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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[580 c]

19. Heft. Preis 10 cents. 14. September 1898.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0580.jpg

Max Well & Co., cor. 12th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

[580 d]
Inhalt.
[Wird nicht transkribiert.]




Kleine Mitteilungen.

W. O. von Horn. Am 15. August 1898 war der Säkulartag eines der beliebtesten deutschen Volksschriftsteller, Wilhelm Oertels, der unter dem Autornamen „W. O. von Horn“ noch heute in weitesten Kreisen bekannt und beliebt ist. Oertel wurde in dem Dorfe Horn auf dem Hunsrück geboren, und ähnlich wie Hoffmann von Fallersleben hat er von seinem Geburtsort den Namen entlehnt, mit dem er sich in die Litteratur eingeführt hat. In einem Pfarrhause, in welchem schon mehrere Vorfahren das geistliche Amt versahen, hatte er das Licht der Welt erblickt; seine erste Bildung erhielt er durch den Vater. Die Beteiligung an den munteren Spielen der Altersgenossen wurde ihm durch einen Unfall erschwert, der ihm schon im Säuglingsalter zugestoßen war. Seine Mutter stillte ihn selbst; der ältere Bruder war schwer erkrankt; ganz plötzlich wurde die Mutter, die, den Säugling an der Brust, halb eingeschlummert war, durch die Todeskunde aufgeschreckt. Die Folge davon war, daß das Kind halbseitig gelähmt ward, Oertel zeitlebens sich eines Stockes bedienen mußte. Die Erinnerungen seiner Kinderzeit befruchteten später seine Phantasie. In dem Rheinstädtchen Bacharach, wo sein Vater eine Pfarrstelle erhalten hatte, entwickelte sich seine Vogelliebhaberei, der er zeitlebens treu blieb, und seine Vorliebe für historische Forschungen, zu denen die benachbarten Burgen die erste Anregung gaben. Ebenso ließ er sich gern von alten Leuten, die er, wie es in den Rheinlanden heißt, „heimlich“ machte, allerlei Erlebnisse erzählen. Sein Vater war 1812 von Bacharach als Pfarrer nach Manubach versetzt worden, einem kleinen Dorfe in einem Seitenthale des Rheins. Der junge Oertel besuchte die Heidelberger Universität, wo er Jean Paul und Jung-Stilling persönlich kennen lernte, auch eifriges Mitglied der Burschenschaft war. Dann wurde er Pfarrverweser in Manubach; nach dem Tode seines Vaters, 1822, rückte er in die Pfarrstelle selbst ein. Er fand hier Muße zu schriftstellerischer Bethätigung, für die der Knabe schon in dramatischen Versuchen Talent gezeigt; er schrieb außer verschiedenen Aufsätzen Erzählungen, und eine derselben wurde vom „Frankfurter Journal“ angenommen; andere folgten, eine ganze Serie „historisch-romantischer Erzählungen“ unter dem Schriftstellernamen F. W. Lips, die 1833, in drei Bändchen gesammelt, erschienen. Nach einer längeren Pause in seinem litterarischen Schaffen schlug er jene Richtung ein, die ihm einen weitverbreiteten Ruf verschaffen sollte. Die schlechten rheinischen Volkskalender brachten ihn auf den Gedanken, dem Volk eine bessere Speise zu bieten, so gründete er im Jahre 1846 die „Spinnstube“, welche durch die köstlichen Illustrationen des genialen Ludwig Richter auch äußerlich eine anmutende Gestalt erhielt. Von 1849 ab gab er seine sämtlichen gedruckten Erzählungen in 13 Bänden heraus. Aus der „Spinnstube“ selbst erschienen „Des alten Schmiedjakobs Geschichten“ (1850 bis 1853) in selbständiger Ausgabe. Horn war jetzt sehr schöpferisch, arbeitete besonders in den Abend- und Nachtstunden, da die Superintendentenstelle in Sobernheim im Nahethale, die er 1835 erhalten, seine amtliche Thätigkeit sehr in Anspruch nahm. Auch für unsere „Gartenlaube“ lieferte er in den fünfziger Jahren Beiträge. Er berührte sich mit dem Schweizer Jeremias Gotthelf in der Wahl seiner volkstümlichen Stoffe, wie seine Schriften „Lehrgeld oder Meister Conrads Erfahrungen im Jungen-, Gesellen- und Meisterstande“ und „Franz Kerndörfer, eine Geschichte aus dem lieben Handwerkerstande und für ihn“ beweisen. Sein „Notpfennig“ war eine Sammlung von Lehren der Lebensweisheit, die er aus den Werken unserer Klassiker schöpfte. Ein neues Volksblatt, die „Maje“, dessen Titel er dem rheinländischen Sprachgebrauch entnahm, der damit die gemütlichen Zusammenkünfte der Freunde und Nachbarn bezeichnete, gab er 1858 bis 1865 heraus; die von ihm selbst beigesteuerten Erzählungen sammelte er in den 8 Bänden „Aus der Maje“. Außerdem erwähnen wir seine Schrift „Der Rhein, Geschichte und Sagen seiner Burgen“ (4. Aufl. 1893). Im Jahre 1863 legte Oertel sein Pfarramt nieder: es kündigten sich ernste Krankheitssymptome bei ihm an. Er verlebte die letzten Jahre in einer Villa in Wiesbaden, wo er am 14. Oktober 1867 starb. In der „Universalbibliothek für die Jugend“ ist eine Auswahl seiner Erzählungen in Vorbereitung. †      

Die deutsche Tiefseeexpedition. Am 1. August ist von Hamburg aus der Dampfer „Valdivia“ in ferne Meere hinausgezogen. Neben Seeleuten, die ihn glücklich durch Wind und Wogen führen sollen, besteht seine Besatzung aus einem Stabe von Naturforschern und seine Ausrüstung in wissenschaftlichen Apparaten. Der Dampfer kreuzt unter deutscher Flagge, um friedliche Eroberungen zu machen, unser Wissen vom Meere zu erweitern, die Geheimnisse seiner Tiefen zu enthüllen.

Wiederholt haben wir in früheren Jahrgängen der „Gartenlaube“ unseren Lesern von der Tiefseeforschung berichtet. Bisher haben die Skandinavier, Engländer, Franzosen und Amerikaner das meiste auf diesem Gebiete geleistet. Nunmehr tritt auch Deutschland dieser wichtigen Aufgabe näher. Der deutsche Reichstag hat für eine Tiefseeexpedition die Summe von 300 000 Mark bewilligt, und unter Führung des Kapitäns Adalbert Krech hat das deutsche Forscherschiff seine weite Reise angetreten. Nach einem kurzen Aufenthalte in den englischen Gewässern wird es sich nach der Küste von Westafrika wenden und namentlich das Meer bei Kamerun und an der Mündung des Kongo durchforschen. Von Kapstadt aus wird die „Valdivia“ einen Vorstoß in das antarktische Gebiet machen, den Indischen Ocean befahren, über Sumatra, Ceylon und die Seychellen sich an die Küste von Deutsch-Ostafrika wenden und über das Rote Meer nach Deutschland zurückkehren.

In erster Linie will die Expedition zoologische Aufgaben lösen. Unter anderem werden ihre Naturforscher zu ermitteln suchen, auf welche Weise die Tiere der Tiefsee Licht erzeugen. Die Oceanographie wird gleichfalls berücksichtigt. Zahlreiche Tiefseelotungen sollen ausgeführt werden, und man wird die Wärme und den Salzgehalt des Meerwassers in verschiedenen Tiefen bestimmen. Schließlich soll noch die Erforschung der Bakterien auf dem Meeresgrunde mit besonderem Eifer vorgenommen werden.

Der Plan zu dieser deutschen Tiefseeexpedition ist von Professor Dr. Karl Chun ausgegangen; er ist auch zum wissenschaftlichen Leiter derselben berufen worden und wird in seinen Arbeiten von zehn Naturforschern unterstützt.

Karl Chun wurde am 1. Oktober 1852 zu Höchst a. M. geboren. In Leipzig und in Göttingen studierte er Naturwissenschaften und wandte sich bald ausschließlich der Zoologie zu. Im Jahre 1878 ging er nach Neapel, wo er sich in der berühmten Zoologischen Station von Dr. Anton Dohrn dem Studium der Meerestiere widmete; diesem Zweig der Zoologie blieb er auch mit rühmlichem Erfolg in späteren Jahren treu. Nachdem Chun sich in Leipzig habilitiert hatte, wirkte er dort als Assistent Leuckarts, erhielt im Jahre 1883 den Ruf als außerordentlicher Professor nach Königsberg und wurde 1890 Professor an der Universität Breslau. Im Anfang dieses Jahres wurde er als Nachfolger Leuckarts an die Universität Leipzig berufen.

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EIN HERZ UND EIN SINN
Nach dem Gemälde von Friedrich Prölss

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Halbheft 19.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


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Königin Wilhelmina der Niederlande.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph Kameke im Verlag von Gebr. Abrahams im Haag.

Schloß Josephsthal.
Roman von Marie Bernhard.
(4. Fortsetzung.)


10.

„Die Post, gnädiges Fräulein!“

„Es ist gut, James. Legen Sie sie dorthin.“

Der Diener will auf leisen Sohlen das Zimmer verlassen.

„Noch eins, James!“

„Baroneß befehlen?“

„Ich hatte bestimmt, mir ,Primrose’ zu satteln, und dem Groom sagen lassen, er solle sich bereit halten. Sie können das Absatteln bestellen und der Groom braucht nicht zu kommen. Ich habe mich anders besonnen. Mir ist das Wetter zu schlecht. Statt dessen ….. wie ist es doch, wann sind die Herren von den technischen Bureaus frei?“

„Um ein Uhr, gnädiges Fräulein.“

„Jetzt haben wir gleich halb. Das möchte gehen. Telephonieren Sie, ob Herr Oberingenieur Harnack sich baldmöglich zu mir bemühen möchte, und bringen Sie mir die Antwort!“

„Sehr wohl, Baroneß!“

Alix ist in einem Zimmer, das sie sich nach ihrem eigenen Geschmack hat herrichten lassen. Es ist ein großer, achteckiger Raum, dem die bis zur halben Wandhöhe hinaufreichende dunkle Eichenvertäfelung einen wohnlichen Charakter giebt. Tuchportieren von warmer, weinroter Farbe verhüllen die Thüren und ebensolche Vorhänge sind von den Fenstern mit mattgoldenen Spangen zurückgenommen. Vom getäfelten Fußboden ist nichts zu sehen, ein schöner hochfloriger roter Teppich deckt ihn ganz und gar. In den tiefen Fensternischen sind gedunkelte Eichensitze angebracht mit Greifenköpfen an den Armlehnen und mit roten Polstern belegt – vor dem wuchtigen eichenen Arbeitstisch steht ein prächtiger Lutherstuhl, und ihm gegenüber, wo die Wandtäfelung abschneidet, hängt ein lebensgroßes Brustbild in Oel, von einem vertieften Rahmen in dunklem Holz gefaßt: Alix’ Mutter!

Alix hatte viel von ihr: den Schnitt der Züge, die mandelförmigen Augen, die schöne Gestalt. Nur das Haar war anders und das Kolorit – bei der Mutter ein mattes Weiß, [582] bei der Tochter eine transparente Zartheit, wie man sie fast immer bei Leuten mit rötlichem Haar findet. Erst seit einigen Jahren war das Haar zu diesem Tizianschen Goldbraun nachgedunkelt – als Kind war Alix ausgesprochen rothaarig gewesen.

Sie stand jetzt und sichtete mit etwas zerstreuter Miene ihre Briefe. Ihre Gedanken weilten bei der bevorstehenden Unterredung mit Ingenieur Harnack. Sie hatte diese Unterredung hinausschieben müssen, da der Ingenieur noch am Abend jenes Tages, der sie durch Zufall mit Hagedorn zusammengeführt hatte, verreisen mußte in einer für die Josephsthaler Dampfschneidemühle wichtigen Angelegenheit. Es handelte sich um einen Motor, und Vetter Cecil hatte seiner Cousine an jenem Abend einen langen Vortrag über diesen Motor und seine Wichtigkeit gehalten; er selbst war ohne Zweifel sehr davon durchdrungen und war ein gewiegter Techniker; aber den beiden Damen, die seine Zuhörerschaft bildeten, blieben seine Auseinandersetzungen dunkel, denn als er das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Frau von Sperber lächelnd an Alix und sagte: „Nun möchte ich Sie gern bitten, Liebste, übersetzen Sie mir diesen Hagelschauer von technischen Ausdrücken in ein verständliches Deutsch und klären Sie mich gütigst darüber auf, was Herr Whitemore eigentlich hat sagen wollen – – wenn ich nicht an Ihrem bankerotten Gesichtsausdruck sehen würde, daß es Ihnen ganz ebenso geht wie mir und daß Sie gleichfalls nichts verstanden haben!“ Da hatte Alix lachen müssen: „Sie haben richtig gesehen, ich bin genau so klug wie Sie, liebe Frau von Sperber! Aber eins habe ich begriffen, und das ist für mich eine große Hauptsache: daß nämlich Oberingenieur Harnack jetzt verreist und also augenblicklich nicht zu haben ist!“

Heute früh war der Betreffende zurückgekommen, hatte sofort dem „stellvertretenden Chef“, Cecil Whitemore, Rapport abgestattet und sich sodann auf seinen Posten begeben.

Alix war es nicht behaglich zu Sinn, wenn sie an ihre bevorstehende Unterredung mit Harnack dachte; sie konnte nicht so ungerecht sein, sich gegen seine allerseits gerühmte Tüchtigkeit und geschäftliche Umsicht verschließen zu wollen, aber sie kam ungern mit ihm in persönliche Berührung, obgleich er sich stets streng in seinen Grenzen hielt und seine Manieren einwandsfrei waren. Es lag etwas in seinem beharrlichen Blick, was sie beunruhigte, sie hätte ihm zurufen mögen: „Ich verbitte es mir, daß Sie mich in dieser Weise ansehen!“ Das konnte sie freilich nicht; allein eben, weil sie es nicht konnte, legte ihr Harnacks Gegenwart diesen unliebsamen Zwang auf! –

Kein Brief von Maria! Lauter gleichgültige Dinge – Bitten um Unterstützung, Anpreisungen aller Art, Lotterielose, Preislisten verschiedener Lieferanten – Alix’ Hände warfen alles ungeduldig durcheinander, nachdem sie die Bittschriften ausgeschieden.

Hier noch ein Brief auf grauem, dünnem Papier, Poststempel Greifswald. Eine sonderbare Handschrift! Jeder Buchstabe neigt so sehr nach links hin, daß man Mühe hat, die Worte zu entziffern.

„Mein Fräulein! Wir haben Ihren Vater gewarnt, wir warnen Sie auch! Er hat nicht hören wollen, hat jeden guten Rat in den Wind geschlagen, es ist ihm schlecht genug bekommen. Sie sind eine Dame und wissen nichts von geschäftlichen Dingen, aber Sie sind über alle gesetzt, also müssen wir uns an Sie wenden! Räumen Sie auf mit den Leuten, die uns schaden, die auch Ihnen schaden werden, wenn Sie nicht hören wollen. Wir fordern neue Ingenieure bei der Schneidemühle und bei den Walzwerken, wir fordern erhöhten Lohn um 50 Pfennig pro Tag und Kopf, und wir fordern zwei Stunden weniger Arbeitszeit. Hätte Ihr Vater uns diese Wünsche erfüllt, wäre er heute noch am Leben. Leute aus England können nicht wissen, was dem deutschen Arbeiter zukommt; Ihr Vater hat das auch nicht gewußt, er ist ein halber Engländer gewesen und hat alles gemacht, wie sie es da drüben machen. Das können wir hier aber nicht brauchen.

Besinnen Sie sich, so lange es noch Zeit ist. Und nehmen Sie noch einen Rat an: Lassen Sie die Herren vom Gericht ruhig zu Hause; es hilft nichts, wenn sie die Arbeiter und die Leute vom Schloß hundertmal vernehmen: der Mörder Ihres Vaters wird sich darum doch nicht finden. Er wird überhaupt nie gefunden werden, ebensowenig wie der Schreiber der Briefe, die an Ihren Vater kamen, und der Verfasser des Briefes, der heute an Sie kommt!“

Alix wendete das Schriftstück hin und her, sie that es ganz mechanisch. Furcht empfand sie nicht, nur ein ungewöhnliches Kältegefühl in ihrem Innern, das die Worte „Mörder Ihres Vaters“ ihr erregt hatten. Wieder sah sie, wie zu ungezählten Malen, die regungslose Gestalt mit dem Leichengesicht und der Binde um die Stirn vor sich liegen und hörte das grauenvolle Stöhnen, das ihr durch Mark und Bein gegangen war. Und nun kam dieser namenlose Schreiber und sagte, ihr Vater wäre zur Genüge gewarnt worden, und jetzt solle sie, die mitten in diese ihr wildfremden Zustände hereingeschneit war, verantwortlich sein für alles weitere, wenn sie nicht handelnd eingreife. Ein starkes Gefühl in ihr lehnte sich auf gegen diesen anonymen Versuch, den an ihrem Vater begangenen Raubmord in Zusammenhang zu bringen mit der Unzufriedenheit seiner Arbeiter. Seit der Raubmord feststand, wies sie es weit von sich, die Männer, die in den Werken der Kolonie Josephsthal ihrem Beruf nachgingen, mit einem solchen Verdacht zu belasten. Aber konnte nicht der Verworfene, der ihr den Vater um niedriger Gewinnsucht willen getötet hatte, wirklich wähnen, daß er seine Unthat mit den Zuständen auf Josephsthal beschönigen könne? War an den Forderungen, die der Brief enthielt, vielleicht doch etwas berechtigt? Konnten die Leute bei den jetzigen Preisen, der jetzigen Arbeitszeit bestehen, oder war ihnen der Lohn wirklich zu knapp bemessen? Gaben die Ingenieure der Schneidemühle und der Walzwerke zu begründeten Klagen Anlaß?

Ach – Klarheit, Klarheit haben! Sehend sein, wo sie merkte, sie tappte im Dunkeln! Die Hände frei haben, wo sie fühlte, sie waren ihr gebunden! Ein schwaches Weib, war sie vor eine Aufgabe gestellt worden, der ein wohlunterrichteter, willensstarker Mann kaum gewachsen sein würde! Warum jetzt nicht sich einen Stellvertreter in Vetter Cecil, in Ingenieur Harnack oder sonst einem Geschäftskundigen bestellen, ihm alle Sorge und Verantwortung auf die Schultern laden – und hinweg aus diesem traurigen, kalten Norden fliehen, hinüber in den heitern Süden, in die Sonne, in den Frühling, unter fremde Menschen, neue Gesichter, die nichts von all dem Traurigen und Peinlichen wissen! Maria hatte klug sagen: Bleib’ auf deinem Posten! Erfülle die Aufgabe, die vor dir liegt! Hatte sie denn auch bedacht, die kluge Freundin, wie furchtbar schwer diese Aufgabe auf dem jungen Wesen, dem sie aufgebürdet war, lasten mußte? Das Studium von ein paar guten Broschüren und Vetter Cecils geschäftliche Unterweisungen thaten es noch lange nicht! Erfahrungen mußte sie sammeln, Fühlung mit ihren Untergebenen mußte sie gewinnen, wenn sie jemals dazu kommen sollte, die Herrin von Josephsthal nicht nur zu scheinen, sondern wirklich zu sein – und sie kannte noch nicht einen einzigen Arbeiter und wußte niemand, der ihr genügend Vertrauen einflößte, daß sie ihn hätte fragen, um Auskunft bitten können – –

Wirklich niemand? niemand?

Es ging wie eine Vision an ihr vorüber: eine Straße im Sonnenschein, leicht überschneit, sie selbst darauf herschreitend – und neben ihr ein Mann, der lächelnd sagt: „Wir sind einander ganz fremd, Baroneß –“ Das kam und ging wie ein Blitz. Unmittelbar darauf sagte sie sich, daß sie diesen anonymen Brief zunächst Justizrat Ueberweg zeigen, mit ihm darüber reden müsse, daß sie dann versuchen wolle, von Cecil über die Lage der Arbeiter der Kolonie Josephsthal im Verhältnis zu denen auf ähnlichen Werken genau unterrichtet zu werden.

Wie lange Alix in diesen Grübeleien mit ihren Gedanken herumirrte, hätte sie später schwerlich sagen können, sie fuhr erst daraus empor, als es an die Thür pochte und James mit seiner gedämpften Stimme meldete:

„Herr Oberingenieur Harnack bittet um die Ehre!“

„Ich lasse bitten!“

Unter der roten Tuchportiere bleibt er stehen und verneigt sich tief. Wie er näher herankommt, nimmt Alix wahr, daß sein kräftig gebräuntes Gesicht eine fahle Färbung hat und daß die Augen unter den schwer herabgezogenen Lidern unruhig funkeln. Es fällt ihr ein, daß Cecil ihr gesagt hat, Harnack habe es in letzter Zeit besonders schwer gehabt – Aergernisse mit den Leuten – Störungen bei den Maschinen – jetzt diese überstürzte Reise, Tag und Nacht auf der Eisenbahn! Und doch schließlich alles in ihrem Dienst! Diese Erwägung stimmt sie milder, sie besinnt sich auch darauf, daß sie sich zuweilen wirklich gut mit dem gebildeten und energischen Mann hat unterhalten [583] können, daß sie sich solche Antipathien, wie die gegen ein Paar allzu ausdrucksfähiger Augen, nicht durchgehen lassen dürfe und daß ihre jetzige Unterredung ja auch nichts Unangenehmes sei: er wünscht einen Beamten zu entlassen, sie wünscht, ihn zu behalten, und da sie die Herrin von Josephsthal ist, so hat sie ja die Macht, ihren Willen durchzusetzen, und das kann ganz einfach mit wenigen Worten, ohne Erregung geschehen!

Also lächelt Alix ganz verbindlich, geht dem Ingenieur ein paar Schritte entgegen und bietet ihm die Hand. Diese weiße, kühle Hand wird hastig genommen und an zwei zuckende, heiße Lippen gepreßt, die viel zu lange darauf ruhen – oder spielt Alix’ Voreingenommenheit ihr hier wieder einen Streich?

„Willkommen in Josephsthal, Herr Ingenieur!“ sagt sie freundlich, weist ihm einen der breiten Eichensitze in der rechtsgelegenen Fensternische an und setzt sich ihm gegenüber. „Sie haben sich im Interesse der Dampfschneidemühle einer großen Mühe und Strapaze unterziehen müssen und dafür sind wir, mein Vetter und ich, Ihnen Dank schuldig!“

„Baroneß sind allzu gütig! Für eine Pflicht, die man in seinem Beruf erfüllt, darf man sich nicht loben und danken lassen!“

„Und Sie sind mit dem Erfolg Ihrer Bemühungen zufrieden? Ich muß hinzufügen“ – Alix lächelt ein wenig –, „daß ich absichtlich eine so allgemeine Ausdrucksweise wähle, weil ich meines Vetters Erklärungen über diesen berühmten Motor und seine Bedeutung ganz und gar nicht verstanden habe.“

„Wenn ich mir erlauben dürfte, Baroneß einige Erläuterungen zu geben – vielleicht wäre ich glücklicher. Mr. Whitemore spricht ein sehr korrektes Deutsch, zu korrekt vielleicht, um immer leicht verständlich zu sein, und, so fließend Baroneß englisch reden, wären da die technischen Ausdrücke vielleicht eine Klippe. Wer über ein so rasches, leichtes Verständnis verfügt, wie Baroneß dies bei den verschiedensten Gelegenheiten bewiesen haben –“

Alix machte eine abwehrende Handbewegung. „Das ist viel zuviel gesagt, Herr Ingenieur! Sie verstehen es, faßlicher und populärer zu sprechen als mein Vetter, und nehmen sehr viel Rücksicht auf mich und meine Unkenntnis, daher gelingt es mir, Ihren Auseinandersetzungen meistens zu folgen … meine eigene Befähigung ist, fürchte ich, auf diesem Gebiet recht schwach. Wenn Sie so freundlich sein wollen, später, wenn auch Frau von Sperber zugegen ist, uns einen kleinen Vortrag über den neuen Motor zu halten, so würden wir Ihnen sehr dankbar sein. Für jetzt komme ich nur auf meine Frage zurück: sind Sie mit dem Stand der Dinge zufrieden?“

„Im großen und ganzen ja, mein gnädiges Fräulein!“

„Dann wollen wir gleich zu der Angelegenheit übergehen, um derentwillen ich Sie zu mir herüberbitten ließ!“

Harnack verneigte sich. Ueber seine dunklen Züge glitt es wie eine Wolke hin.

„Was ich Ihnen über Herrn Hagedorn zu sagen wünsche, wird Sie nicht unvorbereitet finden,“ fuhr Alix fort und sah ihrem Gegenüber mit der sicheren Unbefangenheit, die so gut zu ihrer äußern Erscheinung stimmte, ins Gesicht. „Mein Vetter Cecil hat Ihnen gewiß meine Ansicht schon mitgeteilt.“

„Mr. Whitemore hat das allerdings gethan, aber gewissermaßen nur provisorisch, ich habe in letzter Instanz doch auf eine Erklärung aus Baroneß Hofmanns eigenem Munde gewartet.“

„Ganz gewiß. Dazu waren Sie berechtigt. Sie sind der spezielle Vorgesetzte meines – meines Verwandten; da erledigt sich die Sache am besten zwischen Ihnen und mir. Sie halten ihn für keinen tüchtigen Beamten?“

„Da Baroneß mich offen fragen, fühle ich mich veranlaßt, ebenso aufrichtig zu antworten. Nun denn – – nein! Der betreffende Herr ist für den Posten eines Buchhalters, den er bekleidet, so ungeeignet wie nur möglich. Er ist nachlässig und unzuverlässig, er giebt sich mit hundert Nebendingen ab –“

„Was sind dies für Nebendinge, wenn ich fragen darf?“

„Er macht Musik bis in die halbe Nacht hinein, er unternimmt stundenlange Ausflüge auf seinem Zweirad in die Umgegend, er begehrt oft Urlaub, um zu Konzerten, zu Musikfesten zu fahren, er besucht die Arbeiterfamilien, angeblich, um soziale Studien zu betreiben –“

„Angeblich? Halten Sie ihn nicht für wahrheitsliebend?“

„Ich möchte mir darüber kein Urteil erlauben – oder doch nur ein bedingtes! Der Herr ist alles andere eher als ein Geschäftsmann – ich halte dafür, daß er durch und durch Phantast ist, der sich mit utopischen Ideen trägt und darüber das Nächstliegende versäumt. Daß solche Naturen es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmen, pflegt nur zu häufig vorzukommen.“

„Sie meinen, sein Beruf wäre ihm unsympathisch –“

„Ohne allen Zweifel!“

„Wer weiß, durch welche Verkettung von Umständen er dazu gezwungen worden ist! Kennen Sie sein Vorleben, die Verhältnisse, aus denen er hervorgegangen ist?“

„Nein, Baroneß! Ich trage auch kein Verlangen danach!“

„Das wäre aber wichtig, um diese anscheinende Nachlässigkeit – Unzuverlässigkeit – dies Abschweifen zu andern Dingen, die ihn seinen geschäftlichen Pflichten entfremden, gerecht zu beurteilen. Vielleicht – hat man ihm den Beruf aufgezwungen –“

„Möglich! Jedenfalls füllt er ihn nicht annähernd aus! Wenn Leute von solcher offenbaren Unfähigkeit, die auch nicht einmal ein Hehl daraus machen, sondern noch eine Art Trumpf darein setzen, offenkundig mit dieser Unfähigkeit zu prahlen, längere Zeit hindurch einen Posten von immerhin nicht ganz geringer Verantwortlichkeit bekleiden dürfen, so schädigen sie den Betrieb, bei welchem sie angestellt sind, geben ihrer Umgebung ein schlechtes Beispiel und müssen entfernt werden.“

„Ich muß mich wundern, Herr Ingenieur, daß Sie alles dies nicht längst meinem Vater gesagt haben.“

„Diesen Vorwurf hab’ ich erwartet, Baroneß – aber nicht verdient! Wenn ich offen sprechen darf –“

„Darum bitte ich!“

„Ihr Herr Vater, Baroneß, war ein geradezu genialer Geschäftsmann – überall zu Hause, in allen Sätteln gerecht und begabt mit einem Ueberblick, der ihn zum Leiter eines so kolossalen Unternehmens berufen machte. Eben weil aber dies Unternehmen unter seiner geschickten und glücklichen Hand wuchs und wuchs, konnte es ihm nicht mehr möglich sein, jeden einzelnen Beamten zu überwachen und in seinen Leistungen genügend zu beurteilen. Ihm dies zu sagen, wäre eine schwierige, bedenkliche Sache gewesen.“

„Mr. Whitemore gegenüber haben Sie geäußert, die Rücksicht auf das verwandtschaftliche Verhältnis Herrn Hagedorns zu meinem Vater hätte Ihnen, dem letzteren gegenüber, Schweigen auferlegt.“

„Das ist richtig. Ich habe es für angezeigt gehalten, Baroneß, Mr. Whitemore gegenüber die volle Wahrheit zu sagen.“

„Und ist es wahr,“ fuhr sie fort, „daß Sie Herrn Hagedorn ohne weiteres, aus eigener Machtvollkommenheit, jetzt, nach dem Tode meines Vaters, die Stellung kündigten?“

„Baroneß – wenn ich Sie dadurch beleidigt haben sollte –“

Alix zog die Brauen hoch, und um ihre schöngeschwungenen, vollen Lippen bildete sich der hochmütige Zug, der sie nach Professor Laurentius’ scherzhafter Aeußerung der Diana von Versailles so ähnlich sehen ließ.

„Ich bitte, Herr Ingenieur!“ sagte sie abweisend.

Harnack atmete mühsam und fuhr mit gepreßter Stimme fort: „Ich glaubte, nach dem Ableben meines Prinzipals befugt zu sein, einem nachlässigen Beamten eine Warnung zu erteilen, an die sich die Drohung schloß, seiner Thätigkeit würde, falls er sich nicht änderte, in Josephsthal bald ein Ziel gesetzt sein!“

„Worauf Sie ihm sofort einen Teil dieser Thätigkeit aus der Hand nahmen!“

„Wer hat dies zu Ihrer Kenntnis gebracht, meine Gnädigste?“

„Herr Hagedorn selbst!“

„Ah! Er hat mich bei Ihnen angeklagt?“

„Sie müssen ihn in der That sehr wenig kennen, wenn Sie ihm derartiges zutrauen. Er hat nicht einmal mir gegenüber Ihren Namen genannt! Ich habe ihn ausgefragt, und auf meine ausdrückliche Aufforderung hat er mir geantwortet!“

„Jedenfalls also,“ sagte der Ingenieur und stand auf, „habe ich des gnädigen Fräuleins Entschließungen in dieser Angelegenheit abzuwarten.“

„Ja, wenn ich bitten darf!“ Alix erhob sich ebenfalls. „Ich kann und ich will einen Verwandten unseres Hauses nicht eher aus seiner Stellung entlassen, als bis sich für diese Maßregel dringende Gründe ergeben, die auch meiner eigenen Beurteilung zugänglich sind.“ Diesmal reichte sie ihm nicht die Hand. Mit einer leichten Neigung ihres stolzen Köpfchens entließ sie ihn.

[584] Und er, der bisher inmitten seines arbeitsvollen Lebens mit einer gewissen Geringschätzung auf die Frauen gesehen und ihnen in seinem Dasein nur vorübergehend einmal eine flüchtige Rolle zugeteilt hatte – er sah sich gezwungen, seinen Willen in dieser ihm so wichtigen Angelegenheit vor dem der jungen Gebieterin zu beugen. Stumm neigte er sich und wandte sich, um zu gehen, als der englische Diener unter der Portiere erschien und seiner Herrin auf silberner Schale eine Karte reichte.

„Lassen Sie den Herrn eintreten, James!“ Alix blieb neben dem Eichensitz stehen und blickte nach dem Thürvorhang, zwischen dessen Falken jetzt raschen Schrittes Raimund Hagedorn hervortrat.

Es war ihm wohl kaum sehr angenehm, jedenfalls unerwartet, bei seinem offiziellen Besuch im Herrenhause von Josephsthal mit Harnack zusammenzutreffen. Aber gewandt, wie er war, und sorglosen Temperamentes dazu, schüttelte er die peinliche Empfindung ebenso rasch ab, wie sie ihm gekommen war, machte der jungen Dame seine ehrfurchtsvolle Reverenz und verneigte sich leicht vor Harnack, welcher seine schwere Gereiztheit kaum mehr zu verbergen wußte.

Ein tiefes Kompliment für die Dame – ein eisiger Gruß für Hagedorn, und der Ingenieur war gegangen.


11.

Alix bot ihrem neuen Gaste einen Stuhl und sagte mit ernstem Blick: „Sie haben keine gute Nummer bei Herrn Harnack, wie ich mich soeben selbst überzeugt habe.“

„Ja,“ erwiderte Hagedorn leichthin, „wir lieben einander nicht. Und er war hier, um sich über mich zu beschweren?“

„Nicht nur deshalb. Er sprach eben mit mir in Ihrer Angelegenheit. Ich habe ihm daraufhin zu verstehen gegeben, daß ich eine Einmischung in die mir allein zustehenden Rechte nicht dulde und daß Sie, Herr Hagedorn, so lange in Ihrer Stellung zu verbleiben hätten, bis ich selbst aus eigener Einsicht eine Aenderung herbeizuführen wünschte!“

Es blieb eine kleine Weile still. Alix hatte erwartet, ihr Schützling werde diese Ankündigung mit Dank aufnehmen, aber zu ihrem Erstaunen gewahrte sie im Gesicht des ihr gegenübersitzenden Mannes einen Ausdruck, der alles andere eher bedeuten konnte als Dankbarkeit und Freude. Es war ein offenes Gesicht; es konnte und es wollte auch entschieden nicht seine Empfindungen verstecken. Die freimütig blickenden Blauaugen, der weichgeschnittene, bewegliche Mund, der so einnehmend zu lächeln verstand, die schöngewölbte Stirn – sie wußten nichts von Verstellung.

„Wenn ich recht verstanden habe,“ kam es nach einem raschen Aufatmen, das beinahe einem Seufzer glich, über Hagedorns Lippen, „so haben Sie mit Ihren letzten Worten sagen wollen, es soll mit mir hier alles beim alten bleiben!“

„Allerdings wollte ich das! Mir will jetzt nur scheinen, ich hätte Ihnen damit durchaus keinen Gefallen erwiesen!“

„Das wirft ein abscheuliches Licht auf mich – das der schwärzesten Undankbarkeit! Wenn ich Ihnen nur verständlich machen könnte, wie es in mir aussieht!“

„Ist das so schwer?“ fragte Alix, „Sie könnten mir ja erklären –“

„Erklären! Ja! Das ist es eben, was ich möchte und nicht kann!“ fiel er mit einem Eifer ein, der Alix’ starkes Befremden sofort milderte; in seiner impulsiven Art, zu sprechen, in seiner Weise, den andern überredend anzublicken, ihn mit seinen feurigen blauen Augen gleichsam zu bannen, lag ein Zauber, dem sie sich nicht zu entziehen vermochte. Zudem besaß der Sprecher ein biegsames Organ, und sein etwas Wienerisch gefärbter Dialekt gab allem, was er sagte, eine eigene Wärme.

„Und warum sollten Sie nicht können?“

„Ich bitte Sie, Gnädigste, ich kann Ihnen doch nicht nach so kurzer Bekanntschaft zumuten, meine ganze Biographie anzuhören und sich meinen innern Menschen anzusehen! Auf das aber käm’ es hinaus, wenn Sie darauf bestehen wollten, ich sollte erklären, warum ich mich nicht hab’ aufrichtig freuen und sagen können: ,Küss’ die Hand und danke tausendmal‘!“

„Und wenn ich nun nickits gegen diese Zumutung hätte – wenn ich einem Verwandten unseres Hauses“ – wie unwillkürlich blickte Alix über ihre Schulter zurück, während sie sprach, gleichsam ihre Mutter, die dort im Bilde auf sie herniedersah, auffordernd, ihr recht zu geben.

Raimund Hagedorn war diesem Blick gefolgt. Er sprang hastig von seinem Sitz empor, als habe er soeben gewahrt, daß noch eine dritte Person im Zimmer anwesend sei, die er zu begrüßen vergessen hatte. „Ah, Tante Kathi!“ rief er lebhaft, und mit einer entschuldigenden Gebärde gegen Alix fügte er hinzu: „Sie müssen verzeihen – ich habe sie immer so genannt, sie selbst hat es mir gestattet!“

„Wann und wo sahen Sie meine Mutter?“ fragte das junge Mädchen rasch zurück.

Er antwortete zunächst noch nicht, sondern sah unverwandt zu dem Gemälde empor – dann zu Alix hinüber – wieder zum Bilde zurück – die beiden Gesichter aufmerksam vergleichend.

„Ja, ja,“ nickte er dann, wie zu sich selber sprechend, „ich hab’ es gleich bemerkt, es ist viel Aehnlichkeit da, der ganze Typus, und dann um Augen und Mund herum … doch Baroneß verzeihen, daß ich nicht gleich antwortete. Wann ich Ihre Frau Mutter sah? Auf ihrer Hochzeitsreise zum erstenmal, und damals war ich ein kleiner Bub’, vielleicht sechs Jahr alt. Schadet nichts! Mein Gedächtnis reicht weit zurück, und ich seh’ alles deutlich vor mir – die ganze Scene!“

„Wollen Sie mir die schildern?“

„Gern! Wir lebten dazumal noch in Wien. Ich muß doch der Gnädigsten sagen: ich bin ein geborener Wiener.“

„Das hört man zuweilen an Ihrer Sprache, so dialektrein Sie sprechen.“

„War ja auch nicht immer in Wien. Aber zur Sache! Damals also lebten wir dort, und meine Mutter, auch eine Gräfin Holsten-Delmsbruck, gleich der Ihren, war sehr aufgeregt und glücklich über den bevorstehenden Besuch ihrer Lieblingscousine. Gleich zwei Schwestern waren die beiden zusammen aufgewachsen, obzwar meine Mutter wohl ein halbes Dutzend Jahre mehr zählte als ihre Cousine. Ich bekam mein schönstes Habit an, veilchenfarbigen Sammet mit Goldstickerei, und einen prachtvollen Buschen von Maiblumen und Syringen, so groß, wie ihn meine Hände nur fassen konnten – damit sollt’ ich droben an der Stiege stehen zum Willkommen, und hundertmal wohl hat mir’s meine gute Mutter eingeschärft, ich sollt’ auch hübsch laut und deutlich sagen: ,Grüß’ dich Gott, Tante Katharina!“

„Und haben Sie das fertig gebracht?“ fragte Alix.

„Aber tadellos! Obschon ich so viel zu sehen hatte: die schöne junge Frau in dem schweren grünen Seidenkleid, einen Hut mit wehenden, nickenden weißen Straußenfedern auf dem Kopf, und den Herrn Gemahl daneben, ganz in schwarzer Gala, hinterher den Diener im Tressenrock – das war keine Kleinigkeit. Wie ich aber mit heller Stimme meinen Gruß sagte und meine Blumen hinhielt – gerad’ mitten im schönsten Frühling sind wir gewesen! – da hat mich die neue Tante in die Arme genommen und hat mich geküßt. Sie amüsierte sich über mein damals unverfälschtes Wiener Geplausch und bat sich’s aus, ich möchte sie Tante Kathi nennen, das klänge so hübsch. Lang’ ist sie damals nicht in Wien geblieben, die Reise ist über den Semmering nach Italien gegangen – aber doch hat sie mit Mama manches Plauderstündchen gehalten, während die beiden Herren, mein Vater und der Ihrige, inzwischen sehen mußten, wie sie miteinander zurechtkamen. Ich natürlich, als einziges Kind, gewöhnt, immer an Mamas Rockfalte zu hängen, ich war stets bei den Damen, und sie beachteten mich weiter nicht, wenn ich mit meinen Bauhölzern und Pferdchen still für mich in einem Winkel spielte. ,Der Bub’, der Raimund, hört und versteht uns nimmer!‘ hat meine Mutter oft beruhigend gesagt, wenn Tante Kathi fragend über die Schulter nach mir umblickte. Ich hab’ aber doch alles gehört und auch vieles verstanden, so klein ich noch war. Als Tante Kathi dann abgereist war, ist noch oft von ihr bei uns die Rede gewesen, sie hat auch zuweilen geschrieben und schöne Weihnachtsgaben für die Mutter und für mich geschickt. Mehr als ein Jahr ist vorübergegangen; da, es war im Herbst, hat’s geheißen, Mama und ich würden zu den norddeutschen Verwandten nach Josephsthal fahren, wo das Töchterchen getauft werden sollte. Besagtes Töchterchen – –“ Der Sprecher verneigte sich sehr ceremoniell gegen Alix, und seine Augen glänzten fröhlich und schelmisch zu ihr hinüber.

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Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0585.jpg

Die Trauerfeier für den Fürsten Bismarck in München.
Nach dem Leben gezeichnet von Fritz Bergen.

[586] „Sie kannten also Josephsthal schon seit langer Zeit, und Sie kannten auch mich!“ rief Alix lebhaft. „Ich habe keine Ahnung davon gehabt. Dunkel erinnere ich mich, daß meine Mutter von der Ihrigen gesprochen, daß sie sie sehr lieb gehabt hat. Bitte – nur weiter! Sie glauben es nicht, wie mich dies alles interessiert!“

„Es ist leider bald zu Ende mit den Kindheitserinnerungen! Ich machte also damals die Bekanntschaft der neuen Cousine, aber, wie ich ehrlich eingestehen muß, ohne allzu große Begeisterung. Mit so kleinen Kindern wußte ich nichts anzufangen! Ja, hätte das Geschöpfchen laufen und plaudern können! Aber dies stumme Kleine in all seiner Seiden- und Spitzenpracht machte mir recht wenig Eindruck.“

„Und – meine Mutter?“ fragte das junge Mädchen leise.

„Sie war schöner denn je und schien sich im Besitz ihres Töchterleins außerordentlich glücklich zu fühlen.“

Der Redner stockte hier, als hätte er mehr noch auf dem Herzen, fürchtete aber, zu viel zu sagen. Wieder gab sein bewegliches Gesicht den beredtesten Kommentar zu dem ab, was in seinem Innern vorging.

„Wie wir dann zurückgereist sind, gab es einen sehr schweren und zärtlichen Abschied zwischen den beiden Freundinnen, dessen entsinne ich mich noch genau. Sie weinten beide und wollten einander nicht aus den Armen lassen. Ob eine Ahnung sie bewegte? Sie sollten sich nicht wiedersehen. – – – Meine Mutter ist zuerst gestorben – ein paar Jahre nach jenem Besuch ist es gewesen, und Tante Kathi hat damals sehr traurig und sehr liebevoll an meinen Vater und an mich geschrieben – ich hab’ mir den Brief aufbewahrt; er blieb der einzige, den ich von ihr bekam, denn der Verkehr schlief nach dem Tode meiner Mutter ganz ein. Der Vater hatte zu nichts mehr Lust und fand an nichts mehr Freude …. hätt’ er mich nicht noch zu erziehen gehabt, ich glaube, er wär’ freiwillig der Mutter nachgegangen. Sie ist der Inhalt seines ganzen Lebens gewesen!“

Das ernst gewordene Gesicht, das Alix zugewendet war, wirkte noch anziehender als soeben das lachende.

„Ich danke Ihnen von Herzen für alles, was Sie mir aus jenen Kindertagen, die Sie mit meiner Mutter zusammenführten, erzählt haben!“ sagte Alix warm und reichte Hagedorn die Hand, die er leicht an die Lippen führte. „Sie glauben nicht, wie wertvoll mir, die ich so früh verwaist bin, jede Einzelheit ist, die irgendwie mit Mama in Verbindung steht. Aber nun sind Sie mir doch noch die bewußte Erklärung schuldig, die es mir verständlich machen soll, daß Sie den Gedanken, hier zu bleiben, mit solch offenbarer Abneigung begrüßten!“

„Abneigung? Wirklich? Hab’ ich die verraten?“ fragte Hagedorn bestürzt.

„Es sah wenigstens ganz so aus. Und Sie können es mir nicht verargen, daß ich dafür eine Erklärung wünsche!“

„Eine ganz offene?“

„Ja!“

„Gut denn, ich will es versuchen, sie zu geben. Sehen Baroneß, wenn ich da nun anknüpfe, wo ich zuvor aufhörte, beim Tod meiner Mutter, so ergiebt sich fortan eines aus dem andern. Nachzuholen hätt’ ich nur eine Thatsache, die mich betrifft, freilich eine sehr wichtige! Von klein auf bin ich ein Musiknarr gewesen. Die Wärterin, die mich auf dem Arm getragen hat und die dann noch lange im Haus blieb, hat mir’s später noch oft erzählt, wie ich mitten im Weinen verstummte, sobald ein Drehorgelmann draußen sich hören ließ – wie ich, noch ehe ich ein artikuliertes Wort sprach, kleine Melodien mit meinem Kinderstimmchen richtig und rein zu Gehör brachte – wie ich mich ans Pianoforte hintappte, mühselig den Klaviersessel erklomm und mir nun Töne zusammensuchte, wie ich sie brauchen konnte. Mit sechs Jahren hab’ ich in einer Wohlthätigkeitsvorstellung den ,Karneval von Venedig’ mit Variationen auswendig vorgetragen; die Leute, die Damen namentlich, machten mit mir Knirps viel Aufhebens und meine Eltern hatten gewaltig zu steuern, auf daß nicht aus ihrem Einzigen ein eitler Grasaff’ gemacht wurde. Ich durfte nie wieder öffentlich spielen, und die Leute, die bei uns im Haus verkehrten, wurden veranlaßt, mich nicht durch zu viel Lob und Bewunderung zu verderben. – Aber guten Unterricht erhielt ich, auch dann, als wir, nach dem Tode meiner Mutter, von Wien fortzogen und unser sonderbares Wanderleben begannen. Doch ehe ich Ihnen davon berichte, Baroneß, muß ich notwendigerweise erst etwas von meinem Vater sagen!“

„Er war Docent der alten Sprachen, nicht wahr?“

„Jawohl, er hatte Philologie studiert, war als junger Mensch Informator in einer gräflichen Familie gewesen – Sie erraten, daß es die Holsten-Delmsbrucksche war! – er hatte sich heimlich mit der Komteß verlobt, sah aber nicht die geringste Aussicht auf eine Vereinigung mit seiner Braut vor sich. Da starb sein Vormund, ein sehr wohlhabender, kinderloser Herr, und mein Vater wurde sein Universalerbe. Nun konnte er die Braut heimführen und sein Leben nach eigener Neigung gestalten. So wurde er denn Docent an der Wiener Universität und lebte seiner Wissenschaft, schrieb ab und zu eine gelehrte Abhandlung als Beitrag für irgend eine Zeitschrift, konnte sich aber zu keiner regelmäßigen Thätigkeit aufraffen. Er war ganz Stimmungsmensch; jeder Zwang entmutigte ihn. Unser Vermögen, vielmehr der Zins, den es brachte, reichte aber für uns aus. Meine Mutter war für sich selbst anspruchslos und merkwürdig praktisch. Sie verwaltete das Einkommen ganz allein, und das war gut, denn mein Vater hätte keine Ahnung gehabt, wie es anzulegen sei. Das Kapital sollte für ihren Buben unberührt bleiben! Aber nun starb sie, da ich noch keine vierzehn Jahr alt war. Mein armer Vater, niedergebeugt und gebrochen von seinem Schmerze, war in Bezug auf alle praktischen Fragen des Lebens rat- und hilflos wie ein Kind; er war wie erlöst, als einer der wenigen Freunde, die er in Wien gefunden, ein gutsituierter Kaufmann, ihm anbot, von der Last der Vermögensverwaltung ihn zu befreien und unser Kapital in sein Geschäft hineinzunehmen. Er hatte eine großartige Gußeisen- und Gußstahlgießerei, ein pomphaftes Warenhaus mit den herrlichsten Treppengeländern, Grabgittern, Kandelabern und dergleichen. Ich will und ich kann dem Mann nichts Böses nachsagen, er hat nicht schlecht an uns gehandelt. So lange es ihm selber gut ging, hatten auch wir es gut! Er hatte dem Vater dafür, daß dieser sein Kapital in seinem Geschäft arbeiten ließ, Tantieme zugesichert – die bekamen wir jahrelang, so lange der Handel schwunghaft ging, regelrecht ausgezahlt! Wir hatten reichliche Zinsen in jener Zeit, aber wir verbrauchten sie auch. Meinen Vater litt es nicht lange mehr in Wien, er meinte, in einer fremden Stadt, in einer neuen Umgebung würde er die quälende Sehnsucht nach der Mutter weniger empfinden. Wir gingen nach Graz, dann nach München – dort hab’ ich mein Abiturium gemacht. Ich wollte Musik studieren, das stand bei mir ganz fest, und mein Vater hatte nichts dagegen; nur wollte er, daß ich vorher mit ihm erst ein wenig die Welt ansähe. Da der Arzt für ihn einen längeren Aufenthalt im warmen Klima für wünschenswert erklärte, gingen wir auf ein volles Jahr nach dem Süden. Wie trunken vor Entzücken hab’ ich geschwelgt in allem, was dieser Aufenthalt mir bot, und wenn ich leider gewahren mußte, daß meinem armen Vater auch diese wonnevollen Tage nichts mehr halfen, daß für seine Seele alles zu spät kam und alles verloren war, seitdem er ohne sein Liebstes und Bestes lebte .…. ich verdanke dieser Zeit eine sonnengoldene, unvergleichliche und unvergeßliche Erinnerung, an der ich freilich werde zehren müssen all mein Leben lang.“

„Konnten Sie auch für Ihren künftigen Beruf damals etwas thun?“

„Mein künftiger Beruf – der, den ich in jener Zeit wenigstens dafür hielt! – kam nicht zu kurz. Ich hatte vollauf Muße, oder wenigstens, ich nahm sie mir, alte Kirchenmusik zu studieren – Palestrina – Pergolese, aber ohne Anleitung und Belehrung, ohne Menschen, gegen die ich mich aussprechen, mit denen ich meine Ideen tauschen konnte. Als das Reisejahr vorüber war, trieb es mich mit Allgewalt nach Köln, an dessen Konservatorium namhafte Lehrer unterrichteten, und mein Vater, dem die Stadt nicht sympathisch war, und der eine fast krankhafte Sehnsucht nach dem Grabe meiner Mutter empfand, faßte zum erstenmal den Entschluß, sich, wenigstens für eine Zeit lang, von mir zu trennen. Der Gedanke, ihn allein reisen zu lassen, war mir bei seiner Angegriffenheit bedenklich. Aber mit der zähen, eigensinnigen Heftigkeit, wie sie oft gerade weichen Naturen und Gemütsmenschen eigen ist, bestand er auf seinem Willen, und ich mußte ihn ziehen lassen. Ich hatte mich noch nicht einmal in Köln eingerichtet, wohnte noch im Hotel und wollte erst am [587] nächsten Tage die notwendigen Besuche bei meinen Lehrern machen, als mich ein Telegramm traf: ,Ihr Vater bedenklich erkrankt – bitte, sofort herzukommen!‘ Selbstverständlich fuhr ich Tag und Nacht, und als ich in Wien anlangte, lag mein Vater bewußtlos an schwerem Typhus danieder und erkannte mich nicht mehr. Als er endlich, nach Monaten, dem Leben wiedergegeben war, lag der kaum zweiundfünfzigjährige Mann vor mir mit silberweißen Haaren, hohläugig und entkräftet wie ein Greis, und so schwach, daß er die Hand nicht heben konnte und ich ihn füttern mußte wie ein kleines Kind.

Das blieb so nicht – gottlob! Aber über seiner Genesung war es Winter geworden, ganz Wien lag eingeschneit, und die Aerzte warteten nur ein Nachlassen des Frostes ab, um den Kranken ungesäumt wieder fortzuschicken – diesmal nach Meran! Daß ich mit ihm ging, verstand sich von selbst; er hätte jetzt die Trennung von mir gar nicht ertragen. Seine Nerven waren unglaublich geschwächt, er war reizbar, ungeduldig, die geringste Kleinigkeit regte ihn unsagbar auf, und ein unbedachtes Wort konnte ihm Thränen in die Augen treiben. Er wollte mich nicht von sich lassen – natürlich! zugleich aber quälte ihn fortwährend der Gedanke, daß ich jetzt um seinetwillen meine so heiß ersehnten musikalischen Studien nicht aufnehmen könne, daß er das Hindernis sei! Auf alle Weise suchte er mich zu entschädigen, schaffte mir ein schönes Reitpferd an, ein Fahrrad, interessante Bücher, drang darauf, daß ich Ausflüge unternahm, Bekanntschaften anknüpfte; ich hatte nur immer abzuwehren, damit mir’s nicht zu viel wurde. Zu meiner Freude erholte er sich zusehends; aber es konnte mir nicht verborgen bleiben, daß er jetzt meinen künftigen Beruf mit ängstlichen und scheelen Augen ansah, so oft ich ihn auch versicherte, wir dürften uns wegen desselben durchaus nicht trennen, ich könnte, wenn er sich das wünsche, Köln aufgeben und in Wien meine Studien betreiben. Wir gingen auch schließlich nach Wien, aber zu den erhofften Studien kam ich auch jetzt nicht.

Nicht ohne eigne Schuld! Ich hatte in Meran die Bekanntschaft von ein paar jungen Wienern gemacht, es waren zwei Brüdcr und deren nächste Freunde – lebenslustige, ein wenig übermütige, aber liebenswürdige Leute, die großes Wohlgefallen an mir fanden und mich eifrig zu sich heranzogen. Sie waren wohlhabend, die Brüder konnte man schon reich nennen, ihr Vater war ein angesehener Wiener Bankier. Alle vier aber waren sie leidenschaftliche Sportsmen, hielten sich zusammen einen Rennstall, Jockeys und Trainer, waren in London beim Derby gewesen, hatten die Rennen in Longchamps mitgemacht, sich auch in Norddeutschland umgethan und gingen ganz in diesen Dingen auf. Einmal erst wieder in Wien, wo unser Umgang selbstverständlich fortgesetzt wurde, zogen sie mich beinahe mit Gewalt in ihre Sportsinteressen hinein; sie behaupteten, ich sei ein geborener Herrenreiter, ich möge ihnen nur die Liebe thun, meinen ‚Mazeppa‘, ein famoses Halbblut, einreiten zu lassen und mich im Herbst bei den großen Rennen zu beteiligen – sie würden ohne weiteres auf mich wetten. Der Gedanke schmeichelte meiner Eitelkeit, daß sich in dieser Geschicklichkeit als Reiter das Blut meiner mütterlichen Abstammung verrate. Ich ließ mich überreden. Meine musikalischen Studien, die meine volle Hingabe erfordert hätten, vernachlässigte ich nun in unverantwortlicher Weise. Ab und zu machte ich mir deshalb Gewissensbisse, aber mein Vater, der sich sehr entzückt von meiner Sportliebhaberei zeigte, und meine neuen Freunde hatten mir so oft und so einleuchtend bewiesen: zum Musikmachen käme ich noch zeitig genug, und das Studium liefe mir ja nicht davon, daß ich mich leicht beruhigte. Kurz, ich ritt im Herbst die Rennen mit und gewann beim Herrenreiten den zweiten Preis. Ich war so allgemach, ohne mein Zuthun, in die Kreise der Wiener jeunesse dorée geraten und ließ mir’s gefallen. Man lud mich vielfach zu Abendgesellschaften; die Mär von meiner musikalischen Begabung sprach sich herum, man forderte mich auf, in Wohlthätigkeitskonzerten zu spielen, ich mußte in Privatkreisen Operetten dirigieren, Liederspiele komponieren, melodramatische Scherze begleiten – der reinste Dilettantenschwindel in voller Blüte! Ich kann auf jene Zeit in Wien nur mit Beschämung zurückblicken. Allein ich war jung, empfänglichen Gemütes, und die Versuchung war stark! Doch ich will mich nicht entschuldigen. Wollten mir Bedenken aufsteigen, so beschwichtigte ich sie damit, daß ich mir sagte, ich lebte ja jetzt meinem Vater zu Gefallen, und das sei meine Pflicht. Wirklich zeigte er sich stets heiter und zufrieden, obgleich er wahrlich auch bei meiner damaligen Lebensweise nicht viel von mir hatte. Ohne Murren gab er das Geld her, das diese repräsentative Rolle forderte, schaffte ein zweites Rassepferd und stellte einen englischen Trainer an, als die Freunde darauf drangen, und glänzte vor Stolz, als es dann im nächsten Jahr beim Hindernisrennen und beim Handicap zwei erste Preise abgab und die Sportblätter meinen sogenannten ,Ruhm‘ mit Posaunenstößen der Welt verkündigten.

Ich stand in der Blüte meiner Sportlaufbahn und in Unterhandlung wegen eines dritten Pferdes, als mein Vater eines Tages verlegen und erregt zu mir aufs Zimmer kam: ob ich die bevorstehenden großen Ausgaben, von denen ich ihm gesprochen, aus meinen Mitteln von den Preisen her bestreiten könne oder ob ich Kredit dafür hätte – der Geschäftsmann, der unser Vermögen verwalte, habe zum erstenmal die längst fälligen Zinsen nicht gezahlt und auf zwei mahnende Briefe des Vaters mit keiner Silbe geantwortet!

Mir wurde nicht sehr wohl zu Mut, als ich dies hörte; ich ließ die Fragen über meine eigenen Mittel und über meinen Kredit in der Luft schweben – sie wären nicht zu meines Vaters Zufriedenheit zu beantworten gewesen! – brach einstweilen die Unterhandlungen wegen des Pferdes ab und versprach meinem Vater, mich um die Geldangelegenheit selbst zu bekümmern.

Was ich zu hören bekam, war nicht ermutigend. Es stand schlimm mit unserem Geschäftsfreund. Um der jährlich anwachsenden Konkurrenz zu begegnen, sie noch zu überbieten, hatte er enorme Lieferungen übernommen, das Material dafür zu billig veranschlagt, die Leute zu sehr angestrengt und dabei zu schlecht besoldet, so daß sie an einem Tage samt und sonders die Arbeit niederlegten – ausstehende Forderungen konnten nicht eingetrieben werden … es war eine Krisis – – sie konnte überstanden werden, und dann würde alles gut zu machen sein … Aber die Krisis des Geschäftsfreundes ging nicht vorüber, und die Sache zog sich nicht zurecht. Der Mann that klug daran, die Briefe meines Vaters unbeantwortet zu lassen – – – was hätte er ihm schreiben sollen? Unser Vermögen steckte in seinem Geschäft – ob sich auch nur ein Teil davon würde herausziehen lassen, war mehr als zweifelhaft. Sacht fing ich an, meine Fühlhörner einzuziehen, den Trainer zu entlassen, ein Pferd zu verkaufen … Dann war mit einem Mal die Sache entschieden – ohne einen Schimmer von Hoffnung, auch nur tausend Gulden für uns aus dem allgemeinen Zusammenbruch zu retten!

Da stand ich denn nun neben dem hilflosen, in seiner Art verwöhnten, dem wirklichen Leben fremd gewordenen Vater – ich selbst zwar gesund, fast vierundzwanzig Jahre alt, aber in meiner Art, genau genommen, ebenso unbrauchbar fürs Leben wie mein guter, alter Papa. Ich war ganz bereit, für meine Thorheit zu büßen und mir’s rechtschaffen sauer werden zu lassen … aber wovon sollten wir derweil leben, wir zwei? Mit Verkaufen, mit Vermieten hatten wir’s so eine Weile hingehalten, jetzt aber schaute die nackte Not zur Thür herein …. ein höllisch unbequemer Gast für denjenigen, der ihm zum erstenmal in das höhnisch grinsende Antlitz schaut! Und dabei dem Vater, der mir, sowie ich zur Thür hereinkam, mit seinen guten, bekümmerten Augen mitleidig ins Gesicht sah, eine sorglose Miene zeigen, ihn immer wieder lachend auf die Schulter klopfen und sagen müssen: ‚Mut, Papa! Dies ist ein Uebergang – weiter nichts! In diesen Tagen muß sich etwas finden!‘ Und dieselbe sorglose Miene den guten Freunden gegenüber: nur immer unbefangen thun – nur sich um Gottes willen nichts merken lassen!

Eine furchtbare Ueberwindung hat’s mich gekostet, mich endlich meinen nächsten Freunden, denen wenigstens, die ich dafür hielt, zu offenbaren, ihnen vollen Einblick in unsere bedrängte Lage zu gewähren und ihren Rat, eventuell ihre Hilfe, in Anspruch zu nehmen. Ich machte die alte Erfahrung! Ich erhielt lebhafte Zusicherungen aufrichtiger Teilnahme, Versprechen, zu deren Erfüllung es nicht kam, schließlich begegnete ich frostigen Gesichtern. Der letzte Versuch, den ich unternahm – ohne jede Hoffnung, muß ich hinzufügen – brachte ein Resultat. Der Vater eines jungen Mannes, den ich vom Ruderklub her [588] kannte, war gerade im Zimmer des Sohnes anwesend, als ich diesem mein Anliegen vortrug. Ich that es mit einem gewissen desperaten Humor, der mich die Gegenwart des mir ziemlich fremden älteren Herrn als etwas Nebensächliches übersehen und die ganze Sache als den letzten Akt einer ausgepfiffenen Tragikomödie betrachten ließ. Aber der Vater des jungen Sportsman war ein Menschenkenner; er stellte einige Fragen an mich, die ich, in meiner verzweifelten Stimmung, mit einer geradezu waghalsigen Offenheit beantwortete, und bot mir dann kurzerhand eine Stelle in seinem Comptoir an. Ich starrte ihn an, als ob er chaldäisch mit mir redete, aber er wiederholte sein Anerbieten mit dem Zusatz: es sei freilich eine Art Experiment für uns beide, er habe den Versuch zu wagen – ich möge dasselbe thun!

So bin ich vom Rennsattel herunter, um das Kapellmeisterpult herum, auf den Comptoirstuhl hinaufgekommen, und ich mußte meinem Schöpfer danken, daß ich noch da hinaufgekommen bin. Mein Prinzipal merkte bald, daß ich viel guten Willen und ernsten Eifer, aber nicht die Spur Talent und Neigung für meinen neuen Beruf besaß. Die notwendigen Elemente, den gebräuchlichen kaufmännischen Briefstil eignete ich mir zur Not an, rechnete auch nicht zu schlecht, aber mir fehlte aller und jeder Geschäftssinn. Mein Prinzipal sah das recht gut, sah auch, daß ich mir alle Mühe gab, den alten Menschen aus- und einen neuen anzuziehen, und hatte Nachsicht mit mir. Dennoch war er gewiß seelenfroh, als ihm ein Zufall half, mich nach nahezu zwei Jahren loszuwerden. Er stand, da er ein ausgebreitetes Getreidegeschäft hatte, in Verbindung mit vielen namhaften Firmen – unter ihnen befand sich A. T. von Hofmann, Kolonie Josephsthal. Ich hatte im Auftrag meines Chefs dorthin zu schreiben und unterzeichnete daher außer mit unserer Firma auch noch mit meinem eigenen Namen. Ich war gespannt, zu sehen, ob Tante Kathis Gatte sich meiner noch erinnern und sich zu unserer Verwandtschaft bekennen würde!“

„Warum wendeten Sie sich nicht gleich an meinen Vater, als Sie in Verlegenheit waren?“ fragte Alix mit etwas unsicherer Stimme.

„Sie vergessen, daß es damals gar nicht in meiner Absicht lag, Kaufmann, Comptoirist zu werden. Irgend eine einigermaßen lohnende Beschäftigung wollte ich …. mußte ich haben, daher wandte ich mich an meine sogenannten Freunde. Ich hätte Musikkritiker, Mitarbeiter an einem guten musikalischen Blatt werden mögen, daneben ernste Studien treiben: meine Freunde versagten. Tante Kathis Gatten aber um eine Geldunterstützung, eine namhafte noch dazu, anzugehen – ihn, den ich ganz aus den Augen verloren hatte, dem ich mit meinen Anlagen und Wünschen vollkommen fremd war .…. das konnte mir wahrlich nicht in den Sinn kommen!

Aber Baron von Hofmann erinnerte sich meiner. Er schrieb an mich und an meinen Prinzipal, kurz und bündig: es würde ihn interessieren, Näheres über mich und mein Ergehen zu hören. Mich fragte er, ob mir meine Stellung zusage, und meinen Prinzipal, ob er mit mir zufrieden sei.

Ich antwortete sehr aufrichtig und bat meinen Chef, ein Gleiches zu thun, nichts zu beschönigen oder zu mildern. Ich sagte offen, meine Neigung und Begabung gehörten einzig der Musik, ich sei Buchhalter geworden, weil ich samt meinem Vater leben mußte und sich nichts anderes für mich fand. Mein Prinzipal gab mir seinen Brief an Herrn von Hofmann zu lesen. Er stellte mir als Mensch ein überaus günstiges Zeugnis aus, nannte mich einen ehrenwerten Charakter, eine energische Natur, die sich jeden Tag aufs neue zwinge, einen Beruf auszuüben, dem er noch immer als Neuling angehöre.

Es traf nach drei, vier Tagen eine Antwort ein. Ihr Herr Vater ignorierte die Künstlernatur und die Liebe zur Musik vollständig, aber er bot mir eine Buchhalterstelle bei seiner neugegründeten Dampfschneidemühle an, und zwar mit erheblich höherem Gehalt, als ich bisher bezogen hatte. Mein Chef redete mir eifrig zu, mein Vater war Feuer und Flamme für die neue Stellung …. ich selbst – nun, was nützt es, seine Empfindungen zu zerfasern? Ich kam hierher, und hier bin ich noch heute!“

„Standen Sie gut mit meinem Vater?“

„Ich muß bekennen: ich stand gar nicht mit ihm! War er enttäuscht über mich? Hatte er doch mehr und Besseres erwartet? Flößte ihm meine Erscheinung, mein Wesen keinerlei Sympathie ein? Ich sah ihn zu Anfang selten, dann immer weniger, endlich gar nicht mehr, so daß ich mir einbilden konnte, nicht mehr Herrn von Hofmann zu meinem Vorgesetzten zu haben, sondern nur noch Herrn Oberingenieur Harnack, denn nur mit diesem bekam ich es noch zu thun. Es wunderte mich übrigens nicht, von seiten meines wirklichen Prinzipals keine besondere Beachtung zu erfahren: er war ein hervorragender Geschäftsmann, ich war es nicht, er arbeitete mit Freudigkeit, ich that es, weil ich es mußte. In meinen Erholungsstunden trieb ich Musik und suchte in dieser Trost. Aber es ist ein unvernünftiger Kampf, den ich kämpfe, es ist ein aussichtsloser dazu. Wohl kann ich jetzt des Abends ein paar Stunden spielen, ich kann mir musikalische Blätter halten, ich kann, wenn ich es vor Sehnsucht nicht länger ertrage, zu einer guten Oper, zu einem Konzert oder Musikfest fahren, aber gerade weil ich mich wieder im Zusammenhang mit der Musik fühle, sehe ich mit jedem Tag deutlicher, um was ich mich gebracht habe!“

„Unwiederbringlich?“ fragte Alix eindringlich.

„Ich fürchte – ja, ich glaube es sogar zu wissen. Schon die Rücksicht auf meinen Vater –“

„Sie haben Ihren Vater bei sich?“

„Nein, er lebt in Greifswald, und ich besuche ihn dort des öftern. Wir taugen nicht mehr zum Zusammenleben, wir beiden, seit dem Verlust unseres Vermögens. Einer beobachtet heimlich den andern, bedauert und beklagt ihn, möchte ihm helfen und kann nicht – das regt und reibt auf. Auch der gute Papa, trotzdem er nicht darbt, entbehrt vieles, was ihm das Leben geschmückt und interessant gemacht hat. Mich freut es, für meinen alten Vater sorgen zu können, aber ich wünschte, es geschähe auf andere Weise und geschähe besser. Zum Schluß, Baroneß, noch ein Bekenntnis: so lange Ihr Herr Vater lebte, hatte ich weniger das Gefühl des Geduldetseins, kam auch mit Harnack besser zurecht. Er konnte nicht an mich heran, so lange der Chef da war, der einen Uebergriff auch von seinen obersten und tüchtigsten Beamten niemals geduldet hätte. Seit Herrn von Hofmanns Tode glaubt er, im sichern Gefühl seiner Unentbehrlichkeit – und ich halte ihn in der That für hervorragend tüchtig und für die Werke notwendig! – solche Vorsicht nicht mehr nötig zu haben. Er macht mir bei jeder, auch der kleinsten Gelegenheit sein hundertfaches Uebergewicht fühlbar, er spielt den Herrn, und das empört und reizt mich. Ich war früher schon zuweilen nachlässig in meiner Arbeit, unvorsichtig in meinen Aeußerungen – ich bin es in letzter Zeit mehr denn je gewesen. Ich hatte das Gefühl, va banque zu spielen. Gelebt muß werden, schon um des Vaters willen, aber hier wollte ich nicht mehr leben, so lange ein Harnack mein unmittelbarer Vorgesetzter ist! Baroneß waren so gütig, mir zu sagen, ich könnte bleiben …. ich, nachdem ich meine ganze Lebens- und Leidensgeschichte mit viel zu großer Ausführlichkeit erzählt habe, muß jetzt dennoch, mit allem Dank für die mir erwiesene Geduld und Nachsicht, nochmals sagen: ich möchte gehen! Ich bitte Baroneß dringend und inständigst, mich nicht mißzuverstehen!“

Alix sah in sein erregtes Gesicht, in diese Augen, die jedes Empfinden so treu wiederspiegelten; sie mußte fast lächeln über die Mühe, die er sich gab, sich selbst und seine Leistungen in ihren Augen herabzusetzen, nur um seinen Wunsch zu erreichen.

„Sie haben keine andere Ursache, sich von hier fortzuwünschen, als nur Herrn Ingenieur Harnack und Ihr Verhältnis zu demselben?“ fragte sie nach kurzem Ueberlegen.

Sein Gesichtsausdruck bekam etwas Unsicheres, als er, nach einer merklichen Pause, mit bedeckter Stimme antwortete: „N – – nein! Nicht – nicht – daß ich wüßte!“

„So müssen wir trachten, Ihre Stellung derartig zu gestalten, daß Sie mit dem Ingenieur nicht weiter in Berührung kommen. Sie könnten bei der Oelmühle Beschäftigung finden. Selbstverständlich wäre ich bereit, jede etwaige Gehaltsaufbesserung, die Ihnen wünschenswert sein könnte, anstandslos zu ….“

Hagedorn ließ sie nicht zu Ende reden. Mit einer energischen Handbewegung schnitt er ihr den Satz entzwei:

„Verzeihung – so dürfen Baroneß nicht sprechen! Nein, nein, ich kann nichts zurücknehmen! So gewagt es klingen mag: [589] Baroneß dürfen nicht! Weil Sie über große Mittel verfügen und ich ein Anverwandter der Familie bin, darum darf ein Mann wie ich nicht überreichlich für Leistungen belohnt werden, die herzlich leicht wiegen. Schon das mir von Herrn von Hofmann bewilligte Gehalt erschien mir, diesen meinen Leistungen gegenüber, viel zu groß, und nur die Rücksicht auf meinen Vater nötigte mich, es anzunehmen ... es nochmals erhöhen, das hieße, mich demütigen, und ich denke mir, das können Baroneß nicht wollen!“

„Nein, ich will es nicht!“ sagte sie rasch und stand auf.

Sie waren beide rot geworden während der letzten Minute und sahen aneinander vorbei, während jeder von ihnen dasselbe dachte. Das junge Mädchen erfüllte der Gedanke, diesem Mann Gehalt auszuzahlen, seine Vorgesetzte zu sein, mit unendlich peinlicher Verlegenheit, und er hatte kein anderes Empfinden, als ein beinahe zorniges Auflehnen: Warum sucht sie mich zu halten? Ich will nicht bei ihr in Lohn und Brot stehen, ich will nicht! Und wenn ich mich jetzt füge, um nicht allzusehr den Schein der Undankbarkeit auf mich zu laden .... auf lange wird es nicht sein! Was mir gegen die Natur geht, das kann ich einfach nicht ertragen!

Abschiednehmend verneigte er sich: „Baroneß haben mein Schicksal einstweilen besiegelt – ich unterwerfe mich!“

„Nur einstweilen?“ versuchte Alix zu scherzen, aber es kam nicht ganz ungezwungen heraus. „Schon gut,“ fuhr sie sich beschwichtigend fort. „Jedenfalls wird also einstweilen“ – sie betonte das Wort absichtlich – „mein Vetter Cecil Whitemore meinem Vetter Raimund Hagedorn seine neue Stellung und deren Pflichten klarlegen!“

Wieder war in ihr stolzes Gesicht ein zarter Rosenhauch gestiegen, als sie seinen Namen und die vertrauliche Bezeichnung Vetter aussprach. Seine Mienen, in denen Zorn und Verlegenheit gekämpft hatten, hellten sich plötzlich auf, und der konventionelle Handkuß fiel, als er sich nun verabschiedete, etwas weniger förmlich aus, als er beabsichtigt hatte. (Fortsetzung folgt.)


Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Otto von Bismarcks Lebensgang.

Mit Bildnissen und Ansichten seiner Heimstätten.

 (Schluß.)

Letzte Lebenszeit.

Der Tod Kaiser Wilhelms des Ersten am 9. März 1888, dessen Kunde Fürst Bismarck unmittelbar danach in tiefster Ergriffenheit dem Reichstag überbrachte, bedeutete für ihn selbst eine verhängnisvolle Schicksalswendung. Dem Tode des ersten Kaisers folgte die Tragödie der „hundert Tage“, während deren es dem todwunden Kaiser Friedrich vergönnt war, die Krone des Reiches zu tragen, dessen Errichtung er als siegreicher Heerführer durch unvergeßliche Thaten mit herbeigeführt hatte. Und zwei Jahre später, am 18. März 1890, zwang ein tieftragischer Konflikt, in welchen die Anschauungen des alten Kanzlers von seinen Pflichten und Rechten mit den Plänen und Wünschen des jugendlichen zweiten Erben der Kaiserkrone gerieten, den Einiger der Nation zum Rücktritt von seinen Aemtern; unter Kundgebungen bewegtester Teilnahme, die ihm die Bevölkerung der Reichshauptstadt darbrachte, verließ er am 29. März Berlin, um fortan in der friedlichen Stille des Sachsenwaldes seine Tage zu verbringen. Unfreiwillig sah er sich nun im Besitze der Ruhe und im Genuß der ländlichen Abgeschiedenheit, die er in den Jahren seines Wirkens an der Spitze der Staatsgeschäfte sich so oft als höchstes Glück ersehnt hatte, und die Resignation, mit welcher einst der alternde Goethe den Spruch niederschrieb: „Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle“, forderte das Geschick auch von ihm, dem Manne der That, dessen Geist in ungebrochener Kraft nach weiterer Bethätigung im Dienste des Vaterlandes verlangte.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0589.jpg

Der Hof.

Straßenansicht. 

Die „Obere Saline“ in Kissingen.
Nach Photographien gezeichnet von H. Nisle.

Es liegt außerhalb des Rahmens dieses Erinnerungsbildes, auf die Motive einzugehen, welche dieses Schicksal bedingten. Die Tragik desselben ist von allen Zeitgenossen miterlebt worden. Sie erhob aber auch Bismarcks Charakterbild schon zu seinen Lebenszeiten [590] immer mehr über Haß und Gunst der Parteien, mit denen seine Politik jeweils im Kampf gestanden hatte. Das menschliche Mitgefühl erweiterte von Jahr zu Jahr den Kreis seiner Verehrer; das starke urdeutsche Gemütselement seines Wesens entfaltete sich jetzt in all seiner gewinnenden Liebenswürdigkeit ungehemmt, nun er sich als Privatmann in bedeutsamen Ansprachen an die Vertreter der verschiedensten Volkskreise wandte, die von überall her zu ihm gepilgert kamen. In großartigen Kundgebungen der Dankbarkeit der von ihm geeinten Nation fand das tragische Geschick, das auf Bismarcks letzte Lebenszeit dunkle Schatten warf, seine Verklärung.

Die Schloßterrasse zu Friedrichsruh, dann jene im Schlosse zu Varzin, und endlich der Hof der Oberen Saline zu Kissingen, das waren die Rednerbühnen, von denen der greise Staatsmann noch zur Welt sprach, nachdem er seinen amtlichen Platz an den Ministertischen des Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses verlassen hatte. Da scharten sich um ihn jene Massenbesuche, die, ohne Beispiel in der Geschichte, oft von weither in tagelangen Reisen zu ihm strömten, aus Schwaben und Baden, aus der Pfalz, Hessen und Thüringen, aus Schleswig-Holstein, Lübeck, Oldenburg, Mecklenburg, aus Lippe-Detmold, Braunschweig, Bayern, aus Posen und Westpreußen – aus fast allen Teilen des Vaterlands.

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[v. Bismarck, 7 Juli 1890]

Bismarck selbst ist in den Jahren nach seinem Rücktritt wenig mehr gereist. Nur die Bäder von Kissingen suchte er bis 1893 regelmäßig auf, wie er es schon früher gethan, nach dem guten Erfolg, den der erste Besuch gehabt hatte. Vom Jahre 1876 an bewohnte er hier die „Obere Saline“, das alte Badeschloß der Würzburger Bischöfe, dessen ganze Anlage ihn an die heimischen Gutshöfe in Pommern und der Mark erinnerte und ihm schon darum sympathisch war. Gerade die letzten Jahre, in denen er Kissingen besuchte, um im Badehaus der „Unteren Saline“ in seinen Quellen zu baden, machten den gartenartigen Hof der „Oberen“ zum Schauplatz großartiger Versammlungen von Hunderten, ja Tausenden, die von fernher gekommen waren, um dem Gründer des Reichs zu huldigen. Als Bismarck im Juni 1892 an der Hochzeit seines ältesten Sohnes Herbert in Wien teilgenommen, kehrte er auf der Rückkehr wieder in Kissingen zur Kur ein, und wie schon die ganze Fahrt für ihn ein Triumphzug gewesen war, so wurde er jetzt hier Gegenstand von immer neuen Ovationen, und mächtig hallten im Vaterland die Ansprachen wieder, welche er im Hof der Oberen Saline an die Scharen seiner Verehrer hielt, die aus den Ländern des deutschen Südens sich bei ihm einfanden. In Kissingen war es auch, wo ihn im Sommer 1893 jene Krankheit befiel, auf deren Nachricht hin Kaiser Wilhelm II sich telegraphisch nach dem Befinden des Fürsten erkundigte und ihm eins der kaiserlichen Schlösser als Wohnung anbot. Am 26. Januar 1894 war Bismarck dann einer Einladung des Kaisers folgend zu eintägigem Besuch nach Berlin gekommen. Wie ein Aufatmen nach langer quälender Spannung ging es durch das weite deutsche Vaterland, und bei Gelegenheit des 80. Geburtstags gelangte dann diese Freude in einer Weise [591] zum Ausdruck, die wohl einzig in der Geschichte dasteht. Kaiser Wilhelm II war an der Spitze der höchsten Vertreter des deutschen Heers und der deutschen Marine nach Friedrichsruh gekommen, Vertreter der höchsten Regierungskörperschaften des Reichs und der verschiedensten Volkskreise brachten ihre Glückwünsche dar, Wochen, ja Monate hindurch lösten die Besuche und Deputationen einander in Friedrichsruh ab. Und so oft der Fürst in diesen Tagen das Wort ergriff, leuchtete aus dem resignierten Grundton das stolze Bewußtsein dessen hervor, was er zum Besten der Nation erstrebt und geleistet hatte. Als der „getreue Eckart“ der Nation mahnte er sie, Das festzuhalten und treu zu pflegen, was er und alle, die an der Begründung des Reiches teilgenommen, in schweren Kriegszeiten durchgeführt, damit es zum Hort der Einheit und des Friedens des deutschen Volks und seiner Fürsten werde.

Im großen und ganzen verbrachte der Altreichskanzler die letzten Jahre im Behagen des Familienkreises zu Friedrichsruh, umhegt von sorgender Liebe, inmitten lieblicher Enkel und treuer Freunde, ein würdiger Patriarch unter den Seinen. In den Tagen seiner pflichtenreichen Amtsführung hatte er geklagt: „Ich möchte wohl einmal gern ein volles Jahr keinen Menschen weiter sehen als meine Frau, meine Kinder und Enkel; für die sollte man doch eigentlich leben!“ – jetzt war ihm noch eine Reihe von Jahren vergönnt, dieses Glück zu genießen. Sie brachten ihm als Vater und Großvater gar manchen Anlaß zu festlicher Freude. Graf Herbert, den er sich zum Stellvertreter im Amt herangezogen hatte und der gleichzeitig mit ihm 1890 aus seiner Stellung geschieden war, vermählte sich am 21. Juni 1892 mit der Gräfin Marguerite Hoyos; am 22. November 1893 wurde er Vater eines Töchterleins, dem am 4. März 1896 ein Schwesterchen und am 25. September 1897 ein Bruder folgte. Graf Wilhelm, seit dem 6. Juli 1885 vermählt mit Sibylle von Arnim, bescherte ihm nach drei Enkelinnen am 26. Mai 1896 den ersten Enkelsohn, Wilhelm Nikolaus, der in Königsberg zur Welt kam. Mit Genugthuung sah der Fürst die strammen Söhne seiner Tochter Marie heranwachsen, welch letztere, nachdem ein im Jahre 1875 geschlossener Herzensbund mit Graf Wend von Eulenburg durch den Tod des Verlobten ein jähes Ende gefunden, am 6. November 1878 dem Grafen Kuno zu Rantzau die Hand gereicht hatte. Derselbe war bis zum Sommer 1895, wo er ganz nach Friedrichsruh übersiedelte, Gesandter im Haag. Auch Malwine von Arnim, Bismarcks geliebte Schwester, die Vertraute seiner Jugend, mit der er einst war „wie mit einer Braut“, verkehrte viel im Hause. Dazu kamen als befreundete Nachbarn Herr und Frau von Merck, der treue Hausarzt Schweninger, Dr. Chrysander, der Assistent des Arztes und zugleich Sekretär des Fürsten.

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Fürst Bismarck am Sarge seiner Frau in Varzin.
Nach einer Originalzeichnung von H. Haase.

Früher gehörte auch Lothar Bucher zum vertrauten Kreise, bis der Tod ihn 1892 von der Seite seines Meisters riß, dem er so lange ein gescheiter, [592] gewandter, kenntnisreicher Gehilfe gewesen war. In den lebensvollen Zeichnungen, welche C. W. Allers in den Bänden „Bismarck in Friedrichsruh“ und „Unser Bismarck“ vereinigt hat, findet sich gar reizvoll das glückliche Familienleben veranschaulicht, das sich in den ersten Jahren unseres Jahrzehnts in Friedrichsruh entfaltete, zumal an den Geburtstagen des Fürsten, welche nach altem Brauch von unzähligen Verehrern des Altreichskanzlers benutzt wurden, ihm ihre Liebe durch Geschenke und Ovationen zu bezeigen.

Jetzt hatte der Weltberühmte auch Muße, den Ansprüchen der Kunst an ihn zu genügen. In den Jahren, da sein Wille der Geschichte neue Bahnen wies, fand er dazu wenig Zeit. Die gewaltige Heldengestalt, die, auf den Pallasch des Kürassiers gestützt, dem besiegten Frankreich den Frieden diktierte, ist wohl unzähligemal dargestellt worden, aber gar selten unmittelbar nach dem Leben. Wie die Zeit, fehlte ihm damals auch die Neigung dafür, den Künstlern, die ihn malen wollten, als Modell zu dienen. Das erste Bismarckbild Lenbachs wurde 1879 für die Berliner Nationalgalerie gemalt. Nur schwer war Fürst Bismarck zu gewinnen, daß er dem Maler die nötigen Sitzungen gewährte; die Weihnachtszeit in Friedrichsruh wurde dazu benutzt. Nach seinem Rücktritt war der Fürst weniger zurückhaltend; ein großer Teil der Bismarckbildnisse Lenbachs stammt aus den letzten acht Jahren.

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Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Fürst Bismarck im Jahre 1891.
Nach dem Gemälde von F. v. Lenbach.

Eines derselben, aus dem Jahre 1891, das den Altreichskanzler mit dem Kürassierhelm auf dem Haupte in wunderbar lebensvoller Charakteristik darstellt, geben wir in nebenstehendem Bilde wieder. Aus dem Jahre seines Rücktritts stammt die photographische Aufnahme, welche ihn in Civil zu Pferd darstellt (s. S. 590). Das dritte der Porträts, auf S. 593, zeigt ihn auf einem der Gartenstühle in Friedrichsruh sitzend, bewacht von seinen treuen Doggen. So, mit dem schwarzen breitrandigen Schlapphut auf dem Haupte, im bequemen, aber festanschließenden Gehrock, die Rechte auf einen kräftigen Stock gestützt, sah man ihn oft in seinem Parke rasten oder gedankenvoll durch die Laubgänge seines Sachsenwalds schreiten, und so hat sich auch die äußere Erscheinung des Altreichskanzlers dem deutschen Volksgemüte zuletzt eingeprägt. Ueber Bismarcks Antlitz äußerte sich ein scharfer Beobachter, wie folgt: „Es ist ein seltenes Gesicht, das allenthalben Aufmerksamkeit erregen würde, selbst wenn es nicht einem Manne gehörte, dessen Thaten die moderne Welt verändert haben. Es sind Züge, die man nicht wieder vergißt ... In längst vergangenen Tagen war dies Gesicht auffallend klar, voller Fröhlichkeit, ja selbst Ausgelassenheit; jetzt ist es ernst geworden, beinahe feierlich, mit einem Ausdruck unerschrockenster Energie und Kühnheit. Die kahle Stirn, für den Phrenologen ein Gegenstand der Bewunderung, ist von ungewöhnlichem Umfang. Die großen und hervortretenden blauen Augen scheinen, ohne zu blinzeln, in die Sonne sehen zu können; sie sind nicht schnell, sondern wandern langsam von einem Gegenstand zum andern. Aber wenn sie auf einem menschlichen Antlitz ruhen bleiben, werden sie in so hohem Grade forschend, daß mancher, welcher diesen Blick auszuhalten hat, sich unbehaglich fühlt.... Wenn er unter seinen wenigen persönlichen und intimen Freunden sitzt, frei von allem Zwang, seine lange Pfeife rauchend, den Kopf seines großen Hundes streichelnd und mit halber Aufmerksamkeit der in gedämpftem Ton geführten Unterhaltung zuhörend, legt es sich über sein kaltes Gesicht wie ein leichter, durchsichtiger Schleier, hinter welchem seine harten Züge weicher werden und einen ungeahnten Ausdruck von gedankenvoller Traurigkeit annehmen. Denn obgleich einer der sachlichsten Menschen, welche die Welt je gekannt hat, birgt er in seiner Brust eine Ader tiefen Gefühls. Und so gewiß es ist, daß dieses Gefühl nichts gemein hat mit krankhafter Sentimentalität, so gewährt es ihm doch die Möglichkeit, alles nachzuempfinden, was ein Herz während der Reise durch das Leben zu ertragen hat.“

Leider wurde dem Fürsten auch der andauernde Genuß des Landaufenthaltes durch körperliche Leiden immer wieder beeinträchtigt. Seit jener Erkrankung in Sankt Petersburg, welche der Jagdunfall in Skandinavien zur Folge hatte, ist der so reckenhaft gebaute eiserne Kanzler eigentlich nie mehr ganz gesund gewesen. Hauptsächlich quälten ihn neuralgische Schmerzen, begünstigt und gesteigert durch die ungeheure Arbeit und Verantwortung, die auf ihm lastete, nervöse Magenverstimmungen kamen hinzu, welche auch die Leber angriffen. Es ist bekannt, in welch verzweifeltem Zustand er sich befand, als anfangs der achtziger Jahre der Münchner Arzt Dr. Schweninger seine Behandlung übernahm, der denn auch den schwer angegriffenen Körper des Fürsten wieder in eine leidliche [593] Verfassung brachte. Ohne Störungen, zum Teil recht schwerer Natur, ging es jedoch auch in der Folgezeit nicht ab. Im Sommer 1893 war der Fürst so krank, daß man das Schlimmste zu fürchten begann; aber noch einmal brach seine starke Natur sich Bahn durch alle Schmerzen, und der beinahe Achtzigjährige faßte neuen Lebensmut und neue Lebenskraft.

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Fürst Bismarck im Jahre 1891.
Nach einer Photographie im Verlag von Strumper & Co. in Hamburg.

Erst der am 27. November 1894 in Varzin erfolgende Tod seiner innig geliebten Frau, die sich ihm in den Jahren nach seinem Rücktritt in ihrer ganzen Charakterstärke als treueste Gesinnungsgenossin bewährte, ließ in ihm selbst eine Sehnsucht nach dem Tode aufkommen, welche von Jahr zu Jahr zunahm. Er begann sich immer einsamer zu fühlen in dieser Welt. Immer seltener ergriff er das Wort, um seinen Rat geltend zu machen für die weitere Schicksalsgestaltung des Vaterlandes; immer häufiger wurden die Nachrichten aus Friedrichsruh von einem erschreckenden Rückgang im Gesundheitszustand des „Einsiedlers im Sachsenwald“. Sie beruhten auf Wahrheit. Und als im Oktober vorigen Jahres sich Ohnmachtsanfälle von anhaltender Natur einstellten, da wuchs in dem Kreise der Eingeweihten die bange Ahnung des nahenden Endes. Der letzte Anfall hatte die ganze Familie, die auf das Schlimmste gefaßt war, um ihn versammelt. Aber noch einmal gelang es den Bemühungen Schweningers, die Sorgen zu verscheuchen; Donnerstag, den 28. Juli, war eine Besserung eingetreten, welche dem Fürsten erlaubte, bei Tisch zu erscheinen. Lebhaft und gut gelaunt, nahm er an der Unterhaltung teil, und nach der Mahlzeit griff er nach langer Zeit wieder zur Pfeife. Als er dann am Abend ernstlich gemahnt wurde, sich niederzulegen, antwortete er im Scherze: „Mein Gott, soll ich schon schlafen gehen?“ Die Familie und Schweninger hielten schon aufatmend auch diesen Anfall für gebrochen und der letztere glaubte daher, dem Ruf zu einem Patienten in Sachsen folgen zu können. Doch in seiner Abwesenheit trat plötzlich eine starke Verschlimmerung ein. Die besorgte Familie rief telegraphisch den abwesenden Arzt dringend zurück. Aber als er am Sonnabend, dem 30. Juli, in später Abendstunde in Friedrichsruh wieder eintraf, hatte der Leidende beinahe den schweren Todeskampf überstanden.

Fürst Bismarck starb umgeben von den Seinen. Als seine Tochter bei einem der letzten Anfälle der ihn bedrückenden Atemnot seine Stirn trocknete, sagte er leise: „Danke, mein Kind“ – dies waren seine letzten Worte. Es war nahezu elf Uhr, als er entschlief. Schweninger, der ihm noch die Atmungsbeschwerden hatte lindern können, konstatierte erschüttert den Tod. Der Fürst lag, wie er zu schlafen pflegte, leicht mit dem Kopf nach links geneigt. Der Gesichtsausdruck war friedlich und mild. Kindesliebe gab dem Toten eine weiße Rose in die Hand, wie er eine solche an sich genommen hatte aus der Fülle des Blumenflors, der nach dem Hingange seiner Frau deren Sarg geschmückt hatte.



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Der Blinde von Dausenau.

Novelle von Paul Heyse.


Vor etlichen Jahren hatte mir mein Arzt, um mir die Nachwehen einer hartnäckigen Influenza vom Halse zu schaffen, eine Kur in Ems verordnet.

Nur mit Widerstreben hatte ich mich in die Verbannung schicken lassen, obwohl der berühmte Kurort, als ich früher einmal bei einer Fahrt durch das waldige Lahnthal an ihm vorüberkam, mit den blanken Häusern und zierlichen Kirchtürmen zwischen schattigen Parkanlagen mich sehr einladend angelacht hatte. Aber Badeorte, mögen sie noch so anmutig gelegen sein, haben für meine Vorstellung immer etwas Unheimliches, nicht so sehr der Kranken wegen, die dort auf Schritt und Tritt an das vielfache Elend der armen Menschheit erinnern, – tragen doch die meisten den Schimmer der Hoffnung auf dem Gesicht, der selbst die blässesten Leidensmienen verklärt –; die gesunde einheimische Bevölkerung erregt mein Mißbehagen, da ich in all den guten Bürgern nur Gastwirte, Kellner und Hausknechte zu sehen glaube, die außer der „Saison“ keinen eigentlichen Lebenszweck haben. Scheinen sie doch in der That, sobald der letzte Kurgast abgezogen ist, in eine Art Winterschlaf zu versinken und sich in ihre Häuser zurückzuziehen, wie Spinnen, wenn der Herbstregen die letzte Fliege weggeschwemmt hat, verdrossen in ein warmes kleines Loch kriechen, dort die Langeweile der nahrungslosen Wintermonate zu verträumen. Erst die neue Frühlingssonne lockt sie aus ihren Verstecken wieder hervor. Die Hausbesitzer der Badeorte öffnen die Fenster ihrer möblierten Zimmer, sonnen die Betten, waschen die Vorhänge und fegen den Winterstaub aus allen Winkeln und Gängen, wie die betriebsamen Spinnen sich eifrig daran machen, neue zierliche Netze zu weben.

Ich weiß zwar, dies ist eine übertriebene Vorstellung. Auch in Badeorten verkürzt man sich während der geschäftslosen Jahreshälfte die Zeit mit allerlei Lustbarkeiten, so gut wie andere Kleinstädter, vielleicht nur noch besser, da man aus den Wassern der Quellnymphe hinlängliches Gold dazu gewaschen hat. Immerhin erscheinen die Straßen verödet, an vielen Fenstern [594] bleiben die Jalousien geschlossen, und auf den Gartenwegen um die Trink- und Badehallen, die im Sommer peinlich geharkt und mit gelbem Kies bestreut waren, liegt der Blätterabfall vom Herbst her, kaum hin und wieder an den Rand gekehrt, während in dem Pavillon, aus dem die unermüdliche Kurmusik zu seufzen und zu schmettern pflegte, nur das laute Gezwitscher und Gezänk der Spatzen hervordringt, die sich unter dem zierlichen Eisendach vor dem winterlichen Unwetter zu bergen suchen.

Dies alles aber war schon überwunden, und die Stadt Ems hatte sich wieder aufs beste herausgeputzt, ihre Gäste zu empfangen, als ich eines schönen Abends dort eintraf, um meine Strafzeit anzutreten.

*  *  *

Es war in der zweiten Hälfte des Mai. Man hatte mich so vielfach vor der schweren Sonnenglut gewarnt, die in den Sommermonaten sich über den tiefen Thalgrund lagere, daß ich meine Kur so früh als möglich beginnen wollte.

Als ich die Brücke betrat, unter der die gelblichen Wasser der Lahn träge zum Rhein hinabflossen, sah die Sonne nur noch mit einem letzten schiefen Blick über den niedrigen Höhenrand im Westen herein. Gleichwohl regte sich kein erfrischender Abendhauch, ein seltsam schwerer Dunst lag über Stadt und Fluß, aus dem zarten Laube der Alleebäume, die sich an beiden Ufern hinziehen, ließ sich nicht die leiseste Vogelstimme vernehmen. Auch die wenigen Menschen, denen ich begegnete, schienen unter dem Druck von sieben Atmosphären dahinzuwandeln, und ich glaubte in ihren Blicken etwas wie Mitleiden zu lesen, daß wieder ein armer Sünder den ersten Fuß in sein schwüles Zellengefängnis zu setzen im Begriff sei.

Man hatte mir ein Hotel auf dem rechten Lahnufer empfohlen, nahe beim Kurhause. Ich fand dort aber nicht eine Wohnung, wie ich sie suchte, die ruhigeren Zimmer waren vorausbestellt, der Schwarm von befrackten Kellnern, der mich umringte, scheuchte mich bald wieder hinaus. Als ich dann die lange Zeile der Häuser hinunterschritt, die dicht an die steile, siebenfach zerklüftete Felswand der sogenannten „Bäderlei“ angebaut sind, an jedem ein oder mehrere Schilder mit den Inschriften „Hotel“ oder „Pension“, machte ich endlich vor einem sauberen Hause ziemlich am äußersten Ende der Straße Halt, das mich mit seinen Balkonen und blanken Fenstern vertraulich ansah. Hier fand ich denn auch alles, was ich wünschte, zwei geräumige Zimmer nach Norden und Süden gelegen, letzteres auf einen Balkon sich öffnend, von dem aus man über die Wipfel der niedrigen Kastanienbäume hinweg den Fluß verfolgen konnte, wie er an der Brüstungsmauer der Kuranlagen vorbeifloß, gegenüber die hohen Dächer der Gasthöfe auf dem anderen Ufer. Das Haus wurde von einer Witwe geführt, die es mir als einen Vorzug rühmte, daß man hier oben auf dem Balkon jeden Ton der Kurmusik deutlich hören könne, wenn der Wind von Westen komme. Ich hütete mich, der guten Frau zu gestehen, daß mir dieser Vorzug eher als ein Nachteil erschien. Dreimal des Tages musikalischer Vergewaltigung durch die üblichen Tänze, Potpourris und Operettenouverturen wehrlos preisgegeben zu sein, däuchte mir nur eine Verschärfung meiner Einzelhaft zu sein.

Auch als ich hernach bei einem späten Umgang durch die Kuranlagen der Musik im Pavillon näher kam und gestehen mußte, daß sie, was das Programm und die Ausführung betraf, zu den besseren und vielleicht besten ihrer Art gehörte, fühlte ich mich gleichwohl nicht erschüttert in meiner Abneigung gegen diesen Zwangsgenuß, der nur einem Menschen zu allen Zeiten willkommen ist, der nicht „Musik hat in ihm selbst“. Statt auf diese vor dem Einschlafen ungestört lauschen zu können, mußte ich noch einmal aufstehen, um die der Schwüle wegen offengelassene Balkonthür zu schließen, durch die der Westwind abgerissene freche Töne eines Potpourris aus „Fatinitza“ bis in mein Hinterzimmer hereinschleifte.

Am andern Morgen begann ich dann zeitig meinen Kurpflichten obzuliegen und ließ mich dazwischen von einem freundlichen alten Herrn, der mir den frischen Ankömmling angesehen hatte, zu den historischen Plätzen in den Kuranlagen führen, mir den Stein zeigen, der die Stelle bezeichnet, auf der die letzte verhängnisvolle Begegnung König Wilhelms mit dem französischen Botschafter stattgefunden, die Lieblingswege des greisen Herrschers, sein Marmorstandbild in dem unglücklichen Civilanzug, mit den an noch trostloserer Phantasielosigkeit leidenden Reliefs.

Mein treuherziger Führer erzählte mir, daß er gerade in dieser Saison das Fest der fünfundzwanzigsten Wiederholung seiner Emser Kur feiere. Da er mir dies unter beständigem Räuspern, Aechzen und Krächzen mitteilte, konnte ich mich eines niederschlagenden Zweifels an der Heilkraft der berühmten Quellen nicht erwehren, so wenig wie die Ehren, die die Kurvorsteher einem solchen Jubilar zu erweisen pflegen, mir besonders verlockend schienen.

Im übrigen, nachdem der erste beklommene Eindruck verwunden war, ließ sich das Leben an diesem Verbannungsort leidlich an, und da ich mich meiner Kur in frühester Morgenstunde entledigte, hatte ich in den langen Stunden des Vormittags die schönste Muße, mich in eine Arbeit zu vertiefen, die mir Einsamen über die harten Anfechtungen des Heimwehs hinweghalf.

Schwerer freilich waren die Nachmittage zu überstehen.

Die rötlichen Blütendolden der Kastanien schienen dann wie kleine brennende Kandelaber die lastende Schwüle nur noch zu erhöhen. An Spazierengehen war vor fünf oder sechs Uhr nicht zu denken. Blieb nun freilich die Flucht in die Bergwälder hinauf, die steile Drahtseilbahn, die auf die Höhe des Malbergs führt, oder die einsamen Pfade im Buchenschatten des Wintersbergs. Da aber die halbe Kurgesellschaft regelmäßig die Waldwege des Malbergs unsicher macht und die Waldeinsamkeiten des anderen Berges nur im Schweiß des Angesichts zu erklimmen sind, wagte ich mich erst, wenn die Nacht hereindämmerte, ins Freie.

Auch an den Ufern der Lahn stromaufwärts zu schlendern, war über Tag nicht ratsam, da die Sonnenglut in diesen schattenlosen Thalgrund von früh bis spät mit voller Macht hereintroff. Und doch lockte mich ein kleines altes Nest, nur etwa ein Stündlein lahnaufwärts gelegen, Dausenau geheißen, das ich von weitem malerisch am Flusse hingelagert sah. Eine kleine blanke Kirche mit wunderlich behelmtem Türmchen hob sich nahe dem Stadtthor über dem dunklen Häuserhaufen empor, und am anderen Ende stand ein plumper viereckiger Turm, der nach der Ostseite den Wächter machte.

*  *  *

Am ersten Tage also, da nach einem der häufigen Gewitter die Sonne nicht wieder hervortrat, sondern die feuchte Kühle über dem Fluß das Wandern am Ufer entlang erquicklich machte, trat ich den Weg nach Dausenau an.

Es war ein Sonntag, die Straße aber trotzdem nicht sehr belebt, da ein größeres Konzert am Kurhause auch die Bevölkerung der Umgegend dorthin gelockt hatte. So war es ganz still unter den jungen Kirschbäumchen, die am Rande der Chaussee über der hohen Uferböschung stehen. Der Gewittersturm hatte massenweise die noch unreifen Früchte abgeschüttelt, sie knirschten unter dem raschen Fußtritt, einzelne Tropfen sprühten noch hin und wieder auf meinen Hut herab. Drüben aus den Wiesen stieg ein leichter Nebeldunst, in dem die lang’ eingesogene Sonnenglut verdampfte, und über den Fluß herüber und hinüber schossen die Schwalben.

So war ich in meinen Gedanken die größere Hälfte des Weges hingeschlendert, als ich eine seltsame Figur bemerkte, die unter einer der hohen Pappeln stand, an einen Chausseestein gelehnt, barhaupt und unbeweglich wie ein steinernes Bild. Ein kleiner Mann in ärmlichem Anzug; seine beiden knochigen Hände hielten, auf den Griff des Stockes zusammengelegt, mit der Gebärde eines Almosenheischenden einen alten schwarzen Hut vor sich hin. Als ich näher herangekommen war, sah ich, daß es ein Blinder war. Die Augenhöhlen zwischen den geschlitzten rotgeränderten Lidern blickten erloschen ins Leere. Ueber den dichten Brauen wölbte sich eine hohe Stirn, die einmal von einem nachdenklichen Geist bewohnt gewesen sein mochte. Aber die hängende Unterlippe gab dem Gesicht einen stumpfsinnigen, fast blöden Ausdruck. Dazu schien der kleine Mann gegen alle äußeren Eindrücke unempfindlich zu sein. An seiner völlig durchnäßten braunen Jacke und den schwergetränkten Leinwandhosen erkannte ich, daß er nicht daran gedacht hatte, während des Gewittergusses ein schützendes Dach aufzusuchen, und da ich ihn freundlich anredete und ihm ein Geldstück in den durchweichten alten Hut warf, verzog er kaum merklich den breiten offenen Mund, über dem ein [595] graues Schnurrbärtchen sich emporsträubte, und antwortete auf keine meiner gutgemeinten Fragen.

Ich zweifelte nicht mehr, daß ich es mit einem Idioten zu thun hatte, den die Gemeinde von Dausenau hier an der Landstraße seinen Unterhalt erbetteln ließ.

Also ließ ich ihn, wo er war, und langte bald an dem alten Stadtthor an, dessen festes Mauerwerk dafür zeugte, daß vor Jahrhunderten dies kleine Stadtwesen darauf bedacht gewesen war, sich etwaiger räuberischer Ueberfälle kräftig zu erwehren.

Hiervon war freilich in den verwahrlosten, schlechtgepflasterten Gassen nichts mehr zu spüren. Die Einwohner schienen, nach allerlei Ackergerät, das herumlag, zu schließen, sich durch eine bescheidene Feld- und Wiesenwirtschaft zu ernähren, vielleicht durch die Bearbeitung einiger Weinberge, die zwischen den Felsen auf sonnigen Abhängen liegen mochten. Heute, am Sonntag, saßen sie vor ihren Häusern, nicht eben in den zierlichsten Feierkleidern, die Männer standen, kurze Pfeifen rauchend, in kleinen Gruppen plaudernd bei einander, auf einem etwas freieren Platze fand ein richtiger Hahnenkampf statt, dem eine lachende und hetzende Schar von Weibern und Kindern zuschaute. So war das kleine Nest bald durchwandert, und einigermaßen enttäuscht schlenderte ich unten auf dem schmalen Uferweg zurück um das Städtchen herum, das sich von hier aus freilich malerischer ausnahm. Der Gang hatte mich durstig gemacht, und ich wandte mich, die Böschung wieder ersteigend, einem Wirtsgärtchen dicht vor dem Thore zu, wo ich an sauberen Tischen unter jungen Bäumen allerlei Sonntagsgäste hatte sitzen sehen. An einem der wenigen noch unbesetzten nahm ich Platz und ließ mir ein Schöppchen von dem leichten Landwein bringen, an dem auch die meisten der anderen Gäste sich gütlich thaten.

Er hatte freilich so wenig Feuer, daß mich’s nicht wundern konnte, wenn er den guten Leuten nicht ins Blut ging und ihnen die Zungen löste. Von dem raschen rheinischen Temperament, dem „das Leben so lustig eingeht“, hatte ich in diesem Seitenthal überhaupt nichts wahrnehmen können. Das schien in der schwülen Luft zwischen den dichten Waldhöhen nicht zu gedeihen. Es war mir aufgefallen, daß auch die Brunnennymphen, die den Kurgästen die Becher füllen, fast alle ein bleiches, blutarmes Ansehen haben und zu einem mutwilligen Verkehr mit den Fremden nicht aufgelegt scheinen.

So auch die beiden Mädchen, die an einem Tische in meiner Nähe beisammensaßen und zu ihrer Tasse Kaffee ein Stück Topfkuchen zerkrümelten. Ich sah nur von der einen das volle Gesicht, ein Paar munterer schwarzer Augen unter einem schwarzen Strohhut mit einem riesigen Mohnblumenstrauß, ein etwas stumpfes Näschen und einen großen lachenden Mund mit blanken Zähnen. Während sie mit sichtbarem Behagen die kleinen Bissen des süßen Gebäcks verspeiste, hörte sie doch keinen Augenblick auf, in ihre Gesellin hineinzureden, so leise jedoch, daß ich nicht ein einziges Wort verstand, bis auf den Namen Lischen, den sie beständig einstreute. Sie trug ein geblümtes helles Kattunkleid, das ihre runde kleine Figur vorteilhaft zur Geltung brachte. Ich grübelte darüber nach, wo ich das Mädchen schon gesehen haben mochte. Zuletzt fiel mir ein, daß es in der Trinkhalle gewesen war, wo sie aber als Quellnymphe in der schwarzen Uniform mit dem weißen Schürzchen und in der Einförmigkeit ihrer Beschäftigung sich nicht so hübsch und lustig ausnahm.

Ein wenig blutarm erschienen ihre vollen Wangen auch jetzt in der freien Luft. Doch nicht so sehr wie die ihrer Freundin, die mir nur das feine Profil zukehrte.

Ein merkwürdiges Gesicht, wachsbleich und so regungslos wie ein gemaltes Heiligenbildnis, an das auch die wie im halben Traum gesenkten Augen erinnerten. Auch sie trug einen schwarzen Strohhut, doch nur mit einigen malvenfarbenen Schleifen aufgesteckt. Unter dem schmalen Rande fielen schlichte braune Haare, kurzabgeschnitten, bis auf den hohen Rand ihres Kattunkleides herab, aus dem ein schmaler weißer Leinwandkragen hervorsah. Alles verriet, daß das blasse Wesen auf seine Erscheinung nicht den geringsten Wert legte.

Auch dies Gesicht mußte mir schon irgendwo begegnet sein. Richtig! Am frühesten Morgen, wenn die Kurkapelle den Choral anstimmte, mit dem die Morgenmusik regelmäßig begann, hatte ich auf einer der Bänke, nahe bei dem Pavillon, in dem die Musiker saßen, immer an demselben Platz ein Mädchen bemerkt, das unverwandt zu dem Orchester hinstarrte. Ja, es war mir aufgefallen, daß ihr Blick sich stets auf einen der Spieler heftete, einen großen, breitschultrigen, sorgfältig geschniegelten jungen Mann, der die Bratsche spielte. Sein Gesicht mit den wasserblauen runden Augen und rosigen Backen hatte etwas von den geschminkten Wachsköpfen im Schaufenster kleiner Friseure. Wenn er pausierte, pflegte er mit einer langfingrigen weißen Hand das zarte blonde Schnurr- und Spitzbärtchen zu karessieren, oder den blanken Cylinder zu lüften und sich durch das lockige Haar zu fahren. Dabei sah er nie von dem Notenblatt weg und schien, so geckenhaft seine ganze Haltung war, von der stummen Huldigung des blassen Mädchens auf der Bank nicht die geringste Notiz zu nehmen.

War der Choral zu Ende, so erhob sich die sonderbare Schwärmerin mit einem Seufzer, ging langsam nach dem Ausgang des Kurgartens, warf von da aus noch einen Blick nach dem Pavillon zurück und verschwand in der Straße, die am Kursaal entlangführte.

Sie war offenbar nicht der Kur wegen hier, denn ich traf sie nie bei einer der Quellen, vielmehr schien sie die Tochter eines hier ansässigen Bürgers zu sein, vielleicht irgendwo in einer dienstbaren Stellung, worauf auch ihr sehr bescheidener Anzug deutete. So mochte sie nur in dieser frühesten Morgenstunde, wenn ihre Herrschaft noch schlief, einen Choral lang ihrer heimlichen Liebe nachgehen können. Obwohl sie mir aber, trotz der regelmäßigen Züge, nicht eben reizend erschien, für diesen Bratsche spielenden Adonis schien sie mir doch zu gut zu sein.

*  *  *

Ich überlegte eben, ob ich nicht meinen Platz verlassen und unter einem schicklichen Vorwande – es zog wirklich da, wo ich saß – mich dem Tisch der beiden Mädchen nähern und einen kleinen Diskurs anknüpfen sollte. Da trat ein Anderer an sie heran, ein guter Bekannter, wie es schien, da ihn die Kleinere lebhaft begrüßte und einlud, an ihrem Tische Platz zu nehmen. Die Andere aber neigte kaum merklich den Kopf, so daß ihr die braunen Haare bis an das Kinn vorfielen, stand dann sofort auf und zog ihre schwarzen Filethandschuhe an. Die Freundin sah sie mißbilligend an, wandte sich dann an den sehr verblüfft dreinschauenden jungen Mann, der ein Bürgerssohn aus einem guten Hause zu sein schien, und entschuldigte den raschen Aufbruch. Lischen habe so arg Kopfweh, sie hätten ohnedies soeben den Heimweg antreten wollen. – Ob er die Fräuleins begleiten dürfe, fragte er, immer auf das blasse, stumme Gesicht blickend. – Nein, es sei besser, sie gingen allein. Lischen könne das Sprechen im Gehen nicht vertragen. – So verneigte sich der junge Mann mit einer Beileidsmiene, stammelte einen verlegenen Wunsch „guter Besserung“ und sah, während er sich an dem leergewordenen Tische niederließ, mit schwermütigen Augen den beiden nach, die Arm in Arm das Wirtsgärtchen verließen.

Ich witterte etwas von einem kleinen Roman, dem ich gern auf die Spur gekommen wäre, bezahlte also meinen Wein und brach nach etwa fünf Minuten ebenfalls auf, entschlossen, die Freundinnen einzuholen und auf dem gemeinsamen Heimwege mich ihnen zu nähern.

Auch hatten sie noch keinen großen Vorsprung gewonnen, da sie sehr langsam gingen, die Größere wie ermüdet ihren Arm um den Nacken der Freundin gelegt, den Kopf gesenkt, jetzt aber auf die Reden der anderen allerlei erwidernd, was der Wind überm Flusse verwehte. Nur den Ton der Stimme vernahm ich, der schärfer war, als man dem feinen, blassen Munde zugetraut hätte. Sie stritten offenbar über irgend etwas, und das Heiligenbildchen brauchte seine Zunge tapfer zu seiner Verteidigung.

So waren wir ein paar hundert Schritte gegangen, ich hinter ihnen in einem Abstand, der immer kleiner wurde, als ich sie plötzlich stillstehen sah und unwillkürlich ebenfalls den Schritt anhielt. Sie hatten den blinden Bettler erreicht, und ich dachte, sie suchten nach einem Almosen in ihren Taschen, es ihm in den Hut zu werfen. Statt dessen trat die Größere dicht an ihn heran, legte die Hand auf seine beiden über dem Stock und Hutrand zusammengepreßten Hände und fing an, leise und offenbar eindringlich in ihn hineinzusprechen, während ihre sonst so lebhafte [596] Gefährtin sich ein wenig zurückhielt und mit dem Schirmchen in dem feuchten Gras am Weg herumstocherte.

Ich war hinter einen Baum getreten, um ungesehen die kleine Scene beobachten zu können. Ueber das Gesicht des Blinden ging ein Lächeln, das aber nicht das Grinsen eines Idioten war, seine Lippen bewegten sich, die Züge wurden plötzlich straff und ausdrucksvoll, während an seiner Körperhaltung sich nichts veränderte. Nur ein paarmal nickte er mit dem Kopfe, langsam und schwerfällig, wie wenn er etwas Schwieriges überlegte. Zumeist aber sprach das Mädchen, das sich zuweilen hastig umsah, ob auch niemand in der Nähe sei, die seltsame Zwiesprach zu belauschen. Auf einmal bückte sie sich tief hinab und drückte einen Kuß auf die mageren Hände des Mannes, der diese Liebkosung sich mit einem vergnügten Nicken gefallen ließ. Dann trat sie von ihm weg und setzte ihren Weg eilig fort, während sich ihre Freundin ebenfalls mit einem Streicheln der Hand von dem Blinden verabschiedete.

Nun erst trat ich hinter meinem Baum hervor und folgte wieder den ruhig dahinwandelnden Mädchen. Als ich bei dem Bettler vorbeikam, sah ich noch den Nachglanz der freundlichen Begrüßung, die er eben erfahren hatte, auf seinem Gesicht und hörte ihn in einem unverständlichen Gemurmel mit sich selbst sprechen. Doch wagte ich nicht, ihn anzureden. Ich war überzeugt, daß er sofort wieder in seine Versteinerung zurücksinken würde.

Auch wurde meine Aufmerksamkeit jetzt von den Mädchen erregt, die plötzlich zu singen anfingen. Ein ziemlich kunstloser Gesang, in welchem Fräulein Lischens scharfer Sopran gegen die zweite Stimme ihrer Gefährtin sich leidenschaftlich hervorthat. Das Lied, das sie sangen, hatte nicht den Klang eines der echten alten Volkslieder, erinnerte vielmehr an die sentimentalen Gesänge herumziehender Harfenmädchen, machte aber doch in der stillen, wolkenverhangenen Luft, unter der die Wälder und Wiesen wie in einen Traum versunken lagen, einen unwiderstehlichen Eindruck. Zumal nachdem ich, meinen Schritt beschleunigend, den Sängerinnen so nah gekommen war, daß ich wenigstens den unendlich wiederholten Refrain verstand, in den die Oberstimme ihre ganze herbe Kraft hineinlegte:

Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue,
Wenn ich lange, lang’ schon nicht mehr bin!

Wohl ein dutzendmal schlug diese wie eine Verwünschung hervorgestoßene Klage an mein Ohr; ich weiß nicht, ob das Lied so viel Strophen hatte, oder ob die Sängerin nicht oft genug eine und dieselbe unheimliche Weissagung einem fernen Ungetreuen nachrufen konnte.

Indessen war ich so nahe an die Sängerinnen herangekommen, daß sie sich belauscht sehen mußten. Wenn hin und wieder ein rascher Wagen an ihnen vorbeigesaust war, hatten sie ihr Duett nicht unterbrochen. Jetzt verstummten sie plötzlich.

Ich zog den Hut und bat um Entschuldigung, daß ich sie in ihrem Gesang unterbrochen hätte. Da ich aber ein Freund der Musik sei, möchten sie sich nicht stören lassen, zumal ich gern den Text des schönen Liedes erführe, von dem ich nur den Kehrreim verstanden hätte. Ob sie mir das Ganze nicht noch einmal vorsingen möchten?

Die Kleinere sah ihre Freundin an, die mit festgeschlossenen Lippen und gesenkten Augen halb abgewendet dastand. Nein, sagte sie dann, das gehe nicht an, dies Lied sängen sie nur unter vier Augen. Aber wenn der Herr sonst am Singen Spaß habe, sie wüßten noch eine Menge anderer Lieder, die hier in der Gegend gesungen würden, nicht wahr, Lischen?

Die andere nickte nur, schien aber wider meine Erwartung, obwohl sie den Mund zum Sprechen nicht aufthun mochte, nichts dagegen zu haben, einen Fremden ihre Stimme hören zu lassen. „Nur,“ sagte die Kleinere, „muß der Herr hinter uns hergehen, daß wir uns einbilden können, wir wären unter uns allein, und vergessen, daß jemand zuhört. Also komm, Lischen!“

Sie schlang den Arm um die Taille der Freundin, die den ihren wieder um den runden Nacken der andern legte, und so setzten sie, anmutig sich umfassend, den Weg fort, nun ein echtes Volkslied anstimmend, mit einer jener rührend schönen Melodien, die unsterblich von Geschlecht zu Geschlecht gehen, wie nur die Eingebungen der höchsten Meister.

Ich blieb immer vier Schritt hinter ihnen, und nur wenn wieder ein Lied zu Ende war, trat ich etwas näher, ihnen meinen Beifall auszusprechen und um eine Fortsetzung zu bitten. Darüber vergaß ich ganz, daß ich im Sinn gehabt hatte, sie auf eine unscheinbare Art über ihre persönlichen Verhältnisse und jene Scene mit dem Blinden von Dausenau auszufragen. Wir näherten uns der Stadt, da würden sie wohl mit dem Singen aufhören, und ein kleines Gespräch ließ sich noch anknüpfen.

Nicht weit von den ersten Häusern entfernt liegt ein Garten, in welchem die schönsten Rosen gezogen werden. Als wir dorthin gekommen waren, sah ich die Blicke der Kleineren – ihren Namen, Rikchen, hatte ich inzwischen erfragt – bewundernd über den Zaun schweifen, wo nach dem erquickenden Gewitterregen die dunklen und hellen Blüten an den hochstämmigen Rosenbäumchen in besonderer Herrlichkeit glänzten. „Sie sind Blumenfreundinnen?“ fragt’ ich. Und da die Kleine lächelnd nickte, bat ich sie, hier vor der Thür einen Augenblick zu warten, sie müßten mir erlauben, zum Dank für das schöne Konzert ihnen ein paar Rosen zu schenken.

Ich eilte mich, die Frau des Gärtners ausfindig zu machen, und ließ mir einige der stolzesten La France- und Maréchal Niel-Rosen von den Stöcken schneiden. Als ich aber damit wieder auf die Landstraße hinaustrat, waren meine Sängerinnen verschwunden. Ich ging, so rasch ich konnte, der Stadt zu, blickte nach dem anderen Ufer hinüber, ob sie sich vielleicht auf der Fähre hätten übersetzen lassen – nirgends eine Spur von ihnen. So mußte ich meine Blumen nach Hause tragen und sie zu meiner eigenen Augenweide in eine Vase stellen. Abends, als sie im Lampenschein noch wundersamer glühten und dufteten, dachte ich lange dem kleinen Abenteuer nach, und der schwermütige Refrain:

Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue,
Wenn ich lange, lang’ schon nicht mehr bin!

hatte sich mir dergestalt im Ohre festgesetzt, daß ich ihn vor dem Einschlafen noch unzähligemal vor mich hin sang.

*  *  *

Am andern Morgen, als ich in die Trinkhalle trat, fand ich das Rikchen schon wieder eifrig beschäftigt, die Becher zu füllen und den Kurgästen hinzureichen. Sie erwiderte aber meinen Gruß nur mit einem ernsthaften Nicken, wie jedem Fremden, der ihr einen Guten Morgen wünschte, und als ich ihr das gefüllte Glas abnahm und ihr dabei zuraunte: „Warum sind Sie mir gestern abend so plötzlich verschwunden?“ zuckte sie nur mit den Achseln und gab deutlich zu verstehen, daß sie sich auf eine weitere Konversation nicht einzulassen wünsche.

Nicht besseres Glück hatte ich mit ihrer Freundin. Ich fand das Lischen wieder auf ihrer Bank in die Anbetung des schönen Bratschisten versunken, und da eben der Choral begonnen hatte, überhörte sie mein behutsames Nähertreten. Als ich aber, nachdem die letzte Note verklungen war, dicht hinter ihr „Guten Morgen, Fräulein Lischen!“ sagte, schnellte sie wie von einer Schlange gebissen in die Höhe. Ueber die schmalen wachsbleichen Wangen flog eine dunkle Röte, die großen grauen Augen starrten mich entgeistert, halb bittend, halb vorwurfsvoll an, und rasch ihr Tüchlein um die Schultern ziehend, eilte sie so hurtig, wie es ohne Aufsehn geschehen konnte, an mir vorbei durch die bunte Menge, die den Musikpavillon umgab.

Da stand ich nun mit meinen Rosen, die ich in der Hoffnung, sie wenigstens heute anbringen zu können, nach dem Brunnen mitgenommen hatte. „Die albernen Mädel!“ brummte ich ärgerlich bei mir selbst. „Sie konnten mir doch ansehen, daß unter meinen Rosen keine Schlange lauerte, die ihre Tugend in Gefahr brächte. Nun, es ist ihr eigener Schade. Vielleicht haben sie mit den Fremden allerlei Erfahrungen gemacht, daß sie jetzt auch gegen ältere Herren, die nichts Böses im Schilde führen, sich so ungebärdig stellen.“

Ich nahm mir vor, nun auch meinerseits sie so wenig zu beachten, als ob wir nie ein Wort miteinander getauscht hätten, und dachte an die ganze Begegnung nur noch, wenn mir einmal wieder jener schwermütig drohende Refrain im Ohre aufwachte. Von der Kleineren ließ ich mir nie mehr den Becher füllen. Der Bank, wo das Lischen seine Morgenandacht hielt, blieb ich geflissentlich fern.

[597]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0597.jpg

Die Ruine Unspunnen bei Interlaken.
Mit Genehmigung des Verlegers nach einem Bilde aus dem Prachtwerk „Die Jungfrau und das Berner Oberland“ von Th. Wundt.

[598] Darüber verging wieder eine Woche. Am nächsten Sonntag widerstand ich leicht der Versuchung, zu sehen, ob die beiden Freundinnen ihren freien Ausgang wieder nach Dausenau richten und den Blinden abermals begrüßen würden. Die Sonnenglut hielt mich bis an den Abend im Zimmer fest. Ueber Nacht ging dann ein mächtiges Gewitter nieder, das sich in einen Landregen auflöste, der auch tagüber noch anhielt. Ich beschloß, einmal wieder den Malberg hinaufzufahren, da ich hoffen durfte, die schönen Waldwege droben, die sonst durch geputzte Menschen unsicher gemacht wurden, heute einmal für mich allein zu haben.

So fand ich es auch, als ich droben dem fast leeren Wagen der Drahtseilbahn entstieg. Auch vor dem Restaurationshause saßen, da es noch immer leise vom Himmel herabrieselte, nur ein paar verlorene Stammgäste, die unter Regenschirmen sich an ihrem Nachmittagskaffee und der feuchten Kühle der Luft erquickten. Ich ging an ihnen vorüber und schlug den oberen Weg nach dem Lahnsteiner Forsthause ein, das in einer guten halben Stunde zu erreichen ist.

Es war herrlich, in der helldunklen Luft unter den himmelhohen Wipfeln des Fichtenwaldes hinzuwandern, in einer so tiefen Stille, daß man das Aufatmen der Natur nach der langen Schwüle zu belauschen meinte. Auch die Musik des Regens verklang kaum hörbar hoch oben in den Lüften, da die sanfte Flut in den dichten Kronen der Bäume sich zerteilte und durch das Astwerk nur ein zarter feuchter Staub herabsprühte. Ich hatte meinen Schirm zusammengefaltet und den Hut abgenommen, um die Stirn der erfrischenden Kühle preiszugeben; so ging ich gedankenlos eine gute Weile vor mich hin, froh, endlich die langentbehrte Waldeinsamkeit zu genießen, als ich eine weibliche Gestalt bemerkte, schon ziemlich nahe herangekommen, die ihrerseits mich zu erkennen schien, da sie stehen blieb, wie unschlüssig, ob sie an mir vorübergehen oder nach der Seite ausweichen sollte.

Ich hatte sie aber, obwohl sie unter dem kleinen Schirm das Gesicht zu verbergen suchte, sofort erkannt und mich ihr mit ein paar großen Schritten so rasch genähert, daß sie mir wohl oder übel standhalten mußte.

„Guten Tag, Fräulein Rikchen!“ sagte ich. „Sie sehen, niemand entgeht seinem Schicksal. Hier habe ich Ihnen freilich keine Rosen anzubieten, vor denen Sie wieder davonlaufen möchten. Aber wenn Sie mir auch deutlich zu erkennen gegeben haben, daß Sie nichts von mir wissen wollen, ich will etwas von Ihnen wissen: gar nichts von Ihren etwaigen Geheimnissen, sondern nur, warum Sie und Ihre Freundin erst so freundlich zu mir waren und mich dann plötzlich stehen ließen, als ob ich Ihnen Gott weiß was zuleide gethan hätte.“

Sie hatte bei meiner Anrede, da sie sah, daß doch kein Entrinnen war, das Schirmchen geschultert und mir ihr munteres Gesicht voll zugekehrt. Ein kleines geheimnisvolles Lächeln spielte um ihren halbgeöffneten Mund.

„Nicht wahr?“ sagte sie endlich – sie sprach ein ziemlich reines Hochdeutsch, nur zuweilen mit einem rheinländischen Anflug – „wir sind Ihnen wie zwei recht dumme Gäns’ vorgekommen, und das Weglaufen war auch kindisch. Aber sie bestand darauf, das Lischen, und ich mußt’ ihr den Willen thun, obwohl ich mir gern eine schöne Rose von Ihnen hätte schenken lassen. Ich sah’s Ihnen ja an, daß Sie ein braver Herr sind und sich bloß für unser bißchen Singen revanchieren wollten. Aber wie gesagt, das Lischen ist so wunderlich. Sie müssen wissen, sie war einmal verlobt, die Sach’ ist zurückgegangen, sie will’s aber immer noch nicht glauben und betrachtet sich trotz alledem als Braut, und da meint sie, sie dürf’ sich von keinem andern Mann Rosen schenken lassen. Gelt, es ist eine Dummheit, aber so ein arm’s Mädche, das so viel ausgestanden hat – kein Wunder, wenn’s ihr im Kopf nicht ganz richtig ist!

„Das heißt, in allem andern hat sie ihre gesunden fünf Sinne beisammen, nur daß sie nicht viel sprechen mag, und es ist jammerschad’, daß sie sich in das eine so verrannt hat, und wenn man bedenkt, um wen! Aber ich darf nicht mehr davon schwätzen, ich bin ihre beste Freundin schon von der Schule her, und es wissen in der Stadt ohnehin schon zu viele darum, obwohl es keine öffentliche Verlobung war. Sie werden ja auch keinen Gebrauch davon machen.“

„Gewiß nicht, Fräulein Rikchen,“ versetzte ich. „Dann sollten Sie aber Ihre Freundin darauf aufmerksam machen, daß sie sich sehr unklug beträgt und selbst verrät, was die Leute nicht wissen sollen. Jeden Morgen sich dem Ungetreuen gegenüberzusetzen und ihn anzuschmachten wie ein Gnadenbild in einer Wallfahrtskirche – man braucht kein Talent zum Polizeispion zu haben, um zu wissen, was es damit für eine Bewandtnis hat.“

Das Mädchen nickte lebhaft mit dem Kopf und zog die Brauen zusammen.

„Also haben Sie’s auch bemerkt!“ rief sie sehr aufgeregt. „Und Sie werden nicht der einzige sein. ’s ist eine Schand’, hab’ ich ihr mehr als einmal gepredigt, wie du dich aufführst! Einem falschen Menschen nachzulaufen, einem solchen, wie der – oder finden Sie ihn etwa auch so reizend wie viele verrückte Weiber, diesen – diesen – –“

Sie suchte umsonst nach einem Ausdruck, der stark genug wäre für ihre sittliche Entrüstung und ihren ästhetischen Widerwillen.

„Nun,“ sagte ich, „ich kenne nur sein Aeußeres, das von der Sorte ist, die auch mir mißfällt. Aber ich habe oft erlebt, daß so eine blanke Larve, ein schön frisierter Puppenkopf bei dem anderen Geschlecht Glück macht. Nur daß er gerade Ihrer Freundin gefährlich werden konnte –“

„O, Sie wissen nicht, welche Künste der listige Mensch angewendet hat, um sich in Lischens Herz einzuschmeicheln. Denn anfangs war er ihr grad’ so zuwider wie mir. Und sie hatte es auch nicht nötig, sich an den ersten besten wegzuwerfen, an jedem Finger hätte sie einen haben können, darunter die besten Partien. Jetzt freilich sehen Sie’s ihr nicht mehr an, was für ein Bild von Schönheit sie gewesen ist; keine in der ganzen Stadt konnt’s mit ihr aufnehmen. Aber sie hatte noch gar keine Lust zum Heiraten. Sie war zwar arm, aber wenn sie wollte, konnt’ es ihr an einer guten Versorgung nicht fehlen, und sie wollte warten, bis sie sich ihre Aussteuer zusammengespart hätte. Damit war auch ihr Vater einverstanden – die Mutter lebt schon lange nicht mehr. Der Papa aber, der auch nur sein schmales Auskommen hatte als Schreiber beim Gericht, dies einzige Kind, das Lischen, liebte er wie seinen Augapfel; was sie wollte, das war ihm recht. ,Sie hat mehr Verstand in ihrem kleinen Finger als ich in meinem ganzen dicken Schädel!“ sagte er mir einmal. So ließ er sie auch thun und treiben, was sie wollte, und fand es sehr in der Ordnung, daß sie während der Saison als Verkäuferin in ein Geschäft ging, eine Handlung mit Achatwaren und unechten Schmucksachen. Im Winter klöppelte sie Spitzen. Sie hatte zu allem Geschick und war dabei die gute Stunde selbst und ging auch wohl einmal zum Tanz, hielt sich aber immer ganz anständig und ehrbar.

„Nun, so war sie in ihr zwanzigstes Jahr gekommen, da machte sie auf der Hochzeit einer Gefreundeten seine Bekanntschaft, ich meine, die des geigenden Rattenfängers. Auch eine Muhme von mir war dabei, die, von der ich eben herkomme, die Tochter der Förstersleute. Sie ist schwer krank gewesen und kaum aus der Gefahr, und um mich einmal nach ihr umzusehen, habe ich mir heut’ einen freien Nachmittag ausgebeten, sonst wäre ich Ihnen hier oben nicht begegnet und hätte Ihnen nicht so viel vorgeschwatzt. Jetzt aber muß ich Ihnen Adieu sagen, ich soll vor Abend wieder am Brunnen sein.“

„Ich will Sie nicht länger aufhalten, Fräulein Rikchen,“ sagte ich, während wir schon wieder den Rückweg antraten. „Erlauben Sie mir nur, Sie noch ein Streckchen zu begleiten. Sie müssen mir noch ein wenig mehr von Ihrer Freundin erzählen, deren Schicksal mich sehr interessiert. Ein so gutes, unschuldiges Wesen, das Mitleid mit unglücklichen Menschen hat und durch einen gewissenlosen Gecken nun selbst unglücklich geworden ist! Andere werden dadurch verhärtet. Ihr Herz ist aber so weich geblieben, daß sie sich nicht damit begnügt, einem blinden Bettler ein Almosen in den Hut zu werfen, sondern ihn freundlich anredet und ihm sogar die Hand küßt.“

Das Mädchen blieb plötzlich stehen und sah mich mit einem Ausdruck des Erschreckens an.

„Woher wissen Sie das?“ sagte sie. „Wer hat Ihnen – Aber freilich, Sie kamen ja hinter uns her am Sonntag vor acht Tagen. Wenn Lischen das erführe – sie wäre außer sich. Denn die Leute in Ems wissen freilich, daß der arme alte Mann, [599] wenn es nach seiner Tochter ginge, nicht da am Wege stände und die Fremden anbettelte, aber was die Kurgesellschaft davon denken müßte –“

„Nein, sagen Sie,“ unterbrach ich ihre bestürzte Rede, „ist es möglich? Der Blinde von Dausenau –

„Gewiß,“ nickte sie, „’s ist dem Lischen ihr armer Papa. Und da Sie nun doch dahintergekommen sind – wir wollen uns einen Augenblick auf die Bank da setzen. Es hat mir ganz den Atem benommen, daß Sie uns damals belauscht haben. Nur um Gottes willen kein Wort davon an meine Freundin!“

Sie setzte sich rasch auf das vom Regen durchtränkte Bänkchen, ohne ihr Kleid zu schonen, und ich ließ mich neben ihr nieder. „Ja,“ fing sie wieder an, „ich hab’ einmal gelesen: es geht nirgends wunderlicher zu als in der Welt. Das ist ein wahres Wort. Wenn Sie den Herrn Gerichtssekretär früher gekannt hätten – ‚ärmlich aber reinlich!‘ pflegte er zu sagen und bürstete und striegelte an seinen abgetragenen Kleidern herum, daß alle Fäden zum Vorschein kamen. Und so hatte er auch seine Tochter erzogen. In ihrem Wohnstübchen oben im dritten Stock sah’s aus wie in einer Puppenstube. Und jetzt ist es ihm gleich, ob er wie ein landstreichender Strolch im Regen steht – was er freilich nicht mehr sehen kann. Denn Sie haben es wohl selbst bemerkt, hier oben“ – sie deutete auf die Stirn – „sieht’s auch nicht mehr so sauber und aufgeräumt aus wie vor dem Unglück. Obwohl er in manchen Stücken noch ganz zurechnungsfähig ist und ganz genau weiß, was er will, und setzt es durch gegen alle Welt, wenn’s auch noch so unvernünftig ist.

„Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß das Lischen seine einzige Lebensfreude war. ,Wenn ich nur den Tag noch erlebe, wo du einen guten Mann kriegst, der weiß, was er an dir hat‘ – hörte ich ihn mehr als einmal sagen. Auch hätte er sich nicht gewundert, wenn einmal ein Prinz oder Graf zu ihm gekommen wäre und gesagt hätte: ‚Herr Sekretär, ich habe die Ehre, um die Hand Ihres Fräulein Tochter bei Ihnen anzuhalten.‘ Und nun stellen Sie sich vor, wie ich erschrecken mußte, als das Lischen mir eines Abends ganz wie berauscht von Seligkeit um den Hals fiel und mir ins Ohr stammelte, der Geiger habe um sie geworben, und der Papa habe Ja gesagt.

,Bist du bei Trost, Lischen?‘ sagte ich. ,Der Papa hat eingewilligt, und du – du selber hast Ja gesagt? Du willst den ‚schönen Schorsch‘ – so nannten wir ihn unter uns – heiraten? Aber kennst du ihn denn nicht, was er für ein Hans Liederlich ist, und dennoch –‘

„Da wurde sie ganz ernst und fast feierlich. ,Ich verbitte mir solche Schimpfworte über meinen Bräutigam,‘ sagte sie. ,Sein Leben, bevor er mich kannte, geht mich nichts an. Er selbst hat mir gestanden, er habe viel zu bereuen, wenn er auch keine betrogene Unschuld auf dem Gewissen habe. Aber er habe freilich ein bißchen stark die Kur geschnitten, das werde nun aufhören, und mir werde er’s zu danken haben, wenn er jetzt als ein solider Ehemann sich die allgemeine Achtung erwerbe.‘ – Sie wissen, mit der Leimrute hat sich schon manches dumme Vögelchen fangen lassen. – ,Und das hast du ihm geglaubt, Lischen?‘ fragte ich. Da kehrte sie mir den Rücken zu und redete zwei Tage lang kein Wort mit mir.

„Ich war im stillen wütend auf den schönen Schorsch, das Lischen, ihren Papa und mich selbst, daß mir nichts einfallen wollte, meiner armen vernarrten Freundin den Star zu stechen und die ganze dumme Geschichte rückgängig zu machen. Ich hatte auch nicht das Herz, dem Papa meinen Glückwunsch zu bringen, und da die Verlobung noch nicht öffentlich gemacht war, konnte ich thun, als wüßte ich nichts davon. Als mir aber der Herr Sekretär ein paar Tage später auf der Straße begegnete, schämte ich mich doch, ihm auszuweichen, als Lischens älteste Freundin. Ich grüßte ihn also und sagte, ob es denn wahr wäre, das mit dem schönen Schorsch. Ich muß gestehen, ich könnt’s immer noch nicht glauben.

„Da wurde sein gutes altes Gesicht sehr ernsthaft, fast traurig, und er sah mit den kleinen entzündeten Aeugelchen – schon damals waren sie vom vielen Schreiben schwach geworden – so wie verlegen nach der Seite. ,Jch habe es selbst erst nicht glauben mögen,‘ sagte er. ,Aber ich bin ein schwacher Vater, und da mein Kind erklärt hat, sie werde sterben, wenn ich ihr nicht den Willen thäte – und übrigens, wenn’s auch keine glänzende Versorgung ist, er hat doch sein Auskommen, und ganz als Bettlerin laß ich sie ja auch nicht in die Ehe gehen, und daß er weiß, wir sind keine reichen Leute, und sagt, er sehe nicht auf das Geld, macht ihm doch immerhin Ehre. Wenn es der Himmel zu Lischens Glück so beschlossen hat – ich bin ein alter Mann und werde nicht ewig für sie arbeiten und sorgen können.’

„Das sprach er so vor sich hin, und ich hatte, obwohl er sich dabei zu beruhigen schien, nicht das Herz, ihm zuzustimmen und zu diesem sogenannten Glück zu gratulieren.

„Denn Sie müssen wissen, lieber Herr, ich traute dem Landfrieden nicht in betreff der uneigennützigen Verliebtheit des edlen Bräutigams. Das Lischen hatte eine Tante, eine Vatersschwester, die älter war als ihr Bruder, aber in besseren Verhältnissen lebte. Ein Weingutsbesitzer in Bacharach hatte sie geheiratet, den hatte sie schon vor zwanzig Jahren beerbt und seitdem das Ihre so gut zusammengehalten, zumal sie weder sich noch irgend einem Christenmenschen etwas gönnte, daß man sie auf ein paar Hunderttausend schätzte. Ihr Bruder hatte sich aber ihres Geizes wegen mit ihr zertragen und nahm ihren Namen nie in den Mund. Das Lischen aber konnte es nicht übers Herz bringen, die Tante Appele – wie sie nach ihrem Taufnamen Apollonia in der Familie kurzweg hieß – so ganz links liegen zu lassen, schrieb ihr jedes Jahr zu ihrem Namenstage und schickte ihr zu Weihnachten eine Handarbeit, worauf der Geizdrache sich nur mit einem Körbchen Trauben, nicht von den süßesten, revanchierte. ,Du wirst doch noch einmal eine reiche Erbin,‘ sagte ich ihr zuweilen im Spaß. ,Es ist mir wahrhaftig nicht um ihr Geld,‘ sagte sie darauf. ,Aber sie dauert mich, weil sie so einsam lebt und keine Menschenseele hat, auf ihre gebrechlichen alten Tage sie zu pflegen und aufzuheitern.‘

„Daß es ihr damit voller Ernst war und gar keine Erbschleicherei dahinter steckte – so wie ich meine Freundin kannte, war mir das keinen Augenblick zweifelhaft.

„Das aber ließ ich mir nicht ausreden, daß der schöne Schorsch auf Tante Appeles blanke Thaler spekulierte. Die schönen Augen der Braut mochten ihm wohl auch einleuchten als Zugabe. Aber wenn sie ihm wirklich nur das bißchen Aussteuer zugebracht hätte – man brauchte ihm bloß in das langweilige kalte Gesicht zu sehen, um zu wissen, wie es in seinem sogenannten Herzen aussah.

„Ich hütete mich aber wohl, gegen meine Freundin mir nur eine Andeutung über seinen Charakter entschlüpfen zu lassen. Hätte sie mich um Rat gefragt – ja dann! Aber wer sich selbst die Augen zubindet, um nicht zu sehen, was sonnenklar ist, wie soll man dem helfen?

„Und ich hatte sie auch zu lieb, um sie mir ganz abwendig zu machen. Ich ließ mich sogar bereden, einen Abend in ihre Wohnung zu kommen, wo der Bräutigam da sein sollte. Wir saßen erst um den Tisch herum, auf dem die kleine Lampe mit dem grünen Schirm stand, da der Papa ein helles Licht nicht vertragen konnte. Der hatte sich in den Winkel des alten Sofas gedrückt und sprach den ganzen Abend nicht zehn Worte, trank auch nur ein kleines Glas Wein, und von dem Kuchen und den Erdbeeren rührte er nichts an. Auch ich hatte einen gallebitteren Geschmack auf der Zunge, wenn ich zu dem Bräutigam hinübersah: er so schön frisiert und parfümiert, daß es mir übel machte, und sie, immer seine Hand unterm Tisch in der ihren, verwandte keinen Blick von ihm, während er fast allein das Wort führte. Er erzählte von seinem Musikantenleben, in welchen großen Städten und vor welchen hohen Herrschaften er schon gespielt hätte, immer als ob er dabei die Hauptperson gewesen wäre, da doch die zweite Geige immer nur so mitläuft, wenn ein anderer die erste spielt. Lischen aber war ganz Bewunderung, zumal wenn er von dem Zauber der Musik allerlei hochtrabende Redensarten zum besten gab und die größten Komponisten anführte, als wären sie seine Duzbrüder gewesen. Dabei brachte es mich förmlich auf, daß er niemals lachte oder auch nur lächelte, immer die gleiche unbewegliche, selbstgefällige Miene.

„Ich war froh, wie der Papa endlich um zehn Uhr aufstand, es sei nun Zeit auseinanderzugehen, er müsse seiner Augen wegen früh zu Bett. Lischen begleitete ihren Verlobten mit dem Licht die Treppe hinab. Es überlief mich siedigheiß, mir zu denken,

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Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0600.jpg

Photographie im Verlag der Kunsthandlung von R. Wagner in Berlin.
Friedrich der Große im Schloß zu Lissa.
Nach dem Gemälde von Adolf Menzel.

[601] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [602] daß sie sich von diesem Menschen zum Abschied küssen ließ. Als sie dann wieder eintrat, mit ganz heißem Gesicht, fragte sie mich, ob ich meine Meinung von ihm nicht doch geändert hätte, jetzt nicht auch fände, daß er ein reizender Mensch sei. Sie dauerte mich, in ihrer schwärmerischen Verblendung, und so sagte ich nur: ,Einer schickt sich nicht für alle, und ich soll ihn ja nicht heiraten. Wenn du glücklich mit ihm wirst, werd’ ich auch wohl Gefallen an ihm finden. Das aber kann ich dir nicht verhehlen: diese heimliche Verlobung gefällt mir nicht. Warum, wenn ihr auch nicht gleich Hochzeit machen könnt, verkündigt ihr nicht wenigstens, daß ihr Braut und Bräutigam seid? Es entsteht leicht ein Gerede, und wenn er es ehrlich meint –‘

„Da wurde sie Feuer und Flamme von wegen seiner Ehrlichkeit. Er warte mit der öffentlichen Verlobung nur noch, bis die feste Anstellung in einer Hoftheaterkapelle, um die er sich beworben, ihm gesichert sei. Nur der Sommer könne noch darüber hingehen. Dann solle auch gleich geheiratet werden. Er hasse das lange Herumziehen als Brautleute. – Mir klang das nicht sehr beruhigend und wir stritten noch eine gute Weile, bis der Papa, der nebenan schlief, hustete, um anzuzeigen, er wolle seine Ruhe haben.

„Es war aber eine solche Abkühlung unsrer alten Freundschaft zwischen uns gekommen, daß ich seitdem mehrere Wochen lang nicht mehr in ihre Wohnung kam und auch auf der Straße nur einen kurzen Gruß mit ihr wechselte. Um so erstaunter und bestürzter war ich, von ihrem Vater eines Nachmittags ein Billet zu erhalten, das mich dringend einlud, sobald ich frei wäre, zu ihnen zu kommen.“ (Schluß folgt.)


Ein Denkmal der Erhebung von Schleswig-Holstein am Mississippi.

Der fünfzigjährige Gedenktag der Erhebung Schleswig-Holsteins gegen die dänischen Anmaßungen ist nicht nur im deutschen Vaterland festlich begangen worden. Auch in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, deren Bevölkerung dem tragischen Ausgang der deutschen Volksbewegung von 1848 einen so bedeutsamen Zuwachs zu danken gehabt hat, fand am 24. März d. J. eine Gedächtnisfeier statt zur Erinnerung an die heldenhaften Kämpfe der „meerumschlungenen“ Herzogtümer für ihre nationale Selbständigkeit und unteilbare Zusammengehörigkeit, die an jenem Tage ihren Anfang nahmen. Und ähnlich dem Denkstein, welcher aus diesem Anlaß zu Altona in Anwesenheit von Veteranen des Kampfes feierlich enthüllt worden ist, wurde am Ufer des Mississippi ein solcher errichtet, der noch späteren Geschlechtern davon Kunde geben soll, wie die nach Amerika ausgewanderten Veteranen an der alten Heimat hingen und ihre patriotischen Erinnerungen treu in Ehren hielten.

Dieser Denkstein, dessen Abbildung sich den Lesern nebenstehend bietet, hat zu Davenport im Staate Iowa seinen Standort. Die erst in diesem Jahrhundert, 1836, am rechten Ufer des Mississippi angelegte Stadt war gerade im jugendlichen Aufblühen begriffen, als der Krieg in Schleswig-Holstein unter dem Druck der deutschfeindlichen Politik der Großstaaten ein klägliches Ende nahm und die Freiwilligen, die ihr gefährdetes Deutschtum mit den Waffen verteidigt hatten, von der Reaktion für Rebellen erklärt wurden. Verfolgt und verfemt, mußten sie ihrer Heimat den Rücken kehren und ein Exil in fremden Ländern suchen. Davenport wurde ein Hauptziel dieser Auswanderung, und von der Ansiedelung dieser politischen Flüchtlinge aus der deutschen Nordmark datiert der Aufschwung der Stadt zu der ansehnlichen Größe, deren sie sich heute erfreut.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0602.jpg

Der Denkstein in Davenport.

Von den ersten Einwanderern aus Schleswig-Holstein, den Veteranen der so kühn unternommenen Erhebung, ist noch eine stattliche Schar am Leben. Das Erinnerungsfest in Davenport bestand aus einem Umzug des 170 Mann starken Vereins der Kampfgenossen aus jenen Tagen, der deutschen Veteranen von 1870/71 und des Kriegervereins, welcher eine bedeutende Anzahl von jüngeren ehemaligen Soldaten umfaßt, die in der deutschen Armee gedient und ihren ehrenvollen Abschied erhalten haben. Den Schluß bildeten die Veteranen des Secessionskriegs, in welchem sich das deutsche Element so rühmlich hervorthat. Der Zug, in dem auch die Behörden der Stadt vertreten waren, bewegte sich nach der Stätte, auf welcher sich dann die Enthüllung des Denksteins vollzog. Zu beiden Seiten desselben konnten zwei junge Eichen als Symbole des Brudervolks gepflanzt werden, die aus dem Herzen des niederdeutschen Landes, dem Sachsenwalde, stammen und ein Geschenk des Altreichskanzlers sind. Leider konnte der Rahmen unseres Bildes die kräftig gedeihenden Bäume nicht umfassen; wohl aber ist auf demselben die dem Boden Amerikas entsprossene Doppeleiche sichtbar, welche direkt hinter dem Stein stattlich emporwächst. Der Präsident der Kampfgenossen vollzog die Enthüllung, während der Schriftführer des Vereins in begeisternder Ansprache den Stein und die Eichen der Obhut der Bürgerschaft übergab. Darauf bewegte sich der Zug in die Turnhalle, in welcher der Verein seine Jahresversammlung in besonders feierlicher Weise abhielt, wobei dem verdienten Sekretär desselben, Emil Geisler, der seit 25 Jahren seines Amtes waltet, ein Ehrengeschenk überreicht ward. Geisler war in der alten Heimat Schullehrer; in Davenport stand er immer im Vordergrund derer, denen die Pflege des Deutschtums eine heilige Sache war.

Der fröhliche Abschluß des Festes erhielt durch eine Theateraufführung von Mitgliedern des jüngeren Kriegervereins besondere Weihe; großen Jubel erweckte es, als die Vereinigten Sänger Davenports von ihrem Uebungslokal anmarschiert kamen, um die Alten mit einigen deutschen Liedern zu überraschen, was ihnen vortrefflich gelang. So verlief das Fest in echt deutscher Weise. Die deutsche Presse am Ort wußte den Tag voll zu würdigen; die Haltung der alten Kämpen wurde besonders gerühmt: „Echtes Frühlingswetter, wie wir es lange nicht gehabt, herrschte, und Frühling war es auch in den Herzen der alten Knaben, gerade wie vor 50 Jahren, da sie als Jünglinge die Waffen ergriffen, um das geliebte Vaterland Schleswig-Holstein vom Dänenjoch zu befreien. Aus den Jünglingen sind Greise geworden, wer aber die graubärtige, silberhaarige alte Garde musterte, der mußte erstaunt sein über die Rüstigkeit vieler und über das Feuer, welches noch allen aus den Augen blitzte. Die Zeit hat dem Körper das Siegel aufgedrückt, aber dem Geiste konnte sie nichts anhaben, der ist jung geblieben und wird es hoffentlich noch lange bleiben.“

Die Gegend, in welcher Davenport liegt, ist im vierten Jahrzehnt unsres Jahrhunderts nur unter schweren Kämpfen der Kultur gewonnen worden. Einer der tapfersten und edelsten Häuptlinge des Indianerstammes, der hier seine Jagdgründe hatte, war Blackhawk („der schwarze Falke“), nach welchem auch die im Westen der Stadt gelegenen schönen waldigen Berge benannt sind, allwo durch unsere meistenteils deutschen Winzer ein recht guter Wein gezogen wird. Während andere Häuptlinge die Traktate mit den Weißen unterzeichneten, nach welchen sie gegen gewisse Vergütungen die Ländereien an dieselben abtraten, weigerte Blackhawk sich beharrlich, darauf einzugehen. Mit seinen Getreuen, dem Stamme der Sac-Indianer, focht er l832 den letzten Entscheidungskampf gegen die andrängenden Bleichgesichter, welcher jedoch unglücklich für ihn verlief. Die Rothaut mußte ihr idyllisches Mississippithal aufgeben, um sich grollend nach den fernen Wildnissen des Westens zu wenden.

Die Lage Davenports ist sehr anmutig. Der Mississippi, dessen Ufer von malerischen Bergzügen beschirmt sind, teilt sich hier in zwei Arme, welche eine ebenfalls besiedelte Insel, Rock-Island, umfließen.

Auf dieser Insel befinden sich die großartigen Werkstätten der Regierung, in denen nach Ausbruch des Kriegs mit Spanien an zweitausend Arbeiter mit der Herstellung von Munition und Armaturstücken beschäftigt waren. Die eigentliche Stadt liegt am rechten Ufer des Flusses und ist mit der Insel durch eine Brücke verbunden. Sie zählt jetzt etwas über 36000 Einwohner und trägt einen vorherrschend deutschen Charakter: ungefähr drei Viertel der Geschäftshäuser sind in deutschen Händen, was sowohl vom Kleingeschäft wie von der neuerdings mächtig aufblühenden Großindustrie gilt. H. Pfabe.     

0 [603] Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Das „Tänzelfest“ in Kaufbeuren.

Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Der fünfknöpfige Turm und der
Neptunsbrunnen in Kaufbeuren.


Die Zeiten sind glücklich vorüber, in welchen man auf Volks- und Jugendspiele mit Geringschätzung herabblickte und selbst die Polizei zu Hilfe rief, um die „ruhestörenden“ Aufzüge zu verbieten. Damals hat man viel gesündigt und manchen schönen Brauch für immer erstickt. Heute ist man zu der besseren Einsicht gekommen, daß Volksfeste, wenn nur Auswüchse bei ihnen verhütet werden, einen großen erzieherischen und moralischen Wert haben, und nun sucht man, die entschwundene Lust von neuem zu beleben, Volks- und Jugendspiele zu schaffen. Die Förderer dieser Bestrebungen können nur langsam und mühsam Erfolge erzielen, denn das Neue wird nicht mit einem Schlage volkstümlich. Unter diesen Umständen sollten wir mit verdoppeltem Eifer den noch vorhandenen Schatz an alten Volksspielen hüten und namentlich der Jugend die noch hier und dort üblichen Festspiele erhalten.

Vor allem sollte man auf die Kinderfeste seine Aufmerksamkeit richten; denn wo Kinder im festlichen Aufzug erscheinen, da stellen sich auch die Eltern und Erzieher und deren Freunde ein, und unmerklich erweitert sich ein Kinderfest zu einem wahren Volksfest. Und wenn solche Veranstaltungen auch nur einmal im Jahre stattfinden, so ist ihr Wert in erzieherischer Hinsicht doch groß; denn die Vorbereitungen zum Feste füllen Wochen aus. Sind dann die Kinderfeste mit Vorführungen, mit Märchen, Reigen, Ballspielen u. dgl. verbunden, so bieten sie Anlaß zur fleißigen Pflege leiblicher Uebungen, die in unserem nervösen Zeitalter so sehr erwünscht scheinen.

Es giebt in Deutschland noch eine Reihe von Städten, die den altüberlieferten Brauch nicht nur treu gehütet, sondern auch fortentwickelt und den Bedürfnissen der Neuzeit angepaßt haben. Zu ihnen zählt auch die malerisch an der Wertach gelegene Stadt Kaufbeuren im bayrischen Regierungsbezirk Schwaben.

Das Fahnenschwingen.

Wer sich dem Orte von Buchloe her mit der Eisenbahn nähert, der gewinnt schon einen Einblick in die Reize der an dichtbewaldeten Hügeln reichen Landschaft, deren Hintergrund das Hochgebirge mit der Zugspitze, Hochplatte und dem Säuling geradezu großartig abschließt. Von der Stadt selbst winken aber allerlei wetteralte Zinnen herüber, denn Kaufbeuren, ehemals Freie Reichsstadt, ist noch zum Teil mit den festen Mauern und Türmen umgeben, die einst der Bürger Schutz und Wehr bildeten. Unter ihnen fällt der „fünfknöpfige Turm“ als ein originelles Bauwerk ganz besonders ins Auge. Betritt man die Straßen der etwa 8000 Einwohner beherbergenden Stadt, dann begegnet man so manchem ehrwürdigen Gebäude. Aus dem Jahre 1444 stammt die katholische Stadtpfarrkirche zu St. Martin, und die rundgetürmte St. Blasikirche mit einem sehenswerten gotischen Altar ist noch älter. An dem hübschen Neptunsbrunnen wandern wir vorüber und sehen neben den Zeugen einer glücklichen Vergangenheit weitere Bauten, welche die rüstig schaffende Bürgerschaft in der Neuzeit errichtet hat. Vor allem ist das schöne neue Rathaus zu nennen. Im Stil der Renaissance wurde es in den Jahren 1879 bis 1881 von Hauberisser erbaut und von Ludwig Herterich mit historischen Oelgemälden sowie von Lindenschmit mit Fresken verziert. Namentlich das Hauptbild von Lindenschmit im Sitzungssaal fesselt unsere Aufmerksamkeit. Es versetzt uns in die Zeit der Schwedennot und zeigt uns den Vorgang, wie die von dem Feinde bezwungene Stadt durch Fürbitte ihrer Kinder von schwerer Brandschatzung und Plünderung verschont wird. Nicht eine geschichtlich verbürgte Thatsache, sondern eine sagenhafte Ueberlieferung wird durch das Bild verherrlicht. Aehnliche Sagen sind in verschiedenen anderen deutschen Städten verbreitet. So sollen z. B. die Naumburger Kinder am 28. Juli 1432 durch einen Bittgang ihre Vaterstadt an der Saale von der Plünderung durch die Hussitenscharen Prokops gerettet haben. Die Naumburger halten zum Andenken an dieses Ereignis am genannten Tage ein Kinderfest ab. In ähnlicher Weise wird in Kaufbeuren die Erinnerung an die erfolgreiche Fürbitte der Kinder durch eine gegen Jakobi (den 25. Juli) stattfindende Belustigung, das sogenannte „Tänzelfest“, wachgehalten.

[604] Sein Schauplatz ist das „Hölzle“, eine mit prächtigem Föhrenwalde gekrönte Anhöhe, und die Mitwirkenden sind die protestantischen Kinder Kaufbeurens. Schon am Tage vor dem eigentlichen Feste herrscht im „Hölzle“ ein lustiges Treiben inmitten der zahlreichen Buden, die Gelegenheit zum Schauen und Spielen geben, oder als Wirtschaften die nötige leibliche Erquickung bieten.

Um fünf Uhr morgens am eigentlichen Festtage werden die Langschläfer durch die Klänge einer Reveille geweckt. Sie wird von einer Knabenkapelle veranstaltet, die in blanker Uniform flott durch die Straßen der Stadt marschiert. Inzwischen sammeln sich die „männlichen“ Festteilnehmer vor dem protestantischen Schulhause. Hier ordnet sich eine bunte Schar, deren Anblick jedes Herz erfreuen muß. Im kriegerischen Schmucke erscheint die Kaufbeurer Jugend. Da ist zunächst eine Abteilung Landsknechte in altertümlicher Tracht, in vielfarbigen reichgeschlitzten Wämsern; über ihnen flattert die gelbrote Fahne, die zwei Sterne und den geteilten Adler in ihrem Felde trägt. Neben ihnen sammelt sich bayrische Infanterie aus der Neuzeit um ein weiß-blaues Banner, und es erscheinen auch Artilleristen mit einer ihrer Größe angepaßten Kanone. Umringt von einem Stabe von Offizieren mustert der kleine Feldmarschall mit Federhut und hochgesticktem Kragen die sich stramm ordnende Schar.

Dann setzt sich unter Musikklängen der Zug in Bewegung; er rückt aber langsam vor; denn vor einzelnen Häusern wird Halt gemacht. Die Musik bläst einen Tusch; der erste Fahnenjunker tritt vor und schwingt dreimal mit der Rechten und dreimal mit der Linken regelrecht die Fahne; dann überreicht er sie dem zweiten Fähnrich, der in gleicher Weise das Fahnenschwingen besorgt. Für diese Aufmerksamkeit stiften die Hausbewohner kleine Geschenke, die in die Heereskasse fließen.

Während dieser Zeit haben sich an der Wertachbrücke die Teilnehmerinnen an dem Feste versammelt. Auch sie haben sich festlich herausgeputzt und allerlei Kostüme, vor allem Volkstrachten, angelegt. Natürlich fehlen Marketenderinnen nicht, wie es sich für ein militärisch gefärbtes Fest wohl ziemt. Mädchen und Knaben machen noch vereint einen Umzug durch die Straßen der Stadt und die jungen Landsknechte beziehen die Wache vor dem Rathause.

Landsknechte. 
 Artillerie.
  Marketenderinnen.

Nachmittags marschiert man in das „Hölzle“ hinaus, und dort bricht die helle Festfreude aus. Es werden allerlei Spiele ausgeführt, von denen unser Zeichner einige im Bilde festgehalten hat. „Wunderkreis“ heißt eine runde Anlage im „Hölzle“, auf der sich zwischen Rasenstreifen viele Fußpfade im Kreise herumziehen. Auf diesem eigenartigen Platz machen die Knaben und Mädchen allerlei Aufführungen. Die schmucken Kostüme, die Blumenreifen, welche die Mädchen schwingen, die flatternden Fahnen gewähren einen überaus malerischen und bewegten Anblick. Das eine Bild auf Seite 605 zeigt uns die Jugend auf dem eigentlichen „Tänzelplatz“ versammelt, den hohe Waldbäume umrahmen. Die Knaben geben hier Beweise für ihre Kunstfertigkeit im Führen der Waffen und in allerlei Märschen; dabei spielen die kleinen Musikanten unermüdlich auf, und die Fähnriche schwenken lustig ihre Fahnen. Die Mädchen führen Reigen auf, wobei je zwei von ihnen einen Blumenreifen emporhalten. Auf den Kranzreigen folgen Ballreigen, Gesang und Tanz. In den Erholungspausen wird in den Buden Erfrischung eingenommen oder in allerlei Gewinnspielen das Glück versucht. Die Freude währt bis zum Abend, wo die Kinder um 7 Uhr heimkehren.

So ist der erste Festtag verrauscht, und am zweiten sind die Kinder früh auf den Beinen, denn das Fest wird – wiederholt. Am dritten aber tritt die Jugend zurück und die Erwachsenen halten sozusagen eine Nachfeier. Auf dem Tänzelboden wird wieder die weißblaue Fahne geschwungen. Nun weht sie in den Händen zweier Greise, die gerade vor fünfzig Jahren als Fähnriche in dem Knabenheere am Tänzelfest auftraten.

In dieser Weise wird seit alten Zeiten das eigenartige Fest in Kaufbeuren gefeiert. Ueber seinen Ursprung läßt sich heute Bestimmtes nicht mehr ermitteln, und wir können in dieser Hinsicht nur Vermutungen aufstellen. Da, wie schon erwähnt, ähnliche Kinderfeiern auch in anderen deutschen Städten abgehalten werden, wie z. B. in Dinkelsbühl, Landsberg a. L., Aichach, Naumburg a. S. etc., so dürfte es sich um einen Brauch handeln, der einst allgemeiner verbreitet war, dessen ursprünglicher Zweck aber im Laufe der Zeit in Vergessenheit geriet. Vielleicht bilden diese Feste die letzten Ueberreste einer altgermanischen Feier. Wir wissen ja, daß unsere heidnischen Vorfahren Auszüge in den Wald veranstalteten, um dort durch allerlei Zauberkünste feindselige Geister zu bekämpfen. Vielfach wurde auch der Kampf des Sommers mit dem Winter sinnbildlich in Volksspielen dargestellt. Aus solchen Bräuchen mögen sich die erwähnten Kinderfeste entwickelt haben; die kriegerische Ausrüstung der Knaben und der eigenartige Blumenschmuck der Mädchen deuten darauf hin. Mit fortschreitender Aufklärung wurden die Handlungen des heidnischen Gottesdienstes zu Spielen, und man setzte, um dem alten Aberglauben keine neue Nahrung zu geben, an Stelle der bösen Geister andere Feinde, wie z. B. die Schweden oder die Hussiten.

Gerade diese Umwandlung der althergebrachten Spiele erscheint uns bedeutsam. Sie zeigt uns, wie man interessante Volksbräuche erhalten und allmählich der Neuzeit anpassen kann. Mögen die schönen Kinderfeste fortblühen und in gleichem Maße noch spätere Geschlechter erfreuen! B. W.     


[605]

1.0 Der Reigentanz im „Hölzle“. 2. 0Im „Wunderkreis“.
Das „Tänzelfest“ in Kaufbeuren.
Nach dem Leben gezeichnet von Fritz Bergen.

[606] Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Eigenartige Experimente der Technik.

Einer der berühmtesten Naturforscher hat das Experiment für die unerschöpflichste Quelle, für das wichtigste Hilfsmittel und die unerläßlichste Stütze der Naturwissenschaften und zumal der Physik erklärt. Was Männer wie Tyndall, Faraday, Volta, Davy dem Experiment verdankten, haben sie oft und laut verkündet. Bedarf aber die reine Wissenschaft in so hohem Maße des Versuches, wieviel mehr muß dann das junge und starke Kind der Naturwissenschaften, die Technik, dieses Stabes und Leitfadens sich mit Vorteil bedienen! Man kann geradeheraus sagen, die Technik wäre nichts ohne das Experiment, sie hätte ihre größten und kühnsten Aufgaben nicht erfüllen können ohne dieses vornehmste Hilfs- und Bestätigungsmittel ihrer Fähigkeiten. So liegt es auf der Hand, daß mit den höheren und kühneren Aufgaben der Ingenieure auch der Versuch immer neue und eigenartigere Gestalten annehmen mußte, und von diesen teils merkwürdigen, teils großartigen Experimenten der modernen Technik dem Leser einige interessante Beispiele vorzuführen, ist der Zweck dieser Zeilen.

Ein reiches Feld für die Anstellung merkwürdiger Experimente ist stets das Gebiet des Eisenbahnwesens gewesen, dessen beispiellose Vervollkommnung in wenigen Jahrzehnten ohne die Anstellung grundlegender Versuche schwerlich hätte erreicht werden können. Denken wir nur an die Geschwindigkeit, die heute von mehreren Schnellzügen im regelmäßigen Betriebe und von Versuchszügen sehr häufig erreicht wird, etwa 90 bis 100 km in der Stunde, so ist auch dieser Erfolg keineswegs ohne grundlegende Vorversuche erreicht, bei denen man, unkundig, ob der Eisenbahnkörper und das rollende Material eine solche Beanspruchung überhaupt ertragen würden, Passagiere gar nicht mitzunehmen wagte. So stellte die französische Nordbahn vor acht Jahren einmal einen Versuchszug für eine Schnellfahrt zwischen Paris und Calais zusammen, der aus 16 Wagen und einer Lokomotive mit 245 cm hohen Rädern bestand, und auf dem das Gewicht der Reisenden durch Blei ersetzt wurde. Auf der freien Strecke lief dieser lange Zug mehrfach mit einer Geschwindigkeit von 90 bis 95 km, ja einmal von 115 km in der Stunde, im Gesamtdurchschnitt aber kam man über 76 km Geschwindigkeit nicht hinaus. Heute werden 70 bis 80 km von vielen Zügen anhaltend gefahren.

Der fruchtbarste Boden für Eisenbahnexperimente ist stets Amerika gewesen. Wo sonst hätte man beispielsweise ein Experiment ohne Vorbereitungen gewagt, wie das jenes Blitzpostzuges, der vor einigen Jahren einmal die Post eines in Vancouver am Sonnabend eingetroffenen Schnelldampfers bis Mittwoch früh an Bord der „City of New York“ in New York beförderte? Diese denkwürdige Post, die den halben Erdball in 20 Tagen umkreiste, wurde von einem aus Lokomotive und Postwagen bestehenden Extrazug in drei Tagen fast quer durch ganz Kanada gewirbelt, obwohl der Zugführer auf der westlichen Hälfte der Fahrt derartige Verspätungen in den Felsengebirgen erlitten hatte, daß er am Dienstag Morgen nach 60stündiger Fahrt 600 km gegen seine Marschtabelle zurück war. Diese große Verspätung wurde an einem einzigen Tage eingeholt, in dessen Verlauf der Zug 12 Stunden hintereinander 115 km in der Stunde fuhr. Abends 9 Uhr schoß er in die Station von Brockville, wo eine Dampffähre die 18 Postsäcke auf die andere Seite des Sankt Lorenzstroms schaffte und ein Vanderbilt’scher Extrazug sofort mit ihnen davonraste. Der Führer des letzteren hatte nun die heikle Aufgabe, seine Maschine in 7 Stunden über eine Strecke von 650 km zu leiten, eine Strecke, wie sie von den besten Kontinentalzügen Europas in 12 bis 14 Stunden gefahren wird – und überdies auf einer der gefährlichsten und belebtesten Routen des Landes. Gleich zu Anfang nahm der Lokomotivführer ein Tempo an, in welchem er 1 engl. Meile (1,6 km) in der Minute fuhr, und behielt dasselbe 2½ Stunden bei. In Utika vernichtete eine kleine Verzögerung die Frucht dieser Arbeit, und nun wurde mit 104 km in der Stunde gefahren. Hinter Albany, wo man 5 Minuten aufgehalten wurde, begann eine rasende Fahrt, während deren in je 8 Minuten 15 km zurückgelegt wurden, dann wieder durchfuhr der Zug in 72 Minuten eine Strecke, die von dem berühmten Blitzzug Berlin-Hamburg in 96 Minuten gefahren wird. Zuletzt legte man noch einmal eine von Zügen besäete Strecke von 60 km in 32 Minuten zurück, und rechtzeitig stand die Lokomotive im Bahnhof von New York. Nur 25 Minuten später glitt die „City of New York“ mit der eiligsten Postsendung der Welt aus dem Hafen.

Ein anderes merkwürdiges Experiment wurde vor etwa drei Jahren von den Ingenieuren der Pennsylvania-Bahn bei der Einführung der elektrischen Zugkraft für den Tunnelbetrieb gemacht. Man wünschte zu wissen, ob die fertiggestellten elektrischen Lokomotiven dieselbe Zugkraft wie die gebräuchlichen Güterzugsmaschinen entwickeln würden. Anderwärts hätte man das durch umständliche Rechnungen etc. herausgebracht, hier ergriff man ein einfacheres Mittel: eine geheizte Dampflokomotive und eine elektrische Lokomotive wurden aneinander gekuppelt und beide auf volle Kraft gesteuert. Es entspann sich ein kurzer Kampf, ein Drängen und Schieben, dann zog die kleine elektrische Lokomotive die weit größere und doppelt so schwere Dampfriesin widerstandslos hinter sich her, und die Frage war entschieden.

Im engen Zusammenhang mit der Eisenbahnpraxis stehen die von Zeit zu Zeit künstlich herbeigeführten Einstürze von Eisenbahnbrücken durch eine genau abgewogene Belastung, die nichts anderes darstellen als Experimente, um festzustellen, welcher Beanspruchung ähnlich konstruierte Brücken gewachsen sind. So wurde im Jahre 1894, nachdem bei Forst i. d. L. eine neue Eisenbahnbrücke über die Neisse gebaut war, ein Joch der alten durch Belastung mit Eisenbahnschienen gestürzt. Rechnungsmäßig hätte das betreffende Joch 2600 Schienen oder eine Belastung von 3500 kg für den Quadratcentimeter tragen sollen, wenn es noch neu gewesen wäre. Allmählich näherte man sich dieser Belastung und beobachtete genau die Biegungen und Senkungen der Brücke. Bei einer Belastung von mehr als 9/10 der berechneten brach das Eisenjoch, mit 11 000 Centnern beladen, krachend zusammen: für den Verkehr hätte es noch eine vierfache Sicherheit besessen.

Aehnlich diesem Versuch wurde zwischen dem 19. und 21. Oktober 1897 in Baden die 31 Jahre im Dienst benutzte Erlenbachbrücke der Schwarzwaldbahn bei Bieberach-Zell durch Belastungsproben gestürzt. Drei Stunden, nachdem die Belastung das Doppelte dessen erreicht hatte, was bei normalem Betriebe allenfalls noch vorkommen konnte, bemerkte man gefahrdrohende Ausbiegungen der Träger; dann, als man die Belastung noch weiter steigerte, brach die Konstruktion zusammen. Das neueste Beispiel eines versuchsweisen Brückeneinsturzes ist die absichtliche Zerstörung einer 31 m langen Eisenbahnbrücke in Flandern, die von dem Leiter des flandrischen Straßen- und Brückenbaues angeordnet worden ist. Es handelt sich darum, die Bruchbelastung einer neuen Brückenkonstruktion zu finden. Die Brücke, deren zulässige Normalbelastung 150 Tonnen oder 3000 Centner beträgt, soll eine Woche unter dieser Belastung stehen, dann in der folgenden Woche das Doppelte, in der dritten das Dreifache tragen etc., bis sie zusammenbricht.

Durch Schwungrad-Explosionen, welche an Maschinen von hoher Rotationsgeschwindigkeit ausgeführt wurden, hat man neuerdings die Gesetze, unter welchen Räder, Schleifsteine etc. zerspringen, zu erforschen gesucht. Aber die Experimente stimmen mit den Erfahrungen des praktischen Betriebes nicht überall zusammen. In Cleveland brachte man kleine stählerne Räder zum Zerspringen, und bei einer Umfangsgeschwindigkeit von 8000 m in der Minute erlangte die Fliehkraft das Uebergewicht über die Festigkeit des Materials. Anderseits aber hat man in Lavalturbinen, Centrifugen und einigen anderen Maschinen rotierende Körper von derselben oder noch größerer Umfangsgeschwindigkeit, ohne die Gefahr des Explodierens zu befürchten. Vergleichsweise sei mitgeteilt, daß die Umfangsgeschwindigkeit der schnellsten Pneumatikräder, die je über eine Velociped-Rennbahn glitten, 1000 m in der Minute, und diejenige der schnellsten Lokomotivräder das Doppelte nicht übersteigt.

[607] In dem Bestreben, die Berechnungen über die Festigkeit der Stein- und Stahlkonstruktionen mit unwiderleglichen Beweisen zu versehen, hat man alle möglichen Materialien in genau arbeitenden Apparaten einem immer höher steigenden Druck unterworfen, bis sie endlich zersprangen. So wurde u. a. auf diese Weise ein Würfel aus Carborundum, als dem härtesten bekannten Mineral, zerdrückt, und alsdann ein solcher aus feinstem, hartem Stahl. Der Kohlenstoffblock zersprang, als er einem Druck von 850 kg auf den Quadratcentimeter unterworfen wurde. Der Stahl hielt einem Drucke von beinahe 6050 kg auf den Quadratcentimeter das Gegengewicht, und als er dann endlich zersprang, geschah es mit dem Donner eines gelösten Geschützes, während sich feine Stahlsplitter in alle zugänglichen Gegenstände der Umgebung einbohrten.

Das ist nur eine ganz kleine Auslese aus den Experimenten der modernen Technik, aber sie wird sicherlich ausreichen, um zu zeigen, wieviel des Interessanten und Neuen auf diesem Gebiete sich abspielt. W. Berdrow.     

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Blätter und Blüten


Zur Krönung der Königin Wilhelmina. (Mit Bildnis S. 581.) In der berühmten Nieuwe Kerk (Neuen Kirche) zu Amsterdam, in welcher so manche Großthaten niederländischer Geschichte durch Denkmäler verherrlicht sind, fand am 6. September ein bedeutsamer, feierlicher Akt statt.

Der jugendlichen Königin Wilhelmina ward auf das blonde Haupt die Krone der Niederlande gedrückt und sie hat den Eid geleistet, die Gesetze des Landes zu achten und sein Wohl wahrzunehmen, „wie es eine gute Königin zu thun schuldig ist“.

An dem Feste der stammverwandten Holländer nehmen auch die Deutschen mit aufrichtigen Glückwünschen teil, ist doch die junge Königin, der man nur Gutes nachsagt, die Tochter einer deutschen Fürstin.

Wilhelmina ist bereits seit acht Jahren Königin der Niederlande. Mit König Wilhelm III, der am 23. November 1890 starb, erlosch der Mannesstamm des Hauses Nassau-Oranien. Zwar hatte ihm seine erste Gemahlin Sophie, Tochter des Königs Wilhelm I von Württemberg, zwei Söhne, die Prinzen Wilhelm und Alexander, geschenkt, aber beide waren dem Vater im Tode vorausgegangen. Aus seiner zweiten Ehe mit Emma, Prinzessin zu Waldeck und Pyrmont, stammt Wilhelmina, die nach dem Grundgesetze des Landes dem Vater auf dem Thron der Niederlande folgte. Damals war sie erst zehn Jahre alt und so übernahm ihre Mutter, die Königin Emma, die Regentschaft des Landes. Die Königin-Regentin zeigte sich ihrer Aufgabe völlig gewachsen; als eine kluge und doch liebenswürdige Fürstin ist sie bei den Holländern sehr beliebt. Sie hat es auch verstanden, ihre Tochter trefflich zu erziehen und für den schwierigen Herrscherberuf vorzubereiten.

Am 31. August dieses Jahres vollendete Königin Wilhelmina ihr achtzehntes Lebensjahr und übernahm die Regierung des Landes. Der Krönung in Amsterdam schließt sich eine Reihe von Festlichkeiten an, die zwei Tage dauern sollen. Am 9. September wird die Königin ihren feierlichen Einzug in die Residenzstadt Haag halten und dort mehrere Tage verweilen, um an den geplanten Festlichkeiten und Volksbelustigungen teilzunehmen.

Möge es der jungen Herrscherin in der Zukunft beschieden sein, die Liebe, die ihr das Volk entgegenbringt, sich stets zu erhalten und als eine „gute Königin“ ihr Land zu beglücken. *      

Münchens Trauerfeier um den Fürsten Bismarck. (Zu dem Bilde S. 585.) Zu einer ernsten Feier war München am 12. August gerüstet. Es galt, der tiefen Trauer, von welcher durch das Hinscheiden des Fürsten Bismarck die Herzen erschüttert wurden, auch einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen, und Tausende und aber Tausende zogen bewegt nach dem Königsplatze, wo am späten Abend die ergreifende Kundgebung stattfinden sollte.

Mit schwarzen Trauertüchern waren die Propyläen, das berühmte mit dorischen und jonischen Säulen geschmückte Prachtthor, verhangen. Dunkle Cypressen zogen sich von ihm im Halbkreis nach der Glyptothek und dem Kunstausstellungsgebäude hin, und inmitten dieses düsteren Halbrunds ragte der mächtige, acht Meter hohe Katafalk empor. Von der Vorderseite des schwarzen Aufbaus leuchtete weit sichtbar das mit einem goldenen Eichenkranze umrahmte Wappen Bismarcks, während an den Ecken Gestalten trauernder Genien mit langen schwarzen Flügeln Fackeln hielten. Ein Riesenkranz aus goldenen Eichenblättern, der im Durchmesser zehn Meter hatte, war hinter diesem Mittelpunkt der Trauerdekoration aufgestellt und hob sie wie ein leuchtender Rahmen wirkungsvoll von dem dunklen Hintergrunde ab. Goldene Guirlanden an den Pylonen der Propyläen und goldene Vierfüße vor dem Katafalk und zwischen den Cypressen vervollständigten den großartigen Trauerschmuck.

Gegen 30 000 Menschen harrten auf dem Königsplatze in weihevoller Stimmung auf den Beginn der Trauerfeier. Glockengeläute und Fanfaren, die von der Glyptothek, dem Kunstausstellungsgebäude und dem Dache der Propyläen abwechselnd erklangen, leiteten sie ein. Nun traten aus der mittleren Säulenhalle 20 Gugelmänner mit Magnesiumfackeln hervor. So werden die mit schwarzen Kapuzen vermummten Gestalten genannt, die nach altem Brauch bei der Bestattung der bayrischen Könige zu erscheinen pflegen. Langsam schritten sie vor und traten an den Katafalk. Inzwischen wurden auf den Dächern, den Drei- und Vierfüßen die Feuer entzündet. Der blutigrote Schein der Pechpfannen ergoß sich über die Trauerstätte, und nun begann bei den Klängen des Trauermarsches aus der As-moll-Sonate von Beethoven die eigentliche Huldigung. In langer Reihe zogen mit gesenkten Fahnen die Deputationen verschiedener Vereine vorbei, langsam bestiegen sie die Stufen des Katafalks und legten dort ihre Kränze nieder. Den Schluß dieser Huldigung bildete der Vortrag eines Chors, der nach der Dichtung Possarts von Theodor Podbertsky komponiert worden war:

0„Leuchtet, ihr Flammen, ihr blutigroten,
0Züngelt empor in die Nacht,
0Werdet den Völkern der Erde Boten:
0Die Deutschen halten ihrem Toten
      Die letzte Fahnenwacht.
Hört Ihr den Schwur, der dem trauernden Volke
0Heut’ sich entringt?
0Flammende Wolke
0Trag’ ihn beschwingt
0Nach Osten – nach West:
0‚In Treue fest‘
0Stehen wir hier,
0Halten eisern was Er uns geschaffen,
Schützen das Reich! Und mit heiligen Waffen
Trotzen wir kühnlich des Feindes Begier:
0Eins in der Not,
0Eins bis zum Tod!
0So segne uns Gott!“

In gewaltigen Schlußtönen verklang der Chor, und nun fiel ein markerschütternder von den Tambouren der drei Münchener Infanterieregimenter geschlagener Trommelwirbel ein, nach dessen Verhallen die Musik die „Wacht am Rhein“ intonierte. Aus tausend und aber tausend Kehlen brauste das Lied mächtig zum nächtlichen Himmel empor, und mit ihm schloß die erhebende Trauerfeier Münchens um den gewaltigen Schmied der deutschen Einheit.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0607.jpg

Georg Ebers †.
Nach einer photographischen Aufnahme von Georg Brokesch in Leipzig.

Georg Ebers †. (Mit obenstehendem Bildnis.) Ein tüchtiger Gelehrter, ein Liebling des deutschen Lesepublikums, ein vortrefflicher, liebenswürdiger Mensch ist in Georg Ebers dahingegangen, der am 7. August in seiner Villa in Tutzing am Starnberger See verstarb. Auf dem Umweg durch die historische Forschung ist er zum Dichter geworden; aus der reichen Stofffülle, die ihm die ägyptische, römische und deutsche Vorzeit gewährte, hat er seine poetischen Bilder entnommen, das Leben, das er seinen Gestalten einhauchte, die Gedankenwelt, in welche seine Romane eingesponnen sind. Ebers ist am 1. März 1837 zu Berlin geboren. Auf der dortigen Universität vertauschte er das Studium der Rechte, dem er sich anfangs widmete, 1858 mit demjenigen der klassischen und orientalischen Philologie, und seit 1859 beschränkte er sich ausschließlich auf die Aegyptologie. Auf dem Gebiete dieser Wissenschaft hat er sich namentlich durch den glücklichen Fund des „Papyros Ebers“, welcher von den Arzneimitteln der alten Aegypter handelt und aus dem 16. Jahrhundert v. Chr. stammt, sowie durch den eingehenden Kommentar zu dieser altersgrauen Urkunde einen Namen gemacht.

In Jena hatte sich Ebers 1865 habilitiert, wurde dort 1868 außerordentlicher Professor und 1870 als ordentlicher nach Leipzig berufen, wo er bis zum Jahre 1889 als Docent wirkte. Die Folgen einer schweren Erkrankung in seiner Jugendzeit, die zunehmenden Lähmungen [608] hinderten ihn in seinem akademischen Wirken, während sie seine geistige Regsamkeit und Schaffenslust nur wenig beeinträchtigten. Als er noch zu wandern und zu reisen vermochte, hat er mehrfach Aegypten, Nubien und Syrien aufgesucht, zuerst 1868, dann wieder 1872 bis 1873, wo er unter den Trümmern von Theben seinen Papyros fand. Die Ergebnisse seiner Studien hat er jedoch nicht ausschließlich in fachwisscnschafllichen Schriften verarbeitet, sondern einen Teil derselben in Reisebüchern und illustrierten Prachtwerken auch dem großen Lesepublikum vermittelt. Und an dieses Publikum wandte er sich auch mit seinem Werke „Eine ägyptische Königstochter“ (3 Bde., 1864), welches die Leser in die Welt des ägyptischen Altertums einführen sollte und lebensvolle Bilder an den Faden einer Erzählung reihte. Die „Aegyptische Königstochter“ fand großen Beifall, und doch dauerte es noch zwölf Jahre, bis Ebers seinen ersten größeren ägyptischen Roman „Uarda“ veröffentlichte, in welchem auf wissenschaftlicher Grundlage ein selbständiges Dichterwerk aufgebaut war. Anmutig war die junge Uarda geschildert, das viel erduldende Mädchen aus dem Norden; auch sonst fand sich poetisch Wertvolles, hochtönender Hymnenstil, lebendige Schilderung der Schlacht und des Schloßbrandes. Das Zauberwesen der Aegypter, ihre sonderbaren Sitten gaben dem ganzen Werke eine eigenartige fesselnde Stimmung. Den gleichen Erfolg hatten die nächsten Werke von Ebers, wie „Homo sum“, „Der Kaiser“, „Kleopatra“, „Serapis“, „Die Nilbraut“ u. a. Als der Stoff der ägyptischen Kulturgeschichte sich zu erschöpfen drohte, wandte sich Ebers, dem Vorgange Gustav Freytags und Felix Dahns folgend, der deutschen zu, mit Vorliebe das Reformationszeiralter und das Leben in deutschen Reichsstädten, wie Nürnberg, behandelnd. Diese Romane sind ungleich an Wert, einzelne, wie „Barbara Blomberg“, haben die Vorzüge der Walter Scottschen Romane, in andern überwiegt die Schilderung der Kulturzustände das poetische Element, wie in „Die Gred“, „Im blauen Hecht“, im „Schmiedefeuer“. Seine letzten Werke schuf Ebers meistens in Tutzing, wo er seit 1889 im Sommer auf seiner Villa weilte. †      

Die neuerschlossene Thermalquelle in Bad Oeynhausen.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph C. Colberg in Oeynhausen.

Die neue Thermalquelle in Bad Oeynhausen. (Mit obenstehender Abbildung.) Im Jahre 1845 wurde in dem anmutigen Weserthale, unweit der Einmündung der Werre in die Weser, vom Berghauptmann v. Oeynhausen das nach ihm benannte Bad gegründet. Die warmen Soolquellen erwiesen sich heilsam gegen chronische Leiden des Nervensystems, sowie diejenigen Knochen- und Muskelerkrankungen, welche mit Lähmungen und Schmerzen verknüpft sind. Unter königlich preußischer Verwaltung erfreute sich der Badeort einer fortschreitenden Entwicklung, und die Zahl der Kurgäste stieg namentlich in den letzten Jahren bedeutend. Leider war die Freude der Bewohner des inzwischen zur Stadt herangewachsenen Badeortes durch Sorge getrübt. Die wichtigste Thermalquelle lieferte verhältnismäßig zu wenig Wasser, so daß man den Anforderungen der immer zahlreicher erscheinenden Badegäste nur mit Mühe und Not gerecht zu werden vermochte. Der Versuch, den Ausfluß der alten Thermalquelle zu erhöhen, mißlang, und so ging man daran, eine neue Quelle zu erbohren. Das war ein schwieriges und kostspieliges Unternehmen. Dem Haupte der Badeverwaltung, dem Bergrat Morsbach, gelang es aber, die nötigen Mittel zu beschaffen. Von der Regierung und dem Abgeordnetenhause wurden zunächst 90000 und dann 80000 Mark für die Bohrungen bewilligt. Fast zwei Jahre dauerten die Arbeiten, und der Bohrmeister Lohel ließ schon beinahe die Hoffnung auf Erfolg sinken. Da wurde in der Nacht vom 7. zum 8. Juli d. J. in der Tiefe von 624 m eine große, wasserführende Kluft angefahren. Schnell war das Bohrzeug entfernt, und mit gewaltigem Druck entquoll nunmehr dem Erdinnern ein kräftiger Born, der in der Minute einen Kubikmeter Wasser lieferte. Die neue Quelle weist die Eigenschaften des alten Oeynhauser Sprudels auf: sie hat eine Temperatur von 33° C. und einen starken Gehalt an Kochsalz und Kohlensäure. Die Zukunft des Bades ist nunmehr in vollstem Maße gesichert, und man wird sogleich den Bau eines neuen Thermalbadehauses beginnen. Unsere nebenstehende Abbildung veranschaulicht die Mächtigkeit der neuerschlossenen Heilquelle.

Ein Leopard-Pumabastard. (Mit untenstehender Abbildung.) Vor etwa drei Jahren verkaufte Karl Hagenbeck in Hamburg an einen Menagerie-besitzer in England einen männlichen Leopard und einen weiblichen Puma, unter der Garantie, daß beide Tiere sich vertragen werden. Das traf in der That zu, und die Tiere haben sogar im Laufe der Zeit drei Wurf Junge gebracht. Jeder Wurf bestand aus zwei Jungen, die jedoch bis auf eins zu Grunde gingen. Den überlebenden Bastard erwarb Karl Hagenbeck. Er gab der jungen Katze, die sich anfangs sehr grämte, einen kleinen gelben Hund als Gesellschafter, und beide Tiere leben nun auf dem besten Fuße zusammen. Der Puma, auch Kuguar genannt, vertritt in Süd- und Nordamerika die Stelle des Löwen. An Größe ist er dem Leoparden ungefähr gleich. Er hat einen mähnenlosen Kopf, und sein Pelz zeigt eine rötlichbraune bis silbergraue Färbung, weshalb diese Raubkatze der Neuen Welt auch Silberlöwe genannt wird.

Der Leopard-Pumabastard ist für die Zoologen ein hochinteressantes Tier. Er hat die Grundfarbe eines Pumas, die Flecken sind mehr denen des Jaguars ähnlich; der Schwanz ist dagegen sehr lang und dick wie bei den Pumas. *      

Ein Leopard-Pumabastard.
Nach dem Leben gezeichnet von Emil Horst.

Samenbildung an abgeschnittenen Blumen. Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß eine ganze Reihe von Pflanzen, namentlich Zwiebel- und Knollengewächse, wie Lilien, Hyacinthen, Amaryllen etc., trotz aller Sorgfalt, die man ihnen angedeihen läßt, in der Regel keinen Samen hervorbringen. Das hat nicht etwa seinen Grund darin, daß die Blüten unvollkommen ausgebildet sind und so eine Befruchtung unmöglich machen, vielmehr zeigt die Untersuchung, daß diese Organe völlig in Ordnung sind. Und trotzdem, auch wenn man sie noch so kräftig bestäubt, setzen sie keine Samen an. Schneidet

[609]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0609.jpg

Im Wettstreit.
Nach einer Originalzeichnung von Paul Hey.

[610] man dagegen Blumenstengel z. B. von Hyacinthen oder Amaryllis ab und stellt sie in Wasser, so beobachtet man nach einem gewissen Zeitraum nicht allein, daß der Stengel Samen ansetzt, sondern auch vollkommen ausreift. Ja noch mehr, als Hugo Lindemuth die ihrer Blüten beraubten Blumenstengel allein in Wasser stellte, bildeten sich an der im Wasser stehenden Stengeloberfläche Zwiebelchen, aus denen sich, wenn man sie weiter kultiviert, Pflanzen entwickeln.

Worin haben nun diese auffälligen Erscheinungen ihren Grund?

Alle diese Pflanzen, von denen die Rede war, vermehren sich sowohl in der freien Natur, als auch in der Kultur durch die Neubildung von Knollen oder Zwiebeln. Sie haben sich früher einmal, das darf sicher angenommen werden, auch durch Samen vermehrt, und es steht dahin, ob Schwierigkeiten in der Befruchtung oder sonstige, nicht mehr nachweisbare Einwirkungen sie zu der Abänderung in der Art ihrer Fortpflanzung veranlaßt haben. Jedenfalls genügt ihnen aber die jetzige Art, sich zu vermehren, so vollständig, daß sie das Samentragen verlernt haben. Bei ihnen gehen die Nährstoffe, die sonst nach den Blüten wandern und zur Ernährung des reifenden Samens dienen, in die Knollen und Zwiebeln zurück und werden zur Neubildung junger derartiger Organe verwandt. Wird nun ein solcher Blumenstengel abgeschnitten, so können die in ihm enthaltenen und in dem krautigen, saftigen grünen Stengel fortdauernd neugebildeten Nährstoffe nicht mehr in die Knollen zurückwandern; verwandt müssen sie aber doch werden, und nun besinnt sich d:e Pflanze gewissermaßen auf längst vergangene Zeiten, es tritt ein Rückschlag ein, und sie kehrt zu einer Art der Fortpflanzung zurück, die sie sonst nicht mehr übt. Die Bildung der Zwiebelchen an den ihrer Blüten beraubten Blumenstengeln ist auf ähnliche Weise zu erklären.

Die geschilderten Vorgänge bilden einen Beweis für die ungeheure Zeugungskraft der Natur, für die Energie, mit der unter ungünstigen Verhältnissen die Art sich zu erhalten bestrebt ist, sie zeigen, wie auch im Notfall die Pflanzen noch Mittel und Wege für ihre Vermehrung besitzt.

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Heimstätte für weibliche Genesende: 
Gut am Gleesberg 
bei Neustädtel im Sächsischen Erzgebirge.
 

 Heimstätte für männliche Genesende:
 Rittergut Förstel bei Raschau im Sächsichen Erzgebirge
.

Zwei Heimstätten für Genesende im Sächsischen Erzgebirge. (Mit Abbildungen.) Zu den schönsten Errungenschaften der Krankenpflege zählt ohne Zweifel die Gründung von Heimstätten für Genesende. Die Minderbemittelten leiden doppelt schwer unter den Nachwehen überstandener Krankheiten. In ihrem Hause finden sie nur selten reine Luft, stärkende Nahrung und zweckmäßige Pflege. An verschiedenen Orten Deutschlands wurden darum in jüngster Zeit Heimstätten errichtet, in welchen die Genesenden bis zur völligen Wiederherstellung ihrer Kräfte verbleiben können. Vor etwa zehn Jahren sind zwei solcher Anstalten im Sächsischen Erzgebirge von einem hochherzigen Leipziger Bürger gegründet worden. Dr. Willmar Schwabe erwarb zwei Güter mit ausgedehnten Wald-, Wiesen- und Feldparzellen und ließ in ihnen je eine Heimstätte errichten. Das in der Nähe der Städte Schneeberg und Neustädtel gelegene Gut am Gleesberg wurde zur Aufnahme weiblicher Genesender bestimmt, während auf dem Rittergute Förstel bei Raschau männliche Genesende Verpflegung finden sollten. Anfangs wurden die Oekonomien beider Güter an Landwirte verpachtet, die im Gutsgehöfte wohnten; seit einigen Jahren löste man aber dieses Verhältnis auf, verpachtete die Felder und Wiesen einzeln an umwohnende Landwirte, und die Heimstättenverwaltung nahm sämtliche Wohn- und Wirtschaftsgebäude in Gebrauch. Jede der beiden Heimstätten war ursprünglich für 30 Betten eingerichtet; im Laufe der Zeit erhielt aber die am Gleesberge eine wesentliche Erweiterung. Dort brannte am 9. Oktober ein Teil der Oekonomiegebäude ab, und an ihrer Stelle ließ Dr. Schwabe ein neues Gebäude errichten, das Raum für weitere 30 Betten bietet, einen Speisesaal für 70 Personen und eine entsprechend große Küche enthält.

Nach der Bestimmung des Stifters sollen die Heimstätten in erster Linie den Mitgliedern der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgegend dienen, aber auch die Aufnahme anderer Personen ist gestattet, wobei als Verpflegungssatz 2 Mark für den Tag festgesetzt sind. Die Leitung der Anstalt, die auch im Winter geöffnet ist, wurde den Schwestern des Albert-Zweig-Vereins zu Leipzig übertragen, während Aerzte aus den benachbarten Städten ärztlichen Beistand leisten. Im Laufe der ersten acht Jahre ihres Bestehens hat die Heimstätte am Gleesberg 2082 weibliche, die in Förstel 1716 männliche Genesende verpflegt. Die Rekonvalescenten verblieben durchschnittlich etwa vier Wochen in der Heimstätte, und die meisten kehrten, dank der sorgfältigen Pflege in der erquickenden Gebirgsluft, völlig gekräftigt und arbeitsfähig nach Hause zurück.

Die Ruine Unspunnen bei Inlerkaken. (Zu dem Bilde S. 597.) Der Eingang in das Lütschinenthal bildet gleichsam das Thor zu der Wunderwelt der eisgekrönten Bergriesen des Berner Oberlandes. Hier liegt malerisch, von Obstbäumen überschattet, das Dörfchen Wilderswyl, und über ihm thront auf einem schmalen Hügel ein altersgraues Gemäuer: die Ruine der Burg Unspunnen. Noch sind in ihr die Burgverließe erhalten, in denen einst Gefangene der Burgherren schmachteten, und der sachkundige Führer weiß dem fremden Wanderer so manche Geschichte aus der Vergangenheit des einstigen Ritterhorstes zu berichten. Einst waren die Freiherren von Oberhofen Besitzer des Schlosses Unspunnen und sie hatten nach alter Ritterart allerlei Fehden auszufechten. So gab es auch eine Todfeindschaft zwischen ihnen und dem Herzog Berchtold von Zähringen, der als Rektor von Burgund in Bern gebot. Der Name der Freiherren drohte aber zu erlöschen; Burkhard, der letzte Ritter von Unspunnen, hatte nur eine Tochter. Da ereignete sich die alte Geschichte, daß die Jungfrau die Liebe eines Ritters aus dem feindlichen Lager erwiderte. Rudolf von Wädiswyl drang in finsterer Nacht in die Burg Unspunnen ein, entführte das Mädchen und vermählte sich mit ihm in Bern. Nun entbrannte eine mehrjährige Fehde zwischen Burkhard und den Zähringern, bis eines Tages Rudolf von Wädiswyl auf der Burg Unspunnen erschien und dem ergrimmten Schwiegervater seinen Sohn vorführte. Der Anblick des Enkels rührte das Herz des alten Ritters, und er schloß Frieden mit seinen Gegnern. Zur Erinnerung an diese Versöhnung wurde im Lande alljährlich am 17. August ein Fest abgehalten, das im Laufe der Zeiten sich zu einem großen Alphirtenfeste mit Schwingen, Steinstoßen, Alphornblasen, Kuhreihen u. dergl. gestaltete. Zu seinem Schauplatz wurde die herrliche Wiese unterhalb Unspunnen gewählt. Diese Feste, die namentlich im Anfang dieses Jahrhunderts viele Zuschauer herbeilockten, trugen sehr dazu bei, die Aufmerksamkeit der Fremden auf die Naturwunder des Berner Oberlandes zu lenken.

Zu Anfang des 14. Jahrhunderts gehörte Unspunnen dem Geschlecht der Weißenburger, an welche Kaiser Heinrich VII die Landschaft Hasle verpfändete. Die Hasler empörten sich gegen die neuen Herren, welche den Zins eigenmächtig erhöhten; aber sie wurden besiegt, und in den Burgverließen von Unspunnen schmachteten fünfzig Hasler vier Jahre lang, bis sie 1334 von den Bernern befreit wurden. Seit jener Zeit verlor die Burg Unspunnen ihre Bedeutung und fiel langsam in Trümmer, gleich so vielen anderen Ritterburgen des Schweizerlandes.

Unser Bild führt die Ruine nach einer Zeichnung von J. Rummelspacher vor. Wir haben die Vorlage dem Prachtwerke „Die Jungfrau und das Berner Oberland“ von Theodor Wundt (Berlin, Raimund Mitscher) entnommen, das von der Sektion Berlin des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins herausgegeben wurde und die Beachtung aller Alpenfreunde verdient. *      

Stella Hohenfels. (Mit Bildnissen S. 611.) Im Burgtheater zu Wien findet am 8. September eine Jubiläumsfeier statt. Sie gilt der Schauspielerin Stella Hohenfels, die nunmehr auf eine fünfundzwanzigjährige Thätigkeit an dieser berühmten deutschen Bühne zurückblickt und in dieser langen Spanne Zeit durch Ausdauer und ernstes Streben die Gunst des Wiener Publikums und die Anerkennung der Kritik zu erringen verstand.

Die Jubilarin vertritt, um in der Theatersprache zu reden, das Fach der „Naiven“, dem sie aber in eigenartiger Weise einen weiten Umfang gegeben hat. Ihr Repertoire umfaßt nicht allein die naiven Gestalten in engerem Sinne, die spröden Backfischfiguren des älteren Lustspiels, die knabenhaften Mädchenrollen wie z. B. die der Parthenia im „Sohn der Wildnis“ von Halm oder des Junker Georg im „Götz von Berlichingen“. Ihre Kunst geht über diese Grenzen hinaus und erstreckt sich überhaupt auf die Darstellung von Frauengestalten, die bei aller Wärme und Innigkeit der Empfindung nicht gerade einen tragisch-heroischen Zug, wie z. B. eine Medea oder Judith, aufweisen. So hat Stella Hohenfels in der Vorführung der Cordelia und Ophelia Shakespeares sich hervorgethan, die reife Jdealgestalt der Leonore von Este in „Torquato Tasso“ und die Esther in Grillparzers gleichnamigem Fragment mit tiefem Verständnis wiedergegeben und als Darstellerin der Phöbe, der Gattin des „Meisters von Palmyra“, in Adolf Wilbrandts Dichtung einen glänzenden Erfolg errungen. Die Künstlerin besitzt die Gabe, die Einfalt des Naturkindes lebenswahr vorzutäuschen und auch den Seelenkampf einer Frau aus der verfeinertsten Gesellschaft zum wirksamen Ausdruck zu bringen. Mitunter gelingt es ihr auch, ihre Rollen zu „adeln“, indem sie derbere Gestalten wie z. B. den Puck im „Sommernachtstraum“ mit schelmischer Anmut umkleidet.

Trotz ihrer vielseitigen Begabung konnte Stella Hohenfels nur langsam in die erste Reihe der Schauspielerinnen des Burgtheaters [611] vorrücken. Sie debütierte in Wien als Gast am 30. Mai 1873 als Helene in Scribes „Feenhände“. Dr. August Förster hatte sie damals auf einer Kunstreise in Berlin, wo sie am Nationaltheater spielte, „entdeckt“. Bei jenem Gastspiel war Fräulein Hohenfels wenig über neunzehn Jahre alt. Sie kam, wenn unsere Quellen nicht trügen, am 16. April 1854 in Florenz zur Welt und hatte nur eine kurze theatralische Praxis hinter sich. Das Fräulein war nämlich bis zum Ausbruch des deutsch-französischen Krieges in einem Pariser Kloster erzogen worden; ihre Muttersprache war die französische, dann wurde sie in ein Pensionat bei Stuttgart gebracht, wo sie deutsch lernte.

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Esther in Grillparzers „Esther“.       Ophelia im „Hamlet“.       Puck im „Sommernachtstraum“.
Junker Georg im „Götz von Berlichingen“.   Phöbe im „Meister von Palmyra“.     
Stella Hohenfels.

Von hier ging Stella nach Leipzig, nahm dort dramatischen Unterricht, und nach wenigen Wochen fand sie schon ein Engagement in Berlin. Als Käthchen von Heilbronn erregte sie Aufsehen, obwohl sie der deutschen Sprache noch nicht ganz mächtig war. Da lernte Förster sie kennen, der sie nach Wien zu Dingelstedt brachte. Nach dem erwähnten Debüt spielte Fräulein Hohenfels ein zweites Mal am 5. Juni 1873 die Desdemona im „Othello“. Am 1. September 1873 wurde sie zunächst auf drei Jahre am Burgtheater engagiert, aber erst am 15. Juni 1882 erhielt sie das Dekret als Hofschauspielerin und am 1. September 1887 das Engagement auf Lebenszeit. Vor etwa fünfundzwanzig Jahren wirkte am Burgtheater eine Reihe glänzender weiblicher Talente: neben der Wolter und Gabillon die berühmte Auguste Baudius (als Frau Wilbrandt von der Bühne abgegangen, neuerdings wieder am Burgtheater engagiert), Wessely, Janisch, Buska, Helene Hartmann …. Das Fach der Naiven und Sentimentalen, das in den letzten Jahren nur sehr wenig hervorragende Vertreterinnen hatte, war damals reichlich vertreten. Dieser Umstand war für Stella Hohenfels nicht in jeder Hinsicht günstig. Während der ersten Jahre ihres Engagements mußte sie sich mit dem begnügen, was die anderen Kolleginnen übrig ließen. Es wurden ihr überhaupt jahrelang sprödere Rollen zugewiesen; man hielt ihre Begabung beschränkt auf das Fach der „Knabenmädchen“, weil sie den Junker Georg so glänzend gespielt hatte, und traute ihr anfangs keine anderen oder größeren Aufgaben zu. Die Schule, welche Stella Hohenfels in diesen Jahren der Dingelstedtschen Direktion durchmachte, entbehrte daher gewiß nicht der Strenge, war reich an Prüfungen, aber sie hatte doch das Gute zur Folge, daß sie die Künstlerin zwang, auch Aufgaben gerecht zu werden, die sie nicht sofort anzogen, oder Rollen zu einer guten Wirkung zu verhelfen, die ohne ein gutes Spiel verloren gewesen wären.

Seit dem 29. Juni 1889 ist Stella Hohenfels mit dem geistvollen Dichter und Professor der Aesthetik an der Wiener Universität Alfred Freiherrn von Berger vermählt. Die Ehe ist kinderlos, aber darum nicht minder glücklich in ihrer Art. Naturgemäß kann das Zusammenleben einer Schauspielerin mit einem litterarisch hochstehenden Manne nicht ohne vorteilhafte Rückwirkung auf ihre Kunst bleiben, wie es die Ehen Hebbels mit Christine Enghaus, Wilbrandts mit Auguste Baudius bewiesen.

Ueber das Privatleben der Künstlerin ist sehr wenig in die Oeffentlichkeit gedrungen. Sie lebt nicht in großer Geselligkeit und läßt sich außer dem Theater selten einmal sehen. Urlaub und Ferien benutzt sie nicht zu Gastspielen, sondern zu Studienreisen nach Italien und Paris, wo sie sich immer neue Anregung für ihre Kunst holt. M. Necker.     

Friedrich der Große im Schloß zu Lissa. (Zu dem Bilde S. 600 und 601.) Das ausgezeichnete Gemälde von Adolf Menzel, welches wir im Holzschnitt wiedergeben, ist bereits im Jahre 1858 entstanden, hat aber erst neuerdings das Atelier des Meisters verlassen. Es nimmt in der Friedrichsgalerie des berühmten Malers einen hervorragenden [612] Rang ein. Auf ihm stellt uns Menzel dar, wie der Mut und die Geistesgegenwart des großen Königs, die er so oft bei der Leitung der Schlachten bewiesen, sich auch bei einem persönlichen Abenteuer glänzend bewährten. Es war am Abend des 5. Dezember 1757 nach der Schlacht bei Leuthen, wo die verachtete „Potsdamer Wachtparade“ Friedrichs ein um das Doppelte überlegenes österreichisches Heer geschlagen hatte. Während Friedrichs Heer noch auf dem Schlachtfelde stand, brach er selber mit einem Trupp Husaren nach Lissa auf, um die Zerstörung der Brücke über das Schweidnitzer Wasser, über welches die Feinde geflohen waren, zu verhindern; es war ein lebensgefährlicher Ritt. Lissa war ganz mit Oesterreichern angefüllt, die aus den Fenstern auf die Ankommenden feuerten. Friedrich hoffte, ein Unterkommen im Schlosse zu finden; er sagte zu seinen Begleitern, indem er den Weg über die Zugbrücke einschlug: „Messieurs, folgen Sie mir, ich weiß hier Bescheid;“ doch als er in das Schloß eintrat, kamen ihm auch hier österreichische Offiziere entgegen. Rasch gefaßt sagt er: „Bon soir, Messieurs – kann man hier mit unterkommen?“ Das ist der Augenblick, den der Maler in seinem lebendig bewegten Bilde wiedergiebt.

Höchst ausdrucksvoll ist das Gesicht des Königs; noch merkt man die unangenehme Ueberraschung, die er indes mutig und nicht ohne einen leisen Anflug von Humor zu überwinden weiß. Nicht minder überrascht sind die österreichischen Offiziere, die, von einem Gelage aufgestört, den großen König erkennen und davon überzeugt sind, daß hinter ihm sein ganzes Heer steht. Der große Troß von Offizieren, Soldaten, Dienern und Dirnen, welcher die Freitreppe herunterkommt, ist um so mehr erschrocken, als er anfangs im Glauben war, eine österreichische Truppenabteilung vor sich zu haben; doch als der Soldat dem Vornehmsten, der freundlich grüßend seinen Hut lüftet, mit der Laterne in der erhobenen Rechten ins Gesicht leuchtet, da sieht man die feurigen Adleraugen, die dem Feinde so schreckhaften, scharf, gemeißelten Züge des großen Feldherrn, die auch dem rohesten Panduren und Kroaten aus hundert Bildern bekannt sind. Und wie ist das von dem Lichtstreifen beleuchtete dunkle Gewühl auf der Freitreppe von dem Maler mit kühnen Strichen hingeworfen! Bestürzung und Schreck, Angst und Verzweiflung, Zorn und herausfordernde Drohung malen sich in den Gesichtern und Gebärden; die Aufregung trägt zum Teil noch die Spuren des halben Rausches. Hier hat der große Friedrich durch den Zauber seiner Persönlichkeit, die Macht seines Geistes, die Energie seines Wesens einen unblutigen Sieg erfochten und die österreichischen Offiziere werden nicht zögern, ihm ihren Degen abzugeben.

Im Wettstreit. (Zu dem Bilde S. 609.) Wie viele von den Käuferinnen eleganter Hüte denken wohl einen Augenblick an die Herstellerinnen derselben? Im großen Prachtladen, wo die fertigen Kunstgebilde auf den Tischen prangen, ist nichts von jenen zu sehen; aber wer in demselben Haus eine Treppe höher steigt, der blickt wohl gegenüber durch ein Hoffenster hinein in die enge Werkstatt, wo so viel aparte Zierlichkeit aus den verschiedenartigsten Bestandteilen aufgebaut wird. Der Platz ist knapp bemessen, kein Fuß breit unbenutzt; dicht um den Tisch gedrängt, umgeben von Seide, Federn, Band und Blumen, sitzen die netten Mädchen und sticheln mit behenden Fingern drauf los, um aus einer rohen Hutform durch Besatz und Ausputz ein berückendes kleines Kunstwerk zu stande zu bringen. Die vier Mädchen auf unserem Bilde sind mit besonderem Eifer thätig. Der Genossin im Hintergrunde ist gerade ein hervorragend schöner Hut gelungen. Das reizt den Ehrgeiz der andern. Die fröhliche Unterhaltung und das lustige Lachen, die noch vor kurzem in der Werlstätte sich hören ließen, sind verstummt, und die Köpfe der jungen Damen beschäftigen sich lebhaft mit Kunstfragen. Blumen, Bänder und Federn gruppieren sich in ihren Gedanken zu geschmackvollen und originellen Arrangements, und dank diesem Wetteifer finden alle Freude an ihrer Arbeit.

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An Bismarcks Ruhestätte.
Nach einer Photographie von Hugo Rudolphy in Berlin.

An Bismarcks Ruhestätte. (Mit Abbildung.) Eine denkwürdige Stätte, deren in wehmütiger Erinnerung gegenwärtig Millionen von Deutschen wohl oft gedenken, zeigt unsere nebenstehende Abbildung. Es ist derjenige Teil des Schlosses Friedrichsruh, in dem Fürst Bismarck sein thatenreiches, weltbewegendes Leben beschlossen hat und in dem vorübergehend seine irdischen Ueberreste ruhen. Wir blicken hier auf die Fenster des Arbeits- und Schlafzimmers, die nach dem Parke hinausgehen. Schlicht und einfach war die Einrichtung dieser im Erdgeschoß gelegenen Räume, als der Schloßherr noch unter den Lebenden weilte. Das Schlafzimmer enthielt außer dem Bette nur einige Rohrstühle und Turngeräte, an denen der Fürst bei ungünstigem Wetter zu üben pflegte. Die Wände waren mit Bildnissen Kaiser Wilhelms I, des Fürsten selbst und seiner Gemahlin, sowie einigen Darstellungen aus dem Reiterleben geschmückt. Heute sind die Wände des Raumes mit Trauertüchern verhangen und der große Kanzler schläft in dem Gemach den ewigen Schlaf. In schwarzem Sarge ruht dort vorläufig seine irdische Hülle, die später nach Fertigstellung des Mausoleums dem Wunsche des Verewigten gemäß auf dem Hirschhügel beigesetzt werden soll.

„Neue Bahnen.“ Die Schriftstellerin Julie Dennemarck, welcher wir im vor. Jahrgang der „Gartenlaube“ eine mitunter geradezu wörtliche Wiedergabe von Stellen aus W. Heimburgs Roman „Kloster Wendhusen“ in den ersten Kapiteln ihres Romans „Neue Bahnen“ nachweisen mußten, bittet uns, ihr das Zugeständnis nicht zu versagen, daß die Fortsetzung dieses Romans weitere derartige, von ihr selbst bedauerte „Anlehnungen“ nicht mehr enthielt. Wir sind gerne bereit, ihr dies zu bezeugen. Es kann uns nur freuen, wenn die Verfasserin uns nun wiederholt in der eindringlichsten Weise versichert, daß sie sich auch für die Folge derartiger „Anlehnungen“ enthalten wird.


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtign.)

B. in D. Die Photographie des im Halbheft 15 im Holzschnitt wiedergegebenen Bildes „Im Märchenbanne“ von E. Adan ist im Verlage von Braun, Clement & Cie. in Dornach i. Els. erschienen.

A. L. in Heidelberg. Wenn Sie vor Ihrer Reise nach Neapel sich über das dortige Volksleben noch näher unterrichten wollen, so empfehlen wir Ihnen zwei trefflich geschriebene Bücher: „Kennst du das Land? Band X: Alltägliches aus Neapel“ von A. Kellner (Verlag von C. G. Naumann in Leipzig) und W. Wyls schon in vierter Auflage erschienene „Spaziergänge in Neapel, Sorrent, Pompeji, Capri, Amalfi, Pästum und im Museo Borbonico“ (Verlag von Cäsar Schmidt in Zürich). Beide Bücher geben auf Grund langjähriger Beobachtung ein durchaus echtes Bild neapolitanischen Lebens in anziehenden, fesselnden Schilderungen. Wollen Sie Ihre Reise nach Sicilien ausdehnen, so wird Ihnen das Buch „Sicilien“. Reiseerinnerungen von J. V. Widmann (Verlag von Huber in Frauenfeld) mannigfache Anregung geben.



Im Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig ist soeben erschienen:

Ueber Lungenschwindsucht und Höhenkurorte.
Vortrag, gehalten am 4. April 1898 in Stuttgart
zu Gunsten einer in Davos zu errichtenden Deutschen Heilstätte für minder bemittelte Lungenkranke
von
Prof. Dr. v. Liebermeister.

Preis geheftet 50 Pfennig.

Der Reinertrag fließt der Deutschen Heilstätte in Davos zu.

Infolge vielfach an uns gelangten Wunsches aus dem Leserkreise der „Gartenlaube“, in der dieser Vortrag des hervorragenden Arztes vor kurzem zum Abdruck gelangte, lassen wir denselben nun auch in Broschürenform erscheinen. Mit großer Klarheit giebt diese Abhandlung überaus wichtige Aufschlüsse über das Wesen der Lungenschwindsucht und zeigt Mittel und Wege, wie der Gesunde vor diesem furchtbaren Feind der Menschheit sich zu schützen und der von ihr Befallene Heilung oder wenigstens Besserung zu erreichen vermag.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[612 a] 0


Allerlei Winke für jung und alt.


Täschchen für Schmuckstücke. Ein sehr praktischer Gegenstand, um, besonders auf Reisen, Schmucknadeln, Broschen etc. etc. aufzubewahren, ist ein Täschchen in Form einer 40 bis 50 cm langen Rolle. Es wird aus 10 cm breitem rosa Atlasband und einem 9 cm breiten Streifen sehr dicken Flanell, als Futter in entsprechender Farbe, hergestellt. Die Ränder werden umgeschlagen, mit einer Ziernaht verbunden, das untere Ende als kleines Täschchen für Armbänder zurückgebogen und ebenfalls mit Zierstichen festgenäht. Bindebändchen am anderen Ende, beliebige Verzierung mit Stickerei oder Monogramm.

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Täschchen für Schmuckstücke.

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Decke mit irischer Spitzenarbeit.

Unsere Koffer nach der Reise. Wenn man, erfüllt mit den herrlichsten Reiseeindrücken, ins eigene Heim zurückkehrt, beginnt für die Hausfrau sofort wieder das alltägliche Leben mit seinen Arbeiten und Pflichten. Vielerlei giebt es nach einer Reise zu ordnen und herzurichten, und über all den vielen Beschäftigungen werden die geleerten Reisekoffer meist recht stiefmütterlich behandelt und oberflächlich abgestäubt in die Bodenkammer gestellt. Und gerade die verschiedenen Reiseutensilien, die nun fast ein Jahr unbenutzt stehen, brauchen eine sorgfältige Behandlung, wenn sie lange gut erhalten werden sollen.

Vor allem sind Reisekoffer, -Körbe und -Taschen gründlich nachzusehen, ob sie unbeschädigt die Reise überstanden haben, versäumt man dies und stellt sie unbesehen und nicht ausgebessert fort, so kann man durch diese Nachlässigkeit vor der nächstjährigen Reise in sehr unangenehme Verlegenheit kommen, denn niemals hat man weniger Zeit und Muße, Reparaturen vornehmen zu lassen, als vor einer Reise.

Ebenso ist eine gründliche Säuberung aller Reisesachen nach der Reise vorzunehmen. Alle Lederkoffer und Taschen werden trocken abgebürstet und dann mit Oel und Eiweiß, das man miteinander gut vermischt, oder mit dem in einschlägigen Geschäften käuflichen Lederauffrischungscreme eingerieben, alle Schlösser und Beschläge werden geputzt. Wachstuchüberzüge seift man ab, reibt sie trocken und nur mit Oel ein, man vermeidet so das Rissigwerden. Einfache Weidenkörbe werden mit Seifenschaum gereinigt, gut gespült und im Schatten getrocknet. Alle Reiseutensilien: Kämme, Bürsten, Seifenbehälter, Schwammtaschen, Plaidhüllen, Schirmbehälter, Reisekissenbezüge, Schuhtaschen etc. werden gesäubert, gewaschen und gebügelt und in eine der kleineren Reisetaschen gepackt, so daß man alle diese Dinge beisammen hat und nicht vor der Reise ein zeitraubendes Suchen danach anstellen muß. Am besten ist es, wenn man Reisenecessaire, Nähetui, Schreibmappe, Schwamm- und Seifentasche sofort nach dem Säubern frisch füllt und fix und fertig fortlegt. Alle Schlüssel müssen kleine Schilder erhalten, in ein Kästchen gelegt und in eine der Reisetaschen verpackt werden. Die großen Koffer füllt man mit den verschiedenen kleineren Reisesachen, um Platz zu sparen und die letzteren vor Staub zu schützen. Die großen Koffer werden in alte große Tücher geschlagen und in einer Bodenkammer aufeinander getürmt. Man hat beim Packen im nächsten Jahr so alles gut erhalten bei einander. He.     

Briefwandbehälter aus bemalten Glastafeln. Zu diesem überall nützlichen Behälter läßt man sich vom Glaser drei weiße, rote oder blaue Glastafeln schneiden, jede 30 cm lang, die erste 15 cm, die zweite 12 cm, die dritte 9 cm breit. Diese Glastafeln bemalt man mittels Oel- oder Emailfarbe mit einem leichten Blumenmuster, faßt sie zunächst einzeln mit einem schönen 21/2 bis 3 cm breiten Atlasband ein und näht sie danach an einer Langseite mit festen Stichen so zusammen, daß sie noch beweglich sind, und zwar die breiteste Tafel hinten, die schmalste vorn. Zuletzt verbindet man die Ecken der drei Tafeln nach beistehender Abbildung mit demselben, aber zusammengefalteten Seidenband in gleichmäßigem Abstand, näht einige kleine Schleifen auf und bringt auf die hintere, größte Glastafel noch ein Band zum Aufhängen an, das ebenfalls mit Schleifen verziert wird. Ansichtspostkarten nehmen sich in dem kleinen Behälter sehr hübsch aus.

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Briefwandbehälter für Briefe.

Decke mit irischer Spitzenarbeit. Statt der geradlinig angesetzten breiten Spitzen in irischer oder point-lace-Arbeit sieht man neuerdings die Spitzenverzierung als reiche Ecke entweder mit farbiger Unterlage, oder durchbrochen in den Stoff hineingesetzt. Die Arbeit wird selbständig ausgeführt und mittels eines Spitzenbändchens dem Leinen- oder Seidenstoff angefügt. Die Ausläufer der Ornamente greifen auf den Stoff über. Einige Figuren in ebenfalls durchbrochener Arbeit, über die Decke verstreut, erhöhen noch den reichen und feinen Eindruck.

Gehäkelte Einsätze für Kissenüberzüge. Vielfach ist die früher so beliebte Häkelei durch die Klöppel- und anderen Spitzen verdrängt worden, und mit gutem Grunde; auf manchem Gebiet aber behauptet sie sich, wird neuerdings wieder mehr gepflegt und ist wirklich imstande „Werte zu schaffen“. Dahin gehört die Ausstattung schöner Bettwäsche. Ein breiter Einsatz, aus feinem Garn gehäkelt, mit einem Muster von einfacher, an Guipure erinnernder Wirkung, nach jetziger Mode ganz auf der Vorderseite des Kissens, nicht mehr der Kante entlang angebracht, macht sich außerordentlich reich und solid und lohnt, da die entsprechenden schönen Spitzen doch sehr viel teurer sind als die Garnknäuel, aus denen fleißige Hände den Einsatz herstellen.

Eine reiche Auswahl guter Muster findet sich in der früher bereits angezeigten „Sammlung gehäkelter Spitzen und Einsätze“, Verlag der „Wiener Mode“.


Im Haus- und Zimmergarten.


Reseda für den Winter. Es wundert sich so mancher, daß seine Reseda im Freien nur schlecht aufgeht und daß er immer sehr lange warten muß, bis die ersten Resedablüten gepflückt werden können. Das hat seinen Grund darin, daß der Resedasamen viel Feuchtigkeit braucht, ehe er keimt. Man muß Samen von Reseda deshalb sehr früh aussäen, damit die feuchte Witterung des Vorfrühlings auf ihn einwirken kann, ja man kann den Samen auch schon im Herbst ausstreuen. Da die Reseda sich nicht verpflanzen läßt, so kann man im Herbst auch nicht die alten Stöcke herausnehmen, um sie in Töpfe zu pflanzen. – Will man über Winter Reseda haben, dann ist Resedasamen im Juli oder August in Töpfe zu säen. Man füllt die Töpfe mit Erde, legt in gleichen Abständen in jeden Topf 10 bis 12 Samenkörner aus, hält feucht und schattig. Im Mistbeetkasten keimen die Samen viel früher als in Töpfen, die im Freien in die Gartenerde eingesenkt sind. Haben die Pflänzchen, von denen nur fünf bis sieben stehen bleiben, den Topfrand erreicht, dann füllt man Erde nach, um die Pflanzen fester zu stellen und sie zu veranlassen, an dem in der Erde stehenden Teil Wurzeln zu bilden. – Mit dem Eintritt des Nachtfrostes bringt man die Töpfe ans offene Fenster des ungeheizten Zimmers. Sie entwickeln sich hier hübsch weiter, können später ins Wohnzimmer kommen und haben am Südfenster über Winter manche Blüte und vielen Duft. Durch eingehende Zucht ist allmählich eine Zahl großdoldiger Resedasorten entstanden. Eine der besten von ihnen ist Reseda Machet.

Die Päonien, Bauernblumen, welche eine lange Zeit hindurch ganz vernachlässigt waren, finden jetzt wieder neue Freunde – und wirklich, sie sind es wert, recht viel angepflanzt zu werden.

Es giebt kaum etwas Schöneres als die zu Gruppen vereinten, blütenüberladenen Sträucher, die einzeln am Gehölzrande angebrachten Büsche oder selbst die Einzelpflanzen auf Rasenstücken. Ueberall machen sie Aufsehen.

Wir besitzen einige hundert Päoniensorten in den schönsten Farben und Färbungen und unterscheiden baumartige Päonien – das sind die, welche große Büsche bilden und den Winter überdauern – und krautartige, das heißt solche, die alljährlich ganz zurücksterben und dann wieder aus der Erde hervortreiben. Die baumartigen Päonien sind als Effektpflanzen schöner, und unter ihnen Jewel of Chusan, Hakugan, weiß, Imperatrice Eugenie, elegantissima Donna Maria, Fürst Metternich, Dr. Bowing, rosa, und Elisabethe, Triomphe de Gand, Globosa, rot, die hervorragendsten.

Die Pflege der Päonien ist sehr einfach. Sie kommen in gut gedüngtes Land und erhalten alljährlich im Herbst etwas verrotteten Dünger. In schneelosen, kalten Wintern sind sie mit etwas Tannenreisig zu schützen.

[612 b]
Allerlei Kurzweil.


Skataufgabe. Von K. Buhle.[1]

Der Spieler in Mittelhand überbietet ein Rot(c.)-Solo der Vorhand, welches diese mit Schneider gewonnen hätte, indem sie mit folgenden Karten:

(c.B.) (car.B.) (tr.Z.) (tr.K.) (tr.D.) (p.As.) (p.Z.) (car.As) (car.Z.) (car.K.)

Eichel(tr.)-Solo ansagt. Er verliert aber das Spiel mit Schneider, obwohl noch ein Daus im Skat liegt. Die Gegner haben gleichviel Augen in ihren Karten.

Wie sind die übrigen Karten verteilt und wie ist der Gang des Spiels?


  1. Der Verfasser dieser Aufgabe, Landgerichtsrat Karl Theodor Buhle in Leipzig, ist am 9. Juli verstorben. Er war lange Jahre hindurch ein sehr geschätzter Mitarbeiter der „Gartenlaube“, in welcher er seine geistvollen, von allen Verehrern des Skatspiels mit Recht gerühmten Spielaufgaben veröffentlichte. Ein Meister des Skats, hat er durch seine beiden weit verbreiteten, im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig erschienenen Schriften „Illustriertes Lehrbuch des Skatspiels. Mit allen älteren und neueren Spielarten“ (3. verbesserte Auflage. Preis gebunden 3 Mark) und „Allgemeine Deutsche Skatordnung“ (3. Auflage. Preis geheftet 50 Pfg.) zu einer einheitlichen Führung und zur Vertiefung des Spieles wesentlich beigetragen. Wir sind in der glücklichen Lage, noch mehrere Aufgaben aus dem Nachlasse des Verstorbenen unseren Lesern darbieten zu können. Die Redaktion.     


Wechselrätsel.

Mit a rag’ stolz ich in die Luft,
Zum Dienst des Höchsten aufgebaut;
Mit um verbreit’ ich würz’gen Duft
Als ein bescheidnes Küchenkraut.
  F. Müller-Saalfeld.


Kreisrätsel.

Die Zahlen sind durch Buchstaben zu ersetzen, so daß in den kleinen Kreisen sechslautige Wörter von folgender Bedeutung entstehen: I. ein Raubtier, II. ein deutsches Vorgebirge, III. eine Stadt in Ostindien, IV. eine Stadt in Italien, V. eine Insel in Westindien, VI. ein Titel, VII. eine Stadt in Nordamerika, VIII. ein Fluß in Rußland. – Die Buchstaben in dem innern Kreise, der die Anfangsbuchstaben der Wörter enthält, nennen eine berühmte Schlacht aus der Geschichte der alten Griechen. A. St.     


Bilderrätsel „Mysteriöse Inschrift“.
Von Al. Weixelbaum.

Rätsel.

Wenn einem Vogel du den Rumpf nur läßt,
So bleibt ein andrer Vogel dir als Rest. E. S.


Homonym.

So mancher Kopf ist’s (klein geschrieben),
Auch leider manches Portemonnaie,
Was (bei demselben Wort geblieben)
Als Stadt ich (groß geschrieben) seh’.
  Oscar Leede.


Auflösung der Kombinationsaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 18.

Im engen Kreis verengert sich der Sinn,
Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken.
 (Schiller, „Wallenstein“.)


Auflösung des Leistenrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 18.

Auflösung des Rösselsprungs auf dem Umschlag von Halbheft 18.

Es ist kein Schnee so kalt und graus,
Der nicht ein Keimchen noch trieb aus;
Es ist kein Schmerz so groß und tief,
Daß nicht in ihm noch Freude schlief.
  K. Müller.


Auflösung der Charade auf dem Umschlag von Halbheft 18.
 Groß, Beeren, Großbeeren.


Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 18.
 Sch–wer–in.



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Druck von Julius Klinkhardt ln Leipzig.