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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[548 c]

18. Heft. Preis 10 cents. 31. August 1898.

Max Weil & Co., cor. 12th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

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Inhalt.
Seite
Schloß Josephsthal. Roman von Marie Bernhard (3. Fortsetzung) 550
Otto von Bismarcks Lebensgang. Mit Bildnissen und Ansichten seiner Heimstätten (Anfang) 559
Flügellahm. Erzählung von Hans Arnold (Schluß) 569

Blätter und Blüten: Die Trauerfeier in Friedrichsruh. (Zu den Bildern S. 553, 557, 578, 579 und 580.) S. 578. – „Requiem.“ (Zu dem Bilde S. 549.) S. 579. – Die deutsche Studentenschaft bei Bismarck in Kissingen 1890. (Zu dem Bilde S. 573.) S. 579. – Elektrische Kirchenglocken. S. 580. – Ist Feueranzünden beim Gewitter nützlich oder schädlich? S. 580. – Bitte um Fahrstühle. S. 580.

Illustrationen: „Requiem.“ Von Gabriel Max. S. 549. – Vor dem Parkthor von Friedrichsruh am Morgen des 31. Juli. Von W. Werner. S. 553. – Das Ordnen der Trauerkränze im Schloßhof von Friedrichsruh. Von W. Werner. S. 557. – Abbildungen zu dem Artikel „Otto von Bismarcks Lebensgang“. Initiale. S. 559. Das Geburts- und das Wohnzimmer des Fürsten Bismarck in Schönhausen. S. 560. Die Eltern Bismarcks: Luise Wilhelmine v. Bismarck, geb. Menken. Karl Wilhelm Ferd. v. Bismarck. Otto v. Bismarck im 11. Lebensjahre. S. 561. Das Geburtshaus des Fürsten Bismarck in Schönhausen. Bismarcks Wohnung in Göttingen. Otto v. Bismarck im Jahre 1834. S. 562. Otto v. Bismarck und seine Gemahlin im Jahre 1849. Otto v. Bismarck als Bundestagsgesandter. S. 563. Bismarck im Jahre 1870 vor der Kriegserklärung. Das Reichskanzlerpalais in Berlin. S. 564. Das Schloß zu Friedrichsruh von der Park- und der Straßenseite. S. 565. Das Schloß Varzin, vom Park aus gesehen. Das Bismarckmuseum in Schönhausen. S. 566. Aumühle bei Friedrichsruh. S. 567. Ständchen vor der Terrasse in Friedrichsruh. S. 568. – Die deutsche Studentenschaft bei Bismarck in Kissingen 1890. S. 573. – Fürst Bismarck an seinem Arbeitstisch in Friedrichsruh. S. 577. – Das Einliefern der Kränze. Von Willy Werner. S. 578. – Vor dem Schloßpark in Friedrichsruh. S. 579. – Die Hirschgruppe im Park von Friedrichsruh. S. 580.

Hierzu Kunstbeilage XVIII: „Abendfrieden“. Von A. Hooff.




Kleine Mitteilungen.


Ein Denkmal für Ludwig Steub. Unter den Dichtern und Schriftstellern, die vor einem Menschenalter als wanderfrohe Pfadfinder in die entlegene Herrlichkeit der deutschen Alpenwelt eindrangen und mit begeisterndem Wort das von ihnen erstmals Geschaute zu schildern verstanden, genießt der am 16. März 1888 in München verstorbene Ludwig Steub einen unvergänglichen Ruhm. Seine ausgezeichneten Reiseschilderungen „Drei Sommer in Tirol“ und „Herbsttage in Tirol“, welche wissenschaftliche Belehrung mit poetischer Anregung in ansprechendster Weise vereinen, haben ungezählten Tausenden den Weg zu den schönsten „Sommerfrischen“ gewiesen, welche er erst entdeckte. Ludwig Steub zählte aber auch in seiner Jugend zu den poetischen Vorkämpfern des deutschen Einheitsgedankens, wovon sein Roman „Deutsche Träume“ ein anziehendes Spiegelbild bietet. Die Mehrzahl seiner Erzählungen, von denen „Der schwarze Gast“ und „Die Rose von Sewi“ besondere Beliebtheit errangen, spielen in der von ihm so innig geliebten Bergwelt. Steub stammte aus Aichbach in Oberbayern. Auf dem Boden des Tiroler Landes soll nun Ludwig Steub ein einfaches, aber würdiges Denkmal erstehen. Geplant ist dasselbe in Form eines Kolossalporträts, das aus der mächtigen Felswand des Mühlenbühels bei Brixlegg herausgearbeitet werden soll. Ein Teil der dazu erforderlichen Mittel ist bereits von Verehrern Steubs beigesteuert worden, das Komitee erläßt aber einen neuen Aufruf um weitere Gaben. Beiträge sind an die „Bayerische Handelsbank“ (München, Maffeistraße) zu senden.


Eine Fahrkartendruckmaschine. Aus Amerika kommt eine Fahrkartendruckmaschine, welche voraussichtlich eine Zukunft haben wird. Bei dem gegenwärtigen Verfahren werden die vorher fertiggestellten Fahrkarten in mehr oder weniger großen Schränken aufbewahrt, aus denen der Beamte die gewünschte Fahrkarte herausholt und sie dann unter Zuhilfenahme eines geeigneten Apparates mit dem Tagesstempel versieht. Große Stationen haben Schränke mit Tausenden von Gefächern, da in der Regel für jede Klasse und außerdem für die verschiedenen Arten von Karten im Verkehr mit jeder Station je ein Gefach erforderlich ist. Die Druckmaschine arbeitet mit einfacheren Mitteln. Aus einem ihr zugeführten langen Kartonstreifen und mit Hilfe einiger Handgriffe macht sie vor den Augen des Reisenden die bestellte Karte im Nu fix und fertig, eine Fahrkarte, versehen mit dem Namen der Abgangs- und Zielstation, mit Angabe der Klasse, des Preises, der Kontrollnummer und des Tages der Ausgabe. Gleichzeitig kontrolliert die Maschine den sie bedienenden Beamten, indem sie über die verausgabten Karten und die vereinnahmten Gelder in sinnreicher Weise Buch führt. Dem Aeußereu nach macht die Maschine den Eindruck eines dreifachen horizontalen Rades, auf dessen Rande die zu bedienenden Stationen und die Fahrpreise verzeichnet sind. Wünscht nun jemand eine Karte, so wird der betreffende Stationsname bis zu einem feststehenden Zeiger gedreht, der Beamte drückt auf einen Knopf und die Karte kommt fertig heraus.

Immerhin kann diese Maschine nur eine beschränkte Verwendung finden. In Paris ist eine solche für den Vorortverkehr des Nordbahnhofs thätig. Für weite Strecken aber mit verschiedenen der Benutzung freigegebenen Bahnwegen wird das bisherige System wohl schwerlich entbehrt werden können.


Sammetmosaiken. Diese noch wenig angewandte Arbeit verdient ein großes Interesse seitens unserer Damen, denn sie stellt nicht nur etwas wirklich Apartes dar, sondern ist auch von einem eigenartigen Reiz, ganz abgesehen davon, daß ihre Herstellung nur geringe Kosten verursacht. Hat man nicht selbst Sammetreste – möglichst in mehreren Farben – zur Verfügung, so bekommt man solche billig in jedem Modewaren- oder Putzgeschäft zu kaufen. Verwenden lassen sich füglich alle Farben, wenn sie nur gut harmonieren, und was die Größe der erforderlichen Reste anbelangt, so braucht man darüber nicht in Verlegenheit zu sein: es soll ja eben die Sammetmosaik eine Arbeit werden, bei der jeder Rest, jedes kleinste Stück Wert und Bedeutung erlangt. Darauf beruht ja eben die „Kunst“ dieser Arbeit, daß man das Muster aus vielen Teilen zusammensetzt und so mit geringen Mitteln etwas Schönes und Geschmackvolles zuwege bringt. Eine Vorzeichnung ist freilich erforderlich, und diese richtet sich ganz nach dem Zweck und der Größe des Gegenstandes, den man mit Sammetmosaik verzieren will.

Um nur einige derselben zu erwähnen, nennen wir Fußbänkchen, Fenstermäntel, Wandbehänge, Decken, Bilderrahmen, Mappendeckel, Bucheinbände, Kissen und dergleichen. Gleichwie bei der Tuchmosaik kann man das Muster nur aus einfachen, geometrischen Motiven aufbauen, also entweder Vierecke, Dreiecke etc. aus den Sammetstücken ausschneiden und zu Sternfiguren etc. aneinandernähen, oder man kann wirklich künstlerisch verfahren und allerhand Gebilde, Blumenzweige, stilisierte Motive, ornamentale Flachfiguren etc. zur Darstellung bringen. Der guten deutlichen Wirkung wegen dürfen allerdings die Einzelteile derartiger komplizierter Muster nicht allzu klein und detailliert gehalten sein, man müßte denn die einzelnen Stücke nicht, wie bei der Tuchmosaik üblich, rückseits mit Steppstichen zusammennähen, sondern auf einen Grundstoff, den man im Rahmen einspannt, aufnähen oder aufkleben. Im ersteren Fall hätte man den Sammet nach Vollendung der ganzen Arbeit mit der Rückseite über ein heißes Plätteisen zu ziehen und dadurch die Nahtleisten seitlich fest anzudrücken, im letzteren Fall müßte man die Nähte resp. Konturen der einzelnen Figuren oder Felder mit Stickstichen oder mit Schnürchen etc. verdecken, wodurch die Arbeit sich sehr oft nur vorteilhafter zur Geltung bringen würde. Um sehr kleine Details, Adern etc. zu markieren, wendet man ebenfalls Stickerei oder den Brennstift oder Bronzemalerei an. Anstatt des immerhin sehr mühevollen Aufnähens läßt sich, wie oben gesagt, auch ein Aufkleben von Sammetstücken auf eine passende Stoff- oder Papierunterlage vornehmen und gerade hierbei auch der kleinste Abfall mit verwerten. Ein Geheimnis freilich spielt dabei eine wichtige Rolle: beim Zuschneiden sehr kleiner Teile franst Sammet aus; man klebt ihn daher zuvor auf festes Seidenpapier; ohnedem ist eine tadellose Arbeit mit gleichmäßiger Fläche und deutlich erkennbarem Muster ganz unmöglich.


Orientalischer Mohn. Es sieht gar schön aus, wenn das wogende Getreidefeld von roten Mohnblumen durchzogen ist. Die glänzenden Farben des Mohns haben uns schon längst bewogen, ihn als Gartenpflanze, wenn auch in anderen Formen, einzubürgern. Es giebt weißen Mohn, gelben Mohn und roten Mohn in allen Schattierungen, einfach und mit gefüllten Blumen, aber was ist unser gewöhnlicher Mohn gegen seinen orientalischen Vetter? Er kann sich kaum neben ihm sehen lassen, seine Gestalt und seine Blumen erscheinen winzig bei diesem Riesen.

Der orientalische Mohn ist eine Modeblume. Wir finden ihn auf den Hüten unserer Damen in den verschiedensten Stellungen künstlich nachgebildet, aber überall in imponierender Größe. Der orientalische Mohn hat auch noch etwas anderes vor unserem Mohn voraus. Er ist ausdauernd und kommt in jedem Jahre wieder.

Man kann sich sehr leicht einige orientalische Mohnstöcke im Garten pflanzen, wenn man im Herbst daran denkt und sich von den langen, ungeschliffenen Wurzeln kauft. Im Frühjahr ist das Anwachsen nicht so sicher. Die im Herbst gepflanzten Stöcke bringen schon im folgenden Jahre prächtige Blumen, die, mit langem, oft meterlangem Stiel geschnitten, herrlich für die Ausschmückung des Zimmers geeignet sind. Auf sonnigem Stande, bei nahrhaftem Boden und zeitweiliger Düngung im Herbste vergrößern sich die Stauden von Jahr zu Jahr und bilden, wenn man beispielsweise den orientalischen Mohn im Park vor dem Gebüsch auspflanzt, mit der Zeit prächtige Blüteninseln auf grünem Rasen.


Glimmbilder bereiten in fröhlichen Kreisen viel Vergnügen und gestatten mancherlei hübschen Scherz. Man kann sie ganz leicht selbst herstellen, wenn man auf ein Stück weißes Papier mit einer Lösung von 40 Teilen Salpeter und 20 Teilen Gummiarabikum in 40 Teilen warmem Wasser mittels Schreibfeder die Umrisse eines Bildes zeichnet oder eine Schrift etc.; nur müssen die Linien sämtlich zusammenhängen, eine derselben muß auch bis an den Rand des Papieres gehen und dortselbst mit einem feinen Bleistiftstrich markiert werden. Hält man nun ein brennendes Zündholz an diese Stelle, so glimmt sofort die Linie auf dem Papiere weiter und das vorher ganz unsichtbare Bild kommt schließlich „versengt“ zum Vorschein. Die kleine Spielerei ist keineswegs gefährlich.

[548 e]

ABENDFRIEDEN
Nach einer Originalzeichnung von A. Hooff

[549]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
„Requiem.“
Nach dem Gemälde von Gabriel Max.

[550]
Schloß Josephsthal.
Roman von Marie Bernhard.
(3. Fortsetzung.)


8.

Lustiges Schneetreiben! „Frau Holle schüttelt ihre Federbetten!“ heißt es im Volksmunde.

Alix hatte als Kind das reizende Grimmsche Märchen von der Frau Holle besonders gern gehört und gelesen; beim Anbruch des Winters hatte sie oft lange Zeit am Fenster gestanden und dem hastigen Treiben der Schneeflocken zugesehen! – – – Heute saß sie über zwei dicke Bücher voller Zahlenreihen und Namen gebeugt, verglich emsig die langen Spalten miteinander, machte sich Notizen in ihre Brieftafel und hatte keinen Blick dafür, wie eifrig draußen Frau Holle ihre Federbetten schüttelte. – Ihr Vetter Cecil hatte ihr heute, wie jeden Tag, eine Aufgabe gestellt, die mußte sie erfüllen. Sie hatte ihn gebeten, sich ihrer anzunehmen, damit sie wenigstens einen ungefähren Einblick in die Verhältnisse bekomme, die fortan so sehr wichtig für ihr Leben werden sollten. Fachstudien konnte Cecil mit ihr naturgemäß nicht unternehmen, zum Oberingenieur konnte er sie nicht machen, aber über Gewinn und Verlust, über ihre Konkurrenten und Lieferanten, über den Stand des Arbeitsmarktes, vor allem über die Verhältnisse der Josephsthaler Leute vermochte er ihr Aufschluß zu geben. Alix hatte ihm gesagt: „Setzen Sie keinerlei Vorkenntnisse bei mir voraus, und wundern Sie sich nicht, wenn ich oft aus meiner Unwissenheit heraus Fragen an Sie stellen werde, die Ihnen einfältig erscheinen müssen!“

In seiner korrekten Weise und mit dem praktischen Sinn, den ihm einmal die Natur, anderseits die jahrelange Uebung verliehen, hatte der junge Whitemore diese Aufgabe erfaßt. Es fiel ihm nicht ein, seine Cousine mit galanten Redensarten zurückzuweisen. Sie wünschte es sich, sie traute es sich zu – für dumm hatte er sie nie gehalten – also that er ihr den Willen! Er hatte sich ganz darauf eingerichtet, für längere Zeit, mindestens ein Jahr, in Josephsthal zu bleiben, hatte auch in diesem Sinne an seinen Vater geschrieben und um Urlaub gebeten, vielleicht konnte er sogar beständig hier bleiben und für seine Cousine die Werke verwalten …. nun, das blieb abzuwarten! Man mußte einstweilen zusehen!

Ebenso selbstverständlich wie sein Bleiben fand er die Thatsache, daß auch Alix gar nicht daran dachte, fortzugehen, sondern sofort bestrebt war, sich eine Art Ueberblick über ihr neues Besitztum zu verschaffen. Wäre sie auf und davon gegangen, ohne sich um ihr Erbteil zu kümmern, so hätte zwar Cecil kein Wort dazu gesagt – in seinem Innern würde er sie aber eine sehr oberflächliche und leichtsinnige Person genannt haben.

Sie hatten es beide schwer – denn ihm waren die deutschen Leute und Verhältnisse fremd, und sie hatte keine Ahnung von all den Dingen, die ihm schon mit fünfzehn Jahren geläufig gewesen waren. Es galt also, mit ihr wie mit einem Kinde beim geschäftlichen Alphabet anzufangen, sie doppelte Buchführung, eine leichtfaßliche Rechenmethode, die gebräuchlichsten Ausdrücke der Geschäftswelt zu lehren – aber als der junge Engländer bemerkte, daß die Schülerin ernstlich wollte, daß sie sich redliche Mühe gab, zu begreifen, und, dank ihrer Intelligenz, auch in der That begriff, da fing die Sache an, ihm Freude zu machen. Und nun ging er rasch mit ihr voran.

Alix sah jetzt schon, daß Cecils Methode richtig und daß sie in den wenigen Wochen sehr gefördert worden war, und dies erfüllte sie mit einiger Genugthuung. Daß die Sache an und für sich ihr Freude machte, konnte sie nicht behaupten. „Hätte ich einen Beruf zu wählen – Kaufmann oder Buchhalter wäre ich nie geworden!“ hatte sie schon oft gedacht.

Mit den Arbeitern war sie bisher noch in gar keine Berührung gekommen. Sie wurde, wenn sie durch die Kolonie fuhr, von ihnen gegrüßt und dankte jedesmal freundlich, das war vorläufig alles! Sie fühlte, hier mußte sie erst viel sicherer werden, einen ganz andern Einblick haben, ehe sie Reformen versuchte. Die Rolle der segenspendenden Fee, so sehr sie’s oft danach gelüstete, mußte sie einstweilen ganz beiseite lassen! Dagegen war sie mit den verschiedenen Direktoren, Ingenieuren, kurz, mit den Oberbcamten der Werke in Verbindung gekommen. Sie alle hatten der Tochter ihres ehemaligen Chefs pflichtschuldigst ihren Besuch gemacht, die verheirateten unter ihnen hatten ihre Frauen mitgebracht, und Alix dachte daran, allmählich diese Visiten zu erwidern. Von manchen hatte sie einen günstigen Eindruck empfangen, von wenigen einen unvorteilhaften, von einzelnen überhaupt keinen. Sie kamen ihr aber ohne Ausnahme mit großer Reserve, wenn auch mit ausgesuchter Höflichkeit, entgegen, und Alix glaubte hieraus einen Rückschluß auf das Verhältnis ziehen zu können, welches ihr Vater seinen Beamten gegenüber für angezeigt erachtet hatte.

Seit etwa acht Tagen war sie nun auch im Besitz einer Gesellschaftsdame. Die Majorin von Sperber, mit der sie selbst in Briefwechsel getreten war, hatte sich gern bereit finden lassen, den Posten einer Ehrendame bei dem verwaisten jungen Mädchen anzunehmen; sie hatte ihre Ankunft thunlichst beschleunigt, um Fräulein von Hofmann nicht so lange allein zu lassen, und war aus dem geräuschvollen Berlin nach dem zur Zeit sehr stillen Josephsthal gekommen. Sie versicherte aber, den Tausch durchaus nicht zu bereuen, ihre Nerven bedürften der Ruhe, und sie wisse sich jederzeit gut zu beschäftigen; Langeweile sei ihr ein ganz unbekannter Begriff. Eine stattliche hohe Fünfzigerin mit vollen, grauen Puffenscheiteln, stets in dunkle, gutsitzende Kleider gehüllt – vorwiegend Seide – würdevoll, aber nicht prätentiös auftretend, freundlich und teilnehmend gegen Alix, ohne ihr zu viel Fürsorge und mütterlichen Schutz aufdrängen zu wollen, voller Anteil, ohne neugierig zu sein …. es schien, wie das junge Mädchen ihrer Freundin Maria zu deren großer Beruhigung schrieb, als ob der Griff in die Glückslotterie günstig ausgefallen sei. Recht gut traf es sich auch, daß die Majorin musikalisch war und einen gediegenen Geschmack in dieser Kunst entwickelte. Alix, die stets die besten Lehrer gehabt hatte, besaß eine hübsche Fertigkeit im Klavierspiel und ein lebhaftes Gefühl für wirklich wertvolle Musik. Die beiden Damen hatten sich rasch über ihr Repertoire und ihre Richtung miteinander verständigt – die Majorin schwärmte nicht so für Richard Wagner wie Alix dies that, sie war dafür eine gründliche Beethoven-Kennerin, und nun freuten beide sich schon der Genüsse, die sie haben würden, wenn Alix’ kostbarer Konzertflügel erst von Frankfurt herübergekommen sein würde.

Unter denjenigen, die der Erbin der Josephsthaler Werke pflichtschuldigst einen Besuch abgestattet hatten, war auch Oberingenieur Harnack gewesen. Bei einem der obersten Beamten des verstorbenen Herrn von Hofmann verstand sich dieser Besuch wohl von selbst, aber Alix beobachtete zu gut, um nicht alsbald herauszufinden, daß der junge Mann sich dieser ihm obliegenden Pflicht mit einem offenbar freudigen Eifer unterzog, der zu der höflichen Steifheit und abwartenden Haltung des übrigen Personals einen starken Gegensatz bildete. Die Unterhaltung mit ihm war denn auch animierter gewesen und hatte länger gedauert als mit allen andern. Der Oberingenieur hatte weite, schöne Reisen unternommen und schien ein recht unterrichteter, belesener Mann zu sein; er sprach gut, verstand aber ebensogut, verständnisvoll zuzuhören. Auch gefiel es Alix, daß er kein Hehl aus seiner niederen Herkunft machte; er erzählte unbefangen, sein Vater sei ein armer Grubenarbeiter im oberschlesischen Gebirge gewesen und habe es unter den größten Mühen und Entbehrungen durchgesetzt, ihn aufs Gymnasium zu bringen, wo er schon als Tertianer Nachhilfestunden gegen freie Kost oder ein ganz geringfügiges Honorar geben mußte. Seine offenbare Bewunderung Alexandras hatte nichts Zudringliches mehr; er schien ganz bereit, sie aus ehrerbietiger Entfernung anzubeten, und das gefiel dem verwöhnten Mädchen, namentlich in seiner jetzigen Gemütsstimmung, wohl. Vetter Cecil konnte den Ingenieur nicht genug rühmen: seine umfassenden Kenntnisse, seine Umsicht, Arbeitskraft und Vielseitigkeit seien staunenswert; es wäre geradezu kolossal, was der Mensch leisten könne, und kein Wunder, daß Onkel Hofmann ihn seine „rechte Hand“ genannt habe! Er, Cecil, würde nicht wissen, was ohne ihn anfangen, Harnack führe ihn überall ein, sei stets orientiert und genieße Respekt bei den [551] Arbeitern, wenn er auch nicht gerade beliebt bei ihnen sei. Liebe sei übrigens auch in solchem Verhältnis ein ganz unnützer Artikel – Gebieter, die sehr beliebt wären, würden allemal von ihren Untergebenen übersehen und ausgenutzt – der Respekt sei die Hauptsache.

Cecil hatte hinzugefügt, die Herren hätten ihm mitgeteilt, daß ihr verstorbener Chef sie von Zeit zu Zeit in sein Haus gezogen, sie eingeladen habe, hin und wieder einen Abend bei ihm zuzubringen; man habe gespeist, politisiert, geplaudert, geraucht, es seien oft recht anregende Debatten gewesen. Cecil riet seiner Cousine, diese geselligen Abende nach einiger Zeit wieder aufzunehmen; sie und die Majorin könnten den Vorsitz führen, und es könne beiden Damen nichts schaden, wenn sie wirklich alle vier bis sechs Wochen einmal kaufmännisch gefärbte Gespräche mit anhörten. Er, der Vetter, wolle versuchen, die Herren möglichst gut zu unterhalten – er sei dafür, daß eine gewisse Verbindung zwischen der Besitzerin der Werke und dem Beamtenpersonal bestehe. Alix versprach gerne, nach Verlauf einer entsprechenden Frist die geselligen Abende von neuem einzuführen.

Ziemlich häufig war ihr, bald da, bald dort, der als Herr Neubert in den Werken angestellte Geheimpolizist Korty begegnet, und zwar immer in Begleitung von vier, fünf andern Arbeitern, von denen er einen oder zwei zutraulich unter den Arm gefaßt hatte, während er lebhaft mit den andern sprach. Er schien sich rasch beliebt gemacht zu haben, sein harmloses, glattes, knabenhaftes Gesicht war überall gern gesehen. Er hatte sich noch nie bei Alix melden lassen, konnte ihr also bisher nichts von Belang mitzuteilen gehabt haben; traf er sie inmitten der Kolonie, so grüßte er höflich mit den andern zugleich und ging weiter.

An schönen Tagen konnte man Alix in der Mittagsstunde häufig genug neben der Majorin durch die Kolonie wandern sehen, und solche Gelegenheiten wußte Oberingenieur Harnack zuweilen sehr gewandt zu benutzen, indem er, anscheinend ganz zufällig und wie mitten in voller Geschäftigkeit, aus dem Maschinenhaus, aus einem der Lagerräume, aus einer Abteilung der Dampfschneidemühle heraustrat, freudig überrascht stehen blieb, die Damen überaus höflich grüßte, zögerte – und schließlich im bescheidensten Ton die Frage stellte, ob er sich den Damen wohl in irgend welcher Weise nützlich machen könne, vielleicht wünschten sie einiges zu erfahren, worüber er Bescheid geben dürfe. Das traf sich denn wirklich auch oft genug so; zumal die Majorin, der in Josephsthal alles neu und interessant war, zeigte sich äußerst wißbegierig und war sehr eingenommen von Herrn Harnacks klarer, leicht faßlicher Darlegung der Dinge – sie meinte, hierin übertreffe er offenbar Mr. Whitemore, der fast nie Zeit und Geduld genug hatte, den Erklärer zu spielen, und, wenn er es einmal that, soviel technische Ausdrücke hineinmischte, daß man doch kaum die Hälfte von dem verstand, was er sagte.

Zuweilen, wenn Alix gegen Abend eine Stunde allein hinausfuhr, stieg sie in der Nähe der Schneidemühle aus, ging ein Stück am Fluß entlang und bog dann bei den Neubauten ein, um zu dem Häuschen im Schweizerstil zu kommen, neben dem sie an ihres Vaters Todestag gestanden und die ersten lindernden Thränen gefunden hatte beim Anhören jener schönen Musik. Sie bekam aber nichts mehr zu hören. Entweder lag das Häuschen still und dunkel da, oder es waren ein paar Fenster erleuchtet, aber kein Klang war zu vernehmen, auch kein Schatten an der dünnen Gardine zu sehen. Alix wußte noch heute nicht, wer der Klavierspieler gewesen war, und sie scheute sich auch, direkt danach zu fragen. – – –

Jetzt sind ihre Gedanken weitab von musikalischer Offenbarung und weichem Empfinden. Alix rechnet. Ihre rechte Hand, die so leuchtend weiß aus den Falten des schwarzen Kreppärmels hervorsteht, hält die Feder und fährt prüfend die ganze Zahlenreihe auf und nieder und nochmals auf und nieder, sie will sich auf keinem Irrtum betreffen lassen! Draußen wirbelt der Schnee herab. Die Bronzeuhr mit der Minerva – das junge Mädchen sitzt in ihres Vaters Arbeitszimmer – giebt zwölf Schläge an. Das ist Cecils gewohnte Zeit – gleich muß er hier sein! Alix schiebt ihre Papiere ein wenig zurück, sie ist mit ihrer Aufgabe fertig.

Leises Klopfen – der grauhaarige Diener steckt den Kopf herein.

„Mr. Whitemore läßt das gnädige Fräulein fragen, ob er die Ehre haben darf.“

„Ich lasse bitten!“

Das wiederholt sich jeden Tag um dieselbe Stunde genau so. Cecil läßt sich immer förmlich anmelden, Alix läßt jedesmal höflich bitten. Sie arbeiten zusammen, die beiden, sie besprechen alles Geschäftliche, aber sie sind einander in dieser ganzen Zeit innerlich um nichts näher gekommen. Wozu auch? Sie empfinden alle beide nicht das mindeste Bedürfnis danach.

Cecil erscheint, ein paar Papiere in der Hand – korrekt, gemessen, verständig.

„Guten Tag, Cousine. Wie befinden Sie sich?“

„Danke, ich bin gesund. Setzen Sie sich, bitte!“

Thank you!“ Cecil nimmt einen Stuhl und sieht die Blätter durch, die sie ihm hinreicht. Ein kleines Kreuzverhör schließt sich dieser Durchsicht an – Worte wie: Conto – Disconto – Valuta – Wechselaccept und so fort klingen hinüber und herüber. Der junge Engländer nickt: „Well! That will do!“ Mehr Lob erntet Alix nie. „Zu morgen also“ – er zieht ein paar Zettel aus der Tasche und giebt sie ihr. „Und hier – wollen Sie diese zwei Geschäftsbriefe einsehen? Der eine ist ziemlich belanglos, ich habe nur unsere Preise durchgesetzt, aber das war vorauszusehen! Der andere ist von Flottwell Brothers in New York und sehr wichtig, die neue Geschäftsverbindung ist angebahnt!“

„Freut mich für Sie! Sie wünschten sich das ja so. Ich gratuliere!“

„Danke! Ist mir in der That angenehm. Dann – dann – – sind hier noch – –“

„Nun?“ Alix sieht erstaunt auf. Ihr will’s scheinen, als ob Cecil etwas verlegen wäre, und das hat sie noch nie an ihm gesehen. Er pflegte auch sonst immer seine Sätze zu Ende zu sprechen!

„Sie äußerten neulich, Cousine, Ihr Vater habe wohl nie an einen raschen, frühen Tod gedacht, und ich pflichtete dem bei. Im Anfang der fünfziger Jahre – ganz gesund – vernunftgemäß lebend – wie hätte Onkel Hofmann an seinen Tod denken sollen? Dennoch hat er es gethan –“

„Ja, gewiß,“ fiel das junge Mädchen ein, „er hat ein Testament aufgesetzt, wie das vorsichtige Geschäftsleute oft in guten Jahren noch zu thun pflegen.“

„Ich meine nicht das. Es hat mich keinen Augenblick gewundert, ein Testament vorzufinden. Onkel Hofmann war viel zu vernünftig beanlagt, nach jeder Richtung hin, um einen so wichtigen, notwendigen Schritt zu versäumen. Aber in seinen Privatpapieren – ich nahm sie an mich, da Sie, Cousine, mich darum ersuchten – habe ich gestern abend, als ich sie zum erstenmal durchsah – ich hatte früher beim besten Willen keine Zeit dazu ..... da also habe ich – –“

Neues Stocken. Wahrhaftig, der besonnene, vernünftige Vetter ist verlegen!

„Habe ich also diesen Brief, an Sie gerichtet, vorgefunden. Bitte, wollen Sie die Aufschrift lesen und sich überzeugen, daß das Siegel unverletzt geblieben ist!“

„Bedarf es denn zwischen Ihnen und mir wirklich solcher nutzlosen Formalitäten, Cecil?“

„Bitte, das ist keine unnütze Formel – das ist gcschäftlich korrekt. Wollen Sie lesen –“

„An meine Tochter, Fräulein Alexandra von Hofmann. Nach meinem Tode zu öffnen und zu lesen.“

„Sie erkennen an, daß dies Ihres Vaters Handschrift ist?“

„Aber natürlich!“

„Und das Siegel?“

„Mein Gott, Cecil! Nun also, wenn Sie es ausdrücklich zu hören wünschen: das Siegel ist unverletzt geblieben!“

„Danke!“ Der Engländer stand so hastig auf, als habe er diese letzte Bestätigung kaum erwarten können.

„Sie werden nun lesen, und ich werde nun gehen!“

„Schon?“

„Ich habe – ja, ich habe viel zu thun, und Ihre Arbeit zu morgen finden Sie da auf dem Zettel verzeichnet. Guten Morgen, Alexandra!“

„Jagten Sie nicht gestern oder deuteten es wenigstens in [552] Gegenwart der Majorin und von Françoise an, Sie hätten mir noch eine geschäftliche Mitteilung zu machen – – oder vielmehr einen Vorschlag zu unterbreiten? Jawohl – das war es! So drückten Sie sich aus!“

„In der That!“ Es schien Cecil unangenehm zu sein, daß sie ihn erinnerte und dadurch zum Bleiben zwang; er setzte sich mit sichtlichem Zögern nieder, griff ein elfenbeinernes Papiermesser vom Schreibtisch auf und schob es langsam auf seiner linken Handfläche hin und her, welch interessante Beschäftigung ihn dermaßen fesselte, daß er kein Auge davon abwendete und daher Alix beharrlich nicht ansah.

„Sie haben recht, es war so! – Wissen Sie, daß hier in der Kolonie Josephsthal ein ziemlich naher Verwandter von Ihnen lebt?“

„Ein ziemlich naher Verwandter? Und das erfahre ich jetzt erst? Ah – ich erinnere mich! Doktor Ueberweg erwähnte eines solchen kurz nach meiner Ankunft, doch wurden wir damals unterbrochen. Und dann starb Papa. Heißt dieser Verwandte nicht Hagedorn und war seine Mutter nicht eine geborene Gräfin Holsten-Delmsbruck, ebenso wie Ihre Mutter, Cecil, und meine?“

„Ganz richtig! Eine rechte Cousine unserer beiden Mütter.“

„Und ihr Sohn lebt hier? Merkwürdig, daß er so gänzlich verabsäumt hat, sich mir in Erinnerung zu bringen! Ich entsinne mich jetzt, er schrieb mir, nach meines Vaters Tode, aber er hätte doch wohl seine Teilnahme anders bethätigen dürfen als durch einen förmlichen Brief, der mich in dem Glauben ließ, er komme von irgendwoher, und nicht aus nächster Nähe.“

„Onkel Hofmann hat ihn vor einigen Jahren hierher genommen, da der Vater gänzlich verarmt und der Sohn sich auf raschen Broterwerb angewiesen sah. Er ist Buchhalter drüben bei der Schneidemühle, und Harnack, als Oberingenieur, hat viel mit ihm zu thun!“

„Was sagt er denn über ihn?“

„Er sagt ihm nichts besonders Gutes nach. Er sei nachlässig in der Erfüllung seiner Pflichten, nehme oft Urlaub, dehne denselben weit über Gebühr aus, komme häufig zu spät und gehe zu früh, verbringe seine Zeit mit allerlei nutzlosen Tändeleien, wisse nichts von Ernst und Wert der Arbeit. Besonderen Anstoß nimmt Harnack an der leichtfertigen Art, in welcher der junge Mann mit Aeußerungen um sich wirft, welche deutlich genug beweisen, wie ihm sein ganzer Beruf nichts als eine unbequeme Last sei, die er, je eher je lieber, von sich abschütteln würde, wenn er eben eine andere Art wüßte, seinen Lebensunterhalt zu gewinnen. Harnack sagt, erstens leide die Arbeit unter einer so sorglosen Handhabung ohne jedes System, zweitens hält er es für bedenklich, einen Menschen, der derartige Aeußerungen thut, unbekümmert darum, wer ihm gerade zuhört, inmitten eines so weitverzweigten Getriebes wirken zu lassen. Harnack meint, das könne leicht böses Blut setzen und gefährlich werden!“

„Er wünscht also, Hagedorn zu entlassen?“

„Er bat mich darum mit dem Zusatz, es sei dies schon lange sein Wunsch gewesen, er habe aber zu Ihres Vaters Lebzeiten nicht gewagt, einen Wink zu geben, da der junge Mann ein Verwandter seines Chefs gewesen sei.“

„Ich glaube nicht, daß, sobald es sich um wichtige geschäftliche Dinge handelte, irgendwelche persönlichen Rücksichten bei Papa ins Spiel kamen, und Ingenieur Harnack sollte ihn gut genug gekannt haben, um dies ebenso gut zu wissen. Meinen Sie das nicht auch?“

„Ich meine es allerdings und sagte ihm das auch, allein er meinte doch, dies sei sein Motiv gewesen!“

„Sein einziges Motiv?“

„Er hat mir kein anderes genannt!“

Alix schwieg ein Weilchen. „Sie haben doch wohl den in Rede stehenden Herrn persönlich kennen gelernt?“ fragte sie dann.

„Was man im oberflächlichsten Sinne so nennt. Ich habe ihn mehrmals gesehen und ein paar landläufige Redensarten mit ihm ausgetauscht. Beobachten konnte ich ihn nicht, auch nicht seine Leistungen kontrollieren – es fehlt mir an Zeit dazu. Das müssen wir schon Harnack überlassen.“

„Sie werden doch irgend einen persönlichen Eindruck empfangen haben! Welcher Art war der?“

„Persönliche Eindrücke pflegen mich, wie Sie Aehnliches soeben von Ihrem Vater sagten, Cousine, nie zu bestimmen. Wenn ich aber von einem solchen, natürlich rein äußerlichen, Eindruck sprechen soll, so muß ich allerdings sagen, daß er ungemein vorteilhaft gewesen ist.“

„So? – – Und nun noch zwei weitere Fragen! Erstlich: wir sind kurz vor Ostern – kann man einem angestellten Beamten so ohne weiteres kündigen?“

„Ihr Vater hat monatliche Kündigung seinerseits festgesetzt!“

„Und wie findet ein so plötzlich entlassener Mann ebenso schnell wieder eine neue Stellung?“

Cecil hob die Achseln. „Seine eigene Angelegenheit!“

„Sehr bequem gesagt für uns – weniger bequem für ihn!“ sagte Alix ernst. „Und nun meine letzte Frage: Bin ich, Alexandra von Hofmann, in letzter Instanz befugt, ich meine gesetzlich berechtigt, die Anstellung oder Entlassung eines Beamten der Josephsthaler Werke zu entscheiden?“

„Ganz gewiß sind Sie das als Ihres Vaters Universalerbin und mündig gesprochene Tochter. Eben darum ersuchte mich Oberingenieur Harnack um meine Vermittlung behufs Erlangung Ihrer Einwilligung!“

„So verweigere ich sie!“

Alix warf das rasch und lebhaft hin und sah ihrem Vetter kampfgerüstet in das immer noch gesenkte Gesicht.

„Sie werden gewiß denken,“ fuhr sie etwas bedächtiger fort, „daß dies eine Frauenlaune von mir sei und daß jetzt, da die Werke meines Vaters in meiner Hand sind, ein Regiment persönlicher Willkür in Josephsthal beginnen werde. Das soll nicht der Fall sein, ich verspreche es Ihnen. Ich habe meine Gründe, zu handeln wie ich handle. Oberingenieur Harnacks Tüchtigkeit und umfassende Kenntnisse in allen Ehren – ich glaube fest daran, weil das Urteil meines Vaters und das Ihrige mir auf diesem Gebiet maßgebend sind. Es macht mich aber stutzig, daß Herr Harnack aus Rücksicht auf einen Verwandten meines Vaters jahrelang geschwiegen haben will, während er ohne Rücksicht auf mich, die Tochter, der dieser Verwandte viel näher steht – denn er war ein Neffe meiner Mutter! – nach kaum fünf Wochen redet. Es widerstrebt mir, einen Neffen meiner Mutter, einen Mann, der jahrelang meines Vaters Brot gegessen hat, von heute auf morgen zu entlassen, vielleicht nur darum, weil er Herrn Ingenieur Harnack nicht gefällt. Verhält sich die Sache wirklich so, wie er sie darstellt, so will ich meinen Irrtum einsehen und den Buchhalter verabschieden – – bis das aber geschehen ist, bleibt Herr Hagedorn in seinem Amt!“

Cecil Whitemore hatte immer langsamer und langsamer das Papiermesser über seine linke Handfläche hingleiten lassen. Er sah seine Cousine noch immer nicht an, und, nach wie vor, schien es ihm zu eilen, von ihr fortzukommen, denn er rückte zuweilen unruhig hin und her. Zu ihren letzten Worten aber nickte er eine ganz nachdrückliche Bestätigung, stand dann auf, legte das Papiermesser auf den Tisch, schüttelte seiner Cousine die Hand, daß es sie schmerzte, und sagte nichts als die Worte: „Sie haben vollständig recht, liebe Cousine! Good bye!“ Damit war er zur Thür hinaus.

Alix war aufgestanden, als ihr Vetter ging. Sie setzte sich auch nicht wieder hin, sie war innerlich zu unruhig.

Sie hatte sich in Eifer gesprochen, dennoch war es nicht die Hagedornsche Angelegenheit gewesen, die sie so erregte. Das hatte der Brief ihres Vaters verschuldet, den sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten, der sie dort, gleich einer Flamme, gebrannt hatte.

In seinen nachgelassenen Papieren vorgefunden – „An meine Tochter … Nach meinem Tode zu öffnen und zu lesen“ – was konnte dies Schreiben enthalten?

Sie löste mit bebender Hand das Siegel und las:

„Liebe Tochter! Für den Fall meines frühen oder unerwarteten Todes möchte ich Dir eine bestimmte Weisung erteilen. Ich habe keinen Sohn, dem ich die Kolonie Josephsthal hinterlassen könnte, ich habe nur Dich, die Du meine Universalerbin bist. Naturgemäß wirst Du wünschen, Dich zu verheiraten – ich wünsche es gleich Dir! Der Gedanke aber, irgend ein Offizier oder Feudalherr käme in den Besitz der Werke und betrachtete dieselben lediglich als unbequemen Ballast, den man gern möglichst bald loszuschlagen wünscht, dieser Gedanke bedrückt mich. Aus den von mir gegründeten Werken ist noch sehr viel zu machen,

[553]

Vor dem Parkthor von Friedrichsruh am Morgen des 31. Juli.
Nach dem Leben gezeichnet von W. Werner.

[554] sie haben eine bedeutende industrielle Zukunft vor sich. Dein Vetter Cecil Whitemore wäre, im Fall meines frühen Todes, der Mann dazu, meiner Schöpfung diese Zukunft zu sichern, er besitzt die notwendigen theoretischen und praktischen Kenntnisse, den Ueberblick und die erforderliche Energie. Gegen seine Persönlichkeit kannst Du nichts einzuwenden haben, ebensowenig wird er dies der Deinigen gegenüber thun. Ich habe jetzt, nach meiner soeben erfolgten Rückkehr von London, ein Kodizill zu meinem Testament, das ich bereits vor langen Jahren, gleich nach dem Tode Deiner Mutter, abgefaßt hatte, aufgesetzt, das diesem meinem ausgesprochenen Wunsch und Willen einen ganz besonderen Nachdruck verleiht. Mein Wunsch und Wille ist es, Du möchtest mit Deinem Vetter Mr. William John Cecil Whitemore die Ehe eingehen und dadurch eine solide und sachkundige Fortführung der von mir gegründeten Werke gewährleisten. Solltest Du Dich, was ich nicht annehmen will, diesem meinem nachdrücklich betonten Willen widersetzen, so würde ein Teil Deines Erbes, und zwar der nicht unerhebliche der Schneidemühle am Fluß, samt seinen Einkünften an Deinen Vetter fallen; sollte er sich anderweitig oder gar nicht vermählen wollen, so bliebe Dir der Gesamtbesitz – aber auch in diesem Fall ihm in erster Linie vorbehalten, einen geeigneten Verwalter des Unternehmens zu suchen und einzusetzen. Alle näheren Bestimmungen hierüber sind in dem Kodizill aufgezeichnet, welches Justizrat Ueberweg in Verwahrung hat. Ich hoffe, meine Tochter Alexandra wird diese meine väterlichen Bestimmungen gutheißen und sich ihnen fügen. Alfred Joseph Freiherr von Hofmann.“ 

Mit einem Gefühl hoffnungsloser Traurigkeit ließ das junge Mädchen den Brief sinken.

Es war zunächst nicht einmal der ihre Person berührende Inhalt, der dies Gefühl über sie kommen ließ, als friere es sie bis ins Herz hinein. Ihre Zukunft, mein Gott! Sie hatte natürlich für sich an Liebe und Ehe gedacht, aber immer als an etwas Fernliegendes. Es würde, es mußte kommen, aber es hatte ja noch Zeit damit. Einundzwanzig Jahre! Da konnte sie sicher noch warten.

Jetzt griff ihr toter Vater über sein Grab hinaus und führte ihr den Gatten zu! Daß er es that, war weiter nicht verwunderlich – sie war jung, stand allein da im Leben, ohne Erfahrungen, ohne Geschäftskenntnisse, sollte die Herrin eines so großen, weitverzweigten Besitztums werden und fühlte sich, wie sie da war, dieser Aufgabe nicht gewachsen. Aber wie er, der Vater, in ihre Zukunft hinübergriff – das, das war’s, was ihr dies schauernde Kältegefühl erweckte! Kein Bangen um sie, keine Frage, wie ihr Herz sprechen könne, ob es bereits gesprochen habe – keine väterliche Fürsorge, ob die beiden Menschen, die sich für das ganze Leben verbinden sollten, auch innerlich zu einander stimmten, ob sie es würden lernen können, eines des andern Herz zu finden .... nichts – nichts von alledem! „Gegen seine Persönlichkeit kannst Du nichts einzuwenden haben, ebensowenig wird er dies der Deinigen gegenüber thun!“ – Das war alles! Daraufhin sollten zwei Menschen einen Bund schließen, der sie unauflöslich aneinander knüpfte! Ihm, der diesen Wunsch ausgesprochen, paßte es so in seine Berechnungen, darum hatte es zu geschehen, und die beiden Beteiligten sollten sich fügen und mochten sehen, wie sie zusammen fertig würden. Die Kolonie Josephsthal, die war ihrem Besitzer alles gewesen – die Menschen, und wäre auch sein einziges Kind unter ihnen, bedeuteten ihm nichts als Ziffern, die in diesem Hauptkonto seines Lebens ihre Stelle einzunehmen hatten!

Ob Cecil den Inhalt dieses Briefes kannte oder erraten hatte? Er hatte um ihn gewußt – kein Zweifel! Woher sonst seine ungewöhnliche Verlegenheit – sein Stocken, während er sprach – sein beständiges Niederblicken? Gewiß hatte sich für ihn ein ähnlicher Brief unter den nachgelassenen Papieren gefunden und nun sollten sie täglich miteinander verkehren, und unausgesprochen sollte der Wunsch des Verstorbenen zwischen ihnen schweben und ihnen die Unbefangenheit nehmen, die ihnen bisher einen so angenehmen Verkehr ermöglicht hatte!

Nun, das Trauerjahr war lang, und bis es verrann, konnte vieles geschehen; nur das Eine konnte Alix sich nicht denken: daß es ihr nämlich je geschehen könnte, ihren Vetter Cecil Whitemore zu lieben!


9.

Françoise blickte ihrer jungen Herrin nach, vom Fenster ihres Zimmers her, wie sie leichtfüßig und rasch durch den mit Schnee überstäubten Park schritt.

Sie hatte ihre alte Getreue wieder nicht mitnehmen wollen, zu deren stiller Genugthuung freilich auch nicht die neu engagierte Gesellschaftsdame, diese imposante Frau Majorin! Aber was war denn mit dem „Kinde“ geschehen, daß es so viel allein sein wollte? That das alles ihres Vaters plötzlicher Tod? Nicht anzunehmen – monsieur war kein solcher Vater gewesen, den man aus tiefster Seele betrauern konnte. Himmel, welch ein lustiges Leben war das in Frankfurt gewesen! Beständig Tanz und Vergnügen, Bälle, Reitfeste, im Sommer die schönsten Land- und Wasserpartien – ach, und Alexandras Zimmer stets voll hübscher, junger Mädchen … und das plauderte und lachte und naschte Erfrischungen und neckte einander, es war eine Lust! Jetzt saß ihr Liebling und rechnete, hielt den Kopf aufgestützt, konferierte mit Mr. Whitemore und sah so ernst aus den großen Blauaugen, als gäbe es gar keine Jugend und Fröhlichkeit mehr in der Welt. Wozu das alles? Vor ihr lag doch das schönste, bequemste Leben, warum mühte sie sich denn so ab? Würde man lange, würde man gar für immer in diesem Josephsthal bleiben müssen? Der lebensfrohen Französin schlug das Herz vor Schrecken bis in den Hals hinauf bei dem bloßen Gedanken an diese Möglichkeit! Natürlich, das Trauerjahr hindurch würde man wohl hier festsitzen müssen! Dazu die Herren vom Gericht, die immer noch von Zeit zu Zeit erschienen, um die Beamten, die Arbeiter zu verhören, in den Papieren zu stöbern, die geringfügigsten Details hervorzusuchen – und es half ihnen alles nichts! Sie bekamen nichts heraus, und – Françoise war davon überzeugt – sie würden auch nichts herausbekommen!

Wie eine junge Maienrose leuchtete Alexandras reizendes Gesicht aus den schwarzen Krepphüllen hervor. Ihr stand eben alles entzückend, und wie die knappe Jacke mit dem flockigen Pelzbesatz die schlanke Schönheit der Gestalt hervortreten ließ! Ach, daß es in diesem Josephsthal keinen gab, der das recht zu würdigen wußte, denn Mr. Whitemore, der seine schöne Cousine jeden Tag sah – Gott, das war auch so ein Mann, wie der verstorbene Monsieur Hofmann einer gewesen war. Dem gingen auch seine Rechnungen und Zahlen über alles! Wenn nur erst der Konzertflügel aus Frankfurt da sein würde und Alix Reitpferd! Wenn es erst Frühling wäre, wahrhaftiger Frühling – dann bekäme doch die Sache wenigstens ein etwas besseres Aussehen!

Freilich war heute früh noch Schnee gefallen, und der Park, durch den Alix jetzt so eilig schritt, sah aus wie mit Streuzucker überschüttet. Aber die Sonne wollte das nicht mehr dulden, sie lachte und strahlte und küßte die weiße Pracht so glühend, daß sie schmolz, zusehends schmolz. Von den Aesten träufelte es herunter wie Brillantengeriesel, das von bunten Lichtern funkelt, Scharen von Spatzen lärmten und hüpften im kahlen Gezweig, die Büsche am Wegesrand neigten sich und streiften sacht die weißen Flöckchen herab. – – Alix trug Blumen aus den Treibhäusern in ihren Händen, damit wollte sie die Särge in der Kapelle schmücken. Nein, zu diesen Gängen wollte sie keine Begleitung haben – ein gleichgültiges Gespräch hätte sie nicht führen können, und die schweren Gedanken, die ihr hier kamen, mußte sie in sich allein verarbeiten. Ja, hätte sie Maria hier!

Als sie nach zehn Minuten wieder aus der Kapelle heraustrat, blieb sie unschlüssig stehen. Wohin? Gehen wollte sie noch, aber in der Kolonie hatte man sie noch nie allein gesehen – würde ihr Anblick nicht befremden? Mochte er es! Alix warf den Kopf hoch – sie hatte nie nach dem gefragt, was die Leute von ihr denken könnten.

Die breite Straße war wenig belebt um diese Zeit. Die Frauen bereiteten daheim das Mittagsessen, die Männer arbeiteten noch. Dann und wann trippelte ein verspätetes Schulkind, Tafel und Hefte unter dem Arm, über die leicht verschneite Straße und vergaß, über allem Bestaunen der schönen Dame mit dem kostbaren Pelzwerk und dem langen schwarzen Trauerschleier, sie zu grüßen. Aus allen Schornsteinen kräuselte sich blaues Gewölk aufwärts in die reine Luft. Der Postbote kam eiligen Schrittes daher und grüßte militärisch: hinter den Einzäunungen, welche die kleinen Vorgärten von der Straße abgrenzten, bellte dann und wann [555] ein zottiger Hund die fremde Erscheinung an, und eine Frau in grober Schürze trat wohl unter die Thür, zu sehen, was es gäbe. Am lichtblauen Himmel schwamm auch nicht ein einziges Wölkchen, nur das goldene Sonnenangesicht lächelte herab und versprach der Welt den Frühling.

Alix von Hofmann ging jetzt links dicht an den Häusern entlang, als es hinter ihr erklang wie das leichte Anschlagen eines Glöckchens. Ein Radfahrer kam auf seinem Zweirad in schwindelnd schneller Fahrt die Dorfstraße entlang. Er hielt sich sehr aufrecht und handhabte sein Fahrzeug mit großer Gewandtheit. Mehrere Beamte in Josephsthal bedienten sich dieses modernen Beförderungsmittels; diesen hier meinte Alix noch nie gesehen zu haben. Sie mußte ihm beifällig zuschauen – keiner von den Frankfurter Herren, die den Radsport mit heißem Eifer wie die ernsteste Lebensaufgabe pflegten und zu Dutzenden in den Taunusanlagen umherschwärmten … keiner von ihnen hätte zaudern dürfen, in diesem Josephsthaler Einwohner einen ebenbürtigen Nebenbuhler zu begrüßen.

Plötzlich erstarb das bewundernde Lächeln auf Alix’ Lippen und machte einer Miene der Bestürzung Platz. Aus dem links gelegenen Schulgebäude waren vier, fünf Knaben, im Alter von etwa sieben bis zu neun Jahren, soeben herausgetreten, und einer von ihnen – es war gerade der kleinste – lief, so rasch ihn die Füße tragen wollten, dicht vor dem Radfahrer quer über die Straße. Er wäre vielleicht glücklich auf die andere Seite gelangt, aber der halb von der Sonne zertaute Schnee war schlüpfrig und glatt, das Kind strauchelte, stieß einen gellenden Schrei aus und lag im nächsten Augenblick glatt auf der Erde. Ging das schwere Zweirad über das dünne Körperchen hinweg, so konnte es ein großes Unglück abgeben.

Wunderbarerweise geschah dies nicht. War es ein glücklicher Zufall, hatte der Radler eine so große Geschicklichkeit und Geistesgegenwart besessen … das Rad fiel weder um, noch ging es über den Knaben hinweg – es beschrieb in vollem Schwung eine Kurve, die es fast aus dem Gleichgewicht brachte, aber das Kind war unversehrt geblieben – Alix, deren Schritte die Angst beflügelt hatte, konnte es deutlich sehen.

Ob dem Jungen der Schreck in die Glieder gefahren war oder ob er sich einbildete, es sei ihm doch irgend ein Unheil widerfahren … er blieb jedenfalls platt am Boden liegen und fuhr fort, aus vollem Halse zu schreien.

Inzwischen war auch der Radfahrer abgesprungen, hatte sein Fahrzeug gegen den nächsten Baum gelehnt und war mit wenigen Schritten neben dem Knaben. Mit einem derben Ruck faßte er ihn, hob ihn am Kragen seiner Jacke in die Höhe und schüttelte das leichte Körperchen in der Luft so energisch hin und her, als sei es nur ein Bündel Kleider. „Du heilloser Schlingel – wie konntest du mir so in den Weg laufen? Weißt du auch, daß ich dich hätte zu Tode fahren können, oder dir Arme und Beine zerbrechen … und was wär’ dann gewesen? Hör’ auf zu brüllen, du nichtsnutziger Bengel! Verstanden?“

Alix stand seitwärts, während sich dies Strafgericht über dem Haupt des Schuldigen entlud. Der Radfahrer war so ganz mit dem Delinquenten beschäftigt, daß er der jungen Dame gar nicht ansichtig wurde. Sie hatte volle Muße, ihn in Augenschein zu nehmen.

Trotz der wenig vorgerückten Jahreszeit war er nur in einen bequemen wollenen Anzug gekleidet, ohne Halstuch oder Ueberrock, als wäre man mitten im schönsten Lenz. Seine Gestalt war groß und ebenmäßig gebaut, kraftvoll und dabei geschmeidig, als wäre ihr jeder Sport ein willkommenes und leichtes Spiel. Das Haar unter dem weichen, eingedrückten Filzhut war braun und kraus, der kurzgehaltene Bart, der sich um Wangen und Kinn zog und unten zuspitzte, zeigte einen bedeutend helleren Farbenton. Weiteres konnte Alix von ihrem Standpunkt aus nicht erkennen.

Die Kameraden des gestürzten Jungen waren furchtsam näher geschlichen und sahen aus einiger Entfernung dem über ihren kleinen Gefährten gehaltenen Standgericht zu.

„Nicht mehr brüllen sollst du, hab’ ich gesagt! Wem gehörst du denn, Schlingel, der du bist?“ Der Junge berührte jetzt mit seinen Füßen die Erde, aber die starke Hand hielt ihn immer noch mit eisernem Griff am Jackenkragen fest.

Es kam eine unverständliche Antwort.

„Was? Wer in aller Welt soll das verstehen? Sagt ihr mir’s, Jungens, wie heißt er?“

„Paul Semmling!“ „Dem Kornaufmesser Semmling sein dritter Jung’ ist das!“

„So? Na, wenn die übrigen Jungens vom Kornaufmesser Semmling auch so sind wie dieser, dann kann er sich ja gratulieren, dann hat er ’ne schöne Aufgabe vor sich! Er hat sich doch natürlich vor euch zeigen wollen mit dem, was er kann, nicht wahr? Er hat geprahlt, er käm’ noch gut hinüber – was?“

„Ja, das hat er!“ „Er hat gesagt, er rennt schneller wie ’s Rad!“ „Er meinte, wenn wir uns nicht trauen … er traut sich!“

„Ist auch was Schönes dabei herausgekommen! Nun kommt mal ’ran, Jungens, und merkt euch, was ich euch sage: wenn wieder mal irgend einer von euch – egal, wer es ist! – sich so was Verrücktes auf die Hörner nimmt und will sich mit Gewalt zu Schanden fahren lassen … dann leidet ihr das nicht, hört ihr? Dann nehmt euch den Schlingel ’ran und haut ihm gehörig die Jacke voll! Wollt ihr das thun?“

„Ja, das werden wir schon!“ „Dann hauen wir ihn!“

Der Radfahrer nickte billigend und sah dann strafend von seiner Höhe auf den kleinen Missethäter nieder, während er ihm mit seiner freien Hand nicht gerade sehr sanft den Schnee und Schmutz von den Kleidern klopfte. „Wie alt bist du, Paul Semmling?“

„Auf letzte Weihnachten bin ich – achte gewesen!“

„Acht Jahr! Du kannst gut werden, das muß ich sagen! Solch ein Knirps, solch’ ein Dreikäsehoch! Loslassen soll ich dich? Willst du vielleicht ohne Mütze und ohne Bücher nach Hause laufen, ja?“ Der Radfahrer bückte sich, hob die schwarze Pudelmütze des Jungen vom Boden auf, schlenkerte sie ein paarmal durch die Luft und stülpte sie ihrem Besitzer dann mit einem so kräftigen Druck auf den Kopf, daß sie ihm bis an die Augen rutschte.

„So, Jungens, nun helft ihm seine Sachen aufsammeln! Die Tafel ist zerbrochen? Na, wart’ ’mal“ – jetzt endlich ließ die Rechte den Kragen des Kindes los, fuhr in eine Seitentasche des karrierten Sakkos und brachte ein Portemonnaie zum Vorschein. „Hier – kauf’ dir ’ne frische Tafel und sonst noch was – spielst du mit Murmeln?“

„Ja, ich spiel’ mit Murmeln!“

„Dann also kauf’ dir welche. Nun macht, daß ihr wegkommt, Bande!“

Die Jungen stoben kichernd auseinander, einer von ihnen rief noch ein „Adieu!“ zurück. Paul Semmling, der Attentäter, lief so schnell ihn seine Füße tragen konnten.

Mit einem heitern Lächeln schaute ihnen der Radfahrer nach. Als er sich wandte, um sein Fahrzeug wieder zu besteigen, sah er neben sich eine junge Dame stehen, welche ihn mit Interesse betrachtete. Er nahm hastig den Filzhut herunter. „O, pardon, mein gnädiges Fräulein! Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Raimund Hagedorn!“

„Mein Name ist Alexandra von Hofmann!“

„Ich hatte die Ehre, Sie bei dem Leichenbegängnis Ihres Herrn Vaters zu sehen!“ Die ernste Miene stand diesem sympathischen Männergesicht ebensogut wie die lachende.

„Ich kann Ihnen nicht erwidern, daß ich mich Ihrer erinnere,“ entgegnete sie und sah ihm aufmerksam beobachtend ins Gesicht, „da bei meines Vaters Leichenbegängnis Hunderte zugegen waren und Sie mir nicht, wie die übrigen Herren Beamten, später einen Besuch abgestattet haben.“

Raimund Hagedorns Gesicht war zu ausdrucksfähig, um irgend einen unmittelbar empfangenen lebhaften Eindruck zu verbergen. Es zuckte ihm leicht um die Lippen, und zwischen den Augenbrauen bildete sich ein feines Fältchen.

„Haben Baroneß meinen Besuch erwartet?“

„Natürlich!“ erwiderte sie unbefangen. „Ebenso wie den der anderen Herren, die in der Kolonie Josephsthal beschäftigt sind. Um so mehr, als man mir gesagt hat, daß ich einen Verwandten mütterlicherseits in Ihnen zu begrüßen hätte!“

„Darf ich fragen, wer Ihnen diese Mitteilung gemacht hat?“

„Zunächst Herr Justizrat Ueberweg, sodann mein Vetter aus London, Herr Whitemore!“

„Und haben diese beiden Herren – – – aber gnädiges Fräulein wollen verzeihen! Ich darf Ihre Aufmerksamkeit in [556] dieser Sache nicht derartig in Anspruch nehmen, daß Sie Ihre Zeit einbüßen und zudem Gefahr laufen, sich in der noch immer herben Luft eine Erkältung zu holen.“

„Ich habe augenblicklich freie Zeit und neige nicht leicht zu Erkältungen!“ Alix sagte dies mit einer Miene und Haltung, die Professor Laurentius scherzend als ihre „königliche Manier“ zu bezeichnen pflegte. Es lag etwas Unpersönliches darin, das Gefühl, daß sie über den Menschen und Dingen, mit denen sie sich gerade beschäftigte, stehe. Ihr Interesse, ihre Teilnahme war sichtbar, aber beides war rein sachlich vorhanden, und ein einigermaßen guter Beobachter konnte deutlich genug wahrnehmen, daß er selbst und seine Person hierbei ganz aus dem Spiel blieben.

Ein solcher Beobachter war offenbar der junge Mann, der jetzt mit einer höflichen Verbeugung sagte: „Wenn sich Baroneß meine Begleitung gefallen ließen –“

„Gewiß! Gehen wir zum Schloß zurück!“

Hagedorn führte mit der linken Hand sein Zweirad an der Lenkstange neben sich her, und Alix ging zu seiner Rechten. Sie schwiegen eine kleine Weile. Des Mannes Blick hing bewundernd an dem schlanken, schönen Mädchen, das ihm jetzt, in solcher Nähe, noch weit anmutiger erschien als damals während der Leichenfeier.

„Sie wollten mir etwas sagen!“ brach Alix zuerst das Schweigen.

„Ich wollte – ja, aber es wird mir schwerer, als ich dachte. Wir sind einander doch ganz fremd – und ich muß fürchten, mich sofort bei dem gnädigen Fräulein in ein ungünstiges Licht zu setzen!“

Alix lächelte fast unmerklich.

„Wäre das die unausbleibliche Folge Ihrer Mitteilung?“

„Ich fürchte, ja! Eine Indiskretion bleibt immer etwas Unsympathisches, selbst wenn sie als Selbsthilfe zu entschuldigen wäre.“

„Und einer Indiskretion müssen Sie sich schuldig machen?“

„Ich werde nicht anders können – es sei denn, ich ließe Baroneß in dem Glauben, ich wäre ein Mensch ohne Takt und Manier und wüßte nicht, was ich der Tochter meines soeben verstorbenen Chefs, der Verwandten meiner Mutter, schuldig bin!“

Alix sah mit einem nachdenklichen Blick an ihm in die Höhe.

„Ich pflege mir nicht so ohne weiteres günstige oder abfällige Meinungen über jemand zu bilden; aber daß ich mich über Ihr Nichterscheinen gewundert habe, gestehe ich offen ein.“

„Sehen Sie!“ rief ihr Begleiter lebhaft. „Und es liegt ja auch so nahe, das zu thun! Darf ich nun nach etwas fragen?“

„Bitte!“

„Hat man – ich möchte nicht gern einen Namen nennen! – hat man Ihnen, Baroneß, nicht angekündigt, ich sei aus meiner Stellung als Buchhalter bei der Dampfschneidemühle entlassen?“

„Sie gestatten, daß ich einen Irrtum aufkläre, in welchem Sie, und mit Ihnen zugleich vielleicht die übrigen Beamten meines verstorbenen Vaters, sich befinden!“ sagte das junge Mädchen ernst. „‚Man‘ hat mir dergleichen nicht ohne weiteres anzukündigen, ‚man‘ hat überhaupt kein Recht, auch nur einen der geringsten Arbeiter, geschweige denn einen Beamten der Kolonie Josephsthal, anzustellen oder zu entlassen. Dies ist einzig meine Befugnis und niemandes sonst. Bin ich auch noch ohne jede Fachkenntnisse und sind mir auch die Herren, aus denen sich das Beamtenpersonal zusammensetzt, fremd, ihre Leistungen meinem Urteil nicht zugänglich …. die alleinige Disposition über alles, was die Werke betrifft, liegt in meiner Hand, und so soll es bleiben!“

Hagedorn neigte das Haupt ein wenig gegen sie.

„Ich habe das nicht gewußt. Niemand hat es für gut befunden, mich über diesen Stand der Dinge aufzuklären, und ich hatte angenommen …. nun, einerlei! – Wie dem auch sei: das darf ich wohl mit Sicherheit annehmen, daß man der Tochter unseres Chefs, der nunmehrigen Besitzerin der Kolonie Josephsthal, meine Entlassung als Vorschlag unterbreitet, sogar als dringende Notwendigkeit dargestellt hat!“

„Ich kann nicht leugnen, daß dem so ist,“ entgegnete Alix kurz und fest.

„Natürlich! Ich war davon überzeugt. Und dies war der Grund, warum ich anscheinend eine nicht zu umgehende Höflichkeitspflicht außer acht gelassen habe. Wozu die Bekanntschaft einer Dame suchen, aus deren Gesichtskreis ich ohnehin binnen wenigen Wochen gerückt sein würde?“

„Sie wären auch nicht gekommen, wenn Sie gewußt hätten, daß ich in dieser Sie betreffenden Frage zu entscheiden habe?“

„In diesem Fall schon unter keiner Bedingung. Ich bitte, mich nicht mißverstehen und sich gütigst für eine Minute in meine Lage versetzen zu wollen! In welchem Licht könnte wohl ein Mensch dastehen, der da weiß: du gehst deines Postens verlustig! und der es dennoch unternimmt, dem neuen Chef des Hauses, der eine Dame und seine Verwandte ist, einen Besuch abzustatten? Doch nur in dem Licht eines Bittstellers, der die Sache um jeden Preis redressieren möchte – – und – verzeihen Baroneß meine Aufrichtigkeit: in dem Licht habe ich mich Ihnen nicht zeigen wollen!“

„Ich kann es mir denken und kann es Ihnen nachfühlen!“ nickte Alix. „Aber es hätte ja nur bei Ihnen gestanden, diesem – diesem ‚Licht‘ eine andere Nuance zu geben: die der Aufklärung!“

„Konnte ich wissen, ob Sie solche nicht schon zur Genüge von der andern Seite empfangen hatten? Ob Sie nicht schon ganz mit sich einig waren, den untauglichen Beamten möglichst rasch und auf möglichst glatte Manier los zu werden? Und eins noch: Anklage gegen Anklage zu setzen, wie es hier ganz unausbleiblich der Fall hätte sein müssen – – – das ist mir nie im Leben als ein besonders schöner Weg erschienen, und ich würde ihn nur dann betreten, wenn das eiserne Muß mich dazu zwänge!“

„Verstehe ich Sie recht,“ sagte Alix nach einer kurzen Pause, „hat – hat – man – ich nenne ebenfalls keinen Namen – Ihnen Ihre Stellung als Buchhalter bereits definitiv gekündigt?“

„Definitiv wohl nicht, aber provisorisch, mit dem Zusatz, die formelle Kündigung würde nicht lange auf sich warten lassen, sie dürfte schon in den allernächsten Tagen erfolgen. Daraufhin wurde mir ein Teil der mir obliegenden Pflichten bereits abgenommen, weshalb mir mehr freie Zeit als sonst bleibt – Beweis mein heutiges Radfahren um eine Stunde, die ich sonst auf dem Comptoir am Pult zuzubringen pflegte.“

Die geradegezogenen dunklen Brauen des Mädchens rückten nahe zusammen. „Diese sogenannte Kündigung war Ihnen doch nicht etwa in meinem Namen zugegangen?“

„Nein – sondern im Namen desjenigen, der sie aussprach, und zwar in einer Form und in einem Ton aussprach, daß ich mich hinreißen ließ … aber ich möchte dies nicht nochmals thun, und es begegnet mir sehr leicht, wenn mein Blut in Wallung kommt. Dort haben wir das Schloß, Baroneß! Wie mir scheint, wird am Portal etwas abgeladen –“

Er hatte an den Hut gegriffen und schien sich verabschieden zu wollen. Aber Alix beachtete das nicht. Sie hatte einen halblauten Ruf der Ueberraschung, einer freudigen Ueberraschung ausgestoßen und beeilte sich nun, vorwärts zu kommen, um besser sehen zu können. Acht Männer waren beschäftigt, ein großes, sorgsam in Matten gewickeltes Frachtstück von dem flachen, breiten Wagen, der am Fuß der Freitreppe stand, herunterzuheben und ins Schloß zu bringen. Auf einer der obersten Stufen der breiten gußeisernen Treppe stand die Majorin von Sperber, sorglich in ihren Wintermantel gehüllt, und überwachte den Transport mit sichtlichem Eifer.

„Mein Flügel ist da, nicht wahr?“ rief Alix mit heller Stimme hinauf.

„Ja, er ist eben gekommen, gottlob! Wie ich mich freue!“ Und die würdige Dame kam wie das jüngste Mädchen die Treppe heruntergelaufen.

„Baroneß sind auch musikalisch?“ fragte Raimund Hagedorn, augenblicklich so lebhaft interessiert, daß er seinen beabsichtigten Weggang ganz vergaß und hastig näher herzutrat.

„Ich spiele gern Klavier. Wie schön, daß ich mein Piano wieder habe! Es ist, als wenn man einen lieben Freund begrüßt!“

„Noch dazu einen Freund, der nie Launen hat, nie untreu wird, nie wechselt!“ Des Mannes Augen leuchteten auf in feurigem Blau, wie er die hantierenden Leute überblickte. Es schien ihm in den Händen zu zucken, als ob er am liebsten geholfen hätte, das Instrument seiner Bestimmung zuzuführen.

„Herr Hagedorn – Frau Major von Sperber, meine mütterliche Freundin!“ stellte Alix eilig vor; sie war gleichfalls ganz bei der Sache, ging um den Wagen herum und wieder zurück und nickte den Arbeitern aufmunternd zu: „Sie werden sehr vorsichtig sein, nicht wahr?“

[557]

Das Ordnen der Trauerkränze im Schloßhof von Friedrichsruh.
Nach dem Leben gezeichnet von W. Werner.

[558] „Spielen Sie auch Klavier, mein Herr?“ wandte sich die Majorin Sperber indessen an Hagedorn. Es war eine bloße Höflichkeitsphrase – etwas mußte sie doch mit diesem plötzlich hergeschneiten jungen Mann, der ihr eben vorgestellt worden war und der dicht neben ihr stand, sprechen.

Er fühlte das auch heraus und bejahte in aller Kürze die Frage, aber Alix hatte sich rasch umgewandt.

„Sie müssen mir ein paar Fragen beantworten. Giebt es viele musikalische Elemente hier in der Kolonie Josephsthal?“

„Viele? Nicht daß ich wüßte! Die Frau des Oelmühlendirektors singt, ein Techniker geigt, und ein anderer bläst die Clarinette … dann noch …“

„Ich meine: spielt niemand Klavier?“

„O doch! Ingenieur Groß, dort hinten bei den Wasserwerken wohnt er – ganz tüchtiger Pianist sogar –“

„Und wer von den Herren wohnt unten am Fluß in dem kleinen Schweizerhaus, wo die vielen Neubauten sind?“

„Das kleine Schweizerhaus ist mein Domizil, Baroneß!“

„Ah, dann habe ich Sie spielen hören – es war damals, als … es hat mir wohlgethan.“ Das stolze junge Gesicht bekam einen weichen Ausdruck, die Stimme klang unsicher. „Sie spielten Walther von Stolzings Lied: ,Am stillen Herd, in Winterszeit!‘“

„Ah, das! Mein Liebling aus den ‚Meistersingern‘!“

„Auch meiner! Musizieren Sie häufig?“

„So oft ich kann. Wenn ich das nicht hätte –“ Hagedorn stockte plötzlich, das rasche Wort schien ihn zu gereuen. Wie kam er, ein Buchhalter Alexandras und bisher ihr völlig unbekannt, dazu, ihr Bekenntnisse irgend welcher Art ablegen zu wollen!

„Ich bin an ein sehr geselliges, abwechselungsreiches Leben bei meinen Pflegeeltern in Frankfurt gewöhnt gewesen,“ sagte Alix, die einen Augenblick darauf gewartet hatte, ob der junge Mann seinen Satz beenden würde. „Dagegen wird mein hiesiges Dasein sich sehr still und einförmig abspinnen, und Frau von Sperber und ich müssen bestrebt sein, aus eigenen Mitteln etwas zu unserer Zerstreuung zu thun. Mit der Musik, die wir beide lieben und pflegen, ist schon viel gewonnen – kommt nun noch mein Reitpferd dazu –“

„Ah!“ Wieder glänzten Hagedorns Augen auf. „Baroneß sind auch Reiterin?“

„Mein Vater hielt darauf, daß ich reiten lernte, und ich bin ihm dankbar dafür.“

„Und Ihr Reitpferd? Welche Rasse, wenn ich fragen darf?“

„Arabische Schimmelstute. Fünf Fuß vier Zoll – dreijährig – war noch nicht völlig auf Damenpferd zugeritten, als ich sie kaufte – ich hab’ meine liebe Not mit ihr gehabt!“

„Gnädiges Fräulein haben sie selber zugeritten?“

„Natürlich! Ich wollte sie mir doch in die Hand gewöhnen, aber ich habe viel Geduld üben müssen, sie ist unglaublich empfindlich und scheut leicht!“

„Solch’ nervöses Temperament ist schwer zu besiegen! Ist es Ihnen gelungen?“

„Ganz wohl noch nicht. Als ich sie endlich so weit hatte, daß sie mir einigermaßen nachgab, galt es, sie an die Kameradschaft mit ihresgleichen zu gewöhnen – wir vom Reitklub wollten doch gern miteinander Ausflüge unternehmen. Das nahm aber ,Primrose‘ sehr übel, sie zeigte sich so unliebenswürdig, kapriziös und ungesellig, daß ich ihr mit Stangenzaum und Peitsche mehr als eine scharfe Lektion geben mußte.“

„Aber das half?“

„Eine Zeit lang – ja! Jetzt, da ich sie so lange nicht geritten habe, wird sie mir, fürchte ich, wieder sehr aus der Hand gekommen sein. Sie sind auch Pferdeliebhaber oder wohl gar Kenner?“

„Früher war ich ein heißer Sportsman, ich habe bei mehr als einem Herrenreiten einen Preis erzielt.“

„Davon müssen Sie mir gelegentlich mehr erzählen, dafür interessiere ich mich. Sie müssen kommen und sich ,Primrose‘ ansehen, sobald sie hier angelangt ist!“

„Wenn Baroneß gestatten, komme ich schon früher, noch ehe ,Primrose‘ ihren Einzug gehalten hat.“

„Sie sollen mir willkommen sein! Ist nun jedes Mißverständnis beseitigt?“

„Einstweilen – ja!“

„Wie vorsichtig ausgedrückt!“

„Diese weise Vorsicht liegt gar nicht in meiner Beanlagung, die Natur hat es absolut versäumt, mich damit auszustatten. Wenn man aber immer von neuem Erfahrungen macht, welche zur Vorsicht mahnen, wäre man ja ein Narr, wenn man nicht endlich sich fügen wollte!“

„Gut also – Sie werden kommen!“

„In jedem Fall!“

„Und im Amt bleiben?“

„Da mein direkter Vorgesetzter nicht imstande ist, die beabsichtigte Palastrevolution herbeizuführen und mich zu stürzen, so bleibe ich, so lange es meinem indirekten Chef beliebt, mich zu dulden!“ Es wurde mit lächelnder Feierlichkeit gesagt, während Hagedorn, der den grauen weichen Filzhut schon lange heruntergezogen hatte und in der Hand zerdrückte, sich tief und ceremoniell verbeugte. Auch Alix mußte lächeln, als sie ihn mit verbindlichem Kopfneigen entließ.

„Meine gnädigste Frau – Baroneß Hofmann – –“ Noch ein respektvolles zweimaliges Grüßen, und der junge Mann war mit einem Satz auf dem Zweirad und sauste in einem elegant genommenen Bogen davon.

„Das ist ja ein gewandter und sehr hübscher Mensch, liebe Alix!“ sagte Frau von Sperber, indem sie beifällig hinter ihm dreinsah. „Wo in aller Welt haben Sie den aufgelesen?“

„Unten in der Dorfstraße, wo nur seine Geschicklichkeit ihn davor bewahrte, einen kleinen Jungen, der ihm in den Weg lief, zu überfahren. Er ist übrigens auch ein Verwandter von mir – das heißt, ich meine, dieser Herr Hagedorn, nicht der Junge!“

„Danke für gütige Aufklärung!“ Beide Damen lachten. „Aber kommen Sie herein, Alix, die Luft ist doch recht frisch, Sie könnten sich erkälten!“

„Bewahre!“ Das Mädchen sah mit großen Augen zum blauen Himmel hinauf, dehnte die Brust und atmete tief. „Wir haben ja den schönsten Frühling heute!“

„Wer weiß, wie lange? Was meinte denn dieser Herr Hagedorn damit, als er vom direkten und vom indirekten Chef sprach?“

„Mit dem direkten meinte er Herrn Ingenieur Harnack, der ihn aus seiner Stelle vertreiben will, und mit dem indirekten mich, die ich ihn behalte!“

„Ach so! Aber – aber, mein liebes Kind, glauben Sie denn nicht, daß – Ihre Intelligenz und Ihren guten Willen in allen Ehren! – daß Harnack die Tüchtigkeit oder Untauglichkeit eines Beamten, vermöge seiner Kenntnisse und Erfahrungen, viel besser beurteilen kann als Sie?“

„Wenn sich’s allein um Tüchtigkeit und Kenntnisse handeln würde – dann ohne alle Frage! Aber Ihr gepriesener Harnack, für den meine liebe Frau von Sperber offenbar ein faible hat –“

„Alix! Mein Gott, der Mann giebt sich so viel Mühe, uns alles hübsch zu erklären, und das gelingt ihm doch auch –“

„Gewiß gelingt ihm das, und Mühe giebt er sich redlich – wer wollte das bestreiten? Aber bei alledem ist er ein Mensch mit sehr ausgeprägten Sympathien und Antipathien –“

„Und da meinen Sie nun, Herr Hagedorn wäre ihm antipathisch? Aber warum denn nur in aller Welt?“

„Das habe ich noch nicht herausgefunden – aber die Antipathie ist vorhanden, darauf wette ich.“

„Mir ist sie rätselhaft. Ich habe von dem Herrn ja nur einen flüchtigen Eindruck gehabt, aber der war außerordentlich günstig. Ein flotter, bildhübscher Mensch von auffallend guten Manieren. Was für eine Stellung bekleidet er denn hier?“

„Er ist – Buchhalter!“

„Er hat das Air eines Künstlers. Und Sie möchten sich natürlich über diesen – diesen – Vetter – – ist er das?“

„Wenn Sie so wollen – ja! Unsere Mütter sind richtige Cousinen gewesen!“

„Nun, Alix, vielleicht finden sich noch mehr Vettern für Sie in Josephsthal ein. Zwei hätten wir ja schon! Ich wollte sagen: Sie möchten sich nun über diesen neuen Vetter ein eigenes Urteil bilden –“

„Ja, das möchte ich, und mit gutem Recht, wie ich meine!“

„Entschieden! Ich meine das auch! Und einstweilen sind Sie entschlossen, ihn zu behalten?“

„Ja – ich behalte ihn!“ – – – (Fortsetzung folgt.)

[559]
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Otto von Bismarcks Lebensgang.
Mit Bildnissen und Ansichten seiner Heimstätten.

Es ist ein eigen Ding, das Privatleben eines Mannes zu schildern, dessen Geist ein Menschenalter lang die Geschicke eines Erdteils beherrschte, dessen Entschlüsse das Wohl und Wehe von Millionen bestimmten, dessen Gedanken mit Völkern und Staaten zu rechnen gewohnt waren. Alles Persönliche, was es von ihm zu sagen giebt, alle die tausendfältigen Erlebnisse in Haus und Familie, die im Leben gewöhnlicher Sterblicher die Hauptsache auszumachen pflegen, sie sinken unter dem Eindruck der geschichtlichen Größe eines solchen Mannes zu der Rolle einer fast bedeutungslosen Nebensache herab. Darin ist der große Dichter vom großen Staatsmann verschieden.

Dem Dichter, der aus sich selbst schafft, ihm werden seines eigenen Lebens Wechselfälle, sein Lieben und Hassen, sein Genießen und Entbehren, sein Hoffen und Fürchten zur Quelle, daraus er Gedanken und Gestalten schöpft. Wer diese verstehen will, thut wohl, jene zu kennen. Nicht so der Staatsmann! Er führt zwei getrennte Leben – eins des Berufs, eins des eigenen Ichs. Und wenn auch die Brandung, die den Lenker des Staatsschiffs umtost, oft ihre Wogen bis in sein Heim und sein Herz wirft – nie soll die Hand am Steuer aus dem Reiche der persönlichen Gefühle und Empfindungen ihre Befehle empfangen. Des Staatsmanns Arbeitsfeld sind nicht die Regungen der eigenen Brust – fremde, außer ihm stehende Strebungen, Forderungen, Gegensätze, das Spiel der Kräfte zwischen des eigenen Volkes Gliedern, wie zwischen den Völkern unter sich, das ist das Feld, auf dem er sich bewähren muß.

Und trotzdem haftet seines Wirkens Ursprung in seiner Persönlichkeit. Dieser auch beim großen Staatsmann in ihren reinmenschlichen Beziehungen nachzuforschen, die Entwicklung seines Charakters zu verfolgen, seine Heimat, seine Lieben, sein Gehaben im vertrauten Kreis der Seinen kennenzulernen, ist daher ein wohlbegründetes Verlangen. Da zeigt sich denn, daß ein Abglanz von der Größe, die sein öffentliches Wirken auszeichnet, auch auf die kleinen Dinge fällt, die den Inhalt seines Privatlebens bilden. Der wahrhaft große Staatsmann kann auch in seinen eigenen vier Wänden kein kleiner Durchschnittsmensch sein. Es ist nicht anders möglich, als daß die Kraft, welche den Mann zu politischen Erfolgen emporgetragen hat, sein ganzes Sein durchdringt und ihm ihren Stempel aufdrückt.


Bismarcks Vorfahren und seine erste Jugend.

Altmärker sind die Bismarcks, soweit man ihr Geschlecht zurückverfolgen kann, und ein merkwürdiges Spiel des Zufalls will es, daß die ältesten von den bekannten Ahnherren des Mannes, der mit Meisterhand des Deutschen Reiches Staatsgewand zugeschnitten hat, in gewissem Sinne zur Zunft der Gewandanfertiger gehörten. „Biscopesmark“ oder „Bischofsmark“ hieß eine alte Burg der Bischöfe von Havelberg, und von ihr hat das Geschlecht der Bismarck seinen Namen. Es behielt ihn auch, als es die Burg verlassen und in dem nahen Stendal sich angesiedelt hatte. Dort in Stendal gehörten die Bismarcks der sehr angesehenen Gilde der „Gewandschneider“ an. Wenn die Legende von der Jugend des Marschalls Derfflinger recht hätte, wonach er von der Schere sich zum Säbel geflüchtet hätte, dann würde noch ein zweiter Faden von Bismarck zur ehrsamen Schneiderzunft hinüberführen. Denn Bismarcks Großvater, Karl Alexander, war mütterlicherseits ein Urenkel von Derfflinger. Längst aber haben die Geschichtsforscher das Nähfadengewebe um die Jugend des Siegers von Fehrbellin zerstört, und auch mit jener Zugehörigkeit der Bismarcks zur Stendaler Gewandschneidergilde ist nicht gesagt, daß sie mit Nadel und Ellenmaß sich durchs Leben geschlagen hätten. Mit dem Anschluß an eine Gilde erfüllte der Bürger einer mittelalterlichen Stadt lediglich eine Form, weil eben jede Teilnahme am öffentlichen Leben nur in diesem Rahmen sich abspielen konnte. Und die alten Stendaler Bismarcks haben kräftig eingegriffen in die Geschicke ihrer Stadt. Unter den vielen Ehrenbürgerbriefen, die dem Fürsten Bismarck zu teil geworden sind, darf sich derjenige von Stendal einer besonderen geschichtlichen Begründung rühmen.

Erhebliche Verdienste um die Wittelsbacher Markgrafen in Brandenburg hatten den Bismarcks 1345 die erbliche Belehnung mit Schloß Burgstall an der damaligen Südgrenze der Altmark eingetragen. Aber zwei Jahrhunderte später, 1562, ließen sie sich, nicht eben gerne, zu einem Tausche bewegen. Die herrlichen Jagdgründe von Burgstall stachen dem Kurprinzen Hans Georg von Brandenburg in die Augen, er lag den Bismarcks stark an, sie ihm gegen irgend ein anderes Besitztum abzutreten, und nach langen widerwärtigen Verhandlungen kam es so weit, daß der ältere Stamm der Bismarcks für seinen Anteil an Burgstall die Propstei des Klosters Crevese nahm, während der jüngere sich mit Amt und Dorf Schönhausen nebst Fischbeck abfinden ließ. Aus dieser jüngeren Linie stammt unser Otto von Bismarck und in dem Schloß von Schönhausen, das unsere Abbildung S. 562 darstellt, hat er am 1. April 1815 das Licht der Welt erblickt.

Es ist ein schlichter, schwerer, viereckiger Bau, dieses Herrenhaus. Auf den Resten des früheren, die der Dreißigjährige Krieg übrig gelassen, hatte es Bismarcks Urgroßvater, August Friedrich, erbaut, die Vollendung im Jahre 1700 wird durch die Jahreszahl über dem Haupteingange bezeugt. Bis in die neueste Zeit, d. h. bis es von dem Grafen Herbert Bismarck mit seiner jungen Gemahlin bezogen wurde, war seine innere Einrichtung wenig verändert worden; im wesentlichen fand sich alles so erhalten, wie es zu Bismarcks Jugendzeit aussah. Stieg man von der Flurhalle die Treppe hinan, so trat man zunächst in den verhältnismäßig niedrig erscheinenden schlichten Eßsaal; aus ihm führte eine Thür zur Rechten in das trauliche Wohnzimmer, welches die untenstehende Abbildung S. 560 darstellt. Bilder und Lithographien aus der Zeit Friedrich Wilhelms III schmückten die Wände, über dem Kamin prangte, in Stuck eingelegt, eine antike Frauenschönheit; das Hauptstück in diesem Raume aber war ein großes Bildnis von Bismarcks Mutter, Luise Wilhelmine von Bismarck, geborenen Menken. „Geistvoll, fast herrschend,“ so schildert Hesekiel dieses Bild, „blicken die Augen unter der klaren Stirn; es ist etwas Strenges in dem Umriß des Gesichtes, aber der Mund ist so überaus lieblich, daß das Ganze ein Bild hohen Geistes und edelster Weiblichkeit giebt.“ Und diese äußeren Züge stimmen mit dem, was wir sonst von Bismarcks Mutter erfahren. Die bürgerliche Tochter des preußischen Kabinettsrats Menken, welche Karl Wilhelm Ferdinand von Bismarck 1806 nicht ohne Anstoß bei den Freunden und Verwandten in sein Haus einführte, besaß einen mächtig strebenden Geist, einen seltenen Verstand, verbunden mit feinem weiblichen Takt und ungewöhnlicher Schönheit.

An jenes Wohngemach stieß unmittelbar das Schlafzimmer mit einem Alkoven, dessen geöffneter Vorhang auf unserem obenstehenden Bilde S. 560 eine Bettstelle sehen läßt. Ernste und fröhliche Erinnerungen knüpfen sich an diesen kleinen Raum. In dem Bette starb am 22. November 1845 der alte Karl Wilhelm Ferdinand, in dem Alkoven aber hatte auch die Wiege seines Otto gestanden, wie wohl ebenso die der älteren Geschwister desselben, von denen freilich nur eins, der erst im Sommer des Jahres 1893 verstorbene Geheime Regierungsrat und Kammerherr Bernhard von Bismarck-Külz, ein höheres Alter erreichte, während zwei andere, ein Bruder und eine Schwester, in jugendlichem Alter [560] dahinstarben. Bismarcks jüngere Geschwister, ein ebenfalls jung verstorbener Bruder Franz und seine geliebte Schwester Malwine, sind auf Kniephof in Pommern geboren, wohin die Eltern im Jahre 1816 ihren Wohnsitz verlegten.

Ehe wir indessen mit ihnen von Schönhausen scheiden, muß noch eines Umstandes Erwähnung geschehen. Von dem ursprünglichen Besitz der Bismarcks auf Schönhausen hatten die Eltern des Fürsten unter den Nachwirkungen der Kriegsnöte in der Franzosenzeit, in der Mitte der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts ein gutes Stück verkaufen müssen, zu welchem ein zweites Herrenhaus gehörte. Als Otto von Bismarck preußischer Ministerpräsident geworden war, da machte er den Versuch, dieses Gut zurückzuerwerben, konnte sich aber mit dem Besitzer, dem Deichhauptmann Gärtner, über den Preis nicht einigen. Erst dem siebzigjährigen Jubilar führte die Dankbarkeit des deutschen Volkes das alte Stammgut in unverkürzter Gestalt wieder zu. In dem Herrenhaus des früher Gärtnerschen Besitzes befindet sich heute das Bismarckmuseum, von welchem noch später die Rede sein wird.

Schon im Jahre 1816 siedelten also, wie bemerkt, Bismarcks Eltern von Schönhausen nach Pommern über. Dort hatten sie von einem Vetter die Güter Kniephof, Jarchelin und Külz im Kreise Naugard geerbt, und aus Gründen, die wir nicht näher kennen, beschloß der Vater, auf Kniephof Wohnung zu nehmen. Dort verflossen auch die ersten Knabenjahre des kleinen Otto, ausgefüllt von all jenem ländlichen Zeitvertreib, wie ihn ein Gutsbetrieb dem unternehmenden Jungen bietet. Er spielte mit den Hunden, ließ sich auf die Pferde heben, fischte im Karpfenteich und dergleichen mehr. In den Erziehungsgrundsätzen scheinen die beiden Eltern etwas auseinandergegangen zu sein; wenigstens erzählt man von dem Vater, daß ihn der Anblick seines mit den „Beeneken“ baumelnden Jungen in Entzücken versetzt habe, während die strengere Mutter gerne frühzeitig den vollendeten Kavalier in ihm erzogen hätte, der er sein mußte, wenn ihr Ideal, die diplomatische Laufbahn des Sohnes, in Erfüllung gehen sollte.

Das Geburts- und das Wohnzimmer des Fürsten Bismarck in Schönhausen.
Nach Photographien von H. Bentzke in Rathenow.

Aus diesen Gegensätzen mag auch der Entschluß herausgewachsen sein, Otto ziemlich früh einer Erziehungsanstalt zu überweisen. Kaum sechs Jahre alt, mußte er das väterliche Haus verlassen und in die damals sehr geschätzte Plamannsche Erziehungsanstalt zu Berlin übersiedeln. Er hat ihr keine sehr freundlichen Erinnerungen bewahrt; die derbe Deutschtümelei, das Streben nach körperlicher Abhärtung wurde dort nicht ohne bedenkliche Uebertreibung gepflegt, eine besonders liebevolle Anteilnahme scheint er bei den Lehrern nicht gefunden zu haben – kurz, der kleine Junker bekam bitterlich Heimweh, so daß er eine Zeit lang „nicht pflügen sehen konnte, ohne zu weinen“. Etwas besser wurde es, als er 1827 in die Tertia des Friedrich Wilhelm-Gymnasiums überging. Dort hatte er das Glück, gleich bei seinem Eintritt die Zuneigung eines vortrefflichen Mannes, des Dr. Bonnell, zu gewinnen; und was dieser über seine erste Begegnung mit Bismarck erzählt, ist zu bezeichnend für den Eindruck, den der zwölfjährige Junge machte, als daß wir seinen Bericht nicht vollständig hier wiedergeben sollten.

„Meine Aufmerksamkeit,“ so äußert sich Bonnell, „zog Bismarck schon am Tage seiner Einführung auf sich, bei welcher Gelegenheit die Neuaufgenommenen im Schulsaal auf mehreren Bänken hintereinander saßen, so daß die Lehrer während der Einleitungsfeier Gelegenheit hatten, die Neuen mit vorahnender Prüfung durchzumustern. Otto von Bismarck saß, wie ich mich noch deutlich erinnere und später auch öfter erzählt habe, mit sichtlicher Spannung, klarem freundlichen Knabengesicht und hellleuchtenden Augen frisch und munter unter seinen Kameraden, so daß ich bei mir dachte: Das ist ja ein nettes Jungchen, den will ich besonders ins Auge fassen! Er wurde zuerst mein Schüler im Lateinischen, als er nach Obertertia kam. Michaelis 1829 wurde ich ans Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster versetzt, an das auch Bismarck im folgenden Jahre überging. Ostern 1831 kam er als Pensionär in mein Haus, wo er sich freundlich und anspruchslos in meiner einfachen Häuslichkeit und durchaus zutraulich bewegte. Er zeigte sich in jeder Beziehung liebenswürdig. Er ging des Abends fast niemals aus; wenn ich zu dieser Zeit zuweilen nicht zu Hause war, so unterhielt er sich freundlich und harmlos plaudernd mit meiner Frau und verriet eine starke Neigung zu gemütlicher Häuslichkeit. Er hatte unser ganzes Herz gewonnen, und wir brachten ihm volle Liebe und Sorgfalt entgegen, so daß sein Vater später, nach seinem Scheiden von uns, äußerte, daß der Sohn sich in keinem Hause so wohl wie bei uns befunden habe.“ Und dieses Urteil des Vaters wurde dadurch bestätigt, daß der ehemalige Zögling auch als Ministerpräsident und Reichskanzler dem alten Lehrer die herzlichste Zuneigung bewahrte.

Im allgemeinen war Bismarck ein vorzüglicher Schüler, musterhaft in seinem Betragen und ausgezeichnet durch leichte Fassungsgabe, die es ihm möglich machte, das Erforderliche ohne sonderliche Anstrengung zu leisten. Ein hervorstechendes Merkmal bildete seine ausgeprägte Vorliebe für die Geschichte, namentlich für die seines engeren Vaterlandes. Schon in der Plamannschen Anstalt [561] war dieser Zug hervorgetreten, bei Bonnell vertiefte er sich, und in Schönhausen während der Ferien übte die reichhaltige Bibliothek eine so mächtige Anziehungskraft auf den Gymnasiasten aus, daß er gelegentlich sogar die sonst peinlich eingehaltene Mittagessenszeit darüber vergaß. So legte er in jungen Jahren den Grund zu jenem riesigen geschichtlichen Wissen, das später ein gewaltiges und stets bereites Rüstzeug des Parlamentariers und Diplomaten bildete.

Luise Wilhelmine v. Bismarck,   Karl Wilhelm Ferd. v. Bismarck.
geb. Mencken.  
Die Eltern Bismarcks.
Nach Zeichnungen von Franz Krüger aus dem Jahre 1826.

Der „tolle Bismarck“.

Das Jahr 1832 bildet einen der schärfsten Einschnitte in dem Entwicklungsgange Bismarcks. Aus der Enge und Ordnung des Gymnasiallebens, in welche die Ferien jeweils eine willkommene, aber doch nicht wesentlich nachwirkende Abwechslung gebracht hatten, trat er - im Besitze eines Maturitätszeugnisses „Nr. 2“ – nunmehr hinaus in die völlige Ungebundenheit des Studententums. Der ganze übermächtige Lebensdrang seiner Kraftnatur brach sich mit einem Mal fessellos Bahn. Mit seinem Einzug auf der „Georgia Augusta“ zu Göttingen, wo er sich als Student der Rechts- und Staatswissenschaft eintragen ließ, beginnt die Zeit des „tollen Bismarck“, die eigentlich erst mit seinem Uebergang in das politische Leben und mit seiner Verheiratung anderthalb Jahrzehnte später ihr Ende fand. Der Begriff „Kollegium“ existierte für den Studiosus Bismarck fast nur in negativer Bedeutung, ebenso in Göttingen wie später in Berlin. Dafür aber hat er über zwanzig Duelle ausgefochten und in Göttingen nach dem Wortlaut seines Abgangszeugnisses „außer einigen weniger erheblichen Rügen zehn Tage Karzer wegen Gegenwart bei einem Pistolenduell, sodann, neben der bedingten Unterschrift des consilii abeundi, drei Tage Karzer wegen Gegenwart bei einem Duelle und viertägiges strenges Karzer wegen Überschreitung des für die Gesellschaften der Studierenden vorgeschriebenen Regulativs“ zuerkannt erhalten. Ja, er nahm sogar eine noch in Göttingen verwirkte Karzerstrafe mit nach Berlin, indem er von Prorektor und Senat in Göttingen feierlich die Erlaubnis erhielt, sie dort abzusitzen. Seine Wohnung in Voß' Garten an der „Kleinen Mühle“ (s. die untenstehende Abbildung S. 562) mag ihn nicht eben viel in ihren vier Wänden beherbergt haben, und wenn er nach Pommern heimkam, so war seine Mutter gar nicht mit ihm zufrieden; sein Sammetrock, seine lange Pfeife, mit der er ihr die Zimmer verqualmte, sein studentischer Ton wollten ihr gar nicht zu der Vorstellung passen, die sie sich von ihm als zukünftigem Diplomaten gemacht hatte. Am 11. September 1833 ging Bismarck von Göttingen ab, aber erst auf den 10. Mai fällt seine Immatrikulation in Berlin. In der Zwischenzeit wird er sich wohl in Kniephof aufgehalten haben; das aus dem Jahre 1834 stammende Bildchen von der Hand Gustav von Kessels (s. unten rechts S. 562) trägt deutlich die Unterschrift „Kniephof“. Wenn Bismarck sein Auskultatorexamen im Mai 1835 dennoch mit Erfolg bestand, so verdankte er dies dem eisernen Fleiß, den er privatim in der letzten Zeit seines Studiums zu Berlin entfaltete, seiner großen Begabung und einem geschickten Privatdocenten, dem er sich zum Examensdrill anvertraut hatte.

Otto v. Bismarck im 11. Lebensjahre.
Nach einer Zeichnung von Franz Krüger aus dem Jahre 1826.

So wurde nun also Bismarck königlich preußischer Auskultator beim Stadtgericht zu Berlin und führte sein Amt nicht eben mit viel Eifer, aber doch mit so viel Erfolg, daß seine Vorgesetzten in ihm das Zeug zu einem tüchtigen Beamten erkannten. Hervorzuheben ist aus dieser Zeit seine erste Begegnung mit dem späteren Kaiser Wilhelm I. Während des Winters 1835 bis 1836 wurde Bismarck auch in die Hofkreise eingeführt, und auf einem Hofballe war es denn auch, daß er zum erstenmal mit dem „Prinzen Wilhelm, Sohn Sr. Maj. des Königs“, wie derselbe in gewissenhafter Unterscheidung von dem „Prinzen Wilhelm, Bruder Sr. Maj. des Königs“ damals stets genannt wurde, in Berührung kam. Bismarck wurde dem Prinzen zugleich mit einem Herrn von Schenck vorgestellt, der ebenso groß war wie er und auch Auskultator. Den beiden gewaltigen Jünglingsgestalten gegenüber äußerte der Prinz scherzend: „Nun, die Justiz sucht sich ihre jungen Leute jetzt wohl nach dem Gardemaß aus!“ – Als Bismarck 1836 von der Justiz zur Verwaltung übertrat, führte ihn der Dienst als Regierungsreferendar nach Aachen. Es war dies eine Zeit, an die er später nicht gerne zurückdachte. Er geriet in Aachen und in den benachbarten vielbesuchten Badeorten Westdeutschlands so sehr in den Strudel eines überschäumenden Genußlebens, daß er wohl eine reiche Menschen- und Lebenskenntnis, aber nach Andeutungen, die er später machte, auch eine bedenkliche Verwirrung seiner eigenen Angelegenheiten davontrug, eine Verwirrung, die ihm noch lange nachging und die noch nach 14 Jahren seine Seele mit einer Art moralischen Druckes belastete. Ein Brief an seine Gemahlin vom 3. Juli 1851 ist ein tiefernster Zeuge dafür, zugleich aber auch für die gründliche Wandlung, die in der Folge mit ihm vorging. „Vorgestern war ich in Wiesbaden zu Mittag,“ schrieb er, „und habe mit einem Gefühl von Wehmut und altkluger Weisheit die Stätten früherer Thorheit angesehen. Möchte es doch Gott gefallen, mit seinem klaren und starken Weine dies Gefäß zu füllen, in dem damals der Champagner 21jähriger Jngend nutzlos verbrauste und schale Neigen zurückließ. Wo und wie mögen ** und Miß ** jetzt leben, wie viele sind begraben, mit denen ich damals liebelte, becherte und würfelte, wie hat meine Weltanschauung doch in den vierzehn Jahren seitdem so viele Verwandlungen durchgemacht, von denen ich immer die gerade gegenwärtige für die rechte Gestaltung hielt, und wie vieles ist mir jetzt klein, was damals groß erschien, wie vieles jetzt ehrwürdig, was ich damals verspottete! Wie manches Laub mag noch an unserem inneren Menschen ausgrünen, schatten, rauschen und wertlos welken, bis wieder vierzehn Jahre vorüber sind, bis 1865, wenn wir’s erleben! Ich begreife nicht, wie ein Mensch, der über sich nachdenkt und doch von Gott nichts weiß oder wissen will, sein Leben vor Verachtung und Langeweile tragen kann. Ich weiß nicht, wie ich das früher ausgehalten habe; sollte ich jetzt leben wie damals, ohne Gott, ohne Dich, ohne Kinder – ich wüßte doch in der That nicht, warum ich dies Leben nicht ablegen sollte wie ein schmutziges Hemd; und doch sind die meisten meiner Bekannten so und leben.“ [562] Sich aus solchen Wirrnissen herauszureißen, ließ sich Bismarck im Herbst 1837 an die Regierung nach Potsdam versetzen. Und als er, im Frühjahr 1838 bei den Gardejägern daselbst zur Ableistung seiner Militärpflicht eingetreten, im Verkehr mit den Offizieren wiederum dem Zauber lustigen Lebensgenusses verfiel, beantragte er noch im selben Jahre seine Versetzung zum 2. Jägerbataillon nach Greifswald, in der Hoffnung, dort nebenher Vorlesungen an der landwirtschaftlichen Akademie Eldena hören zu können.

Das Geburtshaus des Fürsten Bismarck in Schönhausen.
Nach einer Photographie von H. Bentzke in Rathenow.

Ein weiterer Grund für diese Veränderung lag in sehr wenig erfreulichen Verhältnissen. Der alte Herr von Bismarck hatte als Landwirt kein Glück, seine Güter kamen herunter, er stak tief in Schulden und sein Hauswesen mit wechselndem Aufenthalt in Kniephof, Schönhausen und Berlin kostete viel Geld. So griff er zu dem Auskunftsmittel, die pommerschen Güter seinen beiden Söhnen Bernhard und Otto noch bei Lebzeiten zu übergeben und sich auf Schönhausen zurückzuziehen. Das geschah denn auch – aber dann kam das Unglück in anderer Gestalt über ihn: am 1. Januar 1839 starb seine Gattin, und er selbst erlitt infolge der Erregung einen Schlaganfall, von dem er sich nie mehr ganz erholte.

Sowie Otto von Bismarck mit seinem Militärdienstjahre zu Ende war, trat er die Verwaltung der pommerschen Güter an und führte sie zwei Jahre gemeinschaftlich mit seinem Bruder, bis dieser Landrat in Naugard wurde, in die Kreisstadt zog und einen eigenen Hausstand gründete. Das machte eine Teilung nötig; Bernhard behielt Külz, Otto übernahm Kniephof und Jarchelin. Mit Eifer und wirklichem Erfolg warf sich der Regierungsreferendar nun auf die Landwirtschaft. Als aber das Gröbste überwunden war, als alles wie von selber ging, da kam über den einsamen Junker ein seltsamer Geist der Unrast, der ihn bald in tollen Ritten zu irgend einem entfernten Offiziersgelage führte, bald einsam durch die Felder schweifen ließ, der alle jene abenteuerlichen Geschichten vom „tollen Bismarck“ erzeugte, die insbesondere in Damenkreisen umgingen und in der ganzen Gegend seinen Ruf gründlich verdarben.

Bismarcks Wohnung in Göttingen.

Otto v. Bismarck im Jahre 1834.

Damals entstanden die Redensarten: „Kniephof ist Kneiphof worden“ und „Noch lange nicht genug, sagt Bismarck“. Damals hörte man von einem großen, halb mit Porter, halb mit Champagner gefüllten Pokal, aus dem keiner so flott trank wie Bismarck, da raunte man sich von unheimlichen Pistolenschüssen zu, durch die mitten in der Nacht erschrockene Zechkumpane aus dem Schlafe gestört wurden. Aber dieser selbe Bismarck saß dann wieder hinter geschichtlichen oder philosophischen Werken oder er führte mitten unter den Genossen ein ernsthaftes, weitausblickendes politisches Gespräch, tief in die Nacht hinein, daß die andern sich „sträflich langweilten“, weil so etwas sonst nicht Sitte war unter den preußischen Landjunkern der vormärzlichen Zeit. Kurz, man hat von ihm den Eindruck wie von einem Gefangenen, der bald gefaßt sich in sein Schicksal fügt, dann wieder knirschend an den Stangen seines Kerkers rüttelt. Kein Wunder, daß, als eines Tags dieser Otto von Bismarck bei Herrn von Puttkamer auf Reinfeld um die Hand seiner Tochter warb, der alte sittenstrenge Herr erst „wie mit der Axt vor den Kopf geschlagen“ war, daß die Mutter rundweg ihre Einwilligung versagte, bis der so schlecht beleumundete Freier selber kam und durch die natürliche Gewalt seiner Persönlichkeit allen Widerstand glorreich besiegte.

Doch wir haben damit etwas vorgegriffen. Die Jahre, während deren Bismarck in so unerquicklichen Stimmungen sich hin- und hergeworfen fühlte, brachten ihm auch ein Erlebnis, das für seine spätere politische Laufbahn von Bedeutung war. Am 15. Oktober 1840 wohnte Bismarck der Huldigungsfeier für Friedrich Wilhelm IV in Berlin bei und er nahm einen tiefen Eindruck davon mit nach Hause.

Am 30. Oktober 1844 war Hochzeit auf Schönhausen. Bismarcks geliebte Schwester Malwine vermählte sich mit seinem Freunde Oskar von Arnim Kröchlendorf. Ein Jahr darauf kehrte [563] der Tod ein unter den Linden und Kastanien des alten Schlosses.

Der Vater legte sich nieder zur letzten Ruhe. Und nunmehr teilten die Brüder sich so in das Erbe, daß der ältere zu Külz noch Jarchelin, der jüngere zu Kniephof noch das durch den Verkauf der größeren Hälfte sehr verkleinerte Schönhausen bekam. Jener nannte sich von da an „von Bismarck-Külz“, dieser „von Bismarckschönhausen“. Als Besitzer des letzteren Guts, wo Otto auch seinen Wohnsitz nahm, gelangte er jetzt zur Würde eines Deichhauptmanns des Kreises Jerichow, welches Amt ihn an die Spitze der Deichgenossenschaft stellte, deren Aufgabe in dortiger Gegend der Schutz des flachen Landes gegen Überschwemmung durch Anlage und Erhaltung von Deichen und Dämmen ist. Gleichzeitig wurde er zum Abgeordneten in den sächsischen Provinziallandtag zu Merseburg gewählt, in welcher Eigenschaft er 1847 Mitglied des Bereinigten preußischen Landtags in Berlin wurde. Hier that er sich bald hervor als leidenschaftlicher Verfechter konservativer Grundsätze, vor allem der Anhänglichkeit an das angestammte Königshaus.

Otto v. Bismarck und seine Gemahlin im Jahre 1849.

Auf Schönhausen führte Otto von Bismarck dann auch seine geliebte Johanna heim. Am 28. Juli 1847 fand zu Reinfeld die Vern mählung mit der damals 23jährigen Braut statt. Die Ehe, welche hier geschlossen ward, sollte eine durchaus glückliche werden. In gleichem Maße wußte die junge Frau dem geliebten Galten Verständnis und Selbstbescheidung entgegenzubringen. Auf manche bisher geübte Lebensgewohnheit des heißblütigen Gatten machte sich ihr Einfluß aufs wohlthätigste geltend. „Ich habe den Segen gefunden, der mit einer Gattin, die nur Gott gesucht, in unser Haus einzieht,“ so pries er später das gewonnene Glück. Und dankbaren Herzens sagte er in anderer Stunde von seiner Johanna: „Sie ahnen nicht, was diese Frau aus mir gemacht hat!“ Als das junge Paar auf seiner Hochzeitsreise nach Venedig kam, traf es dort zufällig mit dem König Friedrich WilhelmIV zusammen. DerMonarch, welcher sich des tapferen Verteidigers des Königtums auf dem eben geschlossenen „Vereinigten Landtag“

wohl erinnerte, befahl Bismarck alsbald zu Tisch. Die damals geführten Tischgespräche mit dem König haben auf die spätere Gestaltung von Bismarcks Schicksal vielleicht einen tieferen Einfluß gehabt, als vorläufig äußerlich zu Tage trat. Jedenfalls hat Johanna von Bismarck schon auf der Hochzeitsreise Gelegenheit gehabt, sich daran zu gewöhnen, daß ihr Gatte zunächst seinem König und dann erst seiner Frau gehörte.

Lehr- und Wanderjahre des Staatsmanns.

Mit dem Augenblick, da der „Deichhauptmann von Jerichow“ Otto von Bismarck im Jahre 1847 als Stellvertreter des vom sächsischen Provinziallandtage gewählten Abgeordneten v. Brauchitsch in den Vereinigten Landtag zu Berlin eintrat, lenkte sein Leben ein in den ruhelosen Strom der Politik, durch dessen Wogen er später das ihm anvertraute Staatsschiff als zielbewußter Pilot so meisterhaft zu steuern wußte. Die Versammlungssäle des ersten und zweiten „Vereinigten Landtags“, der preußischen Abgeordnetenkammer, des Erfurter Unionsparlaments waren die ersten Stationen auf dieser sturmbewegten Fahrt; sie führte ihn nach Frankfurt an den Bundestag, in die preußischen Gesandtschaftshotels zu Petersburg und Paris und schließlich in die Räume des preußischen Ministerpräsidenten und des deutschen Reichskanzleramts. Auf ihr drang er rastlos vor von Sieg zu Sieg, wurde er der machtvollste Staatsmann Europas zum Heile des Vaterlands, bis nach dreiundvierzig Jahren die Fahrt ein jähes Ende nahm und er widerwillig einlenkte in den Hafen der ihm aufgezwungenen Ruhe. Diese ganze Zeit, die gleichbedeutend ist mit der Erstarkung Preußens zur führenden Macht in Deutschland, mit Deutschlands Einigung unter dieses erstarkten Preußens Führung, mit dem inneren Ausbau des Deutschen Reichs – diese ganze Zeit hat dem, der ihr einen wesentlichen Teil ihres politischen Gehalts gab, nicht viel Spielraum gelassen, sich der behaglichen Ruhe und Freiheit des Privatmanns zu erfreuen. Wer sein Leben nach solchen Stunden durchsucht, der findet ihrer allerdings, wenn auch wenige, und sie sind von ihm selbst am köstlichsten beschrieben in seinen eigenen Briefen an Frau, Schwester, Freunde und Kollegen.

Otto v. Bismarck
als Bundestagsgesandter.
Nach dem Gemälde von Jakob Becker.

Mitten unter den Wirren des Revolutionsjahres 1848, am 21. August, wurde Bismarck zu Schönhausen das erste Kind, seine Tochter Marie Elisabeth Johanna, geboren, und am 28. Dezember 1849 folgte dieser ein Sohn, in der Taufe Nikolaus Heinrich Ferdinand Herbert genannt, ein Berliner Kind, denn der Vater hatte in dem Winter 1849/50 seine Familie von Schönhausen nach Berlin kommen lassen. Nach Schluß des Erfurter Unionsparlaments (29. April 1850) hatte der vielbeschäftigte Abgeordnete einmal wieder Muße, sich ein paar Wochen lang in Schönhausen um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Dann sollte eine Reise nach Angermünde ins Seebad sich anschließen, um „Mariechens“ willen, welcher die Seeluft gut thun sollte. Aus diesen Tagen stammt das spaßhafte Bild eines sorgenbelasteten Familienvaters, das Bismarck seiner Schwester in einem Glückwunschbrief zu ihrem Geburtstag entwirft.

„Einen feierlichen Geburtstagsbrief“ – so heißt es da – „schreibe ich Dir zu Deinem, wie mich dünkt, 24sten (ich sage es nicht weiter) Geburtstag. Du bist nun wirklich majorenn, oder würdest es doch sein, wenn Du nicht das Unglück hättest, dem weiblichen Geschlechte anzugehören, dessen Glieder nach Ansicht der Juristen selbst dann nicht, wenn sie Mütter der dicksten Hänse sind, aus der Minderjährigkeit heraustreten. Warum dies trotz seiner anscheinenden Ungerechtigkeit eine sehr weise Einrichtung sei, werde ich Dir auseinandersetzen, wenn ich Dich, hoffentlich in etwa 14 Tagen, à portée de voix humaine[1] vor mir habe. Johanna, welche augenblicklich noch in den Armen des Lieutenants Morpheus ruht, wird Dir geschrieben haben, was mir bevorsteht. Der Junge in Dur brüllend, das Mädchen in Moll, zwei singende Kindermädchen, zwischen nassen Windeln und Milchflaschen ich als liebender Familienvater. Ich habe mich lange gesträubt, aber da alle Mütter und Tanten darüber einig waren, daß nur Seewasser [564] und Luft dem armen Mariechen helfen können, so würde ich, wenn ich mich weigerte, bei jedem Schnupfen, der das Kind bis in sein 70. Jahr befällt, meinen Geiz und meine väterliche Barbarei anklagen hören, mit einem ‚siehst Du wohl, ach wenn das arme Kind hätte die See gebrauchen können!‘“

Jene kurze Ruhepause nach Schluß des Erfurter Parlaments, in welchem er noch gegen die Einheitsbestrebungen des liberalen deutschen Bürgertums ankämpfte, fand am 8. Mai 1851 ein Ende durch Bismarcks Ernennung zum Rat bei der preußischen Bundestagsgesandtschaft in Frankfurt a. M., welcher bald, am 15. Juli, seine Erhebung zum Bundestagsgesandten an Stelle des Herrn von Rochow folgte. Nach dieser Beförderung konnte Bismarck auch seine Familie nach Frankfurt nachkommen lassen, und bald entfaltete sich in der schönen Villa nahe dem Bockenheimer Thore, welche er jetzt einem Rothschild abmietete, ein reges gesellschaftliches Leben. Es fiel auf, daß an diesen Gesellschaften nicht bloß Diplomaten von Fach und hohe Offiziere teilnahmen, sondern auch Musiker, Schriftsteller und Künstler. Eine derartige Weitherzigkeit war nicht gewöhnlich unter den Vertretern der deutschen Staaten am Bunde. Die Bekanntschaft mit den künstlerischen Kreisen hatte besonders der von Bismarck sehr hochgeschätzte Maler Jakob Becker vermittelt, der mit seiner Gattin und seinen schönen Töchtern zu dem engeren Kreise des Hauses gehörte, und von dessen Hand das Bild Bismarcks als Bundestagsgesandter stammt, welches wir in dem Holzschnitt auf S. 563 wiedergeben.

Bismarck im Jahre 1870 vor der Kriegserklärung.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph H. Thomas in Koblenz und Ems.

In Frankfurt a. M. wurde auch – am 1. August 1852 – Bismarcks zweiter Sohn geboren, der seinen Rufnamen Wilhelm keinem Geringeren verdankt als dem damaligen Prinzen von Preußen und späteren Kaiser Wilhelm I, welcher eine Patenstelle bei ihm übernommen hatte. Derselbe weilte in jener Zeit wiederholt in Frankfurt, und gleich nach der ersten Begegnung hatte er eine sehr günstige Meinung von Bismarck gewonnen.

Diese Jahre der Frankfurter Wirksamkeit gehörten, wenn auch nicht zu den aufregendsten, so doch zu den unruhigsten, welche Bismarck erlebt hat. Die Arbeit, welche ihm sein Amt verursachte, war nicht eben groß, aber dasselbe wurde ihm zur Vorschule zu der großen staatsmännischen Thätigkeit, für welche ihn das Schicksal zum Heile der deutschen Nation berufen hatte. Die Sitzungen des Bundestags eröffneten seinen scharfen Augen den Einblick in das Intriguenspiel, welches Preußens berechtigte Ansprüche schmälerte, ließen ihn die kleinliche dynastische Eifersucht erkennen, welche das Elend der deutschen Zustände gewirkte. Die Eindrücke, die er in Frankfurt empfing, gaben ihm den Anlaß zu jenen ausführlichen Berichten an seinen König und den Ministerpräsidenten, in welchen immer lebhafter die Ueberzeugung zu Tage trat, daß die deutsche Frage nur gelöst werden könne durch einen Entscheidungskampf der beiden rivalisierenden Großmächte, daß nur ein auf ein starkes Heer sich stützendes Preußen berufen sei, den Einheitstraum des deutschen Volks, den das Frankfurter Parlament nicht hatte verwirklichen können, zur lebendigen Wahrheit zu machen. Zugleich beseelte ihn der Drang, den politischen Zustand Europas aus eigener Anschauung zu studieren, im Verkehr mit den Personen, die auf die politische Gestaltung entscheidenden Einfluß übten. Zahlreiche Reisen, teils dienstlicher, teils privater Natur, die Bismarck fast in ganz Europa umherführten, boten ihm dazu die reichste Gelegenheft. Bald fährt er mit Freunden oder mit der Gemahlin den Rhein hinab, dann begleitet er in diplomatischer Sendung den österreichischen Hof bis nach Ofen und unternimmt tagelange Ausflüge in die ungarischen Steppen zwischen Donau und Theiß; unzähligemal ruft ihn der Dienst nach Berlin, ein andermal die Aufmerksamkeit seines Königs zu den Jagden nach Letzlingen; dann wieder finden wir ihn teils zur Erholung, teils in amtlichem Auftrag in Ostende und Holland, in Westfalen, in Norderney, am Genfer See, in Oberitalien, in München und Stuttgart, mit dem Könige auf Rügen, in Paris beim Kaiser Napoleon, auf Jagden in Dänemark, Schweden und Kurland – kurz, diese Jahre waren rechte Wanderjahre, und auch nach seiner Versetzung von Frankfurt nach St. Petersburg (1858) wie während der kurzen Zeit seiner Pariser Gesandtschaft hat er große Reisen in Rußland und Frankreich unternommen.

Das Reichskanzlerpalais in Berlin.
Nach einer Photographie von Sophus Williams in Berlin.

Das Bedürfnis nach Häuslichkeit, nach dem Zusammensein mit der Gattin, fand natürlich bei dieser Art von Leben nicht immer seine Rechnung. Bald fühlt Bismarck Gewissensbisse, daß er so viel Schönes allein sehe, bald meint er, in Ermangelung des gewohnten häuslichen Behagens werde er noch das Spielen anfangen müssen. Leider war die Zeit seiner St. Petersburger Gesandtschaft durch bedenkliche Krankheitserscheinungen getrübt, die sehr schmerzhaft verliefen. Es waren die Folgen einer Beinwunde, die er sich zwei Jahre vorher durch einen unglücklichen Sturz auf der Jagd in den Einöden Skandinaviens zugezogen hatte, ein Leiden, das „zugleich rheumatisch, gastrisch und nervös war“ und auf das sein späteres Venenleiden zurückgeführt worden ist. Er fühlte sich auch noch nach der Genesung oft so [565] müde und erschöpft, daß die trübsten Gedanken durch seine Seele zogen. „Ich bin seit meiner Krankheit geistig so matt geworden, daß mir die Spannkraft für bewegte Verhältnisse verloren gegangen ist,“ schreibt er im Anfang des Jahres 1862 an seine Schwester. „Vor drei Jahren hätte ich noch einen brauchbaren Minister abgegeben, jetzt komme ich mir in Gedanken vor wie ein kranker Kunstreiter. Einige Jahre muß ich noch im Dienst bleiben, wenn ich’s erlebe. In drei Jahren wird Kniephof pachtlos, in vier Schönhausen; bis dahin weiß ich nicht recht, wo ich wohnen sollte, wenn ich den Abschied nähme. Das jetzige Revirement der Posten läßt mich kalt, ich habe eine abergläubische Furcht, einen Wunsch deshalb auszusprechen und ihn später erfahrungsmäßig zu bereuen. Ich würde ohne Kummer und ohne Freude nach Paris, London gehen, hier bleiben, wie es Gott und Sr. Majestät gefällt, der Kohl wird weder für unsere Politik noch für mich fetter, wenn das eine oder das andere geschieht.“

Auch äußerlich war er schon recht verändert. Das einst reiche Haar war dünn geworden und ließ die Stirn mächtig hervortreten, die Züge hatten eine Schärfe angenommen, die ihn älter erscheinen ließ als er war. Doch der Glanz des Auges und die feste aufrechte Haltung waren ihm geblieben.

Das Schloß zu Friedrichsruh von der Park- und der Straßenseite.
Nach einer Photographie im Verlag von Strumper & Co. in Hamburg.

Seine endgültige Ernennung zum preußischen Gesandten in Paris (Mai 1862) machte den Tagen des Schwankens und der Unklarheit noch immer kein Ende. Schon als Prinzregent hatte König Wilhelm, der am 2. Januar 1861 zur Regierung gelangt war, Bismarck ins Auge gefaßt als den berufenen Vollstrecker seines Wunsches, der preußischen Politik durch eine Steigerung der Wehrhaftigkeit des Staats eine festere Stütze zu geben. Bereits im März 1862, nach dem Rücktritt des Ministeriums Auerswald-Schwerin, welches die Heeresreform des Königs diesem zu matt vertrat, schien Bismarcks Ernennung zum Ministerpräsidenten beschlossene Sache. Aber angesichts der Unpopularität des als „Junker“ verschrieenen Diplomaten zauderte der König noch. Er sandte ihn als Gesandten nach Paris mit der Aufgabe, zu sondieren, wie Kaiser Napoleon der von Preußen geplanten energischen deutschen Politik gegenüber sich stellen werde. Erst als auch das Ministerium Hohenlohe sich unfähig zeigte, den wegen der Forderungen für die Heeresreform zum Ausbruch gelangten Konflikt mit der preußischen Volksvertretung auf gütlichem Weg auszugleichen, entschloß sich der König, schon jetzt die Durchführung seiner Pläne dem energischen Geiste Bismarcks anzuvertrauen. Am 15. September 1862 – Bismarck befand sich eben in Montpellier – erfolgte seine telegraphische Berufung nach Berlin, am 23. September seine Ernennung zum Staatsminister und interimistischen Vorsitzenden des Staatsministeriums, am 8. Oktober endlich diejenige zum Präsidenten des Staatsministeriums und Minister der Auswärtigen Angelegenheiten. Wie wenig die Nachwirkungen der Krankheit die gewaltige Kraft seines innersten Wesens erschüttert hatten, bewies sogleich sein erstes Auftreten. „Soll es sein, dann voran!“ schrieb er an seine Gattin.


Auf der Höhe.

Mehr als je war von nun an Bismarcks Leben von seinem Berufe aufgesogen. Ist ja doch das Jahrzehnt von 1862 bis 1872 ausgefüllt von einer Stufenfolge politischer Großthaten, [566] deren Vollbringen in einem so kurzen Zeitraum sich heute kaum noch begreift! Welche hingebende Arbeit des einen Mannes, der die Siege des preußischen Heeres von 1866, die Triumphe des deutschen Volks in Waffen über Frankreich zur Grundlage der Wiedererrichtung des Deutschen Reiches machte, drängt sich allein in die Hälfte dieser Zeit zusammen! Welche Hingabe des ganzen Mannes forderte dieses Werk! Es gehört denn auch zu Bismarcks charakteristischen Eigenschaften, daß er das, was er that, stets mit ganzer Seele that und vollständig darin aufging. Bezeichnend hierfür ist eine Aeußerung, die er in späteren Jahren einmal im vertrauten Gespräch that. Als er sich im Laufe desselben einen alten Mann nannte und die Fürstin darauf einwandte: „Du bist aber doch erst 63 Jahre,“ da erwiderte er: „Ja, aber ich habe immer schnell und bar gelebt.“ Dann setzte er, zu einem Dritten gewendet, hinzu: „Bar – das heißt, ich bin immer ganz bei der Sache gewesen, mit meinem vollen Wesen – was erreicht wurde, ich habe dafür bezahlt mit meinen Kräften und meiner Gesundheit.“

Das Schloß Varzin, vom Park aus gesehen.

Zunächst war es ihm auch keineswegs leicht gemacht, seine Kräfte frei zu entfalten, und es fiel ihm schwer, sich in die Regelmäßigkeit eines ununterbrochenen Bureaudienstes zu finden. Kein Wunder, wenn in seinen Briefen mitunter recht bittere Aeußerungen fallen über das „Sträflingsleben“, das er in Berlin führen müsse, über das „Tretrad“, zu dem er verurteilt sei und auf dem er sich vorkomme wie der müde Gaul, der es unter sich fortschiebe, ohne von der Stelle zu gelangen. Selbst wenn er zur Kur in einem Bade weilte oder seinen König nach einem solchen begleitete, erquickte ihn wohl die herrliche Natur, aber die Geschäfte ließen ihn nicht los. „Ich habe eine rechte Sehnsucht, einmal einen faulen Tag in Eurer Mitte zu verleben,“ schreibt er am 28. August 1863 von Baden aus an seine Gemahlin; „hier werde ich auch bei dem reizendsten Wetter die Tinte nicht von den Fingern los. Gestern bin ich bei wundervollem Mondschein bis Mitternacht in den Feldern spazieren gegangen, kann aber doch die Geschäfte nicht aus dem Kopf loswerden … Ich wollte, irgend eine Intrigue setzte ein anderes Ministerium durch, daß ich mit Ehren diesem ununterbrochenen Tintenstrom den Rücken drehen und still auf dem Lande leben könnte; die Ruhelosigkeit der Existenz ist unerträglich, seit zehn Wochen im Wirtshaus Schreiberdienste und in Berlin wieder; es ist kein Leben für einen rechtschaffenen Landedelmann und ich sehe einen Wohlthäter in jedem, der mich zu stürzen sucht.“

Das Bismarckmuseum in Schönhausen.
Nach einer Photographie von Ad. Ludwig in Stendal.

Und wie damals in Baden, so ging es ihm überall, in Gastein, Karlsbad und Kissingen, in Varzin und Friedrichsruh. Immer verfolgte ihn die hohe Politik bis hinein in die Idylle seiner sommerlichen Landaufenthalte. In manchen Stunden überschlich den sonst so eisernen Mann eine tiefe Wehmut, ein fast verzweifelter Weltschmerz. Als er auf der Höhe seiner Erfolge stand, beklagte er einmal einem Vertrauten gegenüber, daß er von seiner politischen Thätigkeit wenig Freude und Befriedigung gehabt. Niemand liebe ihn deshalb, er habe damit niemand glücklich gemacht, sich selbst nicht, seine Familie nicht, auch andere nicht. Und auf den Widerspruch der Anwesenden fuhr er fort: „Wohl aber viele unglücklich. Ohne mich hätte es drei große Kriege nicht gegeben, wären achtzigtausend Menschen nicht umgekommen, und Eltern, Brüder, Schwestern, Witwen trauerten nicht.“ – „Und Liebsten,“ sagte jemand. – „Und Liebsten,“ wiederholte er. „Das habe ich indessen mit Gott abgemacht. Aber Freude habe ich wenig oder gar keine gehabt von allem, was ich gethan habe, dagegen viel Verdruß, Sorge und Mühe.“ Welche Güter er seinem Volke mit „solchen Opfern, heilig großen“ erkauft, das versank in diesen Stunden der Bitterkeit vor seinem inneren Auge in dunkle Tiefe. – Die Sehnsucht nach einem geordneten freien Leben als Landedelmann hat ihn denn auch niemals, so lange er im Amt war, verlassen, auch nicht in der Zeit seiner größten ruhmgekrönten Erfolge. So oft es nur irgend ging, zog er sich in der Sommerzeit auf das Land zurück, wohin [567] ihn freilich ein Heer von Amtssorgen und Amtspflichten begleitete. Und als ihm das preußische Abgeordnetenhaus aus Anlaß seiner Verdienste um den preußischen Staat nach dem siegreichen Krieg 1866 eine Dotation von 400000 Thalern überwies, da erwarb er sich für diese Summe am 23. April 1867 in der pommerschen Heimat seiner Frau die Herrschaft Varzin, auf welcher er bis in die Mitte der achtziger Jahre allsommerlich oft Monate zubrachte. Varzin liegt an der Eisenbahn von Stolp nach Rummelsburg, etwa in der Mitte zwischen beiden, in der Nähe der Station Hammermühle, nicht weit von dem ehemals Puttkamerschen Gute Reinfeld, das nach dem Tode von Bismarcks Schwiegereltern ebenfalls in seinen Besitz übergegangen war. Das ältere, niedrige Hauptgebäude ist wie auch ein neuerer Anbau des Fürsten äußerst schlicht in Ausstattung und Möblierung; wenig deutet darauf hin, daß diese Räume dem Kanzler des Norddeutschen Bundes und dann des Deutschen Reiches so vielfach erfrischende Zuflucht geboten haben. Nur das Arbeitszimmer des Fürsten trägt ein im Verhältnis zu dem übrigen etwas luxuriöseres Gepräge. Mit den Erweiterungen, welche Bismarck dazu kaufte, mag der gesamte Varziner Besitz etwa 30000 Morgen umfassen. Der Grund und Boden ist aber zum großen Teile nicht besonders fruchtbar und hat Stellen, welche sich selbst zur Bepflanzung mit Kiefern nicht eignen; die Feldwirtschaft tritt gegen die Waldwirtschaft zurück. Der Stolz von Varzin ist der prächtige Park, er bildete stets einen Lieblingsaufenthalt des Fürsten. Stattliche Buchen, Birken und Eichen, an einigen Stellen auch Gruppen rotstämmiger Tannen mit schirmartig sich ausbreitendem Geäst erheben ihre Kronen über das Unterholz der Hügel oder über das Gras und Moos der lichteren Senkungen. Schön gewundene Wege ziehen sich über Thal und Höhen.

Aumühle bei Friedrichsruh.
Nach einer Photographie im Verlag von Strumper & Co. in Hamburg.

Hier in Varzin fand Bismarck, in den Jahren der großen Entscheidungskämpfe seiner Politik, immer wieder die Frische zurück für den Kraftaufwand, den sie heischten. Hier konnte er seinem starken Familiengefühl und -bedürfnis Genüge thun, im Sinn jener Worte, die er nach seiner Silbernen Hochzeit an Kaiser Wilhelm richtete: „Mit Recht heben Eure Majestät unter den Segnungen, die ich Gott zu danken habe, das Glück der Häuslichkeit in erster Linie hervor.“

Die Worte tiefschmerzlicher Resignation, welche in seinen Briefen öfter wiederkehren, waren eben doch nur der Ausfluß von Stimmungen, denen er ja wie alle stark empfindenden Naturen zeitlebens zugänglich war. Es stehen ihnen andere Aussprüche, auch aus der Zeit seiner Vereinsamung in Friedrichsruh, die ganz anders lauten, gegenüber. Und die schönste Auslösung der sein Gemüt bedrängenden Gegensätze war dann sein Humor, von dem er mitten unter den Erregungen des Feldzugs und im Drange der Geschäfte, die zum stolzen Tage der Kaiserverkündigung in Versailles führten, wie im Feuer parlamentarischer Kämpfe aus vollem Kraftgefühl heraus immer aufs neue die köstlichsten Proben gegeben hat. Aber Bismarck hat wirklich viel Undank erlitten: das wissen und fühlen vor allem die, die ihn einst verkannt und dann erkannt haben. Wie tief, wie bis in die innerste Seele hinein ihn der nicht immer in die schonendsten Formen gekleidete Widerstand gegen seine politischen Maßnahmen kränkte, das mögen wohl nur wenige geahnt haben. Gewiß waren die Rücktrittsgesuche, die er wiederholt – am 17. Dezember 1874, am 27. März 1877, am 6. April 1880 und vielleicht noch öfter – an seinen kaiserlichen Herrn richtete, mehr als eine bloße Form. Und wie wollte man über schwarzsichtige Stunden rechten mit einem Manne, dem zweimal eine mörderische Hand nach dem Leben trachtete, zweimal gerade in solchen Augenblicken, als er am schwersten mit sich selber rang um Klarheit darüber, ob das, was er that oder wollte, auch wirklich das Richtige sei, als seine ganze Seele gleichsam wund war von Zweifeln, die auf ihn einstürmten.

Wir wollen die Geschichte der beiden Attentate auf Bismarcks Leben heute nicht wiedererzählen; es genüge, daran zu erinnern, daß das eine ihn traf, als er in Berlin am 7. Mai 1866 in den schwülen Tagen vor Ausbruch des Krieges mit Oesterreich vom Vortrag bei König Wilhelm zu Fuß nach Hause ging. Der Angreifer, Ferdinand Cohen-Blind, der Stiefsohn des badischen Flüchtlings Karl Blind, nahm sich im Gefängnis das Leben, noch bevor eine Untersuchung eingeleitet war. Und das andere Mal, am 13. Juli 1874, geschah’s in Kissingen. Damals hat der fanatisierte Böttchergeselle Kullmann den Anschlag auf das Leben des Fürsten gemacht, den er mit 14 Jahren Zuchthaus büßen mußte. Beidemal wurde die glückliche Errettung Bismarcks Anlaß zu den überwältigendsten Kundgebungen der Teilnahme und der Verehrung.

Kein Tag aber hat dem Fürsten, so lange er am Ruder war, wohl mehr gezeigt, wie sehr er trotz aller Anfeindungen und Verfolgungen einem großen, sehr großen Teile seines Volkes ans Herz gewachsen war, als die Feier seines siebzigsten Geburtstags am 1. April 1885.

3738 Glückwunschschreiben, 2644 Telegramme, 175 Adressen von Korporationen und Vereinen, 560 Geschenke, 3 Ehrenbürgerbriefe, [568] 2 Ehrendoktordiplome trafen zu diesem Festtage bei ihm ein. Der Kaiser übersandte dem Fürsten mit einem Handschreiben voll inniger Wärme Anton von Werners Riesengemälde „Die Kaiserproklamation zu Versailles“, deutsche und auswärtige Fürstlichkeiten – selbst der König von Siam und der Sultan von Sansibar – sandten ihre Glückwünsche, 3600 Mitglieder der Krieger- und Landwehrvereine huldigten ihm, und 7000 Fackelträger, die Studierenden von Berlin, Abordnungen von sämtlichen Hochschulen, Künstler, Innungen, städtische Vereine, brachten ihm ihren flammenden Gruß. Kaiser, Bundesrat und Generalität, die kaiserlichen Prinzen erschienen persönlich bei dem Jubilar, Abordnungen aller Art drängten sich an diesem Tage in dem Reichskanzlergebäude, darunter auch ein paar Miesbacher Bauern in ihrer ländlichen Tracht, welche als Angebinde einen jungen Stier und fünf Kalbinnen für den Stall von Schönhausen mitgebracht hatten. Denn, wie schon früher erwähnt, auch die einst von Bismarcks Vater preisgegebene Hälfte des Ritterguts Schönhausen hatte dieser frohe Tag wiedergeschenkt.

Ständchen vor der Terrasse in Friedrichsruh.
Nach einer Photographie im Verlag von Strumper & Co. in Hamburg.

Um allen Kreisen des deutschen Volkes Gelegenheit zu geben, nach Lust und Vermögen den Zoll der Dankbarkeit an den gefeierten Mann zu entrichten, war der Gedanke einer Bismarckspende angeregt worden, und aus einem Teil ihres Ertrags, der sich insgesamt auf etwa 23/4 Millionen Mark belief, war jenes Gut dem damaligen Besitzer Deichhauptmann Gärtner abgekauft und dem Fürsten als Festgabe überreicht worden. Der Rest der Spende blieb Bismarck zu freier Verfügung überlassen und wurde von ihm in der Höhe von 1200000 Mark zu einer „Schönhauser Stiftung“ bestimmt, woraus deutschen jungen Männern, die sich dem höheren Lehrfach an deutschen höheren Lehranstalten widmen, vor ihrer Anstellung Unterstützungen gewährt, auch im Inlande wohnenden Witwen von Lehrern des höheren Lehrfachs Beihilfe für ihren Lebensunterhalt und für die Erziehung ihrer Kinder geleistet werden sollten. In dem früher Gärtnerschen Hause auf Schönhausen aber wurde das Bismarckmuseum eingerichtet, das heute in seinen Sälen und Zimmern, an den Wänden und in Schränken aller Art die Fülle alles dessen enthält, was dem Fürsten in der langen Zeit seines Amtes an Geschenken und Ehrungen zugeflossen ist. Auch manche denkwürdige Reliquie aus der Geschichte seiner Großthaten steht darunter, wie z. B. jener zerrissene Strohsessel, auf dem einst Kaiser Napoleon III saß, als er am Morgen des 2. September 1870 vor Sedan mit Bismarck über die Bedingungen der Kapitulation verhandelte.

Die Wiederherstellung des ursprünglichen Umfangs von Schönhausen war der letzte große Zuwachs zu dem Besitz des Fürsten, der schließlich für einen reichen Mann gelten konnte. Als er noch einfacher Herr von Bismarck war, konnte man das bekanntlich nicht von ihm sagen, und auch als Graf – welchen Rang er am 15. September 1865 erhielt – hatte er noch nicht viel mehr zu verzehren als sein Ministerpräsidentengehalt und die Erträgnisse von Kniephof und dem reduzierten Schönhausen. Dann kam der Erwerb von Varzin hinzu, und im Jahre 1871 nach der glorreichen Beendigung des französischen Kriegs wurde ihm neben der Würde des Fürsten vom Kaiser die Domäne Schwarzenbek im Herzogtum Lauenburg mit dem „Sachsenwald“ verliehen, für welche der Name „Friedrichsruh“ volkstümlich wurde, nach der Bezeichnung eines Jagdhauses, das ehemals Graf Friedrich zur Lippe hier errichtet hatte.

Unter dem Namen Friedrichsruh begreift man jetzt den gesamten zur früheren Domäne des Herzogtums Lauenburg gehörigen Grundbesitz im Amte Schwarzenbek. Ursprünglich bestand er fast ausschließlich aus Wald, und es gab darin weder Schloß noch Herrenhaus. Fürst Bismarck aber kaufte später die an den westlichen [569] Saum des Waldes grenzenden kleinen Güter Silk und Schönau dazu und baute sich das an die Stelle des einstigen Jagdhauses getretene bescheidene Wirtshaus zu einem durchaus nicht prächtigen, aber behaglichen Wohnhaus um. Wenn er in den letzten Jahren seiner Amtsführung Friedrichsruh vor Varzin bevorzugte, so mag der Grund hiervon in der leichteren Erreichbarkeit des ersteren gelegen haben; denn Friedrichsruh liegt unmittelbar an der Eisenbahnlinie Berlin-Hamburg. Die Gewöhnung aber mag dahin geführt haben, daß er auch nach seinem Rücktritt vom Amte hier verblieb, unberührt vom Getriebe der Welt und doch ihm nahe genug, um mit dem Strom der Ereignisse in Fühlung zu bleiben. Unsere Bilder zeigen uns den in einer Art Schweizerstil gehaltenen Bau des Herrenhauses von der Straßen-, bezw. Eisenbahnseite sowie von der Parkseite, umringt und überragt von den hohen Baumkronen des Sachsenwalds und sich spiegelnd in dem stillen Gewässer des Auflüßchens, von dessen idyllischem Charakter unsere Ansicht aus der Umgebung von Aumühle auf Seite 567 einen Begriff giebt. Sie zeigen uns auch die Schloßterrasse, an deren Fuße so manches Mal die Scharen der Verehrer vorüberzogen, die Musikkorps ihre Ständchen brachten, zu der so oft Fackel- oder Liedergruß sich emporschwang und auf deren Brüstung gestützt der Hausherr so manches Mal jene Reden an atemlos lauschende Hörer richtete, die für die ganze Welt von Bedeutung waren.

(Schluß folgt.)




Flügellahm.
Erzählung von Hans Arnold.
(Schluß.)

Am Tage nach dem erschütternden Auftritt mit Allan begab ich mich zum General, zu seiner Essenszeit – ich wußte, daß er da in seiner besten Laune war.

Er saß beim Dessert – Sinaide war schon vor ihm aufgestanden und fortgegangen. Ich frug nicht nach ihr, um nicht zu hören, daß sie wieder irgendwo mit Allan ihr Katz- und Mausspiel triebe.

Der alte Herr saß am Tisch – er aß spät abends, bei Lampenlicht und heruntergelassenen Gardinen. Im Glase vor ihm funkelte alter Rheinwein; er goß mir auch ein und zog mich liebenswürdig neben sich auf den Sessel, während er im Sprechen bisweilen aus der Obstschale auf dem Tisch eine oder die andere Frucht nahm.

‚Wie lange bleibt eigentlich Fräulein Sinaide noch hier?‘ frug ich nach einer Weile ziemlich unvermittelt.

Er lachte.

‚Hören Sie, das ist eine ungalante Frage – aber ich nehme sie Ihnen gar nicht übel, ich weiß, Sie mögen das Kind nicht! Sie meinen, daß sie ein herzloses Persönchen ist – zugegeben, aber warum stört Sie das? Ich habe auch nie an zu viel Herz gelitten und ich wünsche ihr den Ueberfluß gar nicht!‘

‚Er steht wohl auch nicht zu befürchten!‘ sagte ich hart.

Der General lachte wieder.

‚Nein – aber dafür hat sie eben andere Vorzüge, die sentimentaleren Dämchen abgehen – sie ist immer graziös und amüsant, sie würde auch mit einer gewissen Verve aufs Schafott steigen und sich die redlichste Mühe geben, auf dem Wege dahin ihrem Henker den Kopf zu verdrehen?‘

‚Und inzwischen ihrem Opfer!‘ sagte ich finster, ‚und das bringt mich auf den Zweck meines heutigen Besuches. Können Sie nicht dafür sorgen, daß sie den armen Jungen gehen läßt, Herr General? Können Sie es denn mit ansehen, wie sie ihn quält? Ich denke manchmal zu ihrer Rechtfertigung, daß sie gar nicht weiß, was sie thut – aber mir siedet das Blut, wenn ich es ansehen muß.‘

‚Mein lieber Freund,‘ sagte der General und schälte sich behutsam einen Pfirsich, ‚Sie sind ungerecht! Wir Menschen sind alle, wie wir sein müssen – nicht, wie wir sein sollten, oder möchten. Was verlangen Sie denn? Würden Sie einer Katze einen jungen Singvogel anvertrauen, nachdem Sie ihr vorher eine Moralpredigt über dessen Behandlung gehalten hätten, und würden Sie dann überzeugt sein, daß sie liebevoll mit ihm umgehen würde? Nein – Sie wissen ganz genau, daß sie ihm die bunten Federn, eine nach der andern, ausrupfen wird – nennen Sie sie meinetwegen Illusionen – Hoffnungen – Lebensmut – und dann wird sie ihn verspeisen und sich graziös und zierlich zusammenrollen und in die Sonne blinzeln – und denken Sie, daß sie das Gefühl haben wird, unrecht gethan zu haben? Sie folgt ihrer Natur – das ist alles, und das thun wir alle – warum giebt es Singvögel und warum Katzen?‘

Ich blickte schweigend vor mich nieder – es lag in dieser grausamen Philosophie ein Körnchen noch grausamerer Wahrheit.

‚In diesem Fall handelt es sich aber zufällig um mehr,‘ sagte ich dann. ‚Sie wissen, daß Allan verlobt ist, daß er glücklich war, ehe Fräulein Sinaide sich dazwischen stellte, und Sie wollen nicht durch ein paar nachdrückliche Worte an die junge Dame der Sache ein Ende machen? Nur ein paar Worte, Herr General – ich bitte wirklich nicht gern, und ich würde für mich nie bitten, aber der Junge ist mir lieb!‘

Der alte Herr sah zweifelhaft in das Licht der roten Lampe.

‚Sagen Sie ihr, daß sie abreisen soll!‘ fuhr ich lebhaft und dringend fort, ‚lieber heut’ als morgen!‘

Der General winkte abwehrend mit der Hand. ‚Nein, lieber Freund – nein, das können Sie nicht verlangen, dazu bin ich nun wieder zu sehr Egoist,‘ sagte er. ‚Und Sie machen sich wirklich ganz überflüssige Sorge – Sie nehmen so eine flirtation zu schwer, weil Sie ein solch ernsthafter Mustermensch sind! Lassen Sie doch den Jungen für sich selbst sorgen! Er ist drei Jahre Reiteroffizier gewesen – glauben Sie im Ernst, daß er da nie eine Herzensaffaire gehabt hat? Er wird dann später ein um so besserer Ehemann. Was fürchten Sie denn eigentlich so sehr?‘

Ich stand einen Augenblick im finstern Nachdenken – es wurde mir sehr schwer, das auszusprechen, was ich dachte, aber es mußte ja wohl sein!

‚Ja, sehen Sie denn alle nicht, daß er stirbt?‘ sagte ich endlich hart und langsam.

Der alte Herr fuhr zurück und verfärbte sich einen Augenblick.

‚Bah,‘ sagte er dann und griff wieder nach der Weinkaraffe, ‚Sie sehen zu schwarz, lieber Freund, viel zu schwarz – das liegt in Ihrem Beruf. Man stirbt an ansteckenden Krankheiten, aber nicht an Passionen und Passiönchen. Und nun bitte, stören Sie mir meine Kur nicht mit solchen aufregenden Gesprächen – machen Sie das alles mit den jungen Leuten selber ab, aber mich lassen Sie aus dem Spiel! Ich habe zu viel Tragödien und Komödien mitgespielt im Leben – ich bin jetzt nur noch Zuschauer, lieber Freund – nur noch Zuschauer! Wenn Sie erst so alt sein werden wie ich, werden Sie auch lieber im Parkett sitzen als mitspielen! Darf ich Ihnen noch einen Chartreuse anbieten? Nein? schade!‘

Ich stand auf.

‚Ich will mich Ihnen empfehlen, Herr General!‘ sagte ich kühl – weiter nichts; er machte auch keinen Versuch, mich zurückzuhalten.

Es war mittlerweile Abend geworden. Der Mond stand sanft und klar über dem Meer, ein warmer Luftstrom strich über das schlaftrunkene Land.

Auf dem kleinen Vorplatz der Villa Bella lag Sinaide im Schaukelstuhl und summte ein altfranzösisches Liedchen vor sich hin – sie sah unglaublich schön und unglaublich gleichgültig aus.

Als ich sie kurz und ernsthaft begrüßte, blickte sie auf – der Mond schien ihr gerade in die Augen, und sie hielt einen großen, dunkelroten Fächer zwischen sich und das Licht.

Ich that, als sähe ich ihre auffordernde Bewegung, ihr gegenüber Platz zu nehmen, nicht, sondern sagte nur ziemlich kurz und kalt: ‚Mein gnädiges Fräulein, ich habe eine große Bitte an Sie!‘

Sie lächelte.

‚Sie – eine Bitte? Das ist ja ein halbes Wunder? Und worin besteht sie?‘

[570] ‚Reisen Sie ab!‘ sagte ich ohne jeden Umschweif, in fast unhöflichem Ton.

Sie legte den Kopf an die Lehne ihres Sessels zurück und sah zu mir in die Höhe.

‚Wollen Sie mich los sein?‘

‚Ja!‘ sagte ich kurz.

Sie nahm eine gekränkte unschuldige Miene an, die ihr, wie alles, zu Gebot stand.

,Aber ich störe Sie doch nicht,‘ sagte sie halblaut.

‚Mich?‘ frug ich kalt und erstaunt, ,mich? nein – durchaus nicht – aber Sie stören hier doch, ja noch mehr – Sie zerstören! Verlangen Sie wirklich, daß ich Ihnen sagen soll, warum ich Sie ‚los sein‘ will, wie Sie es ausdrücken?‘

Sie lachte ihr leises, gefährliches Lachen – ihre kleinen weißen Zähne blitzten im Mondschein.

‚Sagen Sie es nur!‘

‚Nun, Sie zerreißen, Sie vernichten und verderben mit größter Seelenruhe und bei kältestem Blut das Glück und den Frieden von zwei Menschen, die ich lieb habe – und weshalb? Wollen Sie denn für sich selbst etwas damit? Nicht einmal das – nur als elendesten Zeitvertreib!‘

Sie sah wie ein gescholtenes Kind zu mir auf.

‚Aber was soll man denn im Herbst an der See machen?‘ frug sie in kläglichem Ton.

Ich hatte mich in einen Zorn hineingeredet, der mir selber über dem Kopf zusammenschlug, und ein unklares, mich empörendes Gefühl mengte sich darein, daß sie in diesem Augenblick alles dransetzte, mich auch um den Verstand zu bringen.

Ich war drauf und dran, mich in dieser Empfindung zu vergessen und heftiger zu werden, als es einer Dame gegenüber anging – ich trat hart mit dem Fuß vor ihr auf.

‚Reisen Sie!‘ sagte ich heftig, ‚ich bitte Sie!‘

Sie stand auf und sah mich mit einem ernsthaften, durchdringenden, unerklärlichen Blicke an, trat auf mich zu und legte ihre Hand auf meinen Arm.

‚Gut,‘ sagte sie dann, ‚ich werde reisen! Nicht, weil ich will, aber weil Sie mich darum bitten!‘

Ich schüttelte ihre Hand ab, trat an die Glasthür und sah auf die See hinaus; ‚was ist man doch für ein Jammergeschöpf!‘ dachte ich in mich hinein.

Ihr war meine Erregung nicht entgangen, in ihren Augen sprühte es von Triumph und Mutwillen.

‚Weil Sie mich darum bitten!‘ wiederholte sie, ‚es macht mir Spaß, daß Sie mich bitten. Sie können mich im Grunde nicht leiden – ich bin nicht Ihr Genre – das weiß ich.‘

‚Nein, mein gnädiges Fräulein,‘ sagte ich mit tiefem Ernst.

Sie schwieg eine ganze Weile und sah vor sich nieder. Sie war blaß und die langen, dunklen Wimpern lagen wie schwere Schatten über dem ausdrucksvollen Gesicht.

‚Also ich reise!‘ sagte sie dann. ‚Morgen – in aller Frühe schon! Sie wissen, ein Scheidender und ein Sterbender darf manches sagen. Sie haben mich in dieser Sache beeinflußt – Sie hätten es in mancher andern auch gekonnt. Und nun gehen Sie – fort – in diesem Augenblick!‘

Sie streckte die Hand gebieterisch nach der Thür aus und ich ging wie betäubt von dumpfer Verwunderung und immer im Bann desselben unklaren Gefühles, das mich während der ganzen letzten Stunden gepeinigt hatte.

Ich schritt am Strand entlang nach Hause – das Wetter hatte sich geändert und die Flut kam finster und grollend näher – so allmählich – so sicher – so unentrinnbar wie die Zeit – wie das Alter – wie das Schicksal! Ich stand eine ganze Zeit stumm und verworren und starrte ins dunkle Wasser – mir ging ein alter Vers durch den Sinn, wie solch ein poetisches Spinngewebe sich plötzlich an den Menschen hängen kann:

,Du bist so mild wie Sternenschein,
Wie das Meer so schwarz und blaß –
Mein Herz, mein ganzes Herz ist dein –
Doch auch mein ganzer Haß!‘

Ich kannte mich selbst nicht wieder an dem Abend, aber ich fühlte eine innere Befreiung – auch meinetwegen! – in dem Gedanken: ‚Sie geht fort!‘

Als ich im Seeschloß noch Licht brennen sah, ging ich eilig darauf zu. Ich sah Annie am Fenster stehn und hinausblicken – ihr liebes ernstes Gesicht war mir wie ein Talisman in dieser Stunde – ich fühlte, daß in ihr sich alles verkörperte, was für mich rein und gut und heilig war – und ich hatte mich wiedergefunden! Auf ein Zeichen von mir öffnete sie das Fenster – ich rief halblaut hinauf: ‚Sie reist morgen ab!‘

‚Das haben Sie gethan!‘ sagte sie und wandte mir ihr blasses, strahlendes Gesicht zu, ,ich danke Ihnen – vielleicht ist’s noch Zeit!‘

Ich ging nach Hause.

Allan schlief schon; er war jetzt immer so leicht ermüdet – und in der grauen Morgenfrühe weckte mich Räderrollen draußen auf den Klinkern – Sinaide hatte mir Wort gehalten.


Es war mir fast lieb, daß ich Allan am nächsten Morgen in einem leichten Fieber fand, welches mir das Recht und die Pflicht gab, ihn einen oder zwei Tage ans Zimmer zu fesseln und ihm in diesem Zustand so ganz leise und allmählich die Nachricht beizubringen, daß Sinaide fort sei.

Er nahm sie verhältnismäßig ruhiger auf, als ich erwartet hatte – es war, wie wenn er mit seiner Leistungs- und Ertragfähigkeit am Ende gewesen wäre und es jetzt förmlich wie ein Aufatmen empfände, nicht beständig in fliegender Erregung und Erwartung zu sein.

So begann für uns alle eine ruhigere Zeit, in der wir erst so recht empfanden, in welchem heißen Sturme wir gelebt hatten.

Annie war in ihrer stillen Weise um Allan besorgt wie eine Mutter um ihr schwerkrankes Kind; sie suchte ihn zu erheitern, zu zerstreuen oder zu beruhigen, je nachdem seine wechselnde Gemütsstimmung es verlangte. Und er – nicht mehr abgezogen von der beständigen, täglichen, stündlichen Erwartung und Quälerei – ,Kommt sie heut’? Bleibt sie heut’ aus?‘ – die ihn wie im Fieber von Stunde zu Stunde umgetrieben hatte, lebte allmählich auf und begann, seiner elastischen Natur getreu, sich auch äußerlich zu erholen.

Daß er das selbst empfand, und als Wohlthat empfand, ging mir daraus hervor, daß er in diesen Tagen einmal zu mir sagte: ,Weißt du, Rütgers, es wundert mich, daß noch nie jemand darauf gekommen ist, der Zeit Altäre zu bauen: sie ist doch die einzige, unsichtbare Macht, die fühlbares Erbarmen mit den Menschen hat!‘ – und ich hoffte, daß er recht behalten sollte.

Wir gingen jeder Berührung mit dem Hause des Generals aus dem Wege, und der alte Herr selbst verhalf uns dazu; er hatte die unerwartet schnelle Abreise seiner Enkelin mit Recht auf mein Conto geschrieben und mir sehr verübelt – er grüßte nur steif und kühl, wenn er einen von unserer kleinen Gesellschaft traf, und sprach mit mir nur noch das ärztlich Notwendige.

Ich machte mir weiter keine Gedanken darüber, da er mir in seiner Art und Anschauungsweise doch fremd geblieben war und immer bleiben mußte, und ich war im Grunde auch froh, nichts mehr von Sinaide zu hören – hatte ich doch an mir selbst erfahren, wie weit die Macht ging, die dieses seltsame Geschöpf ausübte, sowie sie es wollte.

Allan begann in der Zeit wieder zu malen; er lag täglich mit dem Skizzenbuch an der See und entwarf kleine wilde Stimmungsbilder, die von merkwürdiger Genialität waren. Diese Thätigkeit machte ihm Freude und griff ihn anscheinend nicht an – so ließ ich ihn dabei.

Eines Tages hatte er Annie gebeten, ihm zu einer Porträtskizze zu sitzen, wie in früheren guten Zeiten.

Ich war zufällig anwesend – wir saßen auf der Terrasse des Seeschlosses. Es war ein stiller, windloser Tag, man konnte im Freien sein. Wir plauderten alle drei, und er zeichnete. Zuerst blickte er alle Augenblicke scharf und prüfend auf sein Modell – dann immer seltener – mit der Zeit sah er gar nicht mehr auf, sondern zeichnete immer weiter mit einem seltsamen, vertieften Ausdruck im Gesicht.

Als es gar zu lange währte, stand Annie leise auf und trat hinter ihn, um ihm über die Schulter zu sehen.

,So sehe ich aber eigentlich nicht aus,‘ sagte sie anscheinend heiter – als ich nach ihr aufblickte, standen ihre Augen voll Thränen. Ich wußte wohl, wen er gezeichnet hatte!

[571] Er küßte ihr mit einem bittenden Blick die Hand und erwiderte kein Wort.

Sie schwieg auch eine ganze Weile.

‚Kannst du sie denn nicht vergessen?‘ frug sie endlich mit gepreßter Stimme.

,Nein!‘ sagte er mit einer gewissen zornigen Leidenschaftlichkeit, ,das ist es ja gerade – ich kann nicht! Ich gebe mir alle mögliche Mühe! Denkst du denn, daß es hübsch ist, so innerlich wie dürres Holz zu verbrennen?‘

Sie nahm ihm das Skizzenbuch aus der Hand und wollte das Blatt herauslösen.

,Nein!‘ sagte er heftig und rasch und griff danach.

Sie klappte das Buch schweigend zu und legte es vor ihn hin.

Er hielt ihre Hand fest und lehnte die Stirn darauf.

,Habe nur weiter Geduld mit mir!‘ sagte er halblaut, ,du hast sie ja schon so lange gehabt! Wenn ich erst wieder ganz gesund bin, überwinde ich auch alles viel leichter und es geht mir ja so viel besser!‘

Sie hatten beide meine Anwesenheit entschieden vergessen; ich stand leise auf und schickte mich an, zu gehen.

Ich hörte nur noch, wie Annie sagte: ,Ja, Allan, du mußt aber auch wollen,‘ und er erwiderte so recht aus Herzensgrund: ,Ja, ich will – ich will wirklich!‘

Als ich ein paar Schritte weit gethan hatte, kam Annie eilig hinter mir her und stand neben mir.

‚Nun?‘ frug ich sanft, als sie nur atemlos blieb und mich mit einer bangen stummen Frage ansah.

,Glauben Sie, daß das noch einmal anders wird?‘ frug sie dann; aber ehe ich etwas erwidern konnte, schüttelte sie nur den Kopf und ging zurück.

Ob dieser Tag einen wirklichen innerlichen Abschnitt dargestellt hatte – ob das göttliche Frühherbstwetter dazu beitrug – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß Allan sich zu erholen und zu beruhigen begann.

Ich fand seinen Zustand so viel besser, was die äußeren Symptome betraf, daß ich mit Frau v. Redebusch ernstlich darüber zu Rate ging, ob man die Hochzeit nicht beschleunigen und die beiden in ruhigem, gefestigtem Zusammenleben dem Einfluß der Häuslichkeit überlassen sollte.

Ich warf die Frage auch Allan gegenüber hin, der mit lebhafter Befriedigung darauf einging und durch kein Wort, durch keine Miene anzudeuten schien, daß er sich nicht fest genug fühlte, um sich ganz zu binden.

Annie hatte in diesem Fall, wie in jedem andern, keinen Wunsch für sich, sondern nur für ihn – sie war mit allem einverstanden. Als wir gegen Abend auf der Seeschloßterrasse saßen, sprachen wir so ruhig, so friedlich und mit so fest umrissenen Plänen von der Zukunft, wie man das immer thut, wenn man einmal vergißt, wie wenig sie in unsern Händen liegt.

Allan wollte noch an demselben Nachmittag wegen verschiedener Förmlichkeiten und Papiere nach seinem Heimatsorte schreiben, und sowie das Wetter rauher geworden sei, sollte man abreisen. So war der allgemeine Plan, dem ich als Arzt und Freund nur zustimmen konnte, da ich diese köstlichen ersten Septembertage für meinen Patienten gern noch ausgenutzt hätte.

Er ging der eben erwähnten Schreibereien halber allein nach unserer Wohnung, und ich folgte ihm etwa eine Stunde später.

Zu meiner Ueberraschung fand ich sein Zimmer leer.

Ich weiß selbst nicht zu sagen, warum mir das, was doch oft vorkam, an diesem Abend solchen unheimlichen Eindruck machte. Ich ging mehrmals aus – am Strande entlang – nach den Dünen – und endlich kehrte ich in mein Studierzimmer zurück und suchte meine schweren Gedanken durch Arbeit zu verjagen, was mir sonst immer sehr leicht gelang.

Es war schon dunkel und ich wollte eben nach der Lampe klingeln, als die Thür ungestüm aufging und Allan vor mir stand – zerzaust vom Wind, mit dunkelglühenden Augen in dem farblosen Gesicht.

Ich sprang hastig auf.

,Was ist dir?‘ frug ich erschrocken.

Er faßte meine Hand mit eisernem Griff. ,Sie ist wieder da!‘ brachte er mühsam hervor. Dann ließ er sich langsam und schwer in einen Sessel an meinem Tisch fallen und starrte vor sich hin: ,Jetzt ist alles zu Ende!‘

,Infam!‘ sagte ich zwischen den zusammengebissenen Zähnen vor mich hin – Wut und Jammer über den neuen Querstrich, den das Schicksal mit seinem schwarzen Pinsel durch unser friedliches Bild zog, raubten mir fast die Sprache.

Da er immer noch schwieg und nur von Minute zu Minute blasser wurde, faßte ich ihn heftig an der Schulter.

,Du wirst dich doch nicht fürchten?‘ frug ich nachdrücklich und fast verächtlich, als ich den Ausdruck seines Gesichtes sah.

Er lachte kurz und bitter auf.

‚Nicht? Doch! Ich fürchte mich – ganz feige – ganz gemein! Ich fürchte mich nicht bloß vor ihr selber – ich fürchte mich vor jedem, der ihr auch nur ähnlich sieht! Wenn jemand auf der Straße nur den Kopf so hält, dann geht es mir wie ein elektrischer Schlag durch die Glieder! Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen, Rütgcrs – es wäre besser, ich machte ein Ende!‘

Ich schlug mit der geballten Hand auf den Tisch – ich war völlig außer mir.

,Und um dieses falsche, kalte, herzlose Geschöpf!‘ sagte ich vor mich hin.

Er faßte meine Hand und hielt sie fest. ,Aber Rütgers – da sie doch wiedergekommen ist! Warum hat sie denn das gethan? Sie muß doch dabei an mich gedacht haben! Hältst du es denn für ganz unmöglich, daß sie mich liebt?‘

,Ja!‘ sagte ich so hart, wie ich es in dem Augenblicke konnte, ,das halte ich für unmöglich, denn sie kann überhaupt nicht lieben! Gewinne heute deinen Prozeß – sei der fürstlich reiche Mann, für den du gegolten hast – dann wird sie sich vielleicht den Anschein geben, als wenn sie dich liebte. Das ist so ungefähr meine Taxe ihres Charakters – und Gott verzeihe mir, wenn ich ihr Unrecht thue!‘ Es war ein gespannter Zug in sein Gesicht gekommen.

,Denkst du wirklich, daß sie es dann thäte?’ frug er in hastigem gequälten Ton.

Ich machte mich ungeduldig los.

,Laß mich!‘ sagte ich, ,du bist nicht zurechnungsfähig – du bist kein Mann!‘

Er nickte ein paarmal schwer vor sich hin.

,Du hast recht!‘ sagte er, ,du hast leider ganz recht!‘


Es giebt Zeiten im Leben, in denen die Ereignisse über uns herstürzen wie ein entfesselter Wasserstrom, uns den Atem, die Ruhe, die Entschlußfähigkeit zu rauben suchen, daß wir von Stunde zu Stunde uns mühsam durch das Toben der Elemente durchkämpfen und dabei immer wieder aufs neue empfinden, wie wehrlos wir sind.

Es mochten wohl solche Gedanken gewesen sein, die mich gerade in diesen Tagen auf einer Wanderung über die Dünen getrieben hatten – durch die willkürlich gestalteten, zackig wilden, dicht bewachsenen Hügel, die da, von elementarer Gewalt neben- und aufeinander getürmt, so schweigsam in der Herbstsonne lagen.

Ich warf mich ins kräftig duftende Strandgras und sah in die flimmernde Luft hinaus.

Ein seltsamer, still sausender Wind war um mich her – das tiefe Gefühl friedlicher Einsamkeit kam mit seiner ganzen Gewalt über mich – ich hätte hier vergessen können, daß es noch andere Stürme giebt als die das Meer bewegen.

Ich schloß die Augen und hörte so traumverloren auf die tausend kleinen, flüsternden, surrenden, summenden Stimmen der Jnsektenwelt um mich her, die in dem Grase da ihr kleines Leben auslebte, und der es vielleicht – wer kann es wissen – ebenso wichtig, ebenso lang und – ebenso traurig erschien wie uns Menschen das unsere.

So lag ich eine ganze lange Zeit, die Sonne ging schon nieder, ein kalter Luftstrom strich über meine Stirn.

Ein Rascheln im Grase, wie von leichten Schritten, ließ mich aufblicken, ich war auf den Füßen, wie gerüstet gegen einen Feind.

[572] Sinaide stand vor mir, mit einem stillen blassen Gesicht, aus dem jede Spur ihres funkelnden schillernden Wesens wie weggelöscht schien – der schöne, übermütige Mund schwieg ernsthaft.

Die Schlange hatte sich wieder einmal gehäutet – und wie sie in der Abendsonne so vor mir stand, empfand ich, daß sie nie schöner und verwirrender gewesen war als in diesem Augenblick.

Wir sprachen beide eine ganze Weile nicht.

Endlich nahm ich das Wort – so kalt und ruhig, wie ich es konnte.

‚Warum sind Sie wiedergekommen?‘ frug ich.

Sie stand regungslos vor mir und sah mich unverwandt an, während die sonderbaren Augen wie dunkelblaue Edelsteine aus dem blassen Gesicht hervorfunkelten.

‚Warum sind Sie wiedergekommen?‘ frug ich nochmals und wich ihrem Blick nicht aus.

Sie ließ langsam – langsam den Kopf sinken.

‚Sie wissen es!‘ sagte sie fast unhörbar.

‚Nein!‘ erwiderte ich eiskalt.

Sie trat rasch einen Schritt näher.

‚Sie wissen es!‘ wiederholte sie fest und rasch, ‚lügen Sie nicht! Sehen Sie mir ins Gesicht und sagen Sie, daß Sie es nicht wissen, wenn Sie den Mut dazu haben!‘

Ihre Farbe kam und ging unaufhörlich, aber ihre Augen klammerten sich förmlich an mich an, mit einem wilden, finsteren, geheimnisvollen und schmerzlichen Lächeln.

Ich faßte ihr schmales Handgelenk mit einem so harten, unbarmherzigen Griff, als wenn ich es zerbrechen könnte.

‚Und wenn ich es weiß!‘ stieß ich zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor, ,und wenn es um meinetwillen geschehen ist, so sage ich Ihnen, daß ich mein Herz lieber mit diesen meinen beiden Händen aus der Brust reißen und fortschleudern würde – in das Meer dort – ehe ich –‘

Ich unterbrach mich – der tobende Kampf in mir wurde wilder und wilder – er drohte mich zu ersticken und zu bewältigen! Sie stand immer noch, wie sie gestanden hatte – ein Zittern lief wie Wellengekräusel über ihre schlanke Gestalt, aber das Gesicht blieb wie versteinert in seinem sonderbaren Ausdruck.

,Sagen Sie mir nur eins!‘ begann sie dann, immer mit der seltsam sanften Stimme, die in einem so bethörenden Gegensatz zu ihrem Gesicht und zu ihrem Worte stand, ‚nur eins! Wenn das, was in den letzten Wochen hier geschah, was ich – und Sie – und wir alle hier erlebt haben – wenn das nicht geschehen wäre, wäre ich Ihnen dann gleichgültig geblieben?‘

Ich stand eine Weile stumm und starr – mir war, als wenn jemand einen blutroten Schleier immer vor meine Augen hielt und wieder fortzöge – ich wollte nichts antworten und fühlte doch, daß ich es in der nächsten Minute thun würde – und ehe ich es selbst wußte und wollte und hindern konnte, hatte ich ‚Nein!‘ geantwortet.

Und da sagte sie mit einem fremden, tiefen, glückseligen Ton, in dem trotz allem eine Leidenschaft lag, wie eine Flamme, die durch dürres Heidegras auflodert, nur ‚Gott sei Dank!‘

Und wie sie so stand, den Kopf zurückgeworfen, die Augen wie in Selbstvergessenheit emporgerichtet – um sie her, wie ein Königsmantel, die feurige wilde Glut des Abendhimmels – da fühlte ich, als wenn das Wort mit Riesenlettern vor mir geschrieben gestanden hätte, daß es hier nur eins gab – Flucht!

Ich wandte mich um und stürzte fort – am Meer entlang – und weiter und weiter – ohne Zweck – ohne Ziel – wie gejagt von einer wilden Angst, daß ich mir selbst und dem liebsten Menschen, den ich auf Erden hatte, untreu werden könnte.

Ich fand mich endlich erschöpft, wie zerbrochen und zerschlagen am entlegenen Strande wieder – ich war ganz unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, in meinem Kopf wirbelte nur das düstre Bibelwort umher: ‚Wir haben nicht mit Fleisch oder Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen und Mächten der Finsternis!‘

Wie ich nach Hause und zur Ruhe kam, das weiß ich nicht mehr – ich entsinne mich nur, wie ich den nächsten Morgen, als ich erwachte, ein Gefühl dumpfer Verwunderung hatte, daß zwischen gestern und heute nur eine Nacht lag – mir war, als müßten es ein paar Tage gewesen sein.


Zwei Tage waren seit meiner Begegnung mit Sinaide verstrichen – in der alten krankhaften Aufregung für meinen armen Freund. Er schwand förmlich hin in dieser Zeit und wenn ich nachts aufwachte, hörte ich sein dumpfes, trauriges Husten durch das Haus schallen – es zerriß mir das Herz!

Ich sah Annie nicht – ich konnte mich nicht entschließen, ihr unter die Augen zu treten, und bald sah ich auch Allan kaum!

Er wich mir mit einer Art von düsterem Trotz aus, denn ich hatte ihm heftig, so heftig wie ich empfand, gesagt, ihm bliebe jetzt als anständigem Menschen nur das eine übrig: abzureisen und der Versuchung aus dem Wege zu gehn, die – freilich ohne sein Verschulden – wieder wie ein unübersteiglicher Felsblock in seinem Wege lag und ihm freien Blick und freien Schritt hemmte. Die Folge war, daß er noch am selben Tage mit Sack und Pack ohne Abschiedswort von mir fort und in ein alleinstehendes Haus zog, das zwischen meiner Wohnung und der Villa des Generals lag – in den sogenannten „Outlander“, ein schmales, dunkles, leicht gebautes Holzhaus, das ich seiner Bauart und exponierten Lage halber für ihn gerade nicht gewählt hatte. Wie viel zu diesem Entschluß der Umstand beitrug, daß er aus den Fenstern des Outlanders die Thüren und Fenster der Villa Bella sehen und dem unseligen Feuer, das ihn verzehrte, beständig Nahrung zuführen konnte – wie viel das dabei mitsprach, ich weiß es nicht.

Ich meine immer, ich sehe ihn noch vor mir, wie er so blaß und still dort am Fenster stand, die Stirne mit den davor gefalteten Händen an die Scheiben gedrückt, und mit dem finstern, leidenschaftlichen Blick, der seine Augen kaum mehr verließ, nach dem Hause starrte, wo Sinaide ein- und ausging.

Daß die Menschen – wenige waren es noch in dieser Zeit – mit einer Art scheuer Verwunderung nach ihm hinaufblickten, wenn er dort so stand, das schien er nicht zu bemerken, jedenfalls beachtete er es nicht.

So gingen ein paar Tage hin, bis ich eines Morgens zu Frau v. Redebusch gerufen wurde, die an einem Rückfall ihres alten Leidens daniederlag. Als ich aus dem Krankenzimmer kam, fand ich Annie allein, mit einer ihr sonst fremden Hast beschäftigt, allerlei Kleinigkeiten in der Wohnung zusammenzuräumen. – Auf meinen stummen, fragenden Blick sagte sie nur mit einem müden Lächeln: ‚Verzeihen Sie die Unordnung hier – wir wollen, sobald es Mutters Gesundheit erlaubt, nach der Stadt zurück – wir haben unsere Schiffe verbrannt!‘

‚Und Allan?‘ frug ich leise.

Sie schüttelte den Kopf und brach einen Augenblick in heißes, unbesiegliches Schluchzen aus – dann faßte sie sich schnell.

,Er geht mich nichts mehr an,‘ sagte sie mit fremder Stimme, ‚ich habe ihm heute morgen geschrieben, daß ich nicht die Kraft fühlte, ihm mein Wort zu halten – es ist alles aus! Aber er soll sich keine Vorwürfe machen – ich bin selbst schuld, daß es so kam – nicht durch das, was ich gethan habe, sondern durch das, was ich bin, und das läßt sich wohl schwer ändern!‘

Und sie ging wieder an ihre traurige Arbeit, das Zimmer, das ihren zierlichen Händen seine Behaglichkeit verdankte, unwohnlich und schmucklos zu machen.

Ich verließ sie – was konnte ich ihr auch sagen? – und ging an meine Berufswege.

Es war ein unerträglich schwüler, dumpfer Tag, und dabei ein Wind, wie man ihn an der See öfter findet, der heiß und stäubend mit wildem Pfeifen daherfegt, Wolken von feinem Sand aufwirbelt und mit ihnen die ganze Länge des Strandes einhüllt – gewöhnlich ist solcher Wind der Vorgänger der Springflut und schwerer Stürme. Am Horizont lag ein kupferfarbener, blutigfinsterer Streifen unheildrohend unter einer schieferblauen Wolkenschicht – die Fischer kamen alle nach Hause und ihre braunroten Segel standen wie düstre Vögel rings auf dem Meere. Das kochte und brodelte wie ein riesiger Hexenkessel und schillerte wie ein Schlangenpanzer in einem stumpfen, widerwärtigen Grau.

Als ich nach stundenlanger Arbeit, müde und zerquält an Leib und Seele, wieder nach Hause und am Outlander vorbeikam, stand Allans Wirtin in der Thür und winkte mir sorgenvoll zu: ‚Herr Doktor, wollen Sie nicht nach unserm jungen Herrn sehen? Wissen Sie nicht, wo er ist? – wenn er sich nur nichts anthut!‘

[573]

Die deutsche Studentenschaft bei Bismarck in Kissingen 1890.
Aus der neuen „Gedächtnis-Ausgabe“ des Prachtwerkes „Unser Bismarck“ von C. W. Allers und Hans Kraemer.


Anmerkung Wikisource:

Vers in der rechten Bildecke:

„Schwingt die Schläger, senkt die Fahnen,
Grüsst mit lautem Jubelruf
Ihn, den ersten der Germanen,
Der erfüllt den Traum der Ahnen,
Deutschlands Grösse neu erschuf!“

rechts signiert, datiert und bezeichnet: „C W Allers 91 / Kissingen“ [574] ,Warum?‘ frug ich barsch – sollten die Menschen diesen großen Jammer für ihr müßiges Gerede benutzen?

,Er hat ja heute früh einen Brief vom Gericht bekommen,‘ sagte die alte Frau schüchtern und erschreckt durch meinen Ton, ,und als er den gelesen hatte, wurde er so kreidebleich, daß ich sagte: ,Ach Gott, Sie sehen ja aus, als wenn das Haus mit Ihnen zusammenstürzte!‘ Da lachte er so sonderbar und sagte: ,Es ist auch ungefähr so – wenn der Doktor kommt, sagen Sie ihm nur, ich hätte meinen Prozeß verloren – ist das nicht spaßhaft?‘ und dabei lachte er wieder, als wenn er ganz verwirrt wäre. Mir wurde angst und bange, Herr Doktor – und jetzt ist er nach der Villa Bella zu gegangen, aber ob er dort ist, das weiß ich nicht – und der Sturm ist doch auch nichts für seinen Husten!‘

Ich ließ sie gedankenlos an mich hinreden – mir sauste und summte es vor den Ohren, daß ich nicht wußte, ob der Sturm draußen oder mein eignes, erregtes Blut diesen unheimlichen Singsang ausführte – wortlos nickte ich der verwunderten Frau zu und ging nach Hause.

Ich hatte das sichere Gefühl, er würde zu mir kommen – und wo hätte ich ihn denn suchen sollen? Bei Sinaide? Das war ja unmöglich – in welcher Eigenschaft konnte ich nach unserer letzten Unterredung das Haus ungerufen betreten, nachdem er zudem jede Einmischung meinerseits so gänzlich von der Hand gewiesen hatte?

So saß ich wartend in meinem Zimmer – es war noch früher Nachmittag, aber so düster draußen, daß es schon ganz dämmerig schien, da stand er plötzlich vor mir wie vom Sturm hereingeweht – totenblaß, ohne Atem – ohne Besinnung – mit einem so verstörten, entsetzten Ausdruck, daß ich im ersten Augenblick die Hände wie abwehrend gegen ihn ausstreckte, als sähe ich einen Geist. Erst dann faßte ich mich gewaltsam, um zu ihm zu sprechen.

Aber er kam mir zuvor.

‚Rütgers,‘ begann er mit seltsamer, tonloser, gequälter Stimme, ‚sage mir die Wahrheit – gieb mir dein Ehrenwort, daß du mir die Wahrheit sagst, wenn ich dich jetzt etwas frage!‘

Es handelt sich um Sinaide, sagte ich zu mir selbst, dann laut: ,Ja, mein Junge, ich gebe dir mein Wort – ich sage dir die Wahrheit – ich thue es immer, wenn ich es kann!‘

Er fuhr sich mit dem Tuch über die Stirn und sprach wie jemand, der eben übermäßig rasch gelaufen ist, mit kleinen, zitternden Atempausen zwischen den Worten: ,Ist es wahr, Rütgers – bin ich krank? – bin ich so krank?“

Ich zog ihn liebevoll neben mich aufs Sofa – mir war, als sollte mir das Herz brechen; aber ich durfte ihn doch nicht belügen.

,Ja, mein armer, lieber Junge, du bist krank,‘ sagte ich möglichst sanft und ruhig, ,aber wer hat dir das gesagt?‘

,Sinaide!‘ erwiderte er dumpf und ließ den Kopf sinken, als wenn ihn eine Last niederbeugte.

,Das hat sie gewagt?‘ knirschte ich – mir stürzte alles Blut zum Herzen.

,Ich bat sie – ich fiel ihr zu Füßen – da sagte sie erst: ,Wenn ich doch nicht will‘ – so recht überdrüssig und ungeduldig – und dann sagte sie – ich weiß die Worte noch ganz genau, sie haben sich mir wie Glasscherben in die Seele geschnitten – sie sagte: ,Und außerdem, mein lieber Herr von Senden, sind Sie ja viel zu krank‘ – zu krank! zu allem, Rütgers, ja? zu allem? auch zum Leben?‘

Seine Augen brannten mit so verzweifelter Furcht auf meinem Gesicht, daß ich es fast nicht ertrug – ich strich ihm beschwichtigend über das Haar und sprach zu ihm wie zu einem Kinde, dem man die Gespensterangst ausredet: ,Nein, mein lieber Junge – Gott verhüte, daß du dir solche Gedanken machst – so steht es nicht!‘

Er sah mich, ruhiger werdend, an – dann nickte er ein paarmal langsam vor sich hin.

‚Ich weiß jetzt genug – du brauchst mir nichts mehr zu sagen – es ist ja vielleicht am besten so!‘ erwiderte er mit seiner seltsam klanglosen Stimme, ,laß mich jetzt ein paar Stunden allein mit mir – ich muß mir selbst aus dem Wege kommen!‘

Ich wollte ihn aufhalten oder ihm folgen – das weiß ich nicht mehr zu sagen; aber in dem Augenblick kam ein Trupp Menschen, der einen Verunglückten brachte, er war am Verbluten – ich durfte da nicht weggehen – und ich konnte Allan nicht zurückhalten – er war fort.

Nie habe ich gedankenloser, bewußtloser meine Arbeit gethan als in jenen Augenblicken – ich verband den armen Teufel da vor mir so gleichgültig, als wäre er ein Stück Holz – und dabei war es ein schwerer Fall, er hielt mich wohl eine Stunde lang auf.

Sowie ich mit gutem Gewissen fort konnte, stürzte ich aus dem Hause – ins Seeschloß. Allan war nicht da – ich schrie, den Sturm übertönend, jeden Vorübergehenden mit der Frage an, ob er ihn gesehen hätte – keiner wußte von ihm! Ich ging an den Strand – da war weit und breit kein Mensch – der heiße Sturm hatte alles in die Häuser gefegt, und wie ich mich einsam und keuchend gegen die Gewalt dieses Luftstroms am Meer entlang kämpfte, flogen mir die Wirbelwolken von spitzem Seesand so höhnisch in die Augen, als wollten sie sagen: Such’ du nur!

Schließlich kehrte ich verzweifelt um und ließ mich vom Sturme mehr tragen als ich ging – es war schon ganz finster.

Als ich nach Hause kam, umlagerte eine Menschenmenge meine Thür – man hatte mich erwartet. Sie hatten ihn unten am Strande gefunden – ohnmächtig infolge eines Blutsturzes – und jetzt war er in den Outlander getragen und auf sein Bett gelegt worden.

Er atmete noch schwach, aber er atmete doch, und ich dankte Gott dafür, obwohl ich in diesem Augenblick ihm mehr gedankt haben würde, wenn ich den leisen Ton nicht mehr vernommen hätte. Diese Nacht werde ich nie vergessen!

Der Sturm! – ich habe nie vorher und nie nachher einen gleichen erlebt – das leichte Haus schien sich unter seinem Griff zu biegen und hin und her zu schwanken! Der Sturm! Er tappte die ganze Nacht wie ein fürchterlicher blinder Riese in dem finstern Hause herum und schlug mit gewaltigen, zornigen Fäusten an die Fenster und schüttelte die Wände, daß der Sand hinter den Tapeten mit knirschendem Ton niederrieselte. Dann fuhr er wieder mit einem pfeifenden, jammernden Ton ums Haus, daß es klang wie der Schrei einer hoffnungslosen, verlornen Seele – und dabei kämpfte die ganze Nacht hindurch ein armes gequältes Menschenkind seinen stummen Kampf um Leben und Tod!

Gesprochen hatte er während dieser Stunden nicht – nur einmal gab er mir ein Zeichen, daß ich mich zu ihm herunterbeugen sollte, und sagte – eigentlich nur durch Lippenbewegungen: ,Nicht wahr, wenn du sie siehst, dann fragst du sie einmal, ob sie sich denn nie etwas aus mir gemacht hat? Es ist mir eigentlich heute alles gleichgültig – aber das frage ich mich doch immer, und deswegen kann ich nicht schlafen!‘

Ich nickte ihm zu – sprechen konnte ich nicht.

Gegen Tagesanbruch ließ der Sturm nach, aber das Meer brüllte immer noch wie ein wütendes Tier, das um sein Opfer betrogen worden ist, und schien mit jedem Augenblicke näher zu kommen. Allan fuhr mit den Händen nach dem Kopfe, wie in Verzweiflung: ,Die See soll einen Augenblick still sein!‘ flüsterte er mit seiner tonlosen Stimme, ,ich kann es nicht mehr aushalten!‘

Und dazu dies Haus, das jeden Ton, jeden Luftzug durchließ!

Ich ging einen Augenblick von ihm fort und trat vor die Thür. Der kalte, blasse Morgen lag freudlos über der ungeheuern Weite, die aus einem wüsten Gewirr tobender, schäumender Wasser zu bestehen schien – in der Ferne glimmte ein feuriges Morgenrot auf wie eine Kriegsfackel.

Ich starrte gedankenlos, erschöpft und wirr auf dies Bild – in meinem Kopfe wirbelten die Gedanken ebenso wild durcheinander wie die Wellen da unten. Wo soll er hin? Hier im Outlander konnte er nicht bleiben – noch eine solche Nacht, und der schwache Lebensfaden riß. In mein Haus, wo den ganzen Tag Menschen kamen und Menschen gingen, konnte ich ihn auch nicht nehmen – und ins Seeschloß? Zu denjenigen, denen er so weh gethan – in deren Herz er den Dolch gestoßen und umgekehrt hatte – wenn auch nicht aus Schlechtigkeit, so doch aus krankhafter, unmännlicher Schwäche? Und doch tauchte vor meinem Geist das Seeschloß wieder und wieder auf – mit seinen dicken Steinmauern und seinen großen, luftigen Zimmern – und ich sagte mir mit furchtbarem Herzweh, daß es ja aller Voraussicht nach nicht auf lange sein werde.

[575] Als der Morgen etwas weiter vorgeschritten war, so daß ich erwarten durfte, Mutter und Tochter schon wach zu finden, ging ich hinüber. Frau v. Redebusch war zum erstenmal seit ihrer Krankheit aufgestanden und saß noch matt und müde im Lehnstuhl. Annie war nicht zu sehen.

Frau v. Redebusch streckte nur die Hand entgegen. ,Ich bin noch so schwach, Herr Doktor,‘ sagte sie in ihrem klagenden Ton, ,und dabei will Annie abreisen – – sie denkt ja doch sonst immer an mich – aber sie ist wie ausgetauscht. Ganz unverständig seit ein paar Tagen – ich kenne sie gar nicht wieder!‘

Ich antwortete kurz und beruhigend und begann dann in fliegenden Worten das Geschehene zu berichten, zu erzählen, wie Allan auf den Tod läge, wie alles davon abhänge – nicht für seine Genesung, an die glaubte ich nicht – aber für die augenblickliche Erleichterung furchtbarer Stunden – daß er in eine ruhige, behagliche Umgebung käme, und ich brachte stockend und zaghaft meine Bitte vor, ihn hierher bringen lassen zu dürfen. ‚Aber können wir es Fräulein Annie zumuten?‘ schloß ich sorgenvoll.

Frau von Redebusch winkte mir mit der Hand ab.

,Das kann ich nicht sagen, Herr Doktor – mir scheint, sie hat genug gethan und ertragen um dieser unglückseligen Geschichte willen. Was ich thäte, das weiß ich – aber was sie thäte, das müssen Sie sie selbst fragen!‘

Und ich frug sie, als sie mit ihrem stillen Friedensgesicht, das sich schon wieder zu seinem alten Ausdruck durchzukämpfen begann, in die Thür trat – ich frug sie, und sie antwortete sofort, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen – sie sagte nur: ,Und warum ist er noch nicht hier?‘

Am selben Nachmittag trugen wir ihn ins Seeschloß, in eines der großen, hellen Hinterzimmer, nach Süden gelegen, in denen selbst an unruhigen Tagen das Meer nur wie aus traumhafter Ferne zu hören war, in denen es bei stillem, schönem Wetter nach Lavendel und Sonnenschein duftete und durch deren offene Fenster die Bienen und Citronenfalter surrend ein- und ausschossen.

Dort legten wir ihn zu Bett – und als ich Annie hereinrief, als sie beim Anblick seines veränderten und verstörten Gesichtes, seiner keuchenden Brust und seiner angstvollen Augen so gefaßt, so ruhig, so still blieb, sich so einfach liebevoll über ihn beugte und ihm die Hand auf die Stirn legte, als hätten sie sich vor einer Stunde erst getrennt – als der gespannte Ausdruck seiner Züge sich unter dieser Hand so sachte löste und sich in ein stilles, müdes Ruhen verwandelte – da ging ich getrost meiner Wege ich wußte ihn in guten Händen!

Der Sturm draußen hatte auch nachgelassen; er schleppte sein Gewand düsterer Wolken noch in einzelnen, großen, zerflatterndcn Fetzen am Himmel hin, zwischen denen es schon wieder leuchtend blau und sieghaft hervorglänzte. Die Sonne brach durch – und alles sah so strahlend, so frisch, so herrlich aus – die Natur kämpft ihre schwersten Kämpfe durch, ohne daß ihr ewig schönes und junges Antlitz eine Spur davonträgt, und nur wir armen Minutengeschöpfe bezahlen jeden rascheren Pulsschlag mit unseren Kräften und mit unserem Herzblut.

Ich ging zur Villa Bella. Der General und Sinaide saßen in dem offenen Vorsaal, in dem ich Allan zum erstenmal diesem – Geschöpf gegenüber gesehen hatte. Sie schenkte dem Großvater eben, als ich kam, mit ihrer ganzen kätzchenhaften Grazie den Thee ein; als sie mich sah, lächelte sie mich so unbefangen, so glückstrahlend und aufleuchtend an, als hätten wir einander nie anders gegenübergestanden.

,Nun, Herr Doktor – wo haben Sie sich denn so lange versteckt?‘ rief sie mir mit ihrer lieblichen Stimme entgegen, ,wir sind schon fast vor Sehnsucht nach Ihrem ernsthaften Gesicht gestorben – nicht wahr, Großpapa?‘

Der alte Herr, der seine Stimmungen bewußt und unbewußt immer nach den ihrigen richtete, begrüßte mich auch freundlich und wies auf einen Stuhl neben sich.

Ich dankte kurz und blieb stehen. Ich war in der ersten Minute wirklich unfähig, ein Wort hervorzubringen – ich hätte sie mit den Händen packen und fortschleudern mögen wie ein schädliches Tier, und ihre Schönheit hatte jede Macht über mich verloren! Etwas davon mochte wohl in meinen Augen zu lesen sein, als ich so vor ihr stand.

Der General erhob sich, als das Schweigen fortdauerte, verlegen, murmelte etwas von Cigarrenholen und verließ das Zimmer.

Wir beide blieben allein.

Sie trat dicht zu mir heran und sah mir von unten her in die Augen. ,Sie sind böse, weil ich Ihren Freund gestern etwas hart angelassen habe!‘ sagtn sie in ihrem einschmeichelndsten Ton, ,aber was wollen Sie denn? – es ist nicht meine Schuld – es ist mein Schicksal! Ich habe meine Puppen auch immer am dritten Weihnachtsfeiertage in die Ecke geworfen – ich war seiner so überdrüssig, er nahm es so langweilig ernsthaft!‘

Ich sah sie finster und drohend an.

,Ich habe einen Auftrag an Sie,‘ begann ich kurz und herb, ,ich soll Sie in – seinem Namen etwas fragen! Sagen Sie mir einmal: haben Sie sich nie etwas aus ihm gemacht, nie im Ernst?‘ Sie kniff einen Augenblick die Augen zusammen, als besänne sie sich. ,O ja!‘ sagte sie dann ganz unbefangen, ,so im Anfang – er ist ja so sehr hübsch – und auch sehr liebenswürdig – da habe ich ihn wirklich sehr gern gehabt – zwei Tage lang!‘

,Zwei Tage!‘ sagte ich vor mich hin, ,nun, das ist ja schon eine ganze Weile!‘

Der General kam zurück und bot mir eine Cigarre an – ich dankte – ich wartete von Augenblick zu Augenblick, ob nicht eins von den beiden fragen würde: ,Wie geht es ihm denn?‘ Als das aber nicht geschah und sie in den unbefangensten Plauderton verfielen, da berichtete ich kurz und ohne ausschmückende Redensarten, was gestern vorgefallen war – daß er einen schweren Blutsturz gehabt habe und auf den Tod läge, daß sein Leben möglicherweise nur nach Stunden oder Tagen noch zähle.

Der alte Herr – zu seiner Ehre sei es gesagt – wurde blaß und ging ein paarmal hastig im Zimmer auf und ab; er warf einen scheuen Blick auf seine Enkelin, der fast aussah, als fürchtete er sich vor ihr.

Und sie? Sie sagte: ,Ach, das ist ja sehr traurig – das thut mir wirklich sehr leid! Weißt du, Großpapa, da wollen wir doch heute nachmittag lieber einen anderen Weg fahren – nicht am Seeschloß vorbei es könnte den armen Herrn von Senden stören und es bringt einen auch so um die Stimmung!‘

,Sie sind von einer unendlichen Güte und Rücksicht, mein gnädiges Fränlein!‘ sagte ich mit schneidendem Ton und ging meiner Wege.

Als ich eben über die Schwelle getreten war, sagte ich laut vor mich hin – so laut, daß ich erschrak, denn sie mußte es fast gehört haben: ,Und um die!‘ – und damit war dieses Kapitel aus unserer Geschichte beendet.

Sie hatte Allans Straße gekrenzt wie ein Komet, der seinen prachtvollen, feurigen Schweif hinter sich her schleppt – verwüstend, wo seine Bahn geht – und dann weiter ins Blaue des Nachthimmels hineinstürmt, um wo anders wieder zu zerstören – die Natur mag ja auch solche Elemente brauchen – sonst würden sie wohl nicht da sein!

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Nach wenigen Tagen stand die Villa Bella leer – im offenen Wagen fuhren die Bewohner davon, der große gelbe Hund sprang in ungeschickten Sätzen um den Wagen herum, als sie am Seeschloß vorbeifuhren, und Sinaide lachte über ihn wie toll – das ist das letzte, was ich von ihr gesehen und gehört habe.


Allan begann sich inzwischen langsam ein wenig zu erholen – es kam ihm körperlich zu statten, daß er geistig und gemütlich wie gebrochen war, und wiederum machte seine körperliche Schwäche ihn unfähig, sich innerlich zu erregen, er lebte so hin – wenn man das ‚leben‘ nennen darf: er atmete noch, er ließ sich bewegen, Nahrung zu sich zu nehmen – zu schlafen – zu wachen – aber es war wie ein Scheindasein.

Er ging zwischen uns anderen herum wie durch eine unsichtbare Scheidewand von uns getrennt, wie das Schwerkranke so an sich haben, denen das Leben nichts mehr bietet, als daß es eben von Tag zu Tag noch gelebt sein will. Nach und nach wurde es etwas besser – er saß vor der Thür in der warmen Herbstsonne – erst regungslos – stundenlang; dann begann er mit seinem Stock ein wenig im Sande zu kritzeln – das begrüßten wir schon als einen Fortschritt.

[576] Annie war unverändert neben ihm. Die Welt begrenzte sich für sie nach wie vor in seiner Persönlichkeit, sie wollte nichts, erwartete nichts, fürchtete nichts – sie lebte eben nur vom Augenblick und für den Augenblick und war dankbar, daß Allan da war, und daß sie für ihn sorgen und denken durfte.

Er nahm auch das mit seiner todmüden Gleichgültigkeit hin und lohnte es ihr zunächst kaum durch einen Blick.

Als seine Erholung fortschritt – gegen alles Erwarten! – ließ er sich täglich von ihr an den Strand hinunterführen – die Dorfkinder sahen den beiden nach, mit jener scheuen Neugier, die der Sterbenskranke im Lebensfrohen hervorruft.

Ein Stück am Strande abwärts lag seit Jahren ein altes Wrack – halb auf dem Lande, halb in der See – Moos und Tang hatten sich darangesetzt und Seetiere krochen träge und schlüpfrig zwischen den morschen Brettern herum.

Wie oft, wenn ich aus der Praxis kam, sah ich seine gebückte Gestalt sich gegen den blassen Herbsthimmel abzeichnen, immer in derselben Stellung – ich ließ ihn zuerst ruhig dabei, weil ich ‚Gewähren lassen‘ für ihn jetzt als das beste fand.

Als er aber täglich und immer wieder dort, und immer nur dort zu finden war, da ging ich einmal zu ihm hinunter.

Es war ein warmer, klarer Oktobertag von jener wehmütigen Schönheit, wie sie der Spätherbst noch manchmal wie einen Abschiedsgruß an die Welt hat.

Allan lag heute auf einer Felldecke im sonnendurchwärmten Sande. Ich streckte mich neben ihm aus, er nickte mir freundlich und still zu; seine alte, gutherzige Liebenswürdigkeit brach jetzt wieder durch wie ein schwacher Sonnenstrahl.

Wir sprachen zuerst beide lange nicht – dann nahm ich das Wort. ,Warum sitzest du denn immer hier an dem Wrack, mein alter Kerl?‘ frug ich.

Er sah mit seinen müden, traurigen Augen zu mir auf.

,Wir verstehn uns so gut, das Wrack und ich,‘ sagte er, ,viel besser, als ich mich jetzt mit den Menschen verstehe – die wollen alle noch etwas – und hoffen etwas – und leisten etwas – das alles thun wir nicht mehr – das Wrack und ich. Sieh mal, das Schiff hier ist früher auch so mutig, so lustig in die Welt hinausgegangen – und jetzt ist es hier – es kann nicht mehr schwimmen – aber es geht auch nicht unter – manchmal scheint die Sonne darauf – und es liegt da so nutzlos und still – gerade wie ich!‘

Ich schwieg eine ganze Weile, weil ich einfach nicht sprechen konnte. ,Du mußt hier nicht so sitzen und grübeln!‘ sagte ich dann, ‚davon wirst du nicht besser!‘

Er sah ruhig zu mir auf – wie schmal, wie schmal war das Gesicht! ,Ach, Rütgers – das ist ja alles dummes Zeug; ich werde ja überhaupt nicht besser – das weißt du so gut wie ich!‘

‚Das weiß ich gar nicht!‘ sagte ich, ,du kannst, nach meiner Ueberzeugung, ein langes Leben vor dir haben, wenn du jetzt vernünftig bist.‘

Er hob mit einem erschrockenen Ausdruck wie abwehrend beide Hände gegen mich auf.

,Um Gottes willen nicht! Nur das nicht! Ein langes Leben – so ein Leben? Um jeden Atemzug kämpfen – sich einmal ein bißchen erholen – ohne Beruf – ohne Arbeit – jede Thür verschlossen, an die ich klopfe – würdest du mir das wünschen?‘

Wir schwiegen wieder beide eine ganze Zeit.

,Und wenn ich noch um eines Menschen willen da wäre,‘ fuhr er fort, immer im selben träumerischen Ton, der wie aus unerreichbarer Ferne zu klingen schien, ,wenn ich Eltern – Geschwister – irgend jemand hätte! Aber bei alledem noch so einsam – so grenzenlos einsam – keiner, der mich braucht – keiner, der mich entbehren würde – keinem nützlich und keinem nötig! Nein, auch dir nicht – sage nichts! Du würdest es dir und mir gern einreden – aber wenn du heute hörtest, Allan Senden ist – nicht mehr da‘ – er unterdrückte das Wort ‚tot‘! – ‚wenn du das heute hörtest, dann würdest du, bei aller Traurigkeit, dich doch sehr rasch mit dem Gefühl von meinem Namen abwenden: ,Es war das beste für ihn’ – und das wäre es ja auch! – Laß mich heute einmal sprechen,‘ fuhr er hastig fort, als ich etwas entgegnen wollte, ,einmal nur! Wer weiß, ob ich’s noch einmal kann – und was soll es denn schaden?‘

Er starrte eine ganze Weile auf das stille, sonnige Meer, und schwieg. ,Ich will dir etwas erzählen,‘ begann er dann wieder, ,besinnst du dich noch, daß dir in den ersten Tagen, als ich hier war, eine Rauchschwalbe mit zerknicktem Flügel gebracht wurde, die so jämmerlich am Boden kroch? Du sagtest damals: das ist einer unserer wildesten Flieger – den hat die Katze gehabt. Gegen diese Schwalbe warst du so barmherzig und legtest ihr ein Tuch mit Chloroform auf den Kopf – da lag sie so schön still – weißt du noch? Und dann nahmen wir sie mit in ein Boot weit hinaus – und warfen sie ins Meer – der Mond schien gerade so glitzerig darauf, wie sie versank! Rütgers!‘ fuhr er fort, legte mir die Hand auf den Arm und sah mit seinen großen sprechenden Augen zu mir auf, ,hast du nicht dieselbe Barmherzigkeit für mich? Ich krieche auch so mit geknickten Flügeln am Boden – mich hat auch die Katze gehabt – wenn einem Arzt einmal die Möglichkeit geboten wird, jemand so ganz heilen zu können – da sollte er doch nicht so hart sein!

Und jetzt laß mich allein!‘ fuhr er nach ein paar Augenblicken fort, ,jetzt will ich wieder ein bißchen schweigen gehen. Laß mich allein!‘

,Das thue ich nicht!‘ sagte ich rauh, um einer mich erstickenden, überwältigenden Bewegung Herr zu werden, ,du sollst hier nicht so einsam herumsitzen! Stehe auf und komm’ mit mir – ich sage dir, du wirst kräftiger werden und die Lust zum Leben wird wiederkommen – glaube mir doch – hast du mir denn nicht sonst immer geglaubt?‘

Er stand zögernd und widerwillig auf und warf noch einen fast zärtlichen Blick auf das Wrack. ,Bis morgen!‘ sagte er vor sich hin.

Wir gingen langsam, langsam am Strande zurück. Die Ebbe war eingetreten, und im weichen Sande liefen die langen krausen Linien entlang, wie sie die Wellen manchmal zurücklassen. Er blieb stehen und starrte gedankenvoll darauf nieder.

,Siehst du?‘ sagte er, ,hier hat das Meer so in den Sand geschrieben – wer weiß, was das für Geschichten sind – wenn man sie nur lesen könnte! Vielleicht sind sie ebenso traurig wie meine! Und dann wäscht die nächste Flut sie weg – und es ist alles wieder, wie es gewesen ist, und keiner hat die Geschichten gelesen und verstanden!‘


Gegen Abend – kurz, ehe Allan ins Theezimmer kam, was er jetzt wieder öfter thun konnte, suchte ich Frau von Redebusch und Annie auf. Ich erzählte ihnen von meinem Gespräch mit Allan – ich sprach vom hereinbrechenden Herbst mit seinen kürzeren Tagen und rauhen Stürmen – und auch von meiner Ueberzeugung, daß Allan, sobald es sein Zustand irgend gestatte, nach dem Süden gehen und dort für Jahre, vielleicht für immer bleiben müsse – ich hatte es ihm selbst schon gesagt.

,Aber wer soll denn mit ihm gehen?‘ fügte ich sorgenvoll hinzu, ,der arme Junge hat ja keinen Menschen auf der ganzen weiten Welt!‘

Annie hatte am offenen Fenster gesessen und still, still zugehört – ihre helle Gestalt hob sich scharf gegen das Dunkel ab; wir hatten noch kein Licht im Zimmer, und nur der blasse Mond zeichnete das schwarze Fensterkreuz auf den weißen Boden.

Jetzt stand sie auf und trat zwischen die Mutter und mich, sie nahm unsere beiden Hände, und ich wußte in demselben Augenblick, was sie thun wollte und thun würde.

,Ich werde mit ihm gehen!‘ sagte sie klar und fest und entschieden; ,so lange er gesund und glücklich und reich war, konnte ich ihn allein lassen – jetzt kann ich’s nicht mehr!‘

Und als in demselben Augenblick der müde, schleppende Schritt draußen erklang und näher kam – als Allan sachte die Thür aufklinkte und ins Zimmer trat, da ging sie ihm entgegen, so unbeirrt in ihrer reinen Unbefangenheit, als wären wir anderen gar nicht im Zimmer, als wäre sie schon so einsam mit ihm auf der Welt, wie sie’s fortan sein wollte.

,Allan,‘ sagte sie, zog ihn zu seinem Sessel und kniete neben ihm nieder, ,du bist so allein, und wenn du fortgehst, bin ich noch viel mehr allein – darf ich nicht bei dir bleiben?‘

Er schwieg eine ganze lange Weile. ‚Mein Schutzengel!‘ sagte er dann endlich fast unhörbar und ließ den Kopf auf ihre

[577]

Fürst Bismarck an seinem Arbeitstisch in Friedrichsruh.
Aus der neuen „Gedächtnis-Ausgabe“ des Prachtwerkes „Unser Bismarck“ von C. W. Allers und Hans Kraemer.

[578] Schulter sinken, ,was für ein elendes Los suchst du dir aus! Du denkst doch nicht, daß ich dich glücklich machen könnte?‘

Sie strich ihm sanft das weiche helle Haar von der Stirn.

,Als ob es darauf ankäme!‘ sagte sie mit ihrer tapferen jungen Stimme, die nur ein ganz klein wenig zitterte, ,als ob es darauf ankäme! Und was nennst du denn glücklich? Für jeden Menschen hat das Glück ein anderes Gesicht! Glücklich sein heißt für mich, bei dir sein – dir notwendig sein – dir unentbehrlich sein, und werde ich das denn nicht werden, wenn du doch niemand anders hast?‘


Und nicht viele Wochen später stand ich mit Annies Mutter an einem stillen klaren schönen Tag am Strande. Wir sahen beide dem Schiffe nach, welches das eben getraute Paar übers Meer führte – unter eine heißere Sonne, von der wir hoffen durften, daß sie dem gelähmten Falken die Flugkraft wieder beleben werde.

Das Schiff schien am Horizont zu stehen – es wurde kleiner – und verschwand – da führte ich die alte Frau langsam vom Strande zurück in ihr einsames Haus.

,So!‘ sagte ich, ,nun wollen wir beiden Alten uns miteinander trösten und uns auf die Briefe freuen, die wir bekommen werden. Wie gut für mich, daß ich Sie hier habe – ich werde Sie sehr viel beanspruchen, wir haben ja beide ein Stück von unseren Herzen da mit hinaussegeln lassen!‘

,Sie guter treuer Freund!‘ sagte die alte Frau und faßte meine Hand, ,wenn es ein Glück auf Erden oder im Himmel giebt, da muß es Ihnen werden!‘

,Nein,‘ sagte ich mit tiefstem Ernst, ,nein, nicht mir, teuerste Freundin nicht mir! Aber dem tapferen Kinde, das da seiner schweren Aufgabe entgegenzieht, und das Gott segnen möge!‘“



Blätter und Blüten.

Die Trauerfeier in Friedrichsruh. (Zu den Bildern S. 553, 557, 578, 579 und 580.) Die tausendfältige Totenklage, welche der Trauer der Nation um ihren dahingeschiedenen Einiger herzergreifenden Ausdruck gab, hat bei allen Völkern der Erde das lebendigste Echo geweckt. Der Wiederhall von Bismarcks Ruhm erfüllte helltönend das Erdenrund, als abseits im stillen Sachsenwald, in dem schlichten Sterbezimmer zu Friedrichsruh, sein leiblich Teil von liebenden Händen dem Sarge zur ewigen Ruhe überantwortet wurde. In tiefer Stille und im engsten Kreise vollzog sich auch die Trauerfeier am Sarge, die sich nach den letztwilligen Anordnungen des großen Toten streng im Rahmen einer Familienandacht hielt und bei welcher allein das Kaiserpaar das trauernde Reich vertrat.

Das Einliefern der Kränze.
Nach dem Leben gezeichnet von Willy Werner.

Gemäß der Sinnesart des Fürsten, die allem Schaugepränge zeitlebens abhold war, gemäß auch jener Stimmung seines Gemüts, die ihn in den acht Jahren seit seinem Rücktritt zum „Einsiedler von Friedrichsruh“ werden ließ, hatte er die Bestimmungen für sein Begräbnis getroffen. Vor allem aber war er dabei von dem Wunsche geleitet worden, mit seiner innig geliebten, ihm im Tode vorangegangenen Frau dieselbe Ruhestätte zu teilen. Als ihm am 27. November 1894 zu Varzin der Tod die treue Lebensgefährtin raubte – ein Verlust, den er niemals verwinden konnte –, da ließ er deren Sarg in einem zur Kapelle hergerichteten Gartenhäuschen im Park von Varzin beisetzen mit der Bestimmung, daß nach seinem Tod ein gemeinsames Mausoleum diesen Sarg und den seinen umschließen solle. Damals hatte er für die Errichtung des Mausoleums den Park von Schönbausen ins Auge gefaßt; inzwischen wählte er dafür einen Platz in der Nähe des Herrenhauses von Friedrichsruh: die diesem gerade gegenüber liegende waldumsäumte Anhöhe, auf welcher die prächtige Hirschgruppe Aufstellung gefunden hat, die als Geschenk von Anhaltiner Verehrern zum achtzigsten Geburtstag des Altreichskanzlers nach Friedrichsruh gestiftet worden war. „Hier ist’s wohl paßlicher,“ meinte er, „denn in Schönhausen bin ich doch eigentlich schon lange ein Fremder.“ Auch seine Grabinschrift hat der letzte Wille des Entschlafenen festgestellt, in Worten von lapidarer Einfachheit, die ein ergreifendes Bekenntnis bergen; sie lauten: „Fürst Bismarck, geboren 1. April 1815, gestorben .…., ein treuer deutscher Diener Kaiser Wilhelms des Ersten.“

In pietetvoller Erfüllung der Wünsche ihres heißgeliebten Oberhauptes hat die Familie sich an seine Anordnungen gehalten. Als in der Nacht vom 30. Juli der Tod für immer die mächtigen Augen geschlossen hatte, deren leuchtender Glanz im Leben Unzähligen Quell der Begeisterung war, als der treue Leibarzt Schweninger, der das kostbare Leben des großen Kanzlers der Nation so lange zu erhalten wußte, die furchtbare Gewißheit seines Hinscheidens festgestellt hatte, da wurden von Bismarcks ältestem Sohn, dem nunmehrigen Fürsten Herbert, sogleich die erforderlichen Schritte gethan, um die Ruhe des Toten vor jeder Störung zu bewahren. Forstbeamte von Friedrichsruh hielten abwechselnd am Sterbebette die Totenwacht, bis sie am 1. August von den Halberstädter Seydlitzkürassieren abgelöst wurden, welche auf Befehl des Kaisers zum Ehrendienst am Sarge ihres verstorbenen Chefs erschienen. Nur wenigen bewährten Freunden des Hauses, darunter dem Maler Franz Lenbach, der uns die Heldenzüge des Lebenden in immer neuer Auffassung so wunderbar lebensvoll dargestellt hat, und einzelnen Würdenträgern, war es vergönnt, das Antlitz des Toten zu schauen, dessen Anblick um so ergreifender wirkte, als ein täuschender Schein des Lebens seinen milden Ausdruck verklärte. Fürst Hohenlohe, der am Abend des 1. August aus Berlin eintraf, um dem von ihm so hoch verehrten Vorgänger zu huldigen, wurde Zeuge der Verlötung des Sarges, welche der Einwirkung der Luft auf die durch Geheimrat Schweninger und Dr. Chrysander einbalsamierte Leiche vorbeugen sollte.

Erst am dritten Tage nach Fürst Bismarcks Tode konnte Kaiser Wilhelm II in Friedrichsruh eintreffen. Als er die Nachricht von dem welterschütternden Ereignis empfing, befand er sich auf seiner Nordlandreise im Hafen von Bergen. Die Flagge der „Hohenzollern“ wurde sofort auf Halbstock gesenkt und der Befehl zu schleuniger Rückkehr gegeben. Unter dem Ausdrucke seiner tiefen Ergriffenheit eröffnete der Kaiser dem Fürsten Herbert telegraphisch, daß er beabsichtige, dem großen Toten im Dome zu Berlin an der Seite seiner Vorfahren die letzte Stätte zu bereiten. Gleichzeitig ließ er an das Reichsministerium des Innern die Weisung ergehen, eine große Trauerfeier auf dem Berliner Königsplatz ins Werk zu setzen, für welche auf dem Mittelrund der Auffahrt des Reichstagsgebäudes ein großer Katafalk hergerichtet werden sollte. Gegenüber den letztwilligen Verfügungen des Fürsten war dieser Plan, den großen Helden der Nation öffentlich im [579] Tode zu ehren, nicht auszuführen. Die Beisetzung des Sarges in dem noch zu erbauenden Mausoleum wird zu einer nationalen Totenfeier in den vom Entschlafenen gewünschten einfachen Formen wohl in einigen Wochen Gelegenheit geben. Der Kaiser beschränkte sich jetzt auf die Veranstaltung der kirchlichen Totenfeier, die am 4. August in der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin unter Anwesenheit des Kaiserpaares, der Prinzen des königlichen Hauses, der Vertreter der Bundesregierungen, der höchsten Würdenträger des Reichs- und Staatsdienstes, der Geistlichkeit, der Armee und der Flotte, und der Delegierten des Reichstages, des preußischen Landtages und der städtischen Behörden stattgefunden hat. Vorher aber eilte der Kaiser nach seiner Ankunft in Kiel, wo er die Kaiserin traf, mit dieser am Nachmittag des 2. August nach Friedrichsruh, um an der Trauerfeier der Familie am Sarge des Fürsten teilzunehmen. Dieselbe bestand in einer Ansprache des in Friedrichsruh zuständigen Geistlichen des Dorfes Brunstorf, Pastor Westphal, welcher der gemeinsame Gesang von Chorälen vorausging und nachfolgte. Der schlichte Raum, der dem Verstorbenen bis zum Tod als Schlafzimmer gedient hatte, war im Laufe des Tages schwarz ausgeschlagen worden. Der Sarg stand ungefähr an derselben Stelle, wo das eichene Bett des Fürsten gestanden hat, in dem er seinen letzten Atemzug that. Eine kleine Gruppe von Koniferen, Buchsbaum und Lorbeer umschloß das Kopfende des auf einem Katafalk ruhenden Sarges. Zwei kunstvolle zwölfarmige silberne Leuchter erhoben sich zu Häupten desselben, zu Füßen brannten zwei mächtige Altarkerzen, deren rötlichgelbe Färbung gegen das blendende Weiß der Stearinlichter auf den Leuchtern in dem nach außen verhangenen Raum merkwürdig abstach. Vier große Kränze bedeckten den Sarg, die von Angehörigen der Familie stammten; unterhalb des Sarges hatte der Kranz eine Stelle gefunden, welchen Fürst Hohenlohe überbracht hatte. Nach dem Betreten des Raumes legte der Kaiser den von ihm mitgebrachten Kranz nieder.

Trotzdem die Kunde von der strengen Absperrung der Todesstätte sich schnell verbreitet hatte, war das stille Friedrichsruh während dieser Trauertage zum Wallfahrtsort für viele Tausende geworden. Nicht bloß aus der näheren Umgebung und Hamburg – auch aus weiter Ferne waren sie gekommen, um ihre Blumenspenden für den Sarg persönlich zu überbringen. Unser Bild auf S. 553 stellt die Ansammlung derjenigen dar, die am Sonntag Morgen unter dem ersten Eindruck der Todesnachricht vors Schloß gekommen waren. Bereits am Sonntag Mittag hatte die sofort verfügte Absperrung des Hauses für das größere Publikum einen militärischen Charakter erhalten; hinter dem Gitterthor, durch das bei den regelmäßigen Spazierfahrten des Kanzlers der Austritt des fürstlichen Wagens erfolgte, stand ein Doppelposten der vom Altonaer Infanterieregiment Nr. 31 eingetroffenen Ehrenkompagnie, während vor dem Eingang ins Schloß später Seydlitzkürassiere Wache hielten. Von den Vorgängen im Innern drang kein Laut zu der harrenden Menge, die in ernster würdiger Haltung nicht müde wurde, vor dem Portal zu stehen. Die untenstehende Abbildung zeigt uns nach einer Augenblicksaufnahme Gruppen von Leidtragenden vor dem Schloßpark, in der Mitte, sich mit mehreren ihm bekannten Herren unterhaltend, Bismarcks berühmtesten Maler, Lenbach, der sofort nach Empfang der Trauernachricht aus München herbeigeeilt war. Auch die gegenüberliegenden Höhen jenseit der Bahn waren am Tage der Trauerfeier, am 2. August, dicht besetzt.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0579.jpg

Vor dem Schloßpark in Friedrichsruh.
Nach einer photographischen Aufnahme von Hans Breuer in Hamburg.
( gemeinfrei ab 2032)

Schon am Sonntag trafen ganze Wagenladungen von Kränzen und Sträußen mit der Eisenbahn ein, und mit jedem Tage wuchs dieser Blumenflor, der bald alle Zimmer, die zu dem düsteren Sterbegemach führten, mit Duft und Farbenglanz füllte. Prachtvolle Aufbauten der Blumenbindekunst, riesengroße Kränze aus Lorbeer und Eichenlaub, an Rosen und Orchideen das Kostbarste, was die Zucht unserer Gärtner hervorbringt, Edelweiß, Gentianen und Alpenrosen aus Deutschlands Hochgebirgen, prangten neben schlichten Immortellenkränzen, welche die Liebe und Anhänglichkeit von ländlichen Bewohnern des Sachsenwaldes an den Gutsherrn zum Ausdruck brachten. Unter den Absendern war jeder Rang und Stand vertreten: in hohem Maße beteiligten sich die Deutschen im Ausland an diesen Liebesbeweisen. Als das Schloß keinen Raum mehr zur Aufnahme bot, erfolgte die weitere Aufstellung auf der großen Rasenfläche vor dem Schloßeingang im Park, deren Grün sich schnell in einen prachtvollen Blumenteppich umwandelte. Dann ging man daran, das Schloß selbst mit einer Art Blumenhecke zu umziehen, indem die weiter eintreffenden Kränze und Palmenzweige rings an die Hauswand gelehnt wurden. Unser Bild auf S. 557 versetzt uns inmitten dieses Liebeswerkes unter den gewaltigen Linden, die den Platz überschatten. Der Duft all dieser Blumen und Zweige umquoll wie eine Wolke von Opferrauch die Stätte des Todes, ein Liebesopfer der deutschen Nation, dargebracht dem teuren Helden, der sie zum Reiche geeint und zu Macht und Ansehen emporgeführt hat.

„Requiem.“ (Zu dem Bilde S. 549.) Ein Sinnbild der Totenklage hat Gabriel Max in der Frauengestalt geschaffen, welcher er die Bezeichnung „Requiem“ gegeben hat. Großartige Werke der Kirchenmusik führen denselben Namen, Werke, in denen viele der bedeutendsten Komponisten die Motive und die Gliederung der katholischen Seelen- und Totenmesse machtvoll ausgestaltet haben zu den ergreifendsten Wirkungen. Der Name stammt von den Anfangsworten der Messe: „Requiem aeternam dona eis“ („Die ewige Ruhe gieb ihnen“); Palestrina, Haydn, Mozart und Cherubini, Schumann, Lachner, Verdi und Brahms haben die herrlichsten dieser Tonwerke geschaffen. Den Genius dieser Trauermusik hat Gabriel Max darstellen wollen. Die gewaltige Kirchenkerze mit dem wallenden Trauerflor, welche die Gestalt in der Rechten trägt, ist dafür ein bezeichnendes Attribut.

Die deutsche Studentenschaft bei Bismarck in Kissingen 1890. (Zu dem Bilde S. 573.) Unter den großartigen Huldigungen, welche [580] dem „Altreichskanzler“ im Sommer 1890 aus allen Kreisen der Nation dargebracht wurden, war diejenige der deutschen Studenten am 10. August vom feurigen Enthusiasmus begeisterter Jugend getragen. Dem in Kissingen zur Kur weilenden Fürsten wurde an diesem Tage von einer zahlreichen Abordnung der Studentenschaft fast aller deutschen Universitäten ein Ehrenhumpen festlich überreicht. Fahnen wehten, Schläger blinkten, donnernder Jubel brauste ihm entgegen, als er zum Danke unter die Versammelten trat. Es war ein ergreifender Anblick, die hochaufgerichtete Gestalt des eisernen Kanzlers inmitten der Vertreter von Deutschlands studierender Jugend zu sehen, und ergreifend waren auch die Worte, in denen der Fürst die Bedeutung des historischen Momentes zusammenfaßte. „Wir gehören zwei verschiedenen geschichtlichen Generationen an,“ sagte er, „ich derjenigen Kaiser Wilhelms I, der kämpfenden, erwerbenden, erbauenden, die im Abscheiden begriffen ist. Ihnen gehört die Zukunft, an deren politischer Gestaltung Sie in Amt und Würden, auf der Kanzel, im Parlament oder wenigstens als Wähler mitzuwirken berufen sind.“ Er warf einen Rückblick auf die schweren Kämpfe, unter denen der nationale Einheitsgedanke des deutschen Volks zur Verwirklichung kam, und feierte die deutschen Universitäten als die Träger dieses Gedankens schon zu einer Zeit, als an eine politische Verwirklichung desselben noch nicht zu denken war. Dann rief er die heutige Generation deutscher Studenten auf, die ihnen überlieferte Verfassung des Reichs als heiliges Vermächtnis zu hüten. Er schloß mit der Mahnung „an die Träger des nationalen Gedankens auf den deutschen Hochschulen, die den prometheischen Funken des Nationalgefühls auf die künftigen Geschlechter übertragen“, sich daran zu gewöhnen, in jedem Deutschen zuerst den Landsmann, nicht den politischen Gegner zu sehen. Dann trank er unter jubelndem Zuruf aus dem kostbaren Humpen auf das Wohl der deutschen Hochschulen, auf das Wohl der studierenden Jugend.

Der bedeutsame Vorgang ist damals von C. W. Allers auf dem Bilde festgehalten worden, das wir auf S. 573 wiedergeben. Er zeichnete es für das Prachtwerk „Unser Bismarck“, dem wir auch das meisterhafte Porträt auf S. 577 entnehmen, welches den Altreichskanzler an seinem Arbeitstisch in Friedrichsruh darstellt. Das Werk „Unser Bismarck“ von C. W. Allers und Hans Kraemer bildet in seinem Reichtum an unmittelbar nach dem Leben gezeichneten Bildern von wahrhaft künstlerischem Wert ein bleibendes Denkmal des eisernen Kanzlers, das ihn in unmittelbarster Natürlichkeit darstellt. Die soeben veranstaltete wohlfeile „Gedächtnis-Ausgabe“ in Lieferungen wird dem Werk gewiß zu der volkstümlichen Verbreitung verhelfen, die es in vollem Maße verdient.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0580.jpg

Die Hirschgruppe im Park von Friedrichsruh.
Nach einer photographischen Aufnahme von Hans Breuer in Hamburg.
( gemeinfrei ab 2032)

Elektrische Kirchenglocken. Die Technik der Glockengießerei hat sich neuerdings sehr gehoben, zumal seit die Herstellung großer und weittragender Glocken von vorzüglichem Wohlklang aus Gußstahl gelungen ist und besonders in Bochum gepflegt wird. So sind im Verlaufe der letzten Jahre mehrere Kirchen in den Besitz von Glocken gelangt, die an Größe und Stimme den Vergleich mit den berühmtesten Erzglocken der Vergangenheit nicht zu scheuen haben. Die größte Glocke der neu erbauten Georgenkirche in Berlin hat eine Höhe von fast 3 m, während ihr Umfang noch etwas größer als 8½ m am Rande ist. Das Gesamtgewicht der drei Glocken dieses Geläutes beträgt über 350 Zentner, und ebenso schwer sind die drei größten Glocken des fünfstimmigen Geläutes der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche. Solche Stahl- oder Bronzekolosse von 150 bis 200 Zentner Gewicht in Bewegung zu setzen, erfordert indes bei der älteren Methode des Läutens durch menschliche Kraft ebensoviel Geschicklichkeit als Aufwand an Personen. Jede große Kirchenglocke verlangt zu ihrer Bethätigung eine Kraft von 5 bis 6 Männern, das Geläut der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche soll 22 Mann erfordern, und als zum erstenmal bei der Neueinweihung des Kölner Domes die große Kaiserglocke geläutet wurde, waren dazu 45 Soldaten nötig. – Um diese Arbeit des Glockenläutens zu erleichtern, ist neuerdings ein zum erstenmal bei den Glocken der Georgenkirche in Berlin angewandtes elektrisches Läutewerk durch das Zusammenwirken des Bochumer Gußstahlvereins und der Firma Siemens u. Halske konstruiert worden. Auf einer Welle sind so viele Seilscheiben, als Glocken vorhanden sind, lose befestigt oder mit ihrem Centrum aufgesteckt. Jede Seilscheibe trägt an ihrem Umfang befestigt ein Seil, dessen anderes Ende mit dem Schwingungshebel der Glocke in Verbindung steht. Ein zehnpferdiger Elektromotor setzt diese Welle mit ihren Scheiben in rasche Umdrehung. Dadurch werden gleichzeitig die Glocken, und zwar anfänglich nur leicht, dann immer stärker in Schwingung gebracht. Zur Ingangsetzung der drei Glocken der Georgenkirche in Berlin bedarf es nur 1½ Minuten. Bw.     

Ist Feueranzünden beim Gewitter nützlich ober schädlich? In manchen Gegenden herrscht der Brauch, beim Herannahen schwerer Gewitter kräftige, und namentlich stark rauchende Feuer anzuzünden, weil durch den Rauch die Blitzgefahr verringert werde; in andern hingegen löscht man sorgfältig jedes Feuer, weil Feuer und Rauch den Blitz anziehen sollen. Welche von beiden Ansichten hat nun recht, oder hat weder die eine noch die andere etwas für sich und beruhen sie beide auf einem Aberglauben?

Wie jetzt im „Archiv für Post und Telegraphie“ mitgeteilt wird, ist das letztere keineswegs der Fall, vielmehr ist die erste Ansicht die richtige. Rauch und Verbrennungsgase schwächen thatsächlich den Leitungswiderstand der Luft. Das läßt sich durch einen einfachen Versuch beweisen.

Elektrisiert man nämlich zwei Holundermarkkügelchen derartig, daß sie sich gegenseitig abstoßen, so genügt es, um sie zum Zusammenfallen zu bringen, daß man in ihrer Nähe, und zwar am besten etwas unterhalb, ein kleines Stückchen Holz zum Brennen bringt. Die aufsteigenden Verbrennungsgase nehmen der Luft ihr isolierendes Vermögen, die Spannung zwischen den beiden Kugeln hört auf, sie fallen zusammen. Da nun aber Blitzschlag eben nur da möglich ist, wo zwischen zwei Punkten in der Atmosphäre eine große Spannung herrscht, so folgt, daß durch aufsteigenden Rauch und Verbrennungsgase die Blitzgefahr vermindert und ein langsamer aber friedlicher Ausgleich bewirkt wird.

Doch nicht allein die Wissenschaft beweist die Richtigkeit dieser Behauptung, sondern auch die Statistik. Denn während nach dieser in ebenen Gegenden von 1000 Kirchen 6,3 und von ebensoviel Windmühlen 8,5 vom Blitz getroffen wurden, kamen auf 1000 Fabrikschornsteine nur 0,3 Blitzschläge. Dr. –dt.     

Bitte um Fahrstühle. An den herrlichen Sommertagen, welche das goldene Sonnenlicht durchflutet, wen lockte es da nicht hinaus aus enger Stubenhaft! Auch unsere Leser werden in ihrer freien Zeit durch Gottes schöne Natur streifen, die Auge und Herz mit ihren Wundern erfreut. Und wer nicht gut zu Fuße ist, der läßt sich hinausfahren durch die duftenden Wiesen, in den lauschigen Wald, um Körper und Geist zu erquicken. Aber es giebt auch Menschen, denen es nicht so wohl wird. Das sind die unglücklichen Kranken, die nicht gehen und ihrer Armut wegen auch nicht fahren können, die Sommer und Winter, jahrein jahraus in der verdorbenen Luft ihres niedrigen Stübchens Schmerzen und Sorgen ohne Aussicht auf Besserung geduldig ertragen müssen. Und doch könnte ihnen das Dasein freundlicher gestaltet, ihr Leiden gelindert werden, wenn gute mitleidige Menschen sich ihrer erbarmen und ihnen helfen wollten! In manchem Hause, auf manchem Boden steht ein Fahrstuhl unbenutzt herum, dessen Besitz diesen Armen den Genuß der frischen Luft ermöglichen und dadurch zur Erleichterung ihres traurigen Loses und zur Besserung und Heilung ihres Gesundheitszustandes beitragen würde. Jeder, der schon einmal durch Krankheit am Gebrauch seiner Glieder behindert war und der Wohlthat, einen Fahrstuhl zu besitzen, teilhaftig geworden ist, sollte sich dessen dankbar erinnern und mit dem nun entbehrlichen Fahrzeug einen dieser unglücklichen Kranken beglücken!

Wir haben in den vergangenen Jahren wiederholt um Ueberlassung solcher unbenutzt stehender Fahrstühle gebeten, und unsere Bitte ist niemals ungehört verhallt. Dank der Opferfreudigkeit unserer Leser ist schon manchem dieser schwergeprüften Leidenden geholfen worden. Dankschreiben, deren rührender Ton tief zu Herzen geht, zeugen davon, welchen Segen, welches Glück die edlen Geber mit ihrem Geschenke ausgestreut haben. Aber noch giebt es viele, deren Sehnsucht nach frischer freier Luft bislang nicht gestillt werden konnte, weil es an den nötigen Fahrstühlen fehlte. Und darum erneuern wir heute unsere innige Bitte an alle Leser und Freunde der „Gartenlaube“, an dem segensreichen Liebeswerk auch fürder teilzunehmen. Anerbietungen von gebrauchten, aber noch brauchbaren Fahrstühlen und Geldspenden zur Anschaffung solcher werden von uns jederzeit mit herzlichem Danke entgegengenommen. Die Redaktion.     


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.


Kurländische Theekannendecke. Statt der auf vielen Kaffee- und Theetischen eingebürgerten sogenannten „Kaffeemütze“ findet man in Rußland und den Ostseeprovinzen nicht selten die Kannendecke. Inwendig ist die Decke mit starkem weißen Leder gefüttert, das den Strapazen des täglichen Gebrauches gut widersteht; die Oberseite aus farbiger Seide oder feinem Tuch zeigt irgend ein zum Porzellan passendes Muster in Plattstich ausgeführt.

Kurländische Theekannendecke.

Die Decke ist im Quadrat ungefähr 45 cm groß; an den vier Ecken werden Quasten aus Seide oder Goldfäden angenäht, in welche man kleine Bleistückchen verbirgt, um durch deren Gewicht die Decke straff über die Kanne herabzuziehen. H. R.     

Untersetzer in Linoleumgravierarbeit.

Untersetzer in Linoleumgravierarbeit. Ein Reststück Linoleum, das jedoch einfarbig sein muß, wird mit einem einfachen Linienmuster, wie auf beistehender Abbildung, versehen und dieses mit einem Zierbohrer oder Rilleisen ausgehoben. Die so entstehenden Rillen lassen sich durch Einmalen von Bronzefarbe oder von Siccativöl, das man mit Blattmetall belegt, noch sehr wirksam hervorheben, und solche Arbeiten bilden stets brauchbare, wenig Zeit raubende Geschenkartikel. Um die Aufzeichnung deutlicher sehen zu können, reibt man ein Stück Papier erst mit Seife, dann mit Kreide ein und benutzt dasselbe zum Durchpausen.

Indische Perlmutterintarsien. Es ist bekannt, daß die Orientalen bei ihren kunstgewerblichen Arbeiten besonders auch für einen zauberhaften Farbeneffekt begeistert sind und nach dieser Richtung hin oft mit einfachen Mitteln oder doch auf einfache Weise große Wirkungen erreichen. Namentlich die mit Elfenbeinplättchen, Perlmutterstücken, Metallen etc. eingelegten orientalischen Möbel besitzen einen wunderbaren Reiz und werden teuer bezahlt, obwohl die Art ihrer Herstellung sehr wohl fast jedem Dilettanten möglich ist und natürlich dann viel wohlfeiler zu stehen kommt. Hauptsächlich kommen für derartige Dekorationen Tischplatten, Kästen aller Art, Truhen, Rahmen, Einlagen in allerhand Gegenstände, Füllungen für Möbel, Paneele etc. in Betracht. Was das Material zu den indischen Perlmutterintarsien anbelangt, so unterscheidet man dünne und dicke Perlmuttereinlagen, je nach der Muschelsorte, welche man zur Verwendung bringt. Im Handel befinden sich verschiedene Sorten, die ausgezeichnet für den vorliegenden Zweck geeignet sind. Die sogenannte Awabiperlmutter ist ganz dünn, wird darum auch kaum eingelegt, sondern meist aufgeleimt.

Sie schillert prächtig in allen Farbentönen, muß aber ihrer Feinheit wegen stets einen sehr dunklen Untergrund haben oder aber auf der Rückseite mit Asphaltlack, der zugleich als Klebemittel dienen kann, geschwärzt werden, wenn das Licht in voller Schönheit reflektiert werden soll. Ebenso schön in der Farbe ist die etwa 1/2 mm dicke Goldfischperlmutter und die polierte Burgosperlmutter, nur treten bei letzterer die Farben nicht wolkig auf wie bei den anderen Arten, sondern mehr strichweise. Schließlich giebt es auch weiße Perlmutter von etwa 1 mm Stärke. Billiger als die echten Perlmutterarten ist die imitierte Perlmutter und imitierte Irismuschel. Für etwa 2 bis 3 Mark bekommt man eine Tafel von 13X14 cm Größe, so daß man damit große Figuren aus einem Stück einlegen kann. Die Ausführung der Arbeit selbst beruht nun einmal auf dem Zuschneiden der einzulegenden Figuren und Musterteile, wozu entweder eine Schere oder eine Laubsäge genommen wird, zum anderen auf dem Ausgründen der betreffenden Holzfläche und schließlich auf dem Einlegen der Perlmutterteile in die ausgegründeten Stellen. Das Ausgründen darf nur gleichmäßig flach geschehen, damit später die Perlmutter nicht zu tief liegt, aber auch nicht über die Fläche hervortritt. Selbstverständlich muß die ausgegründete Stelle genau so groß sein wie die entsprechende Perlmutterfigur – die übrigens auch aus kleinen Teilen zusammengesetzt sein kann –, man muß also die einzelnen Musterteile auch auf Holzfläche zuvor aufzeichnen. Um scharfe Konturen zu erzielen, sticht man dieselben mit einem schmalen Balleisen senkrecht etwas vor und hebt dann die Innenfläche mit einem gebogenen Schnitzeisen recht gleichmäßig durch hobelnde Bewegungen heraus. Das Befestigen der Perlmutterstücke geschieht mit Syndetikon oder Fischleim. Soll der Gegenstand gebeizt oder poliert sein, so hat dies vor dem Ausgründen und Einlegen zu geschehen.

Gehäkelte Spitze.

Gehäkelte Spitze. Das zierliche Spitzchen eignet sich besonders gut zur Ausstattung von Kinderwäsche. Die einfache Häkelarbeit schließt sich in zwei Touren der Zackenlitze an. 1. Tour: 2 zusammen abzumaschende Stäbchenmaschen, die je eine Zackenspitze erfassen und 5 Luftmaschen in steter Wiederholung. – 2. Tour: Abwechselnd Stäbchenmasche in jede zweite Masche der vorigen Tour und 1 Luftmasche.

Auffrischung von Strohhüten. Wohl manche junge Dame wird gegen Ende der Sommersaison bemerkt haben, daß ihr moderner Strohhut, der in zarten Farben: rosa, lila, silbergrau etc. prangte, ganz gelb von der Sonne gebrannt wurde und recht häßlich aussieht. Noch sind es aber beinahe zwei Monate, in denen sie ihn tragen möchte – was thun? Jedenfalls statt einen neuen zu kaufen, soll sie ihn mit einem leichten Anstrich von Oelfarbe noch retten! Um ein schönes Hellgrau herzustellen, nimmt man Elfenbeinschwarz und ziemlich viel Kremserweiß und trägt die Farbe sehr dünn auf (mit etwas Siccativ vermischt trocknet sie schneller), verreibt mit dem Borstpinsel die Farbe in alle Vertiefungen des Geflechts und kann nach dem Trocknenlassen den Hut wieder in seiner früheren Farbe tragen. Wenn man vorsichtig verfährt, braucht man die Garnierung nicht zu entfernen. Selbstverständlich kann man auch jede andere Farbe durch eine ähnliche Mischung des Grundtons mit Weiß erneuern.


-- 0 Hauswirtschaftliches. --

Der Verschluß der Einmachegläser verursacht unseren Hausfrauen viel Mühe und Kopfzerbrechen; einen sehr einfachen und sicheren Verschluß, bequemer als das Zubinden mit Blasen oder Pergamenpapier, können wir aus langjähriger Erfahrung empfehlen. Man wählt Gläser mit nicht zu weiter Oeffnung, schwefelt sie und füllt das Kompott oder die Marmelade heiß ein, und zwar so, daß im Glase etwa 6 bis 8 cm freier Raum darüber bleibt, wischt mit einem reinen Tuch das Glas oben herum fest und trocken aus und preßt dann einen dicken Bausch chemisch reiner Watte in den Hals des Glases, aber ohne erst einen Pfropfen daraus zu drehen. Die Watte darf die Flüssigkeit nicht berühren, da sie sich sonst damit vollsaugt. Marmeladen, die leicht schimmeln, halten sich unter solchem Verschluß oft mehrere Jahre lang.

Tomaten als hübsches Abendgericht Die roten Liebesäpfel, die jetzt zu immer billigeren Preisen auf den Markt gebracht werden, können den Hausfrauen Gelegenheit geben, das folgende äußerst wohlschmeckende und hübsch ausschauende Gericht zu erproben. Man achtet darauf, daß die Tomaten reif, aber noch fest sind und auch eine ziemliche Größe haben. Dann schneidet man sie, nachdem man sie gut gewaschen hat, mitten quer durch und entfernt den weichen Inhalt so rein wie möglich. Von Resten gekochten Hummers nimmt man das Fleisch und schneidet es in kleine Würfel, bereitet nun eine recht dicke Mayonnaise und füllt hiermit die ausgehöhlten Tomaten. In jede Tomate schiebt man darauf einige Hummerwürfel, streut obenauf wenig gewiegten Schnittlauch und richtet die gefüllten Tomaten auf grünen Salatblättchen an. Wenn man keinen Hummer hat, kann man auch frisch ausgeschälte Garneelen in die Mayonnaise legen. – Das ausgehöhlte Fleisch der Tomaten ist zur Bereitung einer einfachen Suppe sehr gut zu benutzen.

Watteverschluß für Einmachegläser.

Man thut es mit einigen trockenen Schinkenresten und einer gehackten Zwiebel in etwas zerlassene Butter, schwitzt es darin durch, füllt 1 bis 2 l kochendes Wasser, je nach der Fruchtfleischmenge darauf, salzt die Brühe und kocht alles 20 Minuten. Man streicht die Brühe durch, verdickt sie mit braunem Buttermehl, daß man eine sämige Suppe erhält, giebt 10 bis 15 g Liebigs Fleischextrakt daran und eine große Messerspitze weißen Pfeffer, kocht die Suppe auf und giebt sie über verlorene Eier. – Noch einfacher kann man die Suppe bereiten, wenn man in der Tomatenbrühe gleich 49 bis 60 g Reis weich kocht und sie mit diesem durchstreicht. Ein Bindemittel ist alsdann nicht mehr nötig. Diese letzte Zubereitung ist jedoch weniger wohlschmeckend. L. H.     

Pilzsuppe aus großen Pilzen. Größere Pilze, wie Steinpilze, Champignons oder Pfifferlinge, die ihrer Größe wegen weder zum Einmachen noch zu frischem Gemüse zu gebrauchen sind, verwendet man vorteilhaft zu einer trefflichen Suppe. Man achtet nur darauf, daß die Pilze nicht zerfressen sind, was gerade bei großen Exemplaren, die äußerlich tadellos aussehen, oft der Fall ist, putzt die Pilze gut, wäscht sie und hackt sie dann gröblich. Man nimmt für 6 Teller Suppe einen glatten Teller voll gehackter Pilze und thut sie in 70 g zerlassene Butter, giebt Salz, einen Theelöffel gehackte Petersilie und eine Messerspitze weißen Pfeffer daran und dünstet die Pilze in der Butter zehn Minuten. Dann gießt man 11/2 l leichte Fleischbrühe daran und kocht die Suppe noch eine Viertelstunde. Man bereitet in dieser Zeit eine braune Mehlschwitze, giebt sie an die Suppe, fügt eine große Messerspitze Fleischextrakt daran und zieht sie nun noch mit einem verquirlten Eigelb ab. Sie wird sofort angerichtet mit mit gerösteten Semmelbröckchen zu Tisch gegeben. He.     

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Allerlei Kurzweil.


Kombinationsaufgabe.
Von Heinrich Vogt.

Die Buchstaben der obigen Figur ergeben, richtig verbunden, eine Sentenz aus Schillers „Wallenstein“. Wie lautet dieselbe?

Rösselsprung. Von Oskar Leede.


Charade.

Die erste Silbe ist nicht klein,
Das läßt sich nicht verhehlen,
Doch kann sie auch sehr dienstbar sein
Als Abschnitt dir beim Zählen.

Gern an den letzten beiden wir
Im Sommer uns erquicken,
Im Garten wie im Waldrevier
Kannst du sie da erblicken.

Beim Ganzen brach in heißer Schlacht
(Laß dir’s von Klio melden)
Einst eines welschen Feldherrn Macht
Am Mute deutscher Helden.
 Oscar Leede.


Leistenrätsel.

Die Buchstaben lassen sich so ordnen, daß die wagerechten und auch die senkrechten Reihen bekannte Wörter von folgender Bedeutung ergeben: a. wagerecht: 1. ein französischer Staatsmann im 17. Jahrhundert, 2. ein italienischer Dichter, 3. eine Stadt an der Nordküste von Südamerika; b. senkrecht: 1. ein Kap in Südeuropa, 2. ein hoher Beamter, 3. ein Musikinstrument. A. St.     


Scherzrätsel.

Wer ist die Mitte in berühmtem Namen –
Wer kennt zur Mitte wohl den Rahmen?  E. S.


Auflösung der Damespielaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 17.

1. a 5 – b 6 0   a 7 – c 5 +
2. D f 8 – b 4! +  0 D c 3 - a 5 +
3. g 7 – f 8 D   e 5 – g 7 +
4. D f 8 – b 6! + + + 0 D a 5 – c 7 +
5. D b 8 – c 1- + + + 0 d 8 – c 7
6. D c 1 – b 2 und gewinnt.

Nach 5. .... d 8 – e 7 oder h 8 – g 7 gewinnt einfach 6. D c 1 – f 4.


Auflösung des Silbenrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 17.

Rose, Marine, Rosmarin.


Auflösung des Bilderrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 17.

„Die Nadel in Ehren,
Sie muß viele ernähren.“


Auflösung der Verschiebungsaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 17.

00TRISTANUNDISOLDE
0ORPHEUSUNDEURYDIKE
000000DIEAFRIKANERIN
00000DIELUSTIGENWEIBERVON WINDSOR
0000000HEINRICHDERLOEWE
0000JOHANNVONPARIS
DIEENTFUEHRUNGAUSDEMSERAIL
0000000000ABUHASSAN
0000000000MARGARETHE
00000000000DERWIDERSPENSTIGENZAEHMUNG
000000000VIOLETTA
00000000ZARUNDZIMMERMANN
000000000DERLIEBESTRANK


  „Der Troubadour“ – „Die weisse Dame“.


Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 17. 0 Wien.



[ Verlags- und Produktwerbung. Hier nicht dargestellt. ]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Auf Stimmweite.