten hatte sie als zeitweilige Haustochter mit einer allerliebsten Selbstverständlichkeit übernommen, das sah ich sogleich. Sie verwaltete sie mit ihrer vornehmen, graziösen Ruhe, die mir, wirklich ohne meinen Willen, der sich nachgerade gegen die fortgesetzte schlechte Behandlung aufbäumte wie ein Pferdchen gegen den Zaum, doch wieder und wieder das Herz abstehlen wollte, so daß ich mich förmlich zwingen mußte, nach einer anderen Richtung zu sehen.

Ihr gelang das besser – überraschend gut, und in einer für meine Eitelkeit sehr heilsamen Weise – ja, ich hatte ab und zu die Empfindung, als ob ich ungefähr so durchsichtig sein müßte wie das ‚bestgeputzteste‘ Fensterglas – ich kann nicht sagen, daß das gerade etwas sehr Behagliches hat.

Und dieser Zustand blieb während der sämtlichen Tage, die noch vor dem Maskenball vergingen, in unveränderter Weise fortbestehen. Ich ging nach wie vor – vielleicht noch ein bischen öfter als vor – im Hause meiner lieben, alten Gönnerin ein und aus – ich besorgte Theaterbillets für uns alle drei – ich gähnte mir als Musikketzer in zwei Symphoniekonzerten beinah’ die Seele aus – ich las mit Feuer und dem Brustton der Ueberzeugung Riehls Novellen und dann ‚Die bezähmte Widerspenstige‘ vor, wobei ich mir an besonders bezüglichen Stellen einen kleinen Seitenblick auf die reizende Widerspenstige mir gegenüber gestattete, die sich zu meiner inneren Genugthuung dabei mehrfach [84] in die Finger stach und rot wurde – kurz, ich opferte mich auf dem Altar geselliger und ästhetischer Genüsse – aber ich kam anscheinend um keinen Schritt vorwärts.

Fräulein von Stettendorf, die ich nur in flüchtigen und seltenen Augenblicken allein sprechen konnte, half mir auch nicht auf die Sprünge – und wenn ich verzweifelt klagte: ‚Ich werde nicht klug aus der ganzen Sache,‘ dann erwiderte sie mir sehr entmutigend: ‚Ich auch nicht!‘ – was mir nicht viel helfen konnte. –

So kam der Maskenball näher und näher, und die Kostümangelegenheit blieb mir über der Herzensangelegenheit unentschieden. Es war mir wirklich und wahrhaftig gar nicht nach Verkleiden und Scherzen zu Sinn und ich ging ernstlich mit dem Gedanken um, am Ende die Sache ganz aufzugeben – entweder gar nicht oder in einem dunklen einfachen Domino auf den Ball zu gehen, um die Rolle des unbeachteten Zuschauers zu spielen, zu der ich überhaupt im Leben verurteilt zu sein schien.

Denn den Ausweg, den ein guter Freund von mir in solchem Maskendilemma ergriffen hatte, der unmaskiert mit einem Fünfzigthalerschein in der hochgehobenen Rechten auf einen Kostümball ging und infolgedessen von niemand erkannt wurde, da kein Mensch ihn jemals im Besitze von barem Gelde gesehen hatte – diesen Ausweg hätte ich freilich zeitweise auch ergreifen können, aber vielleicht gerade damals nicht – kurz, er war ausgeschlossen!

Ich wollte schließlich die ganze Maskenballangelegenheit davon abhängig machen, wie mich Ines in den letzten Tagen vor dem Feste behandeln würde. Denn fuhr sie fort, derartig gleichgültig und abweisend sich gegen mich zu verhalten, so hatte der Spaß überhaupt für mich keinen Sinn und ich fand besseres zu thun, als mich mit fremden, gleichgültigen Gänschen im Takte zu drehen, was mir ohnehin schon nach acht durchtanzten Wintern überdrüssig geworden war.

Wir hatten prachtvolle Schlittschuhbahn in jener Zeit, und ich stellte mich als Matador in dieser wie in manchen anderen brotlosen Künsten fleißig auf der Eisfläche ein. Ich hatte auch schon das Glück genossen, mit meiner blondgezopften Schönen dort herumzugleiten und sie im Stuhlschlitten zu schieben, was zu meiner Zeit eine beliebte Aufmerksamkeit war – jetzt freilich bald in umgekehrter Folge stattfinden wird, da es ja heute Mode ist, daß die jungen Damen die Cour machen und die Herren es herablassend entgegennehmen. Na, so weit waren wir eben damals noch nicht!

Bei diesen gemeinsamen Fahrten taute, trotz Kälte und Eis, der Gegenstand meiner Anbetung etwas auf – wir sprachen dann über alle möglichen Themata zwischen Himmel und Erde – über Bücher und Bilder, über Menschen, Welt und Leben – und unsere Ansichten stimmten so gut überein, ihre liebliche, heitere Verständigkeit war so überaus anziehend, daß ich mir sehr oft auf die Zunge beißen mußte, um sie nicht zu fragen, ob wir denn diese Uebereinstimmung und Sympathie nicht durch einen gemeinsamen Lebenslauf statt Schlittschuhlauf besiegeln wollten.

Aber es ging mir nicht über die Lippen, so oft ich einen Anlauf nahm. Ich hatte ja noch immer nicht die leiseste Veranlassung, den geringsten Schimmer von Recht, anzunehmen, daß ich ihr nicht völlig gleichgültig wäre – und ich meine, es gehört schon ein Geck erster Qualität dazu, einem Mädchen seinen Antrag zu machen, ehe er im geringsten gemerkt hat, was für ein Gesichtchen sie dazu ziehen wird.

So blieb denn vorläufig alles beim alten.

Ich hatte es bisher jeden Tag so einzurichten gewußt, daß ich mit Ines gleichzeitig auf dem Eise erschien, mit ihr ein halbes Stündchen auf und ab lief und dann gleichzeitig mit ihr den Schauplatz des Winterpläsirs verließ. Freilich mußte ich mich immer schon an der Treppe von ihr verabschieden, da sich das nicht anders geschickt hätte. Heute, am Tage vor dem vielbesprochenen Ball wartete ich nun schon geschlagene zehn Minuten auf meine Göttin, fuhr in meiner erwartungsvollen Verfassung eine kunstvolle ‚Acht‘ nach der andern, sah die blitzende Fläche spiegelblank und lockend vor mir liegen, und als noch fünf Minuten hingeschlichen waren, sagte ich mir, Ines werde wohl heute nicht kommen. Ich verbeugte mich frischweg vor einer niedlichen, schwarzäugigen Ratstochter, mit der es sich sehr nett plaudern ließ und die auch auf Schlittschuhen sich gewandt zu bewegen verstand. Surr! flogen wir Hand in Hand miteinander dahin – dazu wurde noch eben von der Stadtkapelle ein deliciöser Walzer intoniert – und die Sache war nicht ohne Reiz.

Es ist immer mein besonderes Pech gewesen, daß ich in meiner ganzen Art und Haltung etwas Hofierendes und Huldigendes gehabt habe – auch, wo ich es gar nicht wollte.

Zahllose Male hat man mir nach irgend einem sterblich ledernen Kommißpecco, auf dem ich alle zehn Minuten nach der Uhr sah und am Leben verzagen wollte, hinterher gesagt: ‚Na, Rotenberg, Sie haben aber wieder einmal flott die Cour geschnitten!‘ und meine Seele hatte nicht daran gedacht!

Daß man aber, wenn man mit einem hübschen Mädchen Schlittschuh läuft, sich fidel und lebhaft unterhält, daß man über nichts und wieder nichts ins Lachen kommt, das ist ja doch kein Unglück und kein Verbrechen – nicht wahr? Allein mir sollte es zum Verderben gereichen! Denn als ich mitten im muntersten Geplauder mit meiner kleinen Demoiselle bin und wir so recht wie zwei Schmetterlinge auf Stahlschuhen einhergaukeln und schaukeln, bei den Klängen der ‚Schönen blauen Donau‘, die damals Hauptwalzer war – da sehe ich plötzlich die großen Augen von Fräulein Ines so finster auf mich geheftet, daß ich einen förmlichen Schreck bekam und mir wirklich gar nicht zu erklären wußte, was ich denn eigentlich verbrochen hatte.

Die ungnädige Göttin schien eben erst gekommen zu sein. Sie hatte in einem der Stuhlschlitten Platz genommen und ein zerlumpter Kerl von mörderischem Ansehen, wie sie in meiner Jugend sich durch Schlittschuhanschnallen ihr Brot zu verdienen pflegten, kniete ritterlich vor ihr auf der Erde und befestigte ihre Stahlschuhe, die notabene so klein waren, daß sie hätten als Berloque an der Uhr getragen werden können.

Ich konnte doch nun nicht augenblicklich meine Partnerin abschütteln wie eine überreife Pflaume, ich mußte anstandshalber noch einmal mit ihr die Bahn herunter fahren; dann murmelte ich ein paar Worte vor mich hin, von denen ich hoffen will, daß sie sie besser verstanden hat als ich – und verabschiedete mich von der kleinen Schwarzäugigen, um Fräulein Ines mein ganz devotestes Kompliment zu machen und sie zu fragen, ob sie mir wohl die Ehre erzeigen wollte, mit mir zu fahren.

Aber siehe da – das Fräulein erwiderte nur kurz und kühl: ‚Ich danke sehr – ich fahre heute nicht!‘ winkte ihrem [85] ‚Straßenräuber‘ zum zweitenmal, ließ sich die Schlittschuhe wieder abschnallen, hing sie über den Arm, grüßte mich, der ich wie Lots Weib in Lieutenantsgestalt vor ihr stand, und schwebte ab. Na, das war ja recht deutlich, und eine nicht mißzuverstehende Antwort auf meinen schon öfter gehegten Wunsch, zu wissen, woran ich war!

Ich machte auch gar keinen Versuch, ihr zu folgen. Ich stand noch vielleicht zwei – drei Minuten und sah ihr nach; dann überlegte ich mir, daß das Festfrieren an die Schlittschuhbahn auch ein zweifelhaftes Vergnügen wäre, welches mir aber unzweifelhaft blühen würde, wenn ich hier noch sehr lange so regungslos stehen bliebe; ich schnallte ebenfalls ab und ging meiner Wege, mit dem Gefühl, nun aber wirklich und definitiv ‚genug‘ und mir den Appetit auf mehr gründlich verdorben zu haben.

Ich hatte mir an dem Morgen ein herrliches Fra Diavolokostüm für den Maskenball ausgesucht und im stillen schon die Möglichkeit erwogen, unter der Maske dieses eleganten Räubers einen Raubzug auf das kühle Herz meiner Schönen zu unternehmen, aber nun überlegte ich es mir anders und strich mit fester Hand den Maskenball von der Liste meiner Lebensfreuden. ‚Man darf sich auch nicht wegwerfen!‘ sagte ich auf der Straße so laut vor mich hin, daß sich ein paar Vorübergehende ganz erstaunt nach mir umsahen.

Der nächste Tag brachte mir so viel Dienst, daß ich kaum zur Besinnung kam, und erst gegen Abend fiel mir ein, daß ich ja wohl meiner alten Freundin von meinem veränderten Entschluß Mitteilung machen müsse, da sie sich gewöhnlich bei gesellschaftlichen Veranstaltungen auf mich und meine Kommandostimme zum Herbeirufen ihrer Droschke und zu ähnlichen Ritterdiensten verließ und verlassen hatte. Ich begab mich also zu ihr und fand sie allein im Wohnzimmer, sehr behaglich und im entschiedenen Genuß des Dämmerstündchens – auf Ballabsichten deuteten im Augenblick noch keine Anzeichen.

‚Ich störe hoffentlich nicht bei den Vorbereitungen zur Toilette?‘ begann ich etwas steif im Eintreten.

Die gute, alte Dame lachte mich vergnügt an.

‚Nein, Rotenberg, ich will Ihnen sogar eine kleine Perfidie von mir verraten – ich gehe gar nicht auf den Ball! Meine Pflegebefohlene habe ich der Generalin Massenburg anvertraut und ihr versprochen, nachzukommen, wenn mir besser würde. Ich hatte nämlich ein bißchen Kopfweh, das ich zum Vorwand nahm; denn es war mir eigentlich von Hause aus nicht recht ernst damit, auf den Maskenball zu gehen, trotzdem ich schon ein herrliches Hexengewand samt Larve und Haube dort auf dem Stuhl liegen habe – um Kinder fürchten zu machen, sage ich Ihnen! Aber ich finde wenig Geschmack daran, wenn alte Leute, denen von Rechts wegen schon der Kopf wackeln sollte, sich noch zu Hanswürsten hergeben – es geht mir gegen den Strich! Die kleine Ines, die übrigens als Watteauschäferin – das sei Ihnen verraten – zum Kopfverdrehen reizend aussieht, ist schon zu Massenburgs gefahren, und wenn ich nicht nachkomme, was ich natürlich nicht thue, will Frau von Massenburg sie mit nach Hause nehmen und bei sich logieren – da habe ich meine ungestörte Nachtruhe. So viel Talent zur Intrigue haben Sie mir wohl gar nicht zugetraut? – Aber Sie?‘ fuhr die alte Dame dann lebhaft fort und faßte mich am Aermel, ‚Sie? warum sind Sie denn noch nicht als Figaro oder Faust oder sonst was dergleichen drapiert? Wollen Sie wohl machen, daß Sie fortkommen?‘

‚Lieber nicht!‘ erwiderte ich mit erzwungenem Lachen, ‚wenn Sie mich hier behalten mögen, gnädigste Tante, dann bleibe ich bei Ihnen – ich habe den Maskenball in den Schornstein geschrieben.‘

Die Tante richtete sich auf und sah mich mit ihren klugen Augen eine ganze Weile an.

‚Und warum?‘ frug sie langsam.

‚Aus einem sehr persönlichen Vernunftsgrunde,‘ sagte ich und versuchte möglichst leicht zu sprechen; ‚wenn ich als Kind einen Kuchen nicht bekommen sollte, ging ich an dem Konditorladen nicht unnütz vorbei, wo er im Schaufenster stand. Nun, ich habe mich jetzt überzeugt, daß ich den Kuchen, den ich gerne hätte, auch nicht bekommen soll – wozu führt es da, wenn ich mich ihm den ganzen Abend gegenübersetze? Nein, man muß einmal einen Strich machen können, und dazu ist der heutige Tag ein ebenso geeigneter Zeitpunkt wie jeder andere.‘

Die alte Dame schwieg eine Weile und sah nachdenklich ins Feuer.

‚Wissen Sie, Rotenberg,‘ sagte sie dann, ‚ich wäre jetzt sehr froh – wirklich sehr! – wenn ich aus voller Ueberzeugung sagen könnte: Sie machen sich Hirngespinste um nichts und wieder nichts, Sie haben alle Chancen bei der Kleinen, und so weiter, und so weiter, was man so gern sagt und gern hört; aber ich gestehe Ihnen ganz ehrlich, ich weiß selber nicht, was ich von dem niedlichen Persönchen und seiner Herzensverfassung halten soll. Daß es in dieser Hinsicht nicht ganz richtig bei ihr ist, darauf will ich schwören – sie hat öfter rotgeweinte Augen und seufzt manchmal über ihrer Stickerei, trotz dem besten Blasebalg. Aber ob Sie dahinter stecken, alter Sohn, oder ein anderer – das weiß ich nicht! Es ist ein ganz sonderbares kleines Mädchen,‘ fuhr die Alte sinnend fort, ‚sie verrät sich nicht und nie, und ich, die ich sonst die geborene und geschworene Vertraute in allen Herzensaffairen bin, ich kriege keinen Ton heraus, wie die Sachen stehen. Eins muß ich Ihnen sagen: daß Sie heute nicht auf den Ball gehen wollen, das ist dumm von Ihnen! Denn auf einem Maskenfest, wo alles so ein bißchen über sich selbst hinaus ist, da gehen auch verschlossene Herzensthüren hin und wieder ein [86] Spältchen weit auf, und Sie können vielleicht mehr sehen, als Sie denken!‘

‚Und mehr, als mir erwünscht ist!‘ warf ich finster hin.

‚Und wenn es so ist, dann ist auch das ganz gut,‘ sagte die Alte in ihrer resoluten Art. ‚Dann wissen Sie, woran Sie sind – Klarheit über alles – Sie wissen, das ist mein Lebensmotto und soll heute abend auch das Ihrige sein! Gehen Sie nur, lieber Sohn, so eine Herrentoilette dauert ja nicht ewig und drei Tage – putzen Sie sich möglichst bethörend an und versuchen Sie Ihr Heil! Nützt’s nichts, so schadet’s auch nichts – die Sache sitzt Ihnen nun doch mal tiefer, als ich gedacht habe – na – wird’s?‘

Ich zögerte.

‚Es ist unmöglich!‘ sagte ich dann, ‚ich habe heute mittag dem Schneider sagen lassen, ich brauchte meinen Fra Diavoloanzug heute abend nicht – er könnte andere, dringendere Arbeit dafür fertig machen, da ich den Ball aufgegeben hätte – ich habe also gar kein Kostüm!‘

Die alte Dame sprang lebhaft auf.

‚Dann nehmen Sie das meinige – gehen Sie als Hexe, Rotenberg, das ist ja ein Hauptspaß! Niemand vermutet Sie hinter der unkleidsamen Maske – viel kleiner als Sie bin ich auch nicht – und denken Sie mal, was Sie für Beobachtungen machen können! Das ist ja eine famose Idee – das thun wir!‘

Ich stand unschlüssig – der Gedanke lockte mich denn doch, gerade um seiner Abenteuerlichkeit willen; ich war so recht in der innerlichen Verfassung, wo man gern mal va banque um den Augenblick spielt – und Fräulein von Stettendorf ließ mir auch gar keine Zeit, mich sehr zu besinnen. Sie hing mir ihr Hexenkostüm über den Arm, schob mich in die Thür ihres Toilettenzimmers, und als ich nach Ablauf einer geraumen Zeit, deren ich bedurft hatte, um mich in den ungewohnten Gewändern und ihrem Faltenwurf zurecht zu finden, verwandelt und unkenntlich wieder heraustrat, legte sie mit grenzenlosem Amüsement die letzte Hand an meine Verkleidung und versteckte meinen stolzen Schnurrbart unter der Larve einer alten braven Hexe, wie sie nicht schauderhafter hätte gedacht werden können.

Ueberredet, gepufft, belustigt und verwirrt, fand ich mich eigentlich erst ganz bei Bewußtsein wieder, als ich schon im Ballsaal stand und mich von der bunten, unkenntlichen, im Maskenfalsett durcheinander zwitschernden Gesellschaft umringt fand, die zuerst – auf mich wenigstens – immer einen fast unheimlichen Eindruck macht. Ich spähte unter den ausdruckslosen Larven vergeblich nach meiner Watteauschäferin, stand als schweigsame, verstimmte Hexe an einem Pfeiler und ließ den vielfarbigen Strom der Menschen an mir vorbeitreiben.

Ich war schon reichlich spät gekommen und eine laute, lärmende Lustigkeit hatte in der Gesellschaft Platz gegriffen, wie sie sonst in unseren Kreisen kaum zum Ausdruck zu kommen pflegte.

Plötzlich sagt ein liebes, bekanntes Stimmchen hinter mir: ‚Tante, gute Tante – so bist du doch gekommen! Ach, mir war schon so ungemütlich unter den vielen, fremden Leuten – wie reizend, daß du da bist!‘

Und eine kleine Hand berührte meine Schulter, während ich unwillkürlich wie ein ertappter Verbrecher zusammenfuhr.

‚Ist dir denn besser geworden?‘ fuhr Ines fort, in einem so liebevollen Ton, daß mir ganz heiß ums Herz wurde, ‚es ist rührend, daß du noch gekommen bist, Tantchen, nun bleibe ich aber auch bei dir!‘

Ich versuchte meine Stimme zu einem möglichst lieblichen Quiekslaut herab zu stimmen, fand es aber bei näherer Ueberlegung ratsam, in den allgemeinen Fistelton überzugehen, in dem ich mich am sichersten fühlte.

‚Es ist wohl besser wir sprechen so!‘ piepste ich verlegen, der direkten Anrede vorsichtig ausweichend, ‚die Leute dürfen doch nicht merken, daß wir zusammengehören und meine Stimme ist so bekannt!‘

Sie nickte eifrig.

‚Ja, ja, du hast gewiß recht -aber ich kann, glaube ich, ruhig sprechen, wie ich will, mich kennt ja hier niemand! Es ist überhaupt kein Mensch hier,‘ fuhr sie in schmollendem Ton fort – eine Feststellung, die angesichts der etwa zweihundert Personen im Saal sehr komisch klang – ‚den Lieutenant von Rotenberg habe ich auch noch gar nicht entdecken können – er ist gewiß nicht gekommen,‘ setzte sie leise hinzu.

‚Doch – der ist hier!‘ gab ich, immer im selben Ton, zurück, ‚dort drüben steht er ja – der italienische Räuber!‘

Der?‘ gab Ines im Ton einer für mich sehr schmeichelhaften Empörung zurück, ‚ach kein Gedanke, Tantchen! – der ist lange nicht so elegant! Nein, nein, zu verkennen ist Rotenberg nicht, er sieht doch immer am besten aus – findest du nicht auch?‘

Peinliche Frage – und peinlichere Situation. Ich kämpfte einen wahrhaft mörderischen Kampf zwischen Liebe und Pflicht – sollte ich mich jetzt demaskieren und allen weiteren Vertrauensergüssen erfolgreich vorbeugen, oder sollte ich diese Gelegenheit ergreifen, die sich mir vielleicht – nein, höchstwahrscheinlich – nie wieder bot, um einmal ins klare zu kommen, wie ich eigentlich beurteilt wurde. – Ich kämpfte, wie gesagt, wie der Ritter mit dem Drachen, aber der Drache – vulgo die Wißbegier und der Egoismus – siegte, ich blieb Tante und piepste weiter.

‚Nun, daß er dir so gut gefällt, läßt du aber für gewöhnlich nicht merken,‘ sagte ich in möglichst unbefangenem Ton, so weit man unbefangen fistulieren kann.

Sie schwieg einen Augenblick.

‚Nein!‘ sagte sie dann ehrlich, ‚das weiß ich wohl. Aber du kannst dir nicht denken, wie ich mich manchmal über ihn ärgere. Ich weiß nicht, Tantchen – ich glaube, ich könnte dir heute abend mal alles sagen – ich komme mir so versteckt und sicher unter der Maske vor – bitte, laß dir’s mal sagen!‘

Ich Scheusal – ich Ungeheuer! Jetzt wäre doch der Augenblick gewesen, diesem rührenden Stimmchen, dieser auf den Lippen zitternden Beichte gegenüber zu sagen, wer ich war; aber ich konnte nicht – ich brachte nur ein mühseliges, von Rührung und Erwartung halb ersticktes ‚Na?‘ hervor und das schien zu genügen.

Wir hatten inzwischen in einer Fensternische, vom Fenstervorhang halb verdeckt, Platz genommen, ein Beichtstuhl, wie er besser nicht gedacht werden konnte.

‚Siehst du,‘ begann das Mädchen mit leiser Stimme, ‚er gefällt mir wirklich sehr gut – riesig! – nein, wirklich, Tantchen – ich finde ihn so furchtbar nett – aber es ärgert mich so grenzenlos, daß er immer jedem jungen Mädchen den Hof macht.‘

‚Aber das thut er doch gar nicht!‘ quiekste ich verzweifelt, im Bewußtsein meiner Unschuld.

‚Ja doch – und doch – und doch! Was brauchte er damals gleich den Strauß zu dir zu schicken, ehe er eine Ahnung hatte, wer die Nichte überhaupt war? Und mit diesem schwülstigen Brief – zu arg!‘

‚Aber das war doch nur eine Aufmerksamkeit für mich,‘ verteidigte ich mich mit Wärme.

‚Ach, er macht es ja immer so,‘ sagte Ines zornig, ‚gestern auf der Schlittschuhbahn schnitt er wieder einem ganz unterirdischen, kleinen Geschöpf die Cour – wie toll – er sah mich überhaupt nicht, sag’ ich dir – einfach großartig war es! Und wenn ich dann mit ihm zusammen bin, ärgere ich mich so, daß ich gar nicht anders kann, als grenzenlos unfreundlich gegen ihn sein. Von Natur bin ich es ja wirklich nicht – nicht wahr, Tantchen, das weißt du doch?‘

Und die kleine Hand stahl sich in meine – ich zitterte, daß das Kaliber mich verraten möchte, und wagte nicht den arglosen Händedruck zu erwidern.

‚Ach Tantchen,‘ fuhr Ines nach einer Pause stockend fort, ‚sei nicht böse – aber bitte, sprich jetzt nicht so hoch – es klingt so komisch – es paßt so gar nicht zu dem, was wir zu sagen haben und was doch so ernsthaft ist – sprich in deinem guten, alten Ton – das wäre mir viel gemütlicher!‘

Na, das war ja eine erfreuliche Zumutung! Ich hörte mich in dem Augenblick in meinem ‚guten, alten Ton‘, meinem Brüllbaß vom Exerzierplatz sprechen – das hätte etwas Hübsches gegeben! Also meine letzte Zuflucht – die Piepstimme war mir genommen – da konnte ich mir ja ebensogut [87] gleich die Larve abnehmen – das war nun schon ‚ein Aufwaschen‘, wie das der Volksmund ausdrückt.

Ich griff verzweifelt zu einem letzten Ausweg.

Vorsichtig schielte ich umher – dann begann ich tonlos zu flüstern – ein Talent, welches ich erst in jener sauren Angststunde an mir entdeckte.

‚Wie gewöhnlich kann ich nicht sprechen‘ hauchte ich zart, ‚das hört am Ende ein Bekannter in unserer Nähe – sieh mal, der Andalusier dort spitzt ohnehin schon die Ohren nach uns – aber so leise flüstern, das geht, und flüstern kann man auch die ernsthaftesten Dinge!‘

Sie dachte einen Augenblick nach.

‚Du hast vielleicht nicht unrecht,‘ sagte sie mit einem leichten Seufzer, ‚und nun sage mir einmal, Tantchen – aber auf dein Wort, glaubst du, daß –‘ Sie verstummte und nahm die Larve ab, als wenn es ihr darunter zu heiß wäre – dann wendete sie das reizende, ernsthafte Gesicht seitwärts und sah sinnend vor sich hin.

‚Daß?‘ wiederholte ich unbarmherzig und stellte mich dumm – nun war meine Stunde gekommen!

‚Daß er mich ein bißchen gern mag?‘ brachte sie stockend und mühselig hervor und schlug die Hände vors Gesicht, ‚trotz der vielen Courmachereien bei anderen Leuten – glaubst du’s, Tantchen?‘

Daß ich in diesem Augenblick nicht von meiner ‚guten, alten‘ Stimme Gebrauch machte und ein so donnerndes ‚Ja und dreimal Ja!‘ in den Saal hinein schmetterte, daß die Fensterscheiben klirrten, das habe ich mir durch mein ganzes Leben sehr hoch angerechnet. Aber ich bezwang mich, so schwer es mir wurde. Ich dachte mir: heute ist vielleicht das erste und letzte Mal, daß du ihr eine Strafpredigt halten kannst – was mit der Wirklichkeit ungefähr übereingestimmt hat – und ich begann im lehrhaften Flüsterton, so zart und leise wie der Südwind, der durch die Wipfel streicht, eine wohlgesetzte Rede.

‚Nun, mein Kind,‘ zischelte ich so recht tantenhaft, tonlos und würdig, ‚du machst dir wirklich unnötige Gedanken. Der junge Mensch – er mag ja ein Windbeutel sein‘ – (mir blutete das Herz bei dem Zugeständnis!) ‚ich halte ihn nicht dafür!‘ (nein, das that ich wirklich nicht, ich protestierte immer in Gedanken gegen mich selbst, wenn ich mich so schlecht machte) – ‚aber du mußt dir nun darüber klar werden, was du eigentlich willst. Er liebt dich – er hat es mir selbst unzählige Male gesagt.‘ –

‚Tante!‘ rief Ines atemlos und sprang auf.

Ich zog sie wieder auf ihren Platz zurück.

‚Aber er wird sich entschieden nicht mehr lange so schlecht behandeln lassen,‘ fuhr ich strafend fort, ‚du siehst, er ist heute abend auch nicht auf den Ball gekommen – wenn er nun etwa ganz fortbleibt – bedenke mal!‘

Sie hing das Köpfchen unter dem rosa Schäferhut und erwiderte kein Wort. Und ich konnte auch nicht mehr flüstern – mir war die Kehle wie ausgedörrt, ich stützte den Kopf in die Hand und gab mir das Ansehen, als dächte ich tief und schmerzlich über die verwickelte Situation nach.

‚Ach, du hast gewiß wieder stärkeres Kopfweh, liebe, gute Tante,‘ sagte Ines zärtlich und besorgt, ‚und ich bin ein solcher greulicher Egoist und klage dir hier mein Leid vor – wollen wir nicht nach Hause fahren? Ich bin freilich noch zum Souper und den dummen Tänzen allen engagiert – aber ich führe so schrecklich gern mit dir – mir ist der ganze Ball verleidet!‘

Ich erschrak nicht schlecht bei diesem Vorschlag, der mein mühsam bewahrtes Inkognito rettungslos zu vernichten drohte.

‚Nein, du bleibst!‘ sagte ich mit Autorität, ‚es wäre unfreundlich, wenn du so mit polnischem Abschied auf und davon gingst. Komm’ jetzt zu Frau von Massenburg und morgen früh zu mir, da wird sich alles aufklären. Daß du dann aber auch nett zu Rotenberg bist!‘ säuselte ich noch drohend, ‚man darf die Saiten nicht zu straff spannen!‘

Sie war sehr nachdenklich geworden und ließ sich wortlos – was mir zu großer Befriedigung gereichte! – zu ihrer Beschützerin führen, der ich, nun wieder piepsend – nach dem Prinzip ‚So eine Mumie will doch mal eine Abwechslung haben‘ – meine Gründe für das Verlassen des Balles mitteilte. Dann aber sprang ich, selig wie der König eines schuldenfreien Reiches, meiner weiblichen Würde und Kleidung nicht achtend, die Treppe hinunter, riß mir die Larve vom Gesicht und warf mich in eine Droschke und fuhr rücksichtslos, wozu Liebe und Glück im Anfangsstadium ja zu machen pflegen, im Jagdgalopp nach dem Hause meiner alten, braven Freundin, um ihr mein übervolles Herz auszuschütten.

Das Schicksal wollte mir anscheinend auch weiterhin wohl: es brannte noch Licht oben in dem behaglichen Wohnzimmer, und so riß ich, im Vollgefühl meines guten Rechtes, mit allen Sorgen und Freuden zu der lieben alten Dame zu kommen, kräftig an der Klingel – kräftiger, als ich es eigentlich selbstbeabsichtigt hatte, denn es gellte nur so durch das nächtlich stille Haus – es war ja mittlerweile halb elf Uhr geworden.

Das Mädchen erschien mit verschlafenen Augen und sichtlich gesträubten Federn. ‚Gnädiges Fräulein gehen eben zur Ruhe!‘ bemerkte sie mit giftiger Betonung der Ruhe, die ich so schonungslos unterbrochen hatte. Sie musterte dabei meine hexenhafte Persönlichkeit mit unverkennbarem Hohn und schien nicht geneigt, mich zu melden.

‚Ich lasse bitten, das gnädige Fräulein möchte mich nur einen einzigen Augenblick empfangen,‘ drängte ich, ‚sagen Sie, in höchst wichtiger Angelegenheit.‘

Und ein Thaler, dieser Märchentalisman aller Zeiten, glitt in die Hand der mürrischen Zofe, die sich sofort zum sanften Engel verklärte und auf ihren so rapid gewachsenen Engelsflügeln davonflog. – Nach einigen Augenblicken des Parlamentierens wurde ich ins Wohnzimmer gelassen und stand, vor Ungeduld im Galopptempo mit dem Fuß wippend, am Kamin, in dem eben die letzten Funken träge und schlaftrunken durch die Asche krochen.

‚Die Tante putzt sich wohl anderthalb Stunden,‘ dachte ich ingrimmig, als die Sekundenuhr gerade zweimal um ihre kleine Bahn getrippelt war. Da ging die Thür auf, die Tante trat ein – ich wollte sie gerade mit einer Flut von Entschuldigungen und Erklärungen bestürmen, aber sie ließ mich gar nicht zu Worte kommen, sie sah mich einen Augenblick starr und entgeistert an

[88]

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Neckerei.
Nach dem Gemälde von M. Volkhart.

[89] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [90] und brach dann in ein homerisches, unauslöschliches Gelächter aus, mit einer so fürchterlichen Stimme, daß ich selbst in diesem eilfertigen und hochwichtigen Augenblick nicht umhin konnte, mir zu sagen, ich hätte mir mein Flüstern und Quieken auf dem Ball sehr gut sparen können, denn meine gute Tante – mein netter, alter Kerl – hatte doch eigentlich ein Organ wie ein tüchtiger Wachtmeister!

Was sie eigentlich so belustigte, darüber war ich mir in meiner über mich selbst gehobenen Verfassung grenzenloser, freudiger, zitternder Erregung nicht klar. Als sie aber gar nicht aufhörte mit Lachen und nur mit schmerzlich verzogenem Gesicht sich immer wieder die Lachthränen trocknete, wurde ich begreiflicherweise ärgerlich. ‚Mas lachen Sie denn eigentlich ohne Aufhören, Tante?‘ frug ich in etwas unwirschem Ton.

‚Nun,‘ sagte das Fräulein und machte einen allerdings ziemlich fruchtlosen Versuch, sich zu fassen, ‚wenn Sie sich sehen könnten, lieber Sohn, wie Sie mit der weißen Haube und dem großen Schnurrbart aussehen – wenn Sie sich so sehen könnten, und dann nicht lachten, dann würde ich Ihnen sofort die Thür weisen, denn Leute ohne Sinn für einen lächerlichen Anblick kann ich nicht brauchen!‘

‚Ich danke bestens!‘ erwiderte ich gereizt, ‚lächerlicher Anblick – niedlich!‘

‚Nun aber zur Sache!‘ fuhr die Tante, ungerührt durch meinen gerechten Unwillen, fort, ‚was wollen Sie eigentlich zur mitternächtigen Stunde von mir, daß Sie so klingeln, als wenn das Haus in Flammen stünde?‘

Ich trat einen Schritt näher.

‚Tante,‘ sagte ich tiefbewegt, ‚Tante – Ines liebt mich – sie hat mich in Ihrer Verkleidung für Sie gehalten, und ich habe sie nicht enttäuscht – sie hat mir ahnungslos ihre Liebe gestanden – Tante – Tante!‘

Zu meinem Entsetzen winkte die Tante unter erneutem, erstickendem Gelächter als einzige Erwiderung abwehrend mit der Hand.

‚Drehen Sie sich um! Drehen Sie sich ganz weg – oder nehmen Sie wenigstens die Haube ab!‘ stöhnte sie; ‚wenn Sie mit der Haube und dem Schnurrbart gefühlvoll werden, das überlebe ich nicht!‘

Ein neuer Lachkrampf schüttelte meine Gönnerin, die ich in dem Augenblick am liebsten selbst geschüttelt hätte, trotz aller Liebe und Hochachtung.

‚Zum Teufel die Haube!‘ rief ich, riß mir das unselige Gebäude vom Kopf und schleuderte es voll Abscheu in eine Ecke, ‚also noch einmal, Tante: Ines liebt mich!‘

‚Na,‘ sagte die Tante herzlos, ‚das thut sie hoffentlich morgen vormittag auch noch – dazu hätten Sie mich nicht aus dem Schlaf zu klingeln brauchen. Wenn ich denke, daß ich so viel intriguiert habe, um mir eine ruhige Nacht zu verschaffen – und das ist die Folge!‘ setzte sie mit wehmütigem Kopfschütteln hinzu.

‚Verzeihen Sie mir, Tantchen,‘ rief ich ungeduldig und reuevoll, da mir meine Rücksichtslosigkeit nun erst klar wurde, ‚ich sehe ja alles selbst ein, aber was soll ich nun thun?‘

Ich ging hastig und aufgeregt in der Stube auf und ab, die Tante sah mir mißtrauisch nach; als ich mich aber verzweifelt in einen Sessel warf, stellte sie sich energisch vor mich hin.

‚Nein, lieber Freund, nein,‘ sagte sie mit Nachdruck, ‚hier stundenlang über einem Entschluß brüten, das, bitte, besorgen Sie zu Hause! Ich bin Ihnen herzlich gut – aber die Nacht bei Ihnen zu wachen, weil Sie sich verliebt haben – das können Sie nicht verlangen, so weit geht meine Freundschaft nicht!‘ Bei mir überwog jetzt auch der Humor die Ratlosigkeit – ich küßte der alten braven Dame lachend die Hand.

‚Sie haben vollkommen recht, liebste Tante, und Sie sollen jetzt auch gleich Ihre Ruhe haben. Aber zunächst seien Sie noch einmal, wie schon so oft, die klügste, beste Ratgeberin unter der Sonne für Ihren Nichtsnutz von Pflegesohn: sagen Sie mir, wie soll ich meinen Vorteil weiter verfolgen? Sie wissen am besten, wie schwer ich ihn mir errungen habe!‘

‚Und nicht einmal redlich,‘ erwiderte die Tante vergnügt. ‚Aber so gefallen Sie mir viel besser,‘ setzte sie erleichtert hinzu, ‚auf dem Kothurn sind Sie wirklich gar nicht nett, Rotenberg! Nun will ich Ihnen auch einen vernünftigen Vorschlag machen. Jetzt ist es bald elf Uhr – Sie haben noch ungefähr zweiundeinehalbe Stunde Zeit, denn so lange wird, aller menschlichen Berechnung nach, der Greuel auf dem Maskenball noch dauern. Fahren – jagen – rasen Sie in die Maskengeschäfte – in die Theatergarderobe – klingeln Sie die Leute heraus – darin haben Sie ja heute Routine –‘

‚Tante!‘ sagte ich bittend.

‚Na, etwa nicht?‘ gab sie kaltblütig zurück, ‚besorgen Sie sich einen feinen Maskenanzug – Carlos, Rinaldo Rinaldini, Harlekin – was Sie wollen und was Sie kriegen können – das wird wohl das Entscheidende bei der Frage werden – dann rasen Sie wieder auf den Ball zurück, schmieden das Eisen, so lange es heiß ist – und wenn es irgend angeht, verloben Sie sich noch vor dem Schlußkaffee. Aber holen Sie sich meinen aufrichtigen und herzlichen Glückwunsch nicht etwa morgen früh um vier, sondern frühestens mittags um zwölf – und nun – fort – weg! ich sehe Sie schon nicht mehr!‘

Und die Thür schloß sich hinter mir, während ein kräftiges: ‚Na, gottlob, fort ist er,‘ mir als Segensspruch der Tante nachtönte und mich noch auf der eiligen Fahrt erheiterte, die ich nun durch die Maskengeschäfte der Stadt antrat.

Verwünscht, angeknurrt, mehrfach fast hinausgeworfen, um Unsummen Geldes geprellt, fand ich mich endlich als Spanier wieder, ‚stolz, wie man ihn liebt‘, und will nun von der sich abspielenden Liebeserklärung nichts weiter sagen, als daß sie glückte – was ja unbedingt die Hauptsache ist. Das freudige Erschrecken, welches Ines’ Gesichtchen bei meinem Anblick zur Schau trug – man hatte sich inzwischen demaskiert –, der so ungewohnt weiche, vorwurfsvolle Ton der Frage: ‚Aber wo waren Sie denn den ganzen Abend?‘, alles dies gab eine famose Einleitung für meine Absichten und Wünsche, so daß wir noch vor [91] Beendigung des Blumenwalzers – damals Cotillon benannt – einig und glückselig waren!

Die Frage meiner kleinen Braut: ‚Aber wie sind Sie denn so rasch zu dem Entschluß gekommen?‘ denn das Du fand sie an diesem ersten Abend noch absolut unmöglich und unerhört für den eigenen Gebrauch – mir wurde es gar nicht sauer, ich bin immer ein talentvoller Mensch gewesen! – diese Frage also überhörte ich geflissentlich und etwas beschämt. Daß ich in diesen unvergleichlichen Stunden noch manche andere, innerlich gestellte Frage meines Gewissens überhören und übertäuben mußte, das war der einzige bittere Wermutstropfen in meinem Glücksbecher. Ich kam mir vor wie ein Dieb, der den Schatz, den er nicht auf ehrliche Weise erringen konnte, auf listigen Umwegen an sich gebracht hat, und das war ein peinliches Gefühl für einen anständigen Kerl.

Aber ich ertränkte die Gewissensstimme für den Augenblick erfolgreich in Glück und Sekt, und als ich am späten Abend, oder besser frühen Morgen, den Kopf aufs Kissen legte, da wußte ich, daß ich einer der fröhlichsten und zufriedensten Menschen auf Gottes Erdboden sei – und das Gefühl ist gar nicht zu verachten!

Am nächsten Morgen flutete dies Glücksgefühl mit der neuen Kraft des jungen Tages wieder neu auf mich ein – ich hielt es nicht im Hause aus, ich fuhr vom ‚Blumenschmidt‘ zum Goldschmied, dann tobte ich zwecklos in den Straßen umher, bis ich mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen konnte, daß Ines den Ball ausgeschlafen habe und sich wieder bei der Tante befände. Dann sprang ich die Treppe hinauf, als wenn sie nur eine Stufe hätte, und verlebte den Tag in einem wahren Taumel von Lustigkeit und Behagen.

Am nächsten Tage sollte nun Ines nach Hause reisen und ich ihr mit einem etwas späteren Zuge folgen, um ihren Eltern meine Herzenswünsche vorzutragen. Am Abend aber, an diesem ersten und letzten des Beisammenseins vor der offiziellen Aussprache mit den Autoritäten, saßen wir bei unserer alten, lieben Tante Stettendorf so recht vergnügt um die Bowle exquisitesten Punsches, wie ihn die Tante und sonst niemand zu brauen verstand. Es hätte übrigens des Punsches gar nicht bedurft, denn mir war die ganze Situation schon so wie so in den Kopf gestiegen, wie sich aus dem Verlauf der Begebenheiten nur zu klar erweisen wird.

Ich wußte mich vor Uebermut und Lustigkeit gar nicht zu lassen und mein ernsthaftes Mädchen wurde auch schon angesteckt und lachte mit – der Tante gar nicht zu gedenken, die sich solche Gelegenheiten unter keinen Umständen entgehen ließ. Plötzlich, während ich so recht fidel, die Cigarre, die mir gnädigst verstattet worden war, zwischen den Zähnen, im Zimmer auf und ab promeniere, sehe ich auf einem Stuhl die Hexenhaube von dem verhängnisvollen Maskenball liegen.

Nun ist man bekanntlich in lustiger Stimmung nie zum Ueberlegen geneigt – ich war es auch nicht. Ich nehme – ich weiß nicht, plagt mich der Böse! – die Haube vom Stuhl, setze sie mir auf, trete damit vor den Spiegel und sage, indem ich mich an dem Anblick labe, so recht strahlend und selbstzufrieden: ‚Die Haube hat mir doch vorgestern abend ausgezeichnet gestanden!‘ Tableau!

Das lähmende Entsetzen, welches mich in diesem feierlichen Augenblick mit Geierkrallen anpackte – die innere Stimme, die mir widerwärtig gellend ins Ohr schrie: ‚Mein Junge, du hast eine kolossale Dummheit gemacht!‘ – das absolute, bleierne, nach meiner Empfindung etwa zwei und eine halbe Stunde dauernde Stillschweigen, das sich über die eben noch so fröhliche, kleine Tafelrunde lagerte – das alles muß man erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon machen zu können!

Ich wagte nur einen einzigen Blick nach meiner Braut – aber ich hatte genug! Ines saß da wie zu Stein erstarrt – mit weit aufgerissenen Augen, deren Ausdruck aus fassungslosem, nicht verstehendem und begreifendem Schreck sich zu verständnisvoller, grenzenloser Empörung und Beschämung wandelte, und plötzlich sprang sie mit einem ihr sonst ganz fremden Ungestüm auf – der Stuhl krachte um – die Thür wollte sich nicht lumpen lassen und krachte gleichfalls – effektvoller Abgang! – weg war sie, und die Tante und ich saßen uns in tödlicher Verlegenheit und Wortlosigkeit gegenüber.

Endlich fand meine alte Freundin das erlösende Wort: ‚Ja, aber sagen Sie mal,‘ begann sie so recht schonend, ‚eine solche bodenlose Dummheit ist mir denn doch in meinem ganzen Leben nicht vorgekommen!‘

‚Mir auch nicht,‘ sprach ich dumpf ergeben und ließ mich moralisch zerschmettert in einen Sessel fallen.

Dann schwiegen wir wieder beide und warteten auf einen Einfall, und es schien mir ganz wahrscheinlich, daß wir so in vierzehn Tagen auch noch sitzen würden.

Die Tante starrte mich feindselig an – ich gab es ihr zurück, denn ich fand, sie hätte mich doch wenigstens beklagen können. Die Situation wurde immer gespannter.

Plötzlich erhob sich das Fräulein, schlug mit der geballten Hand kräftig auf den Tisch und hielt mir eine längere Rede. ‚Hören Sie einmal!‘ begann sie mit großem Nachdruck, ‚jetzt oder nie will ich Ihnen meine Meinung sagen. Ich fühle mich so ein bißchen dazu verpflichtet, denn ich habe durch meinen Hexenvorschlag [92] Ihnen die Suppe eingebrockt und muß sie Ihnen nun auslöffeln helfen. Das ist nur gerecht. Also – dieser Augenblick – diese einzige, nächste Viertelstunde entscheidet, meiner unmaßgeblichen Ansicht nach, in mehr denn einer Hinsicht über Ihr ganzes, künftiges Leben!‘ – Ich wollte sie unterbrechen, aber sie legte den Finger auf den Mund, und ich schwieg wohlerzogen.

Daß Ines Ihnen verzeiht,‘ fuhr die Tante bedächtig fort, ‚heut’ oder morgen – das halt’ ich für ausgemacht, denn sie ist ein gutes Kind und hat Sie lieb! Aber wie sie Ihnen verzeihen wird – da sitzt jetzt der Haken. Sie sind ja der Schuldige, daran läßt sich nichts drehn und deuteln. Aber die ganze Geschichte war doch, im Grunde genommen, nur ein schlechter oder – guter Witz und eine ganz gerechte, kleine Strafe dafür, daß Sie eine lange Zeit hindurch recht minderwertig von ihr behandelt worden sind. Also sie muß jetzt nachgeben – – – und mit Humor nachgeben – sie muß die Lächerlichkeit der Sache einsehn! Denn das sage ich Ihnen, ehrlich und ohne Hinterhalt, Rotenberg – das macht mir, wie ich Sie kenne, manchmal ein bißchen Sorge für Ihre Zukunft, daß Ines vorderhand noch nicht so recht über einen dummen Witz lachen kann – und das könnte Ihnen, der Sie doch eigentlich aus dummen Witzen zusammengesetzt sind –‘

‚Danke!‘ sagte ich herzlich.

‚Bitte!‘ erwiderte die Tante trocken, ‚ich meine, das könnte Ihnen im späteren Leben oft recht peinlich sein. Also gehen Sie ihr jetzt mal nach! Sie sitzt, wie ich sie kenne, in meinem kleinen Boudoir; da hat sie sich schon manchmal ausgeärgert, wenn Sie ihr wieder etwas Vermeintliches oder Wirkliches angethan hatten. Klinken Sie! Ist’s zu, dann klopfen Sie – laut und tüchtig – und hilft das auch noch nichts – dann reden Sie durch die Thür. Ich warte.‘

Und die Alte lehnte sich bequem im Stuhl zurück, drehte die Daumen mit rasender Schnelligkeit umeinander und schien zu Ende mit ihrer Weisheit.

Ich stand schweigend und starrte auf meine Stiefelspitzen, als wenn ich sie noch nie gesehen hätte und mir den hübschen Anblick so recht einprägen wollte.

Nach einer Weile, als sich gar nichts begab, sah die Tante in die Höhe.

‚Na?‘ sprach sie gedehnt und vorwurfsvoll und zerrte die eine Silbe so lang, als wenn sie vom besten Gummielastikum hergestellt worden wäre.

‚Ich kann nicht!‘ sagte ich verzweifelt, ‚schicken Sie mich in ein brennendes Haus – in die Bataille – zum Zahnarzt – es soll am Tell nicht fehlen! – aber zu einer beleidigten Braut! – Die Situation ist mir noch so sehr neu!‘ setzte ich flehend hinzu.

Die Tante warf mir einen Blick zu – einen einzigen! – aber der einzige sprach Bände! –

Und dann nannte sie mich zum erstenmal im Leben ‚du‘ – und von da an immer!

‚Ach, du unseliges Huhn,‘ sprach sie mit tiefem Mitgefühl, ‚wie wird es dir als Ehemann ergehen!‘

Dann stand sie auf und ging hinaus – ich hörte sie eine ganze Weile an der Klinke arbeiten – ich hörte ein dumpfes Gemurmel – ein leises Schluchzen – ich kam mir vor wie ein raffinierter Mörder und sonstiger Verbrecher – und ich büßte in den zehn Minuten wirklich alle vergangenen und begangenen Sünden ab – und noch ein paar zukünftige auf Vorrat. Aber eine innere Stimme sagte mir: ‚Landgraf, werde hart, – giebst du jetzt klein bei, so giebst du’s durch dein ganzes Leben‘ – und der Gedanke hatte immerhin seine zwei Seiten, selbst für einen so freudeglitzernden Bräutigam, der freilich im Augenblick eher alles andere that wie glitzern.

Na – alles nimmt ein Ende, das sollte ich auch erfahren und erleben.

Ich hörte – ganz gemein horchend, wie ich zu meiner Ehrenrettung nicht verschweigen will! – also ich hörte, wie der Schlüssel im Schloß gedreht wurde, und nach wenig Augenblicken erschien die Tante und zog Ines hinter sich her wie ein Lämmchen zur Schlachtbank. Sie – Ines – hatte rotgeweinte Augen und sah mich zunächst überhaupt gar nicht an – wollte es wenigstens entschieden nicht; als ich aber, wie ein rechter, armer Sünder, mit hängenden Ohren dastand und gar nichts sagte, flitzte es wie ein Lächeln über ihr Gesicht – der erste, kleine Sonnenstrahl nach dem Frühlingsregen – sie hielt mir die Hand hin und sagte: ‚Meinetwegen – da will ich nur wieder gut sein – aber eine Scheußlichkeit war’s doch!‘

Und die war’s ja auch!




Wenn mich nun jemand fragen sollte, wie die Kur der Tante im Verlauf der Zeit sich bewährt hat – selbige Tante erschien übrigens auf unserem Polterabend im Hexenkostüm, als ‚ich‘, wie sich eigentlich von selbst versteht! – also wenn mich nun jemand fragen sollte, ob Ines im späteren Leben immer nachgegeben hat und ob ich gar nicht unter den Pantoffel gekommen bin, dem erwidere ich stolz und selbstzufrieden – – nein, dem will ich lieber antworten, daß ich es gar nicht liebe, wenn sich jemand in meine Privatangelegenheiten mischt; es geht ihn ja doch im Grnnde auch wirklich gar nichts an!“




[93]

Die Frauen von Berghausen.

Die Berghauser Frauen sind flinker Hand
Und haben dabei auch geweckten Verstand;
Dies hat die rettende That bewiesen,
Für die sie werden noch immer gepriesen.

Die Kälte war streng, der Winter hart,
Das Wasser in Bächen und Brunnen erstarrt,
Sie aber wollten sich’s nicht ersparen,
Die tägliche Milch nach Speyer zu fahren.

Einst, als sie schon rollten nahe dem Thor,
Stieg qualmender Rauch vor ihnen empor:
„Es brennt im Gutleuthaus! Hin mit den Kübeln!
Die Kunden werden’s uns nicht verübeln.“

Und kaum, daß die Nächste den Schrei gethan,
So liefen schon alle beladen heran
Und steuerten sämtliche Milch zusammen,
Zu löschen des Feuers fressende Flammen.

Die Berghauser Frauen, sie sterben nicht aus,
Drum halten sie fest an dem jährlichen Schmaus
Und zeigen, daß denen sie nachgeraten,
Die einst sich verdienten den „Weiberbraten“.[1]

  Martin Greif.


  1. Der Brand des Hospitals „Gutleuthaus“, das zwischen Speyer und Berghausen lag, fand am 6. Januar 1706 statt. Das zur Erinnerung an die rettende That gestiftete Fest wurde ursprünglich alljährlich am 6. Januar abgebalten. Gegenwärtig ist es in die schöne Jahreszeit verlegt worden.

Wie das erste Deutsche Parlament entstand.

Ein Rückblick von Johannes Proelß. 0Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten.
II.0 Der Umschwung in Preußen.

Wie die verbündeten Vaterlandsfreunde der süddeutschen Verfassungsstaaten und Sachsens für ihre geheimen Verabredungen am Rheinesufer eine entlegene Zufluchtsstätte fanden, so hatte des Rheinstroms leuchtende Schönheit auch die Folie gebildet für eine öffentliche glänzende Machtentfaltung des preußischen Königtums. Friedrich Wilhelm IV, der neue Träger der Krone Friedrichs des Großen, so starrsinnig er seinem Volke ein öffentliches Leben versagte, so streng seine Kabinettsregierung das Volk fernhielt von den Stufen des Thrones, fand an nichts eine größere Freude, als bei großem festlichen Anlaß selbst in voller Oeffentlichkeit zu seinem Volke zu reden. Die Fähigkeit, einem von vielen geteilten Hochgefühl in spontaner Erregtheit begeisterten Ausdruck zu leihen, war ja ein hervorragendes Talent dieses tragisch veranlagten Fürsten, der selbstzufrieden in dem Wahn sich wiegte, unabweisbare Forderungen der Zeit mit schönklingenden Worten beschwichtigen zu können, bis ihn die rauhe Wirklichkeit schonungslos anders belehrte. Wenn ihm bei solchen Gelegenheiten die festlich gestimmte Menge zujauchzte, vermeinte er, an der Spitze eines von ihm beglückten und zufriedenen Volkes zu stehen. Und nie hat ihn diese Selbsttäuschung stärker beseligt als an jenem sonnigen Septembertag 1842, an welchem er zu Köln die Grundsteinlegung zum Ausbau des alten hehren Doms vollzog, zu dem er schwärmerisch als zum Symbol altdeutscher Macht und Herrlichkeit aufsah. Von zahlreichen anderen deutschen Fürsten, seinen Generalen und Ministern umgeben, feierte er in glänzender Weiherede den „Geist deutscher Einigkeit und Kraft“ als Bauherrn des Unternehmens. „Die neuen Thore,“ rief er, „mögen sie für Deutschland durch Gottes Gnade Thore einer neuen großen guten Zeit werden! … Und das große Werk verkünde den spätesten Geschlechtern von einem durch die Einigkeit seiner Fürsten und Völker großen, mächtigen, ja den Frieden der Welt unblutig erzwingenden Deutschland!“

Der Jubel, den diese zündenden Worte bei den anwesenden Rheinländern weckten, war unermeßlich. Schon sah man im Geiste die verheißene „neue große gute Zeit“ tagen; man wähnte, der königliche Redner habe Großes im Plan, um dem kläglichen, zerrissenen Deutschland des Bundestags wieder „Einigkeit“, „Größe“ und „Macht“ zu verleihen.

Doch während der vom Reiz der Stunde hingerissene König also die allgemeine Begeisterung weckte, stand Fürst Metternich [94] mit bedenklicher Miene in seiner Nähe. Er zog während der Rede seines königlichen Freundes, wie der Historiker Treitschke berichtet, einen langen Kamm aus der Tasche und begann, sich bedächtiglich sein gelichtetes Haar vom Hinterkopf nach vorn zu strähnen. Diese überschwengliche Art des Königs, für die Idee der Einheit Deutschlands Propaganda zu machen, mußte Metternichs schwerste Bedenken erregen. Sie lief schnurstracks den Grundsätzen seines doch auch von Friedrich Wilhelm IV gutgeheißenen Systems zuwider, das bisher den „deutschen Geist“ so fest und sicher in Zucht gehalten.

H. Th. v. Schön.

Arnold Ruge.
Nach einer Lithographie von F. Hickmann.

Dieser neue Herr auf dem Zollernthron mit seinem Drange, sich öffentlich reden zu hören, bereitete ihm doch rechte Verlegenheiten! In Frankreich, wo die Kriegsdrohungen Thiers’ längst verstummt waren, wo jetzt Guizot und sein Souverän Louis Philipp in vollstem Einverständnis mit der österreichischen Führung regierten, konnten die pomphaften vieldeutigen Worte herausfordernd wirken. In Deutschland aber mußten dieselben erst recht mißverstanden werden! Das klang ja, als habe Friedrich Wilhelm ernstlich vor, die Umsturzpläne der süddeutschen Liberalen zur Sache der preußischen Krone zu machen! Mit ganz ähnlichen Phrasen reizten ja diese das Volk gegen den Bundestag auf! Daß aber dies nicht entfernt die Absicht des Königs war, dafür bürgte der ihm wohlbekannte romantisch-konservative Charakter desselben, seine Ergebenheit für das kaiserliche Erzhaus, seine Abneigung gegen alles, was den Stempel des modernen Liberalismus trug. Warum dann aber Hoffnungen erwecken, deren Nichterfüllung nur die Unzufriedenheit schüren konnte? Der kluge Staatsmann sah voraus, die Ernüchterung nach dem Festrausch würde sich bitter rächen. Und mit Schrecken dachte er daran, wie bereits im Jahre vorher dieser unruhige König in seiner altangestammten treuesten Provinz Ostpreußen die Geister gegen sich aufgebracht hatte, weil er mit schönen Reden Erwartungen geweckt hatte, die zu erfüllen ihm absolut nicht im Sinn lag. Dort, in Königsberg, hatte er beim Huldigungsfest den Provinziallandständen von einer „lebendigeren Zeit“ gesprochen, die nun für die ständischen Verhältnisse beginnen solle. Die Stände der Provinz Preußen schöpften daraus den Mut, den König um die Verleihung der schon von seinem Vater versprochenen konstitutionellen Reichsverfassung für ganz Preußen zu bitten. Zu ihrer großen Enttäuschung mußten sie bald erfahren, wie sehr sie ihn mißverstanden. Der König ließ schroff erklären, daß er wohl vorhabe, gelegentlich die ständischen Ausschüsse der verschiedenen Provinzialstände des Königreichs zu gemeinsamen Sitzungen zu berufen, eine vertragsmäßige Verfassung aber nie zwischen seinem landesväterlichcn Willen und dem Volk dulden werde. Der Unwillen über diesen Bescheid war allgemein.

Johann Jacoby.

General v. Boyen.

Ein politisch regsamer Königsberger Arzt, der Doktor Johann Jacoby, welcher sich durch seinen bei Bekämpfung der Cholera früher bewiesenen Mut ungewöhnliches Ansehen bei seinen Mitbürgern erworben hatte, brachte die allgemeine Empfindung in seiner Schrift „Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen“ mit logischer Beweiskraft zum Ausdruck. Die erste dieser vier Fragen lautete: Was wünschen die preußischen Stände? Die Antwort: Sie wünschen Teilnahme der Bürger am Staat. Die zweite Frage: Was berechtigt sie? Die Antwort: Das Bewußtsein der eignen Mündigkeit und die bereits am 22. Mai 1815 erfolgte Mündigsprechung. Die dritte Frage: Welcher Bescheid ward ihnen? Antwort: Wohl Anerkennung ihrer treuen Gesinnung, aber Abweisung der gestellten Anträge und vertröstende Hindeutung auf einen zukünftigen unbestimmten Ersatz. Der vierten Frage: Was bleibt ihnen zu thun übrig? ließ er schließlich die entschiedene Antwort folgen: Dem gegenüber bleibt ihnen nichts übrig, als das, was sie bisher als Gunst erbeten, nunmehr als klar erwiesenes Recht in Anspruch zu nehmen!

Diese Schrift Jacobys, welche in Mannheim erschien, wirkte in der Stickluft jener Tage wie ein klärendes Gewitter. In Leipzig als Buch von mehr als 20 Bogen Umfang ohne Censur gedruckt, aber auch schon dort gleich nach Erscheinen verboten, fand sie in ganz Deutschland eine ungeheure Verbreitung. Den König aber setzte die „Dreistigkeit“ des Königsbergers in höchsten Zorn, zumal als dieser, welchen der Titel der Schrift ungenannt ließ, sie ihm direkt zusandte unter Inanspruchnahme seines königlichen Schutzes.

Schon vorher hatte eine für ihn persönlich geschriebene Denkschrift des alterprobten Oberpräsidenten von Preußen, des Freiherrn von Schön, seinen ganzen Ingrimm herausgefordert. Unter dem Titel „Woher und wohin?“ wies hier Schön, der frischen Sinnes in seiner Provinz die Tradition des Steinschen Geistes bewahrt hatte, nach, daß die natürliche und historische Entwicklung Preußens nunmehr dringend die Erfüllung des alten Versprechens vom Jahre 1815 verlange. In seiner Antwort auf diese Schrift hatte der König brüsk die Zumutung abgelehnt. Ihm erschien das Verlangen nach einer konstitutionellen Verfassung als eine freche Anmaßung des „beschränkten Unterthanenverstandes“, der sich gegen seine landesväterliche Gewalt auflehne. „Ich fühle mich ganz von Gottes Gnaden und werde mich so mit seiner Gnade bis ans Ende fühlen! … Glanz und List überlasse ich ohne Neid sogenannten konstitutionellen Fürsten, die durch ein Stück Papier dem Volke gegenüber eine Fiktion, ein abstrakter Begriff geworden sind. Ein väterliches Regiment ist teutscher Fürsten Art, und weil die Herrschaft mein väterliches Erbteil, mein Patrimonium ist, darum hab’ ich ein Herz zu meinem Volke, darum kann ich und will ich unmündige Kinder leiten, entartete züchtigen, würdigen, wohlgeratenen aber an der Verwaltung meines Gutes Teil geben, ihnen ihr eigenes Patrimonium anweisen und sie darin vor Dieneranmaßung schützen!“ Jetzt veranlaßte er persönlich, daß gegen Jacoby ein Prozeß wegen versuchten Hochverrats und Majestätsbeleidigung angestrengt wurde.

Heinrich Simon.
Nach einer Lithographie von Ph. Winterwerb.

Und als dieser Prozeß dem Verklagten zwar eine Verurteilung zu 2½ Jahren Festung zuzog, schließlich aber doch durch ein freisprechendes Urteil des Geheimen Obertribunals in Berlin sein Ende [95] fand, da ergriff ihn über diese Rechtsprechung die tiefste Empörung. In seinem Unmut verordnete er ein Gesetz, das die politische Unabhängigkeit des preußischen Richterstands wesentlich beschränkte. Der Freiherr von Schön ward seines Amtes entsetzt, als die Denkschrift „Woher und wohin?“ ohne sein Zuthun plötzlich in einem Straßburger Verlag veröffentlicht wurde. Und wie der König jetzt zahlreiche andere „entartete Kinder“, die ihm zu opponieren wagten, „züchtigte“, Dahlmann in Bonn und viele andere liberale Professoren maßregeln, Hoffmann von Fallersleben in Breslau absetzen und des Landes verweisen ließ, so wurde der schwäbische Dichter Herwegh, dem er vorher als Freund „gesinnungsvoller Opposition“ eine Audienz gewährt, aus Preußen verbannt, als er von der gesinnungsvollen Opposition in Königsberg zum Helden einer festlichen Versammlung gemacht worden war und in einem Brief an den König seine oppositionellen Gesinnungen aussprach. Gegen die namentlich im Rheinland erblühte freisinnige Presse ward ein Feldzug eröffnet, welcher der Mehrzahl der Blätter das Leben kostete und ihre Redakteure zu Flüchtlingen machte, so auch Karl Marx, der in Köln Mevissens „Rheinische Zeitung“ zu schneller Blüte gebracht hatte. Auch der ehrwürdige Kriegsminister Boyen, der ruhmreiche Organisator der preußischen Landwehr, ging der Gunst des Königs verlustig, nachdem er die Mahnung gewagt: es sei ein Irrtum, den Entwicklungsgang der Zeit beliebig hemmen zu können. Ja, auch über die Grenzen Preußens reichte sein strafender Arm, wie im besonderen Arnold Ruge, der Herausgeber einer Zeitschrift, erfahren mußte, welche die romantische Geistesrichtung des Königs mit rücksichtsloser Schärfe bekämpfte. Von Halle, wo er mit Echtermeyer seine „Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst“ herausgab, hatte ihn die preußische Censur vertrieben; nachdem er die Redaktion nach Dresden verlegt, mußte er hier erleben, daß auf preußisches Andringen seine Jahrbücher ganz unterdrückt wurden. Weiteren Verfolgungen entzog sich der entrüstete Pommer durch die Flucht; er ging nach Paris, wo inzwischen auch Herwegh ein Asyl gefunden hatte.

Was seinem Staate not that, das wußte nach seiner Meinung nur Friedrich Wilhelm allein. Kraft der göttlichen Weihe seiner Krone hielt er nur sich selbst für befähigt, das Wohl des Landes zu erkennen und für dasselbe zu sorgen. Seine Minister waren ihm nur Diener, „Schreiber“ – keine Berater, und nur solche, die, wie Bodelschwingh, sich mit dieser Rolle begnügten, hielten bei ihm stand. Auch von seinem Bruder, dem Prinzen Wilhelm, nahm er keinen Rat an. Wohl hatte er vor, die Verordnung seines Vaters, daß ein preußischer Reichstag zu berufen sei, der neue Anleihen und Steuern zu genehmigen habe, irgendwie zu erfüllen, doch ohne in das andre alte Versprechen einer Verfassung zu willigen. Aber den Weg aus dem schweren Konflikt, den ihm der Widerspruch zwischen Königspflicht und Sohnespflicht bereitete, wollte er allein finden. Und doch war er kein Staatsmann, nur ein eigenwilliger Grübler und Schwärmer, dem romantische Vorstellungen vom Werte mittelalterlicher Einrichtungen den Blick in die Welt der zeitgemäßen Bedürfnisse trübten! Von einer verhängnisvollen Schwerfälligkeit im Ausführen von Entschlüssen, die er im Ungestüm faßte und mit zäher Energie festhielt, ein „Hamlet auf dem Hohenzollernthrone“, grübelte er fünf Jahre lang über die richtige Lösung der unlösbaren Aufgabe. In dem Plan eines „Vereinigten Landtags“ der acht Provinzialstände, den er nach freiem Belieben einberufen wollte, glaubte er endlich die Lösung gefunden zu haben. Danach hatten 307 Repräsentanten des hohen und niedern Adels und 306 Abgeordnete der Bürger und Bauern das gesamte preußische Volk zu vertreten! Etwa 10000 Herren und Rittergutsbesitzer verfügten über 278 Stimmen, während 979 Städte mit weit über 4 Millionen Einwohnern sich mit 182 Stimmen begnügen mußten! Daß dies keine gerechte und zeitgemäße Landesrepräsentation sei, zumal in einer Zeit, wo die Entwicklung der neuen Verkehrsmacht, des Eisenbahnwesens, dem Handel und der Industrie eine bisher unerhörte Bedeutung für den Nationalwohlstand gab, mochte er nicht einsehen. Wie sein romantischer Sinn sich am Ausbau des Kölner Domes berauschte, so sah er in diesem „Landtag“ die Vollendung des alten „christlich-germanischen Patrimonialstaats“ mit seiner mittelalterlichen Ständeordnung. Er war stolz auf den Plan und hielt ihn für eine göttliche Eingebung. Daher sein ganz persönlicher Groll über die schlechte Aufnahme dieses „Geschenkes“, das sein Patent vom 3. Februar 1847 dem Volke ankündigte.

Eine mit sittlichem Pathos vorgetragene Kritik dieses Patents durch den Breslauer Stadtgerichtsrat Heinrich Simon, der vorher schon, 1844, unter lautem Protest gegen das neuerlassene, die Unabhängigkeit der Richter bedrohende Gesetz sein Amt niedergelegt hatte, that jetzt eine ähnliche Wirkung, wie es 1841 Jacobys „Vier Fragen“ gethan. Diese Kritik erfolgte in der Schrift „Annehmen oder Ablehnen?“ und sprach sich für das letztere aus. „Wir baten Dich um Brot, und Du giebst uns einen Stein!“ hob die Beschwerde an: sie wies nach, daß das Patent dem Volke sogar noch altverbriefte Rechte nehme, und sie gipfelte in der Beschwörung: „Nur Vertrauen erzeugt Vertrauen! Wohlan! Wir stehen an einem Marksteine der preußischen, der deutschen Geschichte. Der König gebe Sich Seinem Volke hin. Er breche rund und voll mit jener Ansicht, welche Eine Persönlichkeit als allein berechtigt fünfzehn Millionen gegenüber stellen will, die sich auf dem Huldigungslandtage in den Worten äußerte: ‚Die Krone ist mir von Gott gegeben, wehe dem, der daran rührt!‘ Nun: ‚Volkesstimme ist Gottesstimme!‘ Das Volk hat mit seinen vielfältigen Anträgen an die Krone gerührt. Wir beschwören Ihn, auf diese Stimme zu hören, den Gedanken der absoluten Monarchie, den Gedanken, nur Gott Rechenschaft über Seine Handlungen schuldig zu sein, voll zu beseitigen und Sich statt dessen mit Preußen in herrlicher Entwicklung, aus freiem Willen an die Spitze Deutschlands zu stellen!“ Auch gegen Simon ließ Friedrich Wilhelm einen Prozeß wegen Majestätsbeleidigung einleiten, das in Leipzig gedruckte Buch verbieten. Und als am 11. April 1847 der neugeschaffene Landtag im Weißen Saal seines Königsschlosses in Berlin zusammentrat, da eröffnete er ihn inmitten des pomphaften Cermoniells, das der Prunkliebende dafür ersonnen, mit einem scharfen [96] Verweis an jene, welche den Dank des Volkes für dieses „Geschenk seiner Gnade“ ihm hatten verkümmern wollen. Inmitten der Kroninsignien stehend, gab er weiter die feierliche Erklärung ab, daß es keiner Macht der Erde je gelingen solle, ihn zu bewegen, das in Preußen althergebrachte Verhältnis zwischen Fürst und Volk in ein konstitutionelles zu wandeln; nie und nimmermehr werde er zugeben, daß sich zwischen dem Herrgott im Himmel und seinem Land ein beschriebenes Blatt als eine zweite Vorsehung eindränge, um ihn mit seinen Paragraphen zu regieren und durch sie die alte heil’ge Treue zu ersetzen! Auch diese Rede war glänzend, aber der Beifall blieb aus.

E. v. Bodelschwingh.

Ihr „Nie und nimmermehr!“ in Bezug auf einen Anspruch, der vielen als „verbrieftes Recht“ erschien, der willkürliche Vorbehalt, den Landtag nur nach Bedarf einrufen zu wollen, was eine regelmäßige Erfüllung seiner Pflichten ausschloß, erweckte eine Opposition, wie sie der König gleichfalls „nie und nimmermehr“ für möglich gehalten.

Das waren nicht nur „verbissene Demagogen“, die nun in dem Landtag ihre Stimme gegen ihn erhoben; nein, Vertreter der ältesten Adelsgeschlechter seiner altpreußischen Provinzen, wie Graf Schwerin, Alfred v. Auerswald, die ersten Männer des rheinischen Großhandels und der dortigen Großindustrie, die ihm einst in Köln zugejubelt, wie Beckerath, Hansemann, Mevissen, Camphausen, Söhne aus altbewährten Beamtenfamilien, wie der Westfale Georg v. Vincke, der geradezu als Führer der Opposition auftrat. Sie alle verlangten, daß von ihnen mitberaten und als Recht verbrieft werde, was der König nur als Gnade gewähren wollte. Johann Jacoby und Heinrich Simon, die nun längst schon mit den Hallgartner Verbündeten in Verkehr standen, waren nicht selbst Abgeordnete, nahmen jedoch während der Session Aufenthalt in Berlin, wo sie voll Eifer ihren Einfluß auf die Beschlüsse ihrer Gesinnungsgenossen im Landtag geltend machten. Den Anlaß zur Einberufung hatte der Bau einer Eisenbahn gebildet, die Königsberg mit Berlin verbinden sollte; der Landtag sollte die nötige Anleihe bewilligen. Als dieser nun die Bewilligung verweigerte, bis eine regelmäßige Einberufung gesetzlich ausgesprochen sei, da wandte ihm der König zornig den Rücken. Was auch im weiteren Verlauf der Sitzung an Wünschen laut ward, ob es den Notstand der schlesischen Weber oder die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden und Dissidenten, ob es die Preßfreiheit oder den politischen Ausbau des Zollvereins betraf, über resultatlose Bitten kam man kaum mehr hinaus. Vergeblich verlangte der Landtag für sich das ungeschmälerte Recht der Teilnahme an der Gesetzgebung, vergeblich protestierte er gegen das Fortbestehen der „Vereinigten Ausschüsse“ aus den Provinzialständen, deren gelegentliche Einberufung für Gesetzgebungszwecke sich der König nach Gutdünken vorbehielt. Der entrüstete „Landesvater“ zeigte den „entarteten Kindern“ die Rute. Minister Bodelschwingh, der den Standpunkt des Königs in all den Verhandlungen zu vertreten hatte, riet umsonst, die periodische Einberufung bald auszusprechen. Nicht ertrotzt, sondern als Gnadengeschenk seiner Huld wollte er sie bewilligen.

Die Eröffnung des ersten „Vereinigten Landtags“ durch König Friedrich Wilhelm IV.
Mit Benutzung eines Bildes der „Illustrierten Zeitung“ (1847) gezeichnet von W. Pape.

In Ungnaden entlassen, ging Ende Juni der Landtag auf unbestimmte Zeit auseinander, und der alte „Vereinigte Ausschuß“ trat dann an seine Stelle, um ein für politische Vergehen reaktionäres Strafgesetz zu beraten. Der maßvolle Rheinländer Ludolf Camphausen faßte hier die Situation treffend in der Klage zusammen: „Als die Stände bis auf die äußerste Grenze vorrückten und, weit hinübergebogen, die Hand zum Ausgleich boten, ist diese Hand im Zorn zurückgewiesen worden. Ein Wort hätte hingereicht, den Verfassungsstreit in Preußen auf immer zu beenden. Es ist nicht gesprochen worden. Die Folgen müssen getragen werden. Die Geschichte aber wird richten zwischen uns und der Regierung!“ Das war im Januar 1848; schon drei Monate später hatte die Geschichte ihres Richteramtes gewaltet.

Der König aber, im zweiundfünfzigsten Lebensjahr stehend, in seinem Unfehlbarkeitsglauben noch nicht beunruhigt durch die Voranzeichen des Leidens, das seinen Geist später umnachten sollte, im Vollbesitze der ihm vom Vater in bester Ordnung überlieferten Machtmittel, fühlte sich dem Sturme, den er heraufbeschworen, gewachsen. Die bösen Landtagsredner und Zeitungsschreiber waren ja nicht das „Volk“, dessen große Masse noch immer, wie er meinte, ehrfurchtsvoll und bewundernd zu ihm emporschaute! Das wollte er beglücken, und stolz im Bewußtsein des Siegers, ging er schon wieder neuen Volksbeglückungsplänen nach. So ganz nur Phrase waren seine verheißungsvollen Worte beim Kölner Domfest doch nicht gewesen: den vielfältigen, immer stärker sich erneuenden Mahnruf, daß es Preußens Beruf sei, die „deutsche Frage“ zu lösen, die allgemein ersehnte Bundesreform durchzuführen, hatte er nicht überhört. Jetzt galt sein Grübeln ihrer Lösung. Aber auch hier war seine Hauptsorge, den ihm so sehr verhaßten Liberalen nur ja kein Zugeständnis zu machen und seiner Idee vom absoluten Königtum einen Triumph zu bereiten.

(Fortsetzung folgt.)




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Die Wartburg im Winterkleide.
Nach einer Originalzeichnung von H. G. Vogel.

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Blätter & Blüten


Heinrich Findelkind. Man ist leicht zu der Annahme geneigt, daß die „Humanität“ und der soziale Wohlthätigkeitssinn Errungenschaften der aufgeklärteren Neuzeit seien, und übersieht, welche umfänglichen Wohlfahrtseinrichtungen bereits das Mittelalter geschaffen hat, hauptsächlich durch die Thätigkeit einiger großer Ordensgesellschaften. Zu der Zeit, als die Kreuzes- und St. Valentinsbrüder und der Johanniter- und Deutschorden eine Reihe von Rettungs-, Kranken- und Pilgrimhäusern auf mehreren Alpenstraßen unterhielten, war die von solchen Anstalten entblößte Arlbergstraße fast verödet. Da sah einst ein junger Schweinehirt, ein Findling, als er seinem Brotherrn Jäcklein über Rhein das Schwert zur Kirche nachtrug, wie man eine Anzahl auf dem Arlberg im Schnee umgekommener Reisenden daherbrachte. Dieser jammervolle Anblick griff dem armen Heinrich Findelkind so ans Herz, daß er seinen ganzen Reichtum, in zehn Jahren mühselig ersparte fünfzehn Gulden, sogleich den Umstehenden anbot, damit jemand unter ihnen, wie er in seiner Lebensgeschichte erzählt, „einen Anfang wollt anheben auf den Arlperg, das die Leut also nicht verdürben“. Man mag über den anscheinend überspannten jungen Menschen wohl die Achseln gezuckt und gelächelt haben; er aber vertraute in seiner reinen, kindlichen Herzenseinfalt auf Gottes Hilfe, übernahm mutig die Rolle eines Schutzengels für die Alpenreisenden und rettete, seine fünfzehn Gulden freudig dabei opfernd, schon im ersten Winter sieben Menschen das Leben. Unterstützt von „Gott und ehrbare Leut“, setzte er sieben Jahre lang sein Werk christlicher Nächstenliebe fort und rettete weitere fünfzig Menschen vor dem Tode. Dann gedachte er auf dem Arlberg ein Hospiz zu bauen. Herzog Leopold von Oesterreich erteilte ihm 1386 einen Geleitsbrief, in welchem er den „arm Knecht Hainrich von Kempten“ nachdrücklich dem Schutz aller Beamten empfahl, denn er, der Herzog, habe Heinrichs guten Vorsatz erkannt und bedacht, daß viele guten Dinge von „ainfeltigen“ Leuten angefangen worden seien.

Nun zog Heinrich fast drei Jahrzehnte, von 1386 bis 1414, unter Entbehrungen und Gefahren seine frommen Beiträge sammelnd rastlos durch die deutschen Lande, durch Ungarn und Polen, Böhmen und die adriatischen Küstenländer, bis der Traum seiner Jugend, der Traum seines erbarmenden Herzens erfüllt wurde und er das rettende Hospiz auf dem Arlberg erbauen, die St. Christophsbruderschaft zur Pflege der Reisenden gründen und in das Haus einsetzen konnte. Noch sind das Bruderschaftsbuch und die Bruderschaftsordnung im Wiener Staatsarchiv aufbewahrt. Als erstes Mitglied steht im Buch Herzog Leopold (der Stolze) eigenhändig verzeichnet. – Reichen Segen hat das Werk des armen Schweinehirten gestiftet; unzählige Wanderer haben in dem Hospiz Erholung gefunden, zahlreiche Reisende sind vor dem sicheren Verderben in den Schrecknissen der wilden Alpenwelt gerettet worden. Später, in Zeiten der Unruhen und Kriege, zerfiel die ehrwürdige Rettungsbruderschaft, und selbst den rastlosen Bemühungen des Pfarrers Jakob Feuerstein zu Zambs gelang es in den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts nur, eine kurze, neue Blüte hervorzurufen. Der Dreißigjährige Krieg hat sie bald wieder vernichtet. Bloß ein Kirchlein und Wirtshaus zu St. Christoph erinnert durch seinen Namen noch an die alte Stiftung. Aber auch der Name Heinrich Findelkind möge in unserer Zeit der „sozialen Wohlthätigkeit“ wieder einmal genannt werden. S.     


Eine Brandprobe mit feuerfestem Holze.
Nach einer photographischen Aufnahme.

Feuerfestes Holz. (Mit Abbildung.) Versuche, das zu Bauten verwendete Holz feuerfest zu machen, reichen in weite Ferne zurück. Schon die Völker des Altertums suchten ihre hölzernen Schlachttürme schwer entzündbar zu machen, indem sie dieselben mit Alaunlösung bestrichen. In der Neuzeit hat die Chemie den Menschen bessere Mittel gegeben und in den letzten Jahrzehnten wurde eine ganze Reihe von Verfahren erfunden, mittels welcher das Holz mehr oder weniger feuerfest gemacht werden kann. Die Theaterbrände wirkten in dieser Hinsicht besonders anspornend, und nach dem furchtbaren Brande des Ringtheaters in Wien wurde diese Frage überall lebhaft erörtert. Um jene Zeit trat auch der deutsche Techniker Conrad Gautsch mit einem Imprägnierungsverfahren hervor, das sich im Laufe der Zeit auch bewährt hat. Im vergangenen Jahre wurde die allgemeine Aufmerksamkeit von neuem auf diesen Gegenstand gelenkt. In New York hatte sich eine „Fire Proofing Company“ gebildet, die Bauhölzer aller Art nach einem besonderen Verfahren feuerfest macht und dieselben zum Bau von Wohnhäusern, Kriegs- und Handelsschiffen etc. empfiehlt. Der Herzog von Sachsen-Koburg-Gotha ließ im August vorigen Jahres eine Feuerprobe mit diesem Holze veranstalten. Es wurden zwei kleine Häuser errichtet, das eine aus gewöhnlichem, das andere aus feuersicherem Holze. Alsdann schichtete man um beide mit Petroleum getränktes Brennmaterial und steckte es in Brand. Das aus gewöhnlichem Holze gezimmerte Häuschen brannte rasch nieder, während das andere, wie unsere Abbildung zeigt, unversehrt blieb. Die Imprägnierung des Holzes geschieht auf die Art, daß zunächst aus demselben vermittelst Dampfs und Luftpumpen alle löslichen Stoffe, sowie die Luft, entfernt werden und das Holz darauf mit bestimmten Chemikalien versetzt wird. Es ist alsdann nicht nur feuer-, sondern auch wetterfest. – Es wäre zu wünschen, daß die Verwendung von derart nach einem der bewährten Systeme imprägnierten Holze zu Bauzwecken sich mehr und mehr einbürgern möchte. *      


Neckerei. (Zu dem Bilde S. 88 und 89.) „Furcht, Rauch und Liebe lassen sich nicht verhehlen“, sagt ein altes Sprichwort: also ist es wohl am besten, man probiert es gar nicht. Dies hat auch die hübsche Jansje auf unserm Bilde gedacht, und so ist ihre schon verheiratete Freundin Neeltje die Vertraute ihrer heimlichen Liebe geworden. Daß aber Neeltje ihrem Mann das Geheimnis verraten würde, hatte sie nicht vermutet. Verlegen und hilflos lehnt sie das Köpfchen auf die Schulter der Freundin, als er sie nun zu necken beginnt; doch Neeltje denkt nicht daran, ihm die losen Reden ernstlich zu wehren, und die arme Jansje merkt zum erstenmal, daß das Frauenhäubchen die Freundschaft verändert. Entweder muß sie jetzt mit ihrem Vertrauen sparsam werden, oder – das besagte Häubchen selbst aufsetzen, auf die Gefahr hin, damit eben das zu thun, was ihr dieser unausstehliche Klaas mit so viel Sicherheit fürs nächste Frühjahr prophezeit!


Butter im Handel. Der Versand von frischer Butter hat einen außerordentlichen Aufschwung genommen. England, ein Hauptabsatzgebiet in diesem Artikel, wird nicht nur von Deutschland, sondern auch von Dänemark und Frankreich regelmäßig versorgt. Dann ist Australien, namentlich die Kolonie Viktoria, in die Reihe der Lieferanten eingetreten. Auch Nordamerika sendet Butter nach England. Bei uns findet ein regelmäßiger größerer Butterversand statt von Ostfriesland, dem Großherzogtum Oldenburg und einem Teil von Westfalen nach dem Rhein und dem Ruhrkohlengebiet, ferner von Ost- und Westpreußen, Posen, Pommern nach Berlin, von Thüringen und dem Harz nach der Provinz und dem Königreich Sachsen und auch nach Berlin, endlich vom bayrischen Allgäu, dessen Hauptplatz Kempten ist, nach Nord- und Westdeutschland, namentlich nach den großen Industriecentren am Main und Rhein. Oldenburg allein versendet jährlich mindestens 1700 Tonnen der besten Butter. Im Sommer ist die Beförderung der Butter oft mit Schwierigkeiten verbunden. Auf der preußischen Ostbahn wurde der Versuch gemacht, die als Stückgut aufgegebene Butter in der heißen Jahreszeit durch Kühlung in Eis frisch zu erhalten. Man hat sechs zur Butterbeförderung eingerichtete Wagen an der Decke mit eisernen Behältern versehen, die etwa 700 kg Eis [99] fassen. Die doppelten Decken und Wandungen dieser Wagen sind mit Isolierschichten versehen, um das Eindringen der heißen Luft von außen zu verhindern. Um ferner die Temperatur beobachten zu können, sind im Innern Thermometer angebracht, deren jeweiligen Stand man von außen ablesen kann. Die Wagen sind stationiert in Königsberg, Insterburg, Allenstein, Lyck und Osterode und laufen wöchentlich ein- bis zweimal nach Berlin. Unterwegs werden Zuladungen aufgenommen. Reinh. Brand.     

Ernst Ludwig Taschenberg †. (Mit Bildnis.) Wenige Tage nach seinem achtzigsten Geburtstag am 19. Januar, starb zu Halle a.S. Ernst Ludwig Taschenberg, der sich um die Popularisierung der Naturwissenschaft große Verdienste erworben hat. Die Insektenkunde war sein Spezialfach, und auf diesem Gebiete ist er schon als Verfasser des 9. Bandes von „Brehms Tierleben“, der die Insekten, Tausendfüßer und Spinnen behandelt, dem weitesten Leserkreise bekannt geworden. Vor allem beschäftigte er sich aber mit schädlichen Insekten und schrieb auf Grund seiner reichen Erfahrungen die gemeinnützigen Bücher „Entomologie für Gärtner und Gartenfreunde“ und „Forstwirtschaftliche Insektenkunde“; sein Hauptwerk ist die „Praktische Insektenkunde“, die fünf Bände umfaßt. Am 10. Januar feierte der verdiente Naturforscher seinen achtzigsten Geburtstag. Ernst Ludwig Taschenberg wurde 1818 zu Naumburg a. S. geboren. Er studierte in Leipzig und Berlin Mathematik und Naturwissenschaften und widmete sich anfangs dem Lehrerberuf. Dann wandte er sich der Zoologie, namentlich aber der Entomologie zu, wurde 1856 zum Inspektor am Zoologischen Museum der Universität Halle und 1871 zum Professor daselbst ernannt.

Ernst Ludwig Taschenberg †.
Nach einer Aufnahme von C. Höpfner Nachf. Fritz Möller in Halle a. S.

Verteilung von Kohlen an die Wiener Armen. (Mit Abbildung.) Der Winter ist eine harte Jahreszeit für die Armen, die infolge verschiedener Schicksalsschläge nicht imstande sind, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Glücklicherweise ist im Winter auch die Mildthätigkeit besonders rege und sorgt dafür, daß die Bedürftigen mit warmen Kleidern, Nahrungsmitteln und Brennmaterial versorgt werden. Unser Bild zeigt uns die Verteilung der Kohlen von seiten der Gemeinde an die Armen in Wien. Der Zeichner hat auf demselben nicht nur die Not, sondern auch die Freude an der mildthätigen Gabe dargestellt. Man kann nur wünschen, daß solche Veranstaltungen der Wohlthätigkeit in allen Städten Verbreitung fänden.

Die Wartburg im Winterkleide. (Zu dem Bilde S. 97.) Schneegeflimmer! Frisch strahlende Wintersonne! Allüberall ein Leuchten und Schimmern, ein fast geheimnisvolles Schweigen, das Menschen und Dinge einzuhüllen scheint. Wie auf weichen Sohlen geht heute das Leben leise dahin, als wolle es jeden Schritt dämpfen angesichts der funkelnden Majestät, in welche der Winter die Welt kleidete. Stadt und Thäler, Bergzüge und Hochwald, alles deckt heute das glänzende, köstliche Weiß. Wie von Silberfiligran scheint jeder Zweig, jeder Halm überzogen, und drinnen im Walde weht es in Schleiern nieder, durchstrahlt von der Sonne leuchtendem Golde. Lichtblau schlägt der reine Winterhimmel seinen Bogen von Berg zu Berg, und tief in ihn hineingreifend ragt der Wartburg königliches Bild.

Der Zauber deutscher Sangeskunst und ritterlicher Minnezeit weht um ihre ehrwürdigen Mauern. Von hier oben aus ging es später wie ein Licht von unerhörter Kraft und Helle durch die aufhorchende Christenheit, und als das deutsche Volk nach der Befreiung von korsischer Willkürherrschaft die Knechtsfesseln der Reaktion zornig abschütteln wollte, da erklang von diesen Höhen der erste Mahn- und Weckruf, da lohten auf dem nachbarlichen Wadenberge die Leuchtfeuer eines nach Freiheit jauchzenden Jungdeutschlands auf.

So ist die hohe Bergesfeste uns allen ans Herz gewachsen! Und mit ihr und ihrem Bilde bleibt dauernd der Name Karl Alexanders verknüpft, des kunstbegeisterten hohen Burgherrn, der mit seltener Opferfreudigkeit die Wartburg aus Schutt und Trümmern neu erstehen ließ.

Wie im Schlummer liegt heute das Marienthal, durch das sich sommerlang ungezählte Tausende aus aller Herren Ländern drängen. Verhangen und verschneit sitzen tief eingemummelt die heiteren Landhäuser am Fuße der Thalwände, um deren kühn gezackte Felszinnen die Sonne ihre Strahlen spielen läßt. Nur da und dort steigt eine vereinzelte blaue Rauchsäule über einem Dache auf.

Höher schlängelt sich jetzt der Weg. Ueber den Bergen des Vordergrundes steigt einsam in der Ferne der Hörselberg herauf. Auch wer seinen Reichtum an Sagen nicht kennt, meint, sein Inneres müsse ein uralt Geheimnis bergen. Hörselberg und Wartburg gehören heute zusammen, seitdem das wehmütige Lied vom „Tanhäuser“ durch Richard Wagners Oper eine glänzende Auferstehung fand.

Wie reich ist doch die Wartburg für den, der da droben aus und ein gehen durfte! Ich habe sie zu allen Jahres- und Tageszeiten gesehen und immer rührte aufs neue der Zauber ihrer Schönheit mir ans Herz. Wie herrlich, wenn vor dem auftauchenden Tagesgestirn es wie ein Klingen durch den sich rötenden Felsen geht,

Verteilung von Kohlen an die Wiener Armen.
Nach einer Originalzeichnung von M. Ledeli.

[100] oder wenn der letzte Kuß der Sonne die Feste berührt. Wie herrlich ist dieser Burgberg im jungen Buchengrün, zur Mittagsstunde, wenn ein Summen durch den Wald zieht und alte Märchen für Sonntagskinder wieder lebendig werden, oder im sanften Mondesglanze, wenn es müde von den Bäumen rieselt und der Wald wie blutüberströmt sich vor den Blicken weitet! Ihren höchsten Zauber aber entfaltet die Wartburg für den, dem es vergönnt war, droben als Gast des Burgherrn weilen zu dürfen. Aus der lichterübertupften Stadt Eisenach gellt es dann den Felspfad hinauf, hinein in den Wald. Sternenglanz über uns, während aus den Fenstern der Feste matter Lichtschein bricht. Und nun den steinigen Hohlweg empor; der Thorriegel fällt zurück, über den holprigen Burghof, an der Rüstkammer, dem Bergfried geht’s hin und dann hinab in das Erdgeschoß des Palas, wo die ältesten Räume der Burg liegen, in denen einstens schon die ersten thüringer Landgrafen ihre Gäste empfingen. In den Kaminen prasselt zuckendes Feuer, Lichter breiten magische Helle über uralt seltsames Gerät, Waffen, Lauten, Humpen und Jagdschmuck. Zottige Bärenfelle decken den Steinestrich – eine längst begrabene Welt umfängt uns noch einmal mit der ganzen poetischen Kraft und Weihe. Fern, fern dünkt uns, was da draußen gärt und jagt. –

Höher ist der Mond gestiegen. Er hüllt mit verwirrendem Lichte das schweigende Thal ein zu meinen Füßen, er funkelt fast gespenstisch in den Fensterreihen, um Zinnen und Altane der Burg. Wie ein schimmernder Demant gleißt das Kreuz des hohen Bergfried durch die herrliche Nacht. Horch! Klang da nicht Lautenspiel von droben herab?! Huschten nicht Gestalten schattenhaft an den Fenstern hin? Wolfram von Eschenbach meistert das Spiel; man lauscht, man klatscht Beifall. Becher klingen, zum Tanze ordnen sich die Paare, und auf dem Hofe drängt sich das Ingesinde neugierig heran. Der Landgraf von Thüringen hält wieder Hof! … Wartburgzauber! Wartburgpoesie! A. Trinius.     

Pierrot als Troubadour. (Zu dem Bilde S. 69.) Ist es ein Künstlerfest, auf welchem der im Pierrotkostüm steckende lustige Maler sich zur Abwechslung als Musiker und Sänger produziert in einer Weise, die „Stein erweichen, Menschen rasend machen kann“? Die vorübergehende junge Dame hält sich wohl nicht umsonst beide Ohren zu; aber ernstlich böse kann man ja dem lustigen Gesellen trotzalledem nicht werden – ein freundlicher Blick und sie huscht vorüber dorthin, wo man ihren Ohren und vielleicht auch ihrem Herzen besser zu schmeicheln versteht.

Fastnachtszug der Schiffer in den Haveldörfern.
Nach einer Originalzeichnung von P. Colanus.

Fastnachtszug der Schiffer in den Haveldörfern. (Mit Abbildung.) Die alten Volksfeste sind aus dem öffentlichen Leben Berlins völlig verschwunden; die aus allen Provinzen und Ländern zusammengewürfelte Bevölkerung der jungen Weltstadt hatte kein Verständnis für die festlichen Ueberlieferungen der ehr- und betriebsamen Bürger der guten und getreuen Stadt Friedrichs des Großen und Friedrich Wilhelms III. und so vergaß man ein Fest nach dem andern, das früher die gesamte Einwohnerschaft tage- und wochenlang vorher beschäftigt hatte: das Schützenfest, die Motten- und Fliegenfeste der Innungen, die Feier der Völkerschlacht bei Leipzig, das Fest der Schlacht bei Großbeeren, das aus Freude über die einstige Rettung Berlins vor den Franzosen begangen wurde. Am längsten hielt sich noch der Stralauer Fischzug, dessen Ursprung man aus wendischen Zeiten herleitet; aber trotz seiner immer wieder versuchten künstlichen Belebung hat er seine ehemalige Bedeutung völlig verloren und findet kaum noch Beachtung. Man muß schon weiter in die Mark Brandenburg hineinstreifen, um noch auf echte und rechte Volksfeste, wie sie sich seit Jahrhunderten erhalten haben, zu treffen, so auf den Fastnachtsumzug der Schiffer und Fischer in den Haveldörfern, der als ein Rest der früheren öffentlichen Fastnachtsspiele angesehen werden kann. An diesem Tage herrscht ein erregtes Leben in den sonst zur Winterszeit so ruhigen Dörfern und Dörfchen an der Oberhavel bei Zehdenick, Liebenwalde, Oranienburg etc.; in den Häusern duftet es nach frischgebackenem Kuchen, weißer Sand ist auf die Dielen gestreut, und oft genug öffnen sich die Fenster und es wird Ausschau gehalten die Dorfstraße hinunter. Nun dringt von fernher fröhliches Gejubel heran, von schallender Musik begleitet, und es naht der von der gesamten Dorfjugend umschwärmte Zug der Schifferknechte, wetterfester, stämmiger Gestalten, von denen zwei an einer langen Stange ein vollgetakeltes Schiff tragen, während der „Sprecher“ voranschreitet. Vor verschiedenen der Häuser, die von den Schiffermeistern bewohnt werden, hält der Zug. Die Musik schweigt, der Sprecher richtet seine Ansprache, in der es an mancherlei humoristischen Anzüglichkeiten, an zeitgemäßen Wünschen und Beschwerden nicht fehlt, an den herausgetretenen Meister, und dieser wirft nach dem Hoch auf ihn und nach dem Tusch der Musik ein Geldgeschenk in das Schiff. Ist der Umzug beendigt, so geht’s mit lustigem Gesang nach dem Wirtshause, vor welchem bekränzte und buntbewimpelte Mastbäume errichtet sind. Hier findet ein gemeinsames Schifferessen statt, worauf sich jung und alt zu frohem Tanz vereint. P. L.     

Auf der Redoute. (Zu unserer Kunstbeilage.) „Rate, wer ist’s?“ raunt es mit verstellter Stimme hinter dem herabgelassenen Helmvisier hervor, und die junge schöne Frau in dem prächtigen altdeutschen Patrizierinnenkostüm lächelt verlegen und sucht mit der Hand das Visier hinaufzuschieben, das aber nicht nachgiebt. Noch immer ist sie im Ungewissen, ob dahinter wirklich die treuen Augen ihres Mannes blitzen. Längst haben die anderen Festteilnehmer alle die Maske abgenommen, wie es die Sitte erheischt; aber vergeblich hat sie bisher im Geleite der sie neckenden Freunde ihres Gatten nach diesem Umschau gehalten. Sollte er sich wirklich in die schwere Ritterrüstung gesteckt haben, die ihn mit ihren ungefügen Formen so ganz und gar unkenntlich macht? Wahrscheinlich ist’s schon, denn von all den Teilnehmern der Redoute hat er sie am meisten gehänselt und durch genaue Kenntnis ihres Wesens verblüfft. Und gerade dieser Rittersmann hat in seinem Visier eine Maske, die sich nicht abnehmen läßt! Nun, bald wird sie herzhafter zufassen, um das trennende Eisengitter hinaufzuschieben, und dann auf einmal werden die geliebten Züge ihres Mannes ihr entgegenlachen und unter dem offenen Visier werden die Worte triumphierend hervorklingen: „Was, du erkennst deinen Mann nicht, wo er groß und breit vor dir steht!“

Das Kunstblatt, welches den heiteren Vorgang mit so liebenswürdigem Humor und so feiner Wiedergabe der prächtigen Kostüme darstellt, ist ein Werk unsres Altmeisters Adolph Menzel. Es entstammt den sechziger Jahren, einer Zeit, in welcher durch das Vorbild der deutschen Künstlervereine in weiteren Kreisen der Sinn für echte Trachten und malerische Prachtentfaltung geweckt ward, der nun begann, auch das Maskentreiben zur Karnevalszeit künstlerisch zu veredeln.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.


Für Maskenbälle und Kostümfeste eignet sich sehr gut das kleidsame Kostüm der holländischen Bäuerin oder Fischersfrau.

Zum Kostüm „Holländische Fischersfrau“.

Zum Kostüm „Holländische Fischersfrau“.

Der Rock aus dunklem Wollstoff ist sehr weit, die Scheveningerinnen tragen 10 bis 20 Röcke übereinander, die Taille von demselben Stoff glatt, mit wenig gebauschten Aermeln. Ein feines farbiges Woll- oder Seidentuch liegt als dreieckiges Fichu, am Nacken in ein paar tiefe Falten zusammengenommen, über den Schultern, vorn zugesteckt. Von der weißen Haube geben wir Abbildung und Schnittmethode; sie besteht aus einem kleinen anliegenden Tüll- oder Spitzenmützchen, das von * bis * durch ein Bändchen zusammengezogen wird. Hieran reiht man einen geraden Volant von Tüll, sehr faltig, etwa 2 m lang und 26 cm breit. Auch die vordere Schmalseite des Volants wird eingereiht, hinaufgenommen und so an das Mützchen festgenäht, daß der Rand desselben über der Stirn etwa 8 cm breit frei bleibt. Eine Tüllspitze wird um den Volant und den obigen glatten Rand herumgesetzt, die Spitze über der Stirn durch einen starken Faden eingelesen, damit sie fest anschließt. Je reicher die Trägerin ist, desto breiter und feiner die Spitze; manchmal besteht die ganze Haube aus Spitzen.

Die Spiralen aus Messingdraht, die an den Schläfen unter der Haube zum Vorschein kommen, sitzen an einer Messingspange, die um den Hinterkopf liegt und über den Ohren nach vorn umgebogen ist; die Ecken bei * werden befestigt an einem eng anliegenden schwarzen Seidenkäppchen, das man unter der Tüllhaube trägt, um das Haar zusammenzuhalten.

Wer sich bei uns die echten Zieraten nicht verschaffen kann, macht sich welche von länglicher Form (siehe Abbildung rechts), die auch viel getragen wird. Ein Kartonblättchen, mit Goldstanniol überzogen, Goldschnur als Filigranarbeit daraufgelegt, ein paar kleine Perlen oder bunte Glassteine genügen, um mit geschickten Fingern den Schmuck für den Ballabend wirksam zu gestalten.

Kostüme für Kinder. Kleine Leute zu Fastnacht so zu kostümieren, daß es nett aussiebt und nicht viel kostet, daran studiert manche Mutter.

Indianerkostüm für Knaben.

Schäferinkostüm für Mädchen.

Wir schlagen ihr für den Jungen ein Indianerkostüm vor, aus Sackleinen hergestellt. Die Grundform bilden eine lange Jacke, vorn so weit offenstehend, daß eine Schärpe von rotem Kaliko noch zum Vorschein kommt, und lange Beinkleider, an der Seite mit schwarzen, etwas verschlissenen Teppichfransen besetzt. Am Halsausschnitt ein Dreieck abgegrenzt, worauf man mit schwarzer Leimfarbe Querstreifen malt; als Besatz daran ein dünner Lederstreifen, eingeschnitten und nach außen gekraust. Die Lederstreifen kann man beim Buchbinder als Abfall in verschiedenen Farben erhalten. Daneben wird eine Rosette genäht: den äußeren Kreis bildet ein gelbes Baumwollband, dann kommt ein Kreis dicker schwarzer Glasperlen und ein blaues Band. Innen wird ein rotes Viereck angebracht, worauf ein Kreuz von weißen Perlen steht. Dieselben Bänder setzt man in geraden Streifen zur Schulter hinauf und über diese den Aermel entlang fort, das Blau und Gelb durch weiße Perlenreihen getrennt. Dem Grundstoff giebt man durch Ueberstreichen mit rotbrauner Leimfarbe einen „echten“ Ton. Für den Kopfputz näht man schöne Puterfedern aus der nächsten Geflügelhandlung hinter ein Diadem von Karton, das man mit Goldpapier und fremdartigen Figuren beklebt und hinten schließt. Eine Perücke aus schwarzen Fransen und lang herabhängende bunte Bänder gehören dazu. Durch Tättowierung mit Wasserfarben wird der Anblick des „letzten Mohikaners“ noch fürchterlicher; Waffen nach Belieben.

Das kleine Mädchen ist viel schneller verkleidet – als Schäferin. Ein weißes langes Kleidchen mit Puffärmeln (Nesseltuch), blau gegürtet, mit Spitzenhalstuch. Auf den Kopf ein Basthut mit Rosen und blauen Schleifen, in die Hand einen langen Stab, woran man mit blauen und rosa Bändern die Mehlschaufel aus der Küchenschublade gebunden hat, und ein schönes Schaf auf Rädern – so sieht die kleine Person gewiß allerliebst aus.

Scherzkrapfen. In die folgend beschriebenen Brandteigkrapfen kann man zum Teil kleine Scherzgegenstände füllen und sie mit anderen, richtig gefüllten Krapfen bunt vermischt zur Fastnachtsfeier seinen Gästen darbieten. Man kocht zu den Krapfen 1/4 l Milch mit etwas Zimmet und Citronenschale, 50 g Zucker und ebensoviel Butter auf, nimmt das Gewürz heraus und streut unter beständigem Rühren 250 bis 300 g Mehl hinein, rührt die Masse, bis sie sich vom Topfe löst, und läßt sie in einem irdenen Geschirr auskühlen. Ist dies geschehen, so rührt man allmählich 2 ganze Eier und 6 bis 7 Eigelb dazu, bis man einen glänzend glatten Teig hat. Man sticht mit rundem Löffel kleine Bälle von dem Teig, bäckt sie in heißem Schmalz goldbraun und entfettet sie. Man schneidet sie nun an der Seite mit scharfem Messer rasch auf und füllt sie schnell mit Fruchtmus oder den kleinen Scherzsachen, bestreut sie mit Zucker und Vanille, richtet sie hoch aufgehäuft an und bietet sie dar.

Zum Füllen dienen Herzchen, Ringe, Glückskleeblättchen, Pfeifen, Pantöffelchen, überhaupt was man für zweckmäßig in einschlägigen Geschäften findet, die auch andere Scherzsachen noch führen. Sie werden in Seidenpapier oder, wenn es geht, in große Oblaten eingewickelt, mit schmalen Papierstreifchen, auf die man kleine, scherzhafte Orakelsprüche geschrieben hat, umwunden und nun behutsam in die Krapfen geschoben. Man muß die verhüllten Sächelchen sich vor dem Backen der Krapfen zur Hand legen, daneben das Schüsselchen mit Fruchtgelee stellen und nun abwechselnd mit dem einen und dem anderen die Krapfen füllen, damit die Arbeit so rasch wie möglich von statten geht. L.     


Hauswirtschaftliches.

Einfaches Bratenrestgericht für einen Waschtag. Einfache Mittagsgerichte, zumal aus vorhandenen Resten, sind der Hausfrau besonders an Tagen, wo viel andere häusliche Arbeit vorliegt, stets sehr erwünscht und Vorschriften dazu hochwillkommen. Von beliebigem Bratenrest läßt sich die folgende Speise herstellen, zu der man nur vorher bei der Bereitung des Bratens selbst schon für reichliche Bratensauce sorgen muß. Diese Bratensauce wird mit einer halben Tasse Wasser und einer groben Messerspitze Liebigs Fleischextrakt versetzt, aufs Feuer gestellt, nachdem man so viel rohe, kleinscheibig geschnittene geschälte Kartoffeln hineingethan, als man braucht. Die Kartoffeln müssen von der Flüssigkeit bedeckt sein und werden in ihr langsam gar gekocht. Wenn die Kartoffeln nicht sämig genug werden, muß man sie mit etwas Maismehl verdicken. Der Bratenrest wird vorher zerschnitten, in eine warme Schüssel gelegt und verdeckt auf einen Topf mit heißem Wasser gestellt. Sowie die Kartoffeln fertig sind, schüttet man sie auf den Braten, läßt ihn noch fünf Minuten auf dem heißen Wasser und giebt ihn dann mit Salzgurken oder sauren Gurken zu Tisch. H.     

Tafelschmuck. Die Mode, die noch vor kurzem die reichsten Stickereien auf Tischläufern und Decken befahl, ist wieder auf eine neue Idee gekommen: man breitet ein Stück einfarbiger Seide (liberty silk), nur mit breitem Saum versehen, über das weiße Tischtuch; auf Goldgelb zum Beispiel wirkt denn auch alles Silber und Glas sehr malerisch. Reizend sieht eine Tafel aus, auf welcher ein langes Stück Gaze oder Tüll – am besten grünlich – um den Fuß des Tafelaufsatzes her und die Mitte des Tisches entlang in leichten Falten und Puffen angeordnet ist. Zwischen diesen liegen entweder Veilchensträuße oder stehen ganz kleine Vasen mit Veilchen halb unter den duftigen Wellen verborgen, die natürlich nicht zu nahe an die Gläser und Gedecke heranreichen dürfen.

Zuckerwerk für den Tafelschmuck.

Wer ein großes Bouquet auf die Festtafel braucht und nicht eine Menge frischer Blumen verwenden will, kann auch einen grünen Strauß in ein hübsches buntes Bouquet verwandeln, wenn er Bonbons graziös in zweierlei Seidenpapier wickelt und diese an die grünen Zweige hangt. Man verwendet hierzu zwei Vierecke, von denen das größere, hellrosa, zierlich eingeschnitten wird, und dessen nelkenartige Blätter man nach oben hinaus richtet, während das kleinere, olivengrüne, in kurzen Spitzen nach abwärts steht. Kleine goldene Schellchen, wie sie Prinz Karneval an der Mütze trägt, und versilberte Knackmandeln glänzen dazwischen; schmale bunte Seiden- oder Papierbänder verbinden den Strauß mit einem ähnlichen am anderen Ende der Tafel, und das Ganze sieht sehr lustig aus.

Selbstverfertigte Nachtischschüssel. Die früher beliebten großen prunkenden Obst- und Süßigkeitsaufsätze der festlichen Tafel hat der jetzt herrschende Geschmack verbannt, da sie meist zu viel Raum einnehmen und oft einseitig wirken. Statt dessen ziert man die Tafel in zwangloser Anordnung bald hier, bald dort mit allerlei phantastischen Blumenbehältern und allerhand anmutigen Obst- und Konfektkörbchen. Meist sind alle diese hübschen Dinge flach, und nur für die Enden der Tafel stellt man jetzt oft zwei höhere Behälter, den einen für Obst, den anderen für Konfekt, auf. In einer Hansastadt bei lieben Freunden fand ich kürzlich eine ganz besondere Art von Obstbehälter, den die geschickte Hausfrau selbst gestaltet hatte – es war ein Palmbaum, unter dessen Krone herrliche Früchte und leckere Süßigkeiten prangten. Ein ungefähr 50 cm hoher Holzstab bildete den Stamm, der mit Streifen bräunlichen Krepppapiers dicht umwickelt war. Die Blätter waren aus dunkel- und lichtgrünem Krepppapier in lanzettlicher Form hergestellt und verschieden groß, das kleinste oben war 6, die größten 21 cm lang. Man biegt die Kreppblätter über dünnem Draht der Länge nach zusammen, klebt sie mit Gummi fest und befestigt sie mit dünnem Blumendraht am Stamme, so daß die größeren unten, die kleinsten oben sitzen. Kleine Chokoladekugeln wickelt man in Stanniol und befestigt sie unter den Blättern büschelförmig am Stamme. Der Stamm selbst wird in einen festen runden Holzfuß eingeleimt und dieser in die Mitte einer mit einer Spitzenmanschette verzierten Tablette gestellt, welche man mit Datteln, Bananen, grünen Mandeln, Traubenrosinen, Orangen und kandierter Ananas zierlich füllt, um der Schüssel auch dem Inhalt nach einen tropischen Charakter zu geben. He.     

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[100 b]
Allerlei Kurzweil.


Bilderrätsel „Der Cotillonorden“.
Von Erh. Lipka.


Entzifferungsaufgabe.

Mugulufygylo’ gymaly gegymu lofefyge’fuga Gomagulu, lefu gegymu
 gegalefu Lugamota galefumume mugulumolegago
Gelega Fugyfogafu legafugamo galefu, gelega gelemo tyfemo
 gyfyfygafo fylegago
Mafuge famogalemuga lofymagagulafylegulu gelegulu lefu gyfyfygafu
 Mugulufogamotagafumufufegamegafu,
Togafufu tyfefu gegafu 'Fugyfogafu gyfyfy' gelegulu lagalefugamo
 fogygulume gamomofegamegafu.
  Gogamemete Fagyfefyle.

Anmerkung: Die Buchstaben i und j gelten für einen. ä ö ü sind aus den zugehörigen Vokalen zusammengesetzt. Oscar Leede.     


Verwandlungsrätsel.

1. Kiesel | .**... | ..**.. | ....** | *.*... | Jaspis.

2. Reiher | ..**.. | **.... |.**... | .*..*. | Kasuar.

Mit Hilfe von je vier Zwischenstufen, die richtige substantivische Wörter sein müssen, ist 1. ein Kiesel in einen Jaspis und 2. ein Reiher in einen Kasuar zu verwandeln. Dabei soll jedes Wort aus dem voraufgehenden durch Vertauschung je zweier Buchstaben entstehen, deren Stelle oben durch Sternchen angedeutet ist. Umstellen der Buchstaben ist nicht gestattet. A. St.     


Schachaufgabe.
Von F. Möller in Ahlten.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Rätsel.

Beginnt mein Wort mit A, so ist’s
Ein Fluß im deutschen Norden;
Setzt du ein I dafür: ein Fluß
Im Süden ist’s geworden. E. S.


Auflösung des Magischen Quadrats
auf dem Umschlag von Halbheft 2.

1) Mime, 2) Idol, 3) Mode, 4) Elen,
A 2) Lodi, B 3) Edom.

Auflösung des Scherzfüllrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 2.
Masche, Maschine.

Auflösung des Verwandlungsrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 2. 0 Braut, Kraut.

Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 2.0Säge, Sage.

Auflösung des Wechselrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 2.
Bora, Borg, Bord, Born.

Auflösung des Bilderrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 2.
Ein einsam Glück ist eine schwere Last.

Die Auflösung der Skataufgabe erscheint auf dem Umschlag des nächsten Halbhefts.



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Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.