Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[117]

Nr. 8.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Trotzige Herzen.
Roman von W. Heimburg.

(7. Fortsetzung) Im Mayschen Hause war es am Tage nach der aufgehobenen Verlobung Aennes, als läge ein Toter darin. Die Rätin ging umher mit dick verweinten, aber zornsprühenden Augen, sie erklärte ihrem Manne und jedem, der es hören wollte, diese Geschichte bringe sie noch untern Boden! Eine zurückgegangene Verlobung war nach ihrer Ansicht etwas Schmachvolles, Ehrenrühriges, in Breitenfels sei das, soweit sie sich erinnern könne, in einer honetten Familie niemals vorgekommen; Aenne sei blamiert auf Lebenszeit.

Als der Oberförster gestern mit gefurchter Stirn und kurzen Worten den Eltern die Thatsache mitteilte, daß er und Aenne übereingekommen seien, sich zu trennen, hatte die Rätin sich gesträubt, es zu glauben, und behauptet, Aenne sei nur verschüchtert, er solle doch um Gottes willen keinen Unsinn reden, ihre Tochter werde ihn sofort um Verzeihung bitten! Er dürfe es doch nicht für Ernst nehmen, wenn ein kindisches Mädchen trotze! Mit flehender Beredsamkeit begann sie zu erzählen, daß auch sie kurz vor der Hochzeit den Einfall bekommen, May den Laufpaß zu geben, so ein ungeheures Bangen habe sie erfaßt vor dem ernsten Schritt. Er solle doch Geduld üben, Aenne müsse sich falsch ausgedrückt haben! Und nach jedem Satz hielt sie ein und schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender und fragte: „Nicht wahr, May?“

Der Oberförster aber hatte ihre Hand ergriffen, ihr gedankt für die treue mütterliche Gesinnung, dem Rat die Rechte geschüttelt und sich dann zum Gehen gewandt, ohne weitere Worte. Und nun war es still geworden in dem Zimmer, das er verlassen.

„Fasse dich, Alte,“ sagte der Rat, indem er der kreidebleichen Frau auf die Schulter klopfte, „wer weiß, was es gegeben hat! So recht gefiel mir die Brautschaft nie. Das Mädchen that’s wohl in der Uebereilung, in dieser Frage haben nur sie und er zu entscheiden. Wir wollen’s tragen mit ihr.“

„Und der Skandal, und das Gerede?“ Die erbitterte Frau lief aus dem Zimmer und geradeswegs nach Aennes Stube.

Das Mädchen saß da in der Kälte – das Feuer im kleinen Ofen war längst erloschen; ganz wirr noch, körperlich und seelisch erschüttert. Die Mutter stürmte ins Zimmer und stieß in der Dunkelheit so heftig an eine kleine Etagere, die Aennes sorgsam behütete Nippes trug, daß das zierliche Gerät klirrend auf den Fußboden flog, wo es noch einige ärgerliche Fußtritte erhielt.

„Ich will dich nur fragen,“ begann sie, mit zitternden Händen nach den Streichhölzern tastend und Licht anzündend, „ob du eigentlich bei klarem Verstand bist. Augenblicklich setzt du dich hin und bittest Günther um

Der Fastnachtsbär.
Nach der Originalzeichnung von Hans G. Jentzsch. .

[118] Verzeihung – schriftlich! Das wäre noch schöner, drei Wochen vor der Hochzeit jemand den Stuhl vor die Thür zu setzen! Das kann sich kein Dienstmädchen erlauben – du – meine Tochter erst recht nicht! In fünf Minuten bist du unten, liebes Kind, und schreibst – verstanden?

Aber ihr Einschüchterungsversuch mißlang kläglich, denn Aennes ganzer verzweifelter Trotz stemmte sich gegen diese Vergewaltigung.

„Nein“, sagte sie kurz, „du hast kein Recht, mich zu zwingen.“

„Kein Recht?“ stammelte die Mutter atemlos. „Ich will dir etwas sagen, du liebloses, unkindliches Geschöpf, du: Wenn ich keine Rechte habe, habe ich auch keine Pflichten mehr gegen dich – verstanden?“

Die Hand der maßlos erbitterten Frau hatte sich auf die Schulter ihres Kindes gelegt und krampfte sich fest wie Eisen. „Ich sage dir, wenn du darauf bestehst, den Mann vor den Kopf zu stoßen, dich um diese anständige Versorgung zu bringen, so sieh auch zu, wie du ohne deine Mutter fertig wirst! Zwischen uns beiden ist’s aus. Das merke dir!“

„Ja, ich verstehe – ich werde gehen.“

„Zu Günther?“

„Niemals! Das kann ich nicht“. Aenne war aufgestanden, hatte ein Tuch vom nächsten Stuhl gerafft und sich der Thür genähert. „Wohin?“

„Das ist ja gleichgültig – nur fort!“ stieß das Mädchen hervor.

Die Rätin stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Thür, ihr ward angst vor dem entschlossenen Aussehen der Tochter. Aus ihren Drohungen verfiel sie in weinerliche Anklagen. „Also das ist der Dank für alle meine Treue und Liebe seit neunzehn Jahren, daß du deinem Vaterhause entlaufen willst wie eine Tolle, wenn dir nicht gleich der Wille geschieht, wenn man dir zuredet zum Guten, dich ermahnt, deine Pflicht zu thun, die du freiwillig auf dich genommen hattest? Denkst du, man spielt ungestraft mit solch heiligen Versprechungen? Aber gut, mein Kind, setze deinen Willen durch, die Strafe wird nicht ausbleiben! Und wenn du später hier herumhockst im Hause, ein altes verbittertes Mädchen, das überall sich zurückgesetzt fühlt, das keine rechten Pflichten hat, kein rechtes Interesse, womit es sein Leben auszufüllen vermag, dann wird die Reue schon komme! Und wenn nicht eher – dann, wenn sie deinen Vater und mich hinausgetragen haben und du in der Welt einsam stehst und vergessen, dann, ja dann wirst du denken – hätt’ ich doch, o hätt’ ich doch – –“

„Aber, Schwägerin,“ sagte da eine sanfte Stimme, „wie kannst du nur! Herrgott, ’s ist doch besser, sie tritt zurück, wenn sie fühlt, daß es nicht geht, als daß sie sich und ihn unglücklich macht! Tante Emilie war eingetreten, und ihre guten angstvollen Augen suchten das Mädchen, das noch in ihrem eilig übergeworfenen Tuche dastand, die verstörten Augen auf die Mutter geheftet.

„Du hast gerade noch gefehlt!“ murmelte diese. Das Mädchen duldete es still und starr, daß die alte gutmütige Frau sie in die Arme nahm und ihr tröstende gute Worte zuflüsterte. Die Rätin aber verließ das Zimmer, sie hatte die Schlacht verloren, jetzt mußte sie an einen möglichst ehrenvollen Rückzug denken. Und nachdem sie an ihres Mannes Schulter sich ausgeweint, verfügte sie sich mit mühsam erkämpfter Fassung in die Küche und erzählte zunächst dem verwunderten Dienstmädchen, daß Fräulein Aennes Hochzeit vorläufig noch aufgeschoben sei, weil – den Grund blieb sie schuldig. In der Nähstube lohnte sie die Mamsell Scheurig, die Näherin, ab, nach Weihnacht werde sie ihr sagen lassen, wann sie wieder kommen solle, und am späten Abend noch wirtschaftete sie in der Leinenkammer umher, bis auch das letzte Stückchen der Ausstattung in Truhen und Schränken geborgen war. Zum Glück hatte sie die seidenen Kleider für Aenne und sich noch nicht gekauft. In der „guten Stube“ sammelte sie die paar Brautgeschenke in ein Körbchen, Günthers und der Kinder Photographie und dergleichen, und stellte alles beiseite, dann endlich setzte sie sich hin und benachrichtigte ihre Jungen von dem traurigen Begebnis.

Jedem von ihnen schrieb sie. „Und wenn man nur wenigstens wüßte, warum sie ihn nicht mehr will. Vater und ich stehen vor einem Rätsel. Sie sagt: „Ich kann nicht!“ und damit ist sie fertig. Vater hat sie eben zu sehr verzogen und Tante Emilie erst recht mit ihrer sentimentalen Gefühlsduselei. So werdet ihr ein recht verstimmtes Haus finden, wenn ihr kommt, mich hat’s arg mitgenommen und Papa auch, der läßt sich’s nur nicht merken. Der Herzogin muß er’s auch mitteilen, es ist das furchtbar, fatal.“ – – – – – – – – – –

Ja, als ob ein Toter im Hause weilte, so war’s am andern Tage. Das Rasseln der Nähmaschine war verstummt, die Oberförsterskinder, die sonst in aller Morgenfrühe schon angelaufen kamen, um Großmama May „Guten Morgen!“ zu sagen, blieben aus, und auf dem Kaffeetisch stand der Weihnachtsstollen unberührt.

Aenne lag matt und fiebernd auf dem Bette. Der Vater kam herauf, und als er das liebe kindliche Gesicht so verändert sah, strich er ihr leise über die Wangen. „Kind, Kind, wozu das alles? Was hast du dir dabei gedacht, als du dem Manne dein Jawort gabst?“

Eine heiße Röte überflackerte sie einen Augenblick, aber sie schwieg.

„Und was soll ich Durchlaucht als Grund angeben?“ fragte er.

„Ich weiß es nicht, Papa!“

Er ging kopfschüttelnd. „Wenn du kannst, nimm dich zusammen und steh’ auf,“ rief er noch zurück. „Mutter wird dir nichts mehr sagen – sie hat sich drein geschickt.“

Aenne kam auch richtig zum Mittagessen. Tante Emilie drückte ihr verstohlen die Hand unter dem Tischtuch. Der Rat schien zerstreut; der Mutter Heftigkeit war einer resignierten Miene gewichen, jede Bewegung drückte aus: ja, was soll man thun, man muß sein Kreuz eben tragen! „Und Durchlaucht,“ fragte sie endlich in die Stille hinein, während sie das Rindfleisch zerschnitt, „was hat denn Durchlaucht gesagt zu der Geschichte?“

„Sie war sehr teilnahmsvoll, gütig wie immer,“ erwiderte der Rat, „meinte, sie habe sich damals eigentlich recht gewundert über die Verlobung. Es sei gewiß jetzt eine schwere Zeit für das junge Mädchen, und ob wir sie nicht eine Zeit lang auf Reisen schicken wollten.“

„Du Grundgütiger – auf Reisen!“ wiederholte die Frau Rat, der die Thränen abermals in die Augen schossen.

„Ich antwortete ihr auch. Durchlaucht, in der Lage, meine Tochter auf Reisen zu schicken, bin ich nicht. Bedenken Durchlaucht, daß ich zwei Söhne habe! Sie muß es auch hier überwinden können.“ – Dann meinte Durchlaucht, es sei doch fatal, daß Günther so in der Nähe, aber der Herzog werde ihn schwerlich versetzen wollen und zuletzt fügte sie noch den Wunsch hinzu, daß Aenne dereinst ein anderes Glück finden möge – das richtige. Wie gesagt, sie war gnädig wie immer. Mir that es wohl, mich auszusprechen, aber daß die Ribbeneck dabei saß, das störte mich – sie machte ihr albernstes Gesicht dazu!“

Aenne zuckte ein wenig. So! Wenn’s die Ribbeneck wußte, dann hatte auch er es bereits erfahren, und was würde nun folgen? Sie legte Messer und Gabel hin, sie konnte keinen Bissen hinunterbringen.

Nachmittags kam ganz zufällig die Frau Oberamtmann Meyer von der Domäne – als Klatschbase bekannt und gefürchtet im ganzen Städtchen. Frau Rat erblaßte, als das Dienstmädchen ihr diesen Besuch meldete.

„Hast du gesagt, daß ich zu Hause bin?“ fuhr sie das verblüffte Wesen an.

„Ja, Frau Rätin – – sollte ich nicht?“

Stöhnend erhob sie sich aus dem Lehnsessel hinter dem Ofen der Eßstube, an dessen Lehne sie ihren schmerzenden Kopf gepreßt hatte. „Nun geht’s los“, sagte sie zu Tante Emilie, „der läßt es keine Ruhe, bevor sie nicht alles weiß, man möchte sich doch am liebsten verkriechen! Die Geschichte überlebe ich nicht! Mit dieser wiederholte Prophezeiung verfügte sie sich in die „gute Stube“.

Die Frau Hofprediger und die Frau Kaufmann Kruse kamen ebenfalls noch kurz hintereinander, wie das Dienstmädchen Aenne und der Tante Emilie berichtete.

[119] „Lieber Gott,“ sagte letztere, „wenn doch deine Mutter etwas ruhiger wäre! Sie bringt sich ja ganz hin!“

„Es thut mir auch so leid,“ klagte Aenne, „aber – ich kann’s nicht ändern, Tante.“

Die alte Dame seufzte, dann ward’s wieder still. Nach einer Stunde ging draußen eine Stubenthür, die Damen verließen das Haus, sie sprachen bei der Verabschiedung alle miteinander, der Lärm drang bis in das stille Zimmer. Dann energische, kurze Schritte, die Hausfrau riß die Thüre auf, eine flackernde Röte lag unter den thränenfunkelnden Augen.

„Wenn ich den Schlag nicht kriege, dann soll’s mich wundern,“ sagte sie keuchend. „Ei Gott! Ei Gott! –“ Sie stieß eine Fußbank zur Seite und band ganz unmotivierterweise ihre Schürze ab, um sie gleich darauf wieder anzulegen.

„Weißt du, was sie sprechen in der Stadt?“ fragte sie, endlich vor Aenne stehen bleibend.

„Nein, Mama, es ist mir auch gleichgültig.“

„So? Mir aber nicht, wenn man erzählt, du habest dich auf den Kerkow gespitzt gehabt und aus purer Wut den andern nehmen wollen!“

Aenne sprang empor, alles Blut war aus ihrem Gesichte gewichen. „Ah!“ stieß sie hervor, „wer sagt das?“

„Wer? Ja, wer! Siehst du, das ist dir nun doch außerm Spaß! Nun stopfe ’mal die Lügenmäuler!“

Aenne saß schon wieder, sie antwortete nichts mehr.

„Ich habe den Damen meine Meinung wahrlich nicht vorenthalten, redete die Mutter weiter“, sie lügen ja den Himmel mit der Hölle zusammen! Wahrscheinlich habest du ein Vögelchen singen hören, daß da droben nicht alles mehr stimmt zwischen dem Brautpaar – erzählt man sich, und darum habest du den Bruch herbeigeführt mit Günther“ – „Herrgott!“ sie preßte die Handflächen gegen die Schläfen und gab dem unglücklichen Fußschemel einen Stoß in entgegengesetzter Richtung, daß er durch die halbe Stube flog.

Aenne erhob sich und schritt stumm hinaus. Sie wußte kein Wort von diesem Zerwürfnis, niemand hatte je zu ihr etwas davon erwähnt, sie dachte überhaupt nicht darüber nach. Aber daß ihr Geheimnis auch nur andeutungsweise bekannt war, das brannte sie wie Feuer. Eine Viertelstunde später pochte sie bei Fräulein Hochleitner an; natürlich wußte auch sie bereits von der Entlobung Aennes.

„Jesus Maria!“ rief diese, als sie das blasse Gesicht ihrer jungen Freundin sah. „Ist’s wahr?“

Aenne streckte ihr die Hand hin, der Goldreif fehlte. „Fragen Sie mich nicht weiter, ich kann nicht mehr davon sprechen,“ bat sie.

„Aber, Schatzerl, wo werd’ i! Sagen S’ mir nur, ist’s Ihna nun leichter ums Herz?“ „Ach, liebes Fräulein!“ flehte Aenne.

„Ja, und was fangen S’ denn nun an, wenn S’ net heiraten?“

„Lernen will ich – nach Berlin oder Dresden will ich, auf eine Musikschule!“

„Schauen S’ a’mal an! Und sind die Herren Eltern mit einverstanden?“

Aenne senkte den Kopf. „Ich weiß es nicht, noch sprach ich nicht mit ihnen darüber – ich bin noch so matt von gestern von alledem – – und der Sturm wird auch besser dann erst entfesselt, wenn die Brüder nach dem Fest wieder abgereist sind, die würden mich auch nicht verstehen, und es soll doch Friede sein am Friedensfest.“

„Sie meinen, die Eltern wer’n net gleich Ja und Amen sag’n?“

„O, lieber Himmel, nein! Aber, bestes Fräulein Hochleitner, ich kam mit einer Bitte her.“

„Schießen S’ los, mein arm’s Hascherl – wie sie blaß ausschaut – wenn’s in meiner Macht steht, will i ’s thun!“

„Darf ich Ihnen die Hochzeitskantate vorsingen?“

„Weiter nichts? Hab g’meint wunder was! Geh’n S’ her – da – vier Kraizerl sind’s – i markier’ jetzt das Orgelvorspiel, einundzwanzig Takt’ – so –“

Sie setzte sich ans Klavier und begann das Vorspiel. Aenne sang, verschleiert, mit halber Stimme, als quöllen ihr Thränen in der Kehle empor.

„Glauben Sie, daß ich wagen könnte, das zu singen vor Zuhörern?“ fragte sie dann.

„Aber warum denn net, wenn S’ richtig disponiert sind? Denn wissen S’, das muß sich anhör’n wie Glockengeläut und Engelstimmen, dös is mächtig, dös packt!“

„Natürlich! aber wenn ich mir Mühe gebe?“ „Ja, keine Frag’, freilich können S’ es singen!“ „Dann kommt meine Bitte, Fräulein Hochleitner.“ „Nun?“

„Sehen Sie,“ begann Aenne, „ich möchte gern, daß meine Eltern und Brüder mich einmal öffentlich singen hören, bevor ich ihnen eröffne, was ich vorhabe, und eine andere Gelegenheit wüßte ich in Ewigkeit nicht. Thun Sie mir den Gefallen, werden Sie kurz vor der Trauung der Ribbeneck – heiser, bitte, bitte, und dann lassen Sie mich für Sie eintreten!“

Fräulein Hochleitner machte eine Wendung auf dem Drehsessel und blickte das vor ihr stehende Mädchen mit unverhohlenem Staunen an. „Dös versteh i halt net“, sagte sie auf echt Wienerisch, „Sie wollen singen zum Kerkow seiner Hochzeit?“ Dann begann sie zu lachen. „O Sie Schlaukopferl, dös hätt’ i Ihn’n gar net zutraut! Wie S’ dös ausdacht hab’n, so fein! Aber dös is ka Sünd, da thu’ i mit! Um ein Viertel vor drei Uhr am dritten Feiertag pünktli auf d’ Minut’ werd’ i heiser, und a halb’ Stünderl später singen S’, dös heißt, wenn aus der ganzen Geschicht’ no was wird, denn kan halb’n Kreuzer geb’ i dafür.“

„Wie denn? Was soll denn das heißen?“ fragte Aenne gepreßt.

„Ja, haben S’ denn davon net g’hört? Dös weiß doch jed’s Kammerkatzerl drob’n im Schloß! ’ne arge Krempelei hat’s geb’n zwischen dem Paar, die Herzogin hat erst a Machtwort sprechen müss’n, daß ’s einigermaß’n wieder auf d’ Gleich kam, man sagt, wegen dem armen Hascherl, der Schwester von ihm, sei’s kommen, i glaub’, er hat’s gern woll’n in sein Haus nehm’n, das Wuzerl, das blasse! Aber die z’widere Person, die Braut hat’s net gewollt, hat förmli Wutkrämpf’ kriegt und hat g’sagt, er sollt’ wähl’n zwischen ihr und der Schwester, und da –“

„Und da?“ wiederholte Aenne.

„Hat sie halt ihr’n Willen durchg’setzt. Jesus Maria, ’s is a Kreuz und a Elend in der Welt mit die Männer, die sich immer als Herrn aufspielen und sich dann doch all’weil ducken.“

„Er wird sie eben sehr lieb haben,“ sagte Aenne tonlos.

Die Sängerin lachte, daß ihre blendend weißen tadellosen Zähne hinter den roten Lippen sichtbar wurden. „Lieb?“ rief sie „lieb? Sie heilige Unschuld, Sie! Jetzt sein S’ net bös, jetzt muß i lachen, dös glaubn S’ doch selber net. Na, also den Hochzeitspsalm woll’n S’ ihm sing’n? S’ is recht so! Aber machen S ’s brav, sonst schadt’s Ihn’n mehr, als es nutzt. – –“

Aenne fragte nicht mehr. Als sie nach Hause gekommen war, stellte sie sich ans Fenster und schaute zu dem Lichte hinauf, als könnte sie durch die Mauer hindurch, direkt in Heinz Kerkows Herz sehen. Ob es wahr ist? ob es wahr ist? fragte sie, ob er unglücklich ist, schon jetzt? Warum aber hatte er nicht den Mut, den sie gehabt, die Fessel zu durchreißen? Oder war das sein Mut, daß er festhielt an dem, was er gewollt?

Vielleicht – vielleicht war sie die Feige gewesen! Ja, ja, ihr hatte gegraut vor dem Leidensweg! Günther hatte ihn ihr ja selbst geschildert, ohne Liebe geht es nicht!

„Es geht nicht!“ murmelte sie zu dem Lichte hinauf, als wollte sie ihn warnen. „Im übrigen aber will ich zeigen, daß ich nicht feige bin, will mein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Ich will nützen in der Welt, erfreuen aber ohne Zwang, ich will frei sein, ich will das Recht haben, zu trauern um eine verlorne Liebe, ohne daß die Trauer zur Sünde wird – ich will leben!“


Frau von Gruber war noch ganz krank von den Aufregungen der letzten vierzehn Tage. Nicht allein, daß sie sich mit der Beschaffung der Aussteuer und der Toiletten für die Braut neben dem Dienst bei Ihrer Durchlaucht, der sie mehr als je in Anspruch nahm, schachmatt gemacht hatte, da mußte auch noch der schreckliche Tag kommen, der so viel lange

[120]

Karnevals–Française.
Nach einer Originalzeichnung von O. Gräf.

[121] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [122] und sehnlichst erwartete Hoffnungen zertrümmerte in Bezug auf Heinz und seine Schwester! Es war, als sollte der Stern der Behaglichkeit und Sorglosigkeit nie über den Kerkows aufgehen. Und wie sich das abspielte, mit immer neuen unerwarteten Wendungen! Wenn man sich nur wenigstens aussprechen könnte; aber mit Heinz war gar nicht zu reden und Hede sollte nichts erfahren, das war sein dringender Wunsch gewesen. Und wenn man seinen Wunsch nicht respektierte, so gab es kleine Scenen mit ihm, und vor diesen hatte Frau von Gruber Furcht. Er sagte zwar nicht viel, aber das Wenige waren Worte, so kantig und scharf, daß sie wie Dolchstöße in das Gewissen fuhren.

Sie seufzte, klingelte und ließ sich vom Diener Schreibmappe und Tintenfaß bringen, dann sich emporsetzend, schrieb sie auf dem Tischchen, das neben ihrer Chaiselongue stand, an ihre wärmste Freundin, eine Frau von Schliefen, die als behäbige Großmama im erste Stock ihres schönen Schlosses in Schlesien saß und keine weiteren Sorgen kannte als die, welche ihr die Enkelkinder mit Scharlach oder Masern, oder mit ihrer Wildheit drunten in der Wohnung des Sohnes bereitete.

„Vergönne mir, liebe Klementine,“ begann sie, „daß ich wieder einmal mein Herz vor Dir ausschütte. Wenn in Deinen Sonnenschein ’mal ein wenig Schatten fällt, so ist’s fremder Schatten, der Dich nicht frieren macht, Dir höchstens das Leben ein wenig interessanter erscheinen läßt, schon deshalb, weil Du an unseren Widerwärtigkeiten die Größe Deines Glückes ermessen kannst.

Ich schrieb Dir ausführlich damals die ganze Begebenheit mit dem Heinz Kerkow, daß er sich verlobt habe mit Toni Ribbeneck, die einen recht netten Geldsack vom alten Dietz Ribbeneck, der ehemals auf Karlitzke in Pommern saß, geerbt hatte, und auch, daß der Junge hier den Duodezposten eines Hofmarschalls an unserm Duodezhöfchen bekam. Na, Passion ist’s ja leider von ihm nicht gewesen, aber, lieber Gott, bei den Verhältnissen, in denen er steckte, war die Toni der Strohhalm, nach dem er griff und greifen mußte. Was für Aerger und Mühe ich meinerseits, ehe es soweit war, hatte, um Beides zu machen, die Braut und den Hofmarschall, na, Du weißt’s ja aus meinem Briefe!

Was geschieht nun? – Wenn Du es in einem Buche läsest, würdest Du rufen: Unmöglich! Unwahrscheinlich! Und doch ist alles, was nun folgt, nackte Wirklichkeit! – Also, er hat sich in seine neue Thätigkeit eingearbeitet, die Hochzeit ist bestimmt, Durchlaucht sehr gnädig, sehr liberal, erteilt vier Wochen Urlaub für die Hochzeitsreise, ich erbiete mich natürlich zur Stellvertreterin für Toni, und am dritten Feiertag soll die Hochzeit sein, d. h. nun in acht Tagen! – Doch, was geschieht vor vier Tagen? Hede Kerkow, die jüngste Schwester von Heinz, soll abends ankommen, er hatte auf ihrer Anwesenheit bestanden, und da das junge Ehepaar beabsichtigte, am Hochzeitstage abzureisen, lud er sie schon zeitig ein, um noch mit ihr zusammen zu sein. Durchlaucht hatte gnädigst erlaubt, daß sie hier Gast sei während der Zeit. – Mir war schon aufgefallen, daß Toni sich, sobald auf die Verwandtschaft von Heinz die Rede kam, sehr absprechend und still verhielt, unter uns – liebenswürdig ist sie nun einmal nicht! – – Um Mittag dieses Tages trifft sich das Brautpaar, wie immer, in meinem Salon. Ich sehe schon Heinz an, daß ihm irgend etwas geschehen sein muß, er ist blaß, und die gleichmäßige Ruhe, die er sich angewöhnt hat, scheint ihm völlig abhanden gekommen. Ich denke also, er hat Aerger gehabt mit den Beamten – kommt ja alle Tage vor, und leicht ist es nicht für einen Offizier wie er, wenn er plötzlich Haushaltungssorgen hat, denn weiter ist’s ja doch im Grunde nichts, aber er erwidert nichts auf meine Frage als: ‚Ich habe ein paar unangenehme Nachrichten bekommen, die eine über Hedes Befinden von unserm alten Hausarzt, die andere – über die spreche ich später mit Toni allein’.

Toni nun hat ein bemerkenswertes Talent, Unangenehmes nicht zu hören. Sie fängt also auch gleich von ihrem Teppich an zu reden, den ihr die Herzogin kürzlich schenkte, einem echten Smyrna. Heinz kommt wieder auf den Brief des Arztes und sagt, sehr freundlich neben Toni Platz nehmend. ‚Hede macht mir Sorge, ich möchte sie bei uns behalten, Toni, ich kann sie dem einsamen kummervollen Leben nicht länger aussetzen Sie ruiniert sich mit ihrem Unterrichtgeben, sie bekommt fünfundsiebzig Pfennig für die Stunde; sie reibt sich auf, um das tägliche Brot zusammenzubringen.’

Toni verfärbte sich vom Blassen bis zum Dunkelroten, rollte ihre Gürtelschleife zwischen den Fingern und antwortete:

‚Du kannst ihr ja lieber einen Geldzuschuß monatlich schicken.’

‚Damit ist ihr nicht gedient,’ sagte er noch ganz ruhig, ‚sie muß besser essen, sie kann sich kein Mädchen halten, und die Zeit, für sich Speisen zu bereiten, fehlt ihr.’

‚Warum speist sie nicht in einem Gasthaus?’

‚Nun, ich sehe, du willst nicht darauf eingehen,’ sagte er, aber ich kann dir diesmal nicht helfen, ich bestehe darauf, für ein Jahr wenigstens. Ich bitte dich, Toni, es ist die letzte Verwandte, die ich habe, denn meine irre Schwester – die –’

‚Warum muß es denn gleich sein?’ stieß sie hervor.

‚Weil’s just nötig ist!’ erwiderte er.

Ich will eben vermitteln, weil ich das Gewitter in ihr schon aufsteigen sehe, da sagt sie. ‚Nimm’s nicht übel, Heinz, der Gedanke, mein erstes Ehejahr zu Dreien verleben zu müssen, ist mir im höchsten Grade unsympathisch – ich bitte dich, davon abzusehen. Ich werde ihr einen so reichlichen Zuschuß geben, daß sie sich ein Mädchen halten kann und essen, wonach es sie gelüstet, aber –’

Er sah sie an mit einem Blick, Klementine – mir stockte das Herzblut, so zornig, so verächtlich war er. ‚Ich bedaure, auf meinem Willen beharren zu müssen,’ erklärte er eisig, ‚das Essen allein macht’s nicht, sie bedarf freundlichen Zuspruchs, Liebe, anderer Verhältnisse, anderer Luft – sie hat niemand weiter als mich und – –’

‚Und ich bestehe auf meinem Willen!’ ruft sie, ,ich heirate dich und nicht deine Familie!’ Und die ganze kreideweiße Person zittert vor innerer Erregung. Im übrigen, wenn dir deine Schwester lieber ist als ich – du brauchst nur zu wählen, sie oder mich.’

Eine Weile ist’s ganz ruhig. Ich bin halb ohnmächtig, natürlich, suche nach passenden Worten, aber obgleich ich sonst so leicht meine Fassung nicht verliere, fällt mir nichts ein, und als ich endlich den Mund öffne um zu sprechen, kommt Heinz mir zuvor und sagt ‚Vor diese Wahl gestellt – natürlich dich!’ Das klingt aber so höhnisch und wird mit so zuckendem Gesicht gesprochen, von einer so tiefen Verbeugung begleitet, daß, wie er bereits hinausgegangen ist, wir beide noch dastehen und uns verständnislos ansehen.

Sie macht endlich eine große Weinscene, redet davon, daß er sie nicht liebe, und steigert sich in einen wahren Paroxysmus von gekränkter Tugend und Unschuld hinein. Da bringt ein Lakai einen Brief von Heinz an mich, und als ich öffne, liegt darin eine Karte von ihm und ein großer Brief, an ihn adressiert. Auf der Karte schreibt er. ‚Liebe Tante, beifolgende Nachricht erhielt ich heute früh und wollte sie vorhin so schonend als möglich meiner Braut mitteilen. Ich bitte Dich nun, sie von dem Inhalt des Schreibens in Kenntnis zu setzen auf eine Weise, die sie nicht allzu sehr erschreckt, ich bin nach dem Vorhergegangenen nicht in der Lage, es genügend ruhig zu thun. Heinz.’

Ich lese und kann einen Ausruf des Schreckens nicht unterdrücken, Toni erkennt die Handschrift ihres Onkels, des Bruders ihrer Mutter, den sie mit der Verwaltung ihres ererbten Vermögens beauftragt hat, liest und bricht in Schreikrämpfe aus. – Denke Dir, Klementine, der alte Esel – pardon – hat das ganze Vermögen in Börsenpapieren angelegt und am neunzehnten November bei dem großen Krach ging, bis auf einen kleinen Teil, alles, aber auch alles verloren! – Der unglückliche Junge!

Ja, zu machen ist nichts und an ein Zurücktreten unter solchen Umständen ist auch nicht zu denken. Ich bin überzeugt, hätte er, als Toni ihn vor die Wahl stellte mich oder deine Schwester!, diese Hiobspost noch nicht gehabt, er würde rabiat genug gewesen sein, zu sagen ‚meine Schwester!’ So löste sich die Sache in einer leidenschaftlichen Abbittescene ihrerseits auf, die er stillschweigend duldete. Ueber den Verlust hat er kein Wort geäußert, aber er geht mit sorgenvoller Miene umher. Du kannst verstehen, was es für ihn heißt, ein armes Mädchen zu heiraten. – Sie hat ihm zwar pro forma ihr Wort zurückgeben wollen, doch hat er es selbstverständlich nicht angenommen. Se. Hoheit, [123] der Herzog, der die ganze Tragikomödie von der Herzogin Mutter erfuhr, hat ihn noch am nämlichen Tage nach dem Jagddiner in sein Arbeitszimmer befohlen, ihm dort lächelnd einen Frackknopf beinahe abgedreht – Du kennst ja die Manier des Herzogs, wenn er mit jemand spricht, an dessen Knöpfen zu spielen – und hat gesagt ,Mein lieber Kerkow, von der Ehrenschuld gegen Ihre Auserkorne kann ich Sie nicht lossprechen, aber von den Bären, die Sie sonst angebunden haben, da kann ich Sie frei machen. Stellen Sie ’mal so ein Listchen auf – soll mein Hochzeitsgeschenk sein!’ – Se. Hoheit hat entschieden ein Verständnis für die Situation des armen Jungen.

Eine Sorge ist also von ihnen genommen, im übrigen müssen sie leben mit der Hofdamengage und dem Hofmarschallgehalt. Es wird wieder ein neues Stückchen glänzendes Elend, wie wir, die wir von den Kerkows stammen, es seit altersher gewohnt sind. Von dem stattlichen Vermögen, das hundertundachtzigtausend Thaler betrug, sind keine zehntausend gerettet!

Nun ist Hede Kerkow hier, und Toni und sie gehen umeinander herum mit mißtrauischen Blicken, wie die Katze um den heißen Brei. Hede hat meistenteils große fragende, ängstliche Blicke für mich und für ihren Bruder, am liebsten sitzt sie allein in ihrem Zimmer. Toni hat ihren Vermögensverlust so ziemlich überwunden und sich wenig oder gar nicht zurückgeschraubt in ihren Ansprüchen. Der Rest, den sie behielt, wird bald genug vergeudet sein. – Mein armer Junge! Und wie, wenn die alte Herzogin stirbt? Die Pension, die er und sie erhalten, ist nicht der Rede wert, und die alte Dame ist merkwürdig zusammengebrochen seit dem Herbst.

Du siehst, Klementine, nichts als Sorgen, nichts als beängstigende Schatten!

Leb wohl, Klementine! Im Sommer hoffe ich Dich zu sehen, von vergangenen glücklichen Tagen zu plaudern, ist das einzige, was mir noch Freude macht im Leben. Am Polterabend, den die Herzogin ebenso wie die sehr kleine gewählte Hochzeit ausrichtet, sehe ich die Gräfin Arnstein, wir werden von Dir sprechen. Von ihren sechs Töchtern ist noch keine verlobt, sind auch keine Bilder auf Goldgrund mehr, die Töchter aus dem Hause Arnstein.

     Addio, grüße Deine Kinder!

Immer Deine getreue Christiane von Gruber geb. von Kerkow.

(Fortsetzung folgt.)


Reingefallen.

Plauderei von Rudolf Kleinpaul.

Als die Sieben Schwaben im Wirtshause zu Memmingen gerastet und dem Märzenbiere weidlich zugesprochen hatten, machten sie sich wieder auf die Socken, obschon es bereits dunkel zu werden anfing. Sie waren kaum zum Thore hinaus, so verirrten sie sich in einen Hopfengarten und verloren die Landstraße und liefen querfeldein. Auf einmal standen sie an einem Abhang, und unten, so däuchte es ihnen, lag ein See, der Wellen schlug. Es wallte und wogte wie in einem Meere, denn der Wind blies heftig, uferlos breitete sich die blaue Flut vor ihnen aus. „Potz Blitz,“ rief der Blitzschwab, „was ist da zu machen? Durch müssen wir, sonst kommen wir nicht nach Leutkirch!“ Sie jammerten noch ein wenig und lugten ins Wasser hinab, ob keine Walfische drin seien – endlich faßten sie sich ein Herz und sprangen selbsiebent hinunter in die fürchterliche Tiefe. Plumps! da lagen sie – aber sie gingen nicht unter – ein Weilchen blieben sie unbeweglich liegen, dann rührten und streckten sie ihre Glieder, krochen heraus wie Schnecken aus ihrem Häuslein und standen wieder auf. Der See war ein Flachsfeld gewesen, das in der Blüte stand und das sich im Winde bewegte wie eine Wasserfläche. Die Sieben Schwaben waren hineingefallen und nicht hineingefallen, in den Flachs, aber nicht ins Wasser.

Diese Täuschung ist eine alte, bereits der langobardische Geschichtenschreiber Paulus Diakonus erzählt, die Heruler hätten sich einmal auf der Flucht vor den Langobarden in ein blühendes Leinfeld gestürzt wie in einen Teich und seien hier, während sie die Arme wie zum Schwimmen ausbreiteten, von den nachsetzenden Feinden erschlagen worden. Und in einem bekannten Kindermärchen kommt die Braut an einen angeschwollenen Bach und findet weder Brücke noch Steg. Da war die Braut flink, hob ihre Kleider auf und wollte durchwaten. Wie sie nun eben den Fuß ins Wasser setzt, ruft neben ihr ein Mann. „Ei, wo hast du deine Augen?“ Da gingen ihr die Augen auf, und sie sah sich mitten in einem blaublühenden Flachsfelde stehen.

Den lieben Frauen, die sonst doch die Augen offen zu haben pflegen, passiert es auch anderwärts, auf diese Weise hereinzufallen. Die Königin vom Reich Arabien, die nach Jerusalem reiste, um den weisen Salomo zu sehen, und die auf der Goldnen Pforte zu Freiberg nach arabischer Tradition als Gemahlin Salomos erscheint, hieß Bilkis. Sie hatte sich vorgenommen, den König Salomo mit Rätseln zu versuchen, gab sich aber gleich bei ihrer Ankunft selber eine Blöße. Denn also erzählt der Koran: Sie wurde bedeutet, sich in den Audienzsaal zu verfügen. Wie sie eintrat, glaubte sie nicht anders, als daß sie durch ein tiefes Wasser waten müßte, und zog ihre Schuhe aus. Salomo aber sprach zu ihr. „Sie irren sich, Majestät, mein Saal ist mit Glas getäfelt.“

Die Frauen zu verblenden daß sie in einem großen Wasser zu stehen glaubten, war ein Lieblingskunststück der alten Zauberer, unter anderen auch eins des Doktor Faust, das er beim Grafen von Anhalt im Schloß aufführte.

Daß sie aber auch wirklich einmal hineinfallen und sich unversehens nasse Füße machen können, weiß jeder, der einmal in der Villa Mattei zu Rom gewesen ist; hier befindet sich eine vom klarsten Wasser erfüllte Grotte, die von dem Besitzer, einem Deutschen, gern für die wahre Grotte der Egeria erklärt wird. Das Wasser ist so klar, daß man es thatsächlich nicht sieht und von der Luft kaum unterscheidet. Infolgedessen patschen die Besucher hinein, was natürlich, da es keine Gefahr hat, zum Lachen Anlaß giebt. Hier hat Virgilius, der Zauberer, das Wasser unsichtbar gemacht, während es vorhin durch die blauen Flachsblüten oder durch Glas dem Auge vorgetäuscht ward. Erstere eignen sich in der That so gut dazu, das Wasser darzustellen daß sie die Künstler dazu benutzen. Anfang dieses Jahrhunderts lebte zu Würzburg der Professor Bonavita Joseph Blank. Er war früher Prediger zu Paradies bei Schaffhausen gewesen und hatte hier die Moosmosaik erfunden. Mit Moos, Holz, Vogelfedern, Samenkörnern, Schmetterlingsflügelstaub und – Flachs hatte er den Rheinfall und einen Seesturm abgebildet, die Federn und der Flachs thaten besonders bei den Wellen vorzügliche Wirkung. Diese Mosaiken sind im Blank’schen Kabinett zu Würzburg noch zu sehen. Für den „Seesturm“ hatte einst ein Engländer 4000 Gulden geboten. Was für Wirkungen man mit den einfachsten Mitteln erreichen kann, zeigt zum Beispiel der „Ausbruch des Vesuv“, ein Werk desselben Meisters. Das Feuer besteht aus den Flügeln einer Grille.

Die Natur macht es ebenso, nur daß sie nicht die Absicht hat, uns zu täuschen. Da die Sonne aufging, heißt es im Buche der Könige, däuchte die Moabiter das Gewässer rot zu sein wie Blut; und sprachen: „Es ist Blut, die Könige haben sich mit dem Schwert verderbet. Hui, Moab, mache dich nun flink darüber her!“ – Ja, proste Mahlzeit! das war reines Wasser. Auf der Fürstenschule in Meißen durften wir ausschlafen, wenn in der Nacht Gewitter gewesen war; infolgedessen wurden Kegelkugeln den Schlafsaal entlang gerollt, den Inspektor zu berücken. In Südhannover wurde sonst geläutet, wenn ein Gewitter im Anzug war, nur ein alter Kantor läutete schon, wenn sie in Kassel nur einmal mit der Kanone geschossen hatten. Er bekam nämlich für jedes Gewitterläuten eine besondere Vergütung.

Wie oft sind schon Mückenschwärme für eine Rauchsäule gehalten worden! Am 20. August 1859 spielte in Neubrandenburg ein Mückenschwarm dicht unter dem Kreuze des Marienkirchturms in einer Höhe von fast 100 m, so daß er, von unten gesehen, einer dünnen, in steter Wallung begriffenen Rauchwolke glich. In Ansbach ist einmal die Feuerwehr ausgerückt, weil ein Ameisenschwarm gegen Sonnenuntergang seinen Hochzeitsflug hielt.

Man kann damit vergleichen, wie es in Nürnberg, am 15. Mai 1886, mittags bei 16° Grad Wärme und heiterem Himmel schneite. Es war Blütenschnee, den die Luftströmung aus den Gärten und Anlagen der Vorstädte in die Stadt hineintrug. In Rom ist angeblich im Jahre 352 in einer Augustnacht auf den Esquilin frischer Schnee gefallen und zum Andenken daran auf dieser Stelle die Kirche Maria im Schnee (Santa Maria Maggiore) gegründet worden. Am Kirchweihfeste läßt man deshalb beim Hochamte noch heute weiße Blumenblätter von der Decke regnen. In diese Kirche wurde die Krippe des Jesuskindleins gebracht und seitdem Weihnachten am 25. Dezember gefeiert.

Der Kameruner, der beim Anblick eines deutschen Schneegestöbers in die Hände klatscht und ausruft: „Da regnet’s ja Baumwolle!“ besitzt keine stärkere Phantasie als sein Gebieter, der bei einer solchen Gelegenheit Frau Holle ihr Bett schütteln läßt, daß die Federn stieben, und unsere Anna, die in einer Gärtnerei einen hochroten Azaleenflor erblickt und sich einbildet, daß die Betten „gesimmert“(gesonnt) werden, schürzte sich wohl auch, um durch das Flachsfeld hindurchzuwaten.

Ja, wir lachen wohl über die armen Sieben Schwaben – und wir, wie oft sind wir selbst hineingefallen! Haben wir etwa nicht erst kürzlich blauen Dunst für Wirklichkeit angesehen und einen Mückenschwarm für eine Rauchsäule gehalten? Und vollends jetzt während der Karnevalszeit gefällt sich die maskierte Welt im Scherzen und Täuschen und die Reinfälle stehen auf der lustigen Abendordnung. So oft wir auch da schon hereingefallen – das stört uns beileibe nicht unsern Frohsinn! Diesen Frohsinn sollten wir uns aber auch im wirklichen Leben nicht rauben lassen und mit ihm die kleinen Reinfälle, die uns das Schicksal bringt, aufnehmen. Nur den Humor nicht verlieren und fest an der Hoffnung halten, daß wir wieder aufstehen werden wie die Sieben Schwaben! Dann gehen wir mit frischem Mut ans neue Werk und wetzen schon die kleinen Scharten aus!

[124]

Der Schlüssel.

Eine nächtliche Geschichte von Eva Treu. Mit Illustrationen von G. Mühlberg.

Nein!“ sagte Mutter.

Sie sagte es gleichsam mit drei Ausrufungszeichen und mit einer Entschiedenheit, zu der sich ihre Sanftmut nur in ganz seltenen Fällen aufraffte.

„Nein, Fritz, das schlage dir nur gleich aus dem Sinn; damit fangen wir gar nicht erst an. Nachher willst du ihn immer haben, das kennt man schon. Ein für allemal – nein!“

„Aber es ist ja doch nur ausnahmsweise,“ sagte Fritz, mein Bruder, mit der Miene eines unschuldig Verfolgten.

„Nein! – denn erstens könntest du ihn verlieren und jemand könnte ihn finden, und dann wären wir Gott weiß was für Zufälligkeiten ausgesetzt. Denke, du ziehst ihn, ohne es zu merken, mit dem Taschentuch aus der Tasche, ein schlechter Mensch geht hinter dir her, hebt ihn auf, verfolgt dich bis in deine Wohnung – da sind wir ihm ja doch rettungslos preisgegeben!“

„Aber Mutter, wer wird doch gleich auf etwas so Unwahrscheinliches verfallen!“

„Und zweitens,“ fuhr Mutter fort, als wenn sie gar nicht unterbrochen worden wäre, „zweitens wünsche ich nicht, daß du dir das späte Nachhausekommen angewöhnst. Abgesehen von den Unzuträglichkeiten für dich selbst, bist du unser einziger männlicher Schutz, und ich wünsche, daß du abends und nachts zu Hause bist.“

Unter anderen Umständen wäre der „einzige männliche Schutz“ meinem noch sehr jugendlichen Bruder möglicherweise schmeichelhaft gewesen. Wie die Sache aber lag, machte er durchaus keinen Eindruck auf ihn. Und als Mutter jetzt unseren Hausthürschlüssel, denn um diesen handelte es sich, vom Schlüsselbrett nahm, ihn in die Tasche steckte und mit etwas geröteten Wangen das Zimmer verließ, da blieb Fritz außerordentlich verdrießlich bei mir, die ich mit meinem Zeichenbrett am Fenster saß, zurück.

Wir waren erst vor einem Monat aus unserem weltentlegenen Kleinstädtchen nach Dresden gezogen, Mutter, Fritz und ich, und der sehr große Wechsel in der Umgebung war uns allen noch etwas verwirrend, ja in mancher Weise beängstigend. Mutter wäre überhaupt am liebsten geblieben, wo sie war, da aber meines Bruders’ ganz entschiedene Begabung für Malerei für ihn eine Uebersiedelung in eine Kunststadt nötig machte und auch ich lebhaft wünschte, mein bescheideneres, aber doch auch ganz hübsches Zeichentalent auszubilden, so hatte sie es nicht über sich gewinnen können, uns allein in die wilde Welt hinausflattern zu lassen, sondern hatte ihren behaglichen Haushalt daheim bei uns aufgelöst und war opfermütig mit uns nach Dresden übergesiedelt.

Fritz, mit der überlegenen Energie männlichen Geistes ausgerüstet, fand sich verhältnismäßig schnell zurecht, und auch ich’ gewann der schönen Stadt mit ihren mancherlei immer wechselnden Interessen und den Unterrichtsstunden an der Kunstgewerbeschule schnell Geschmack ab, aber unser Mütterchen fühlte sich zunächst noch ganz unglücklich in der neuen Umgebung. Ueberall sah sie sich und uns nach ihrer Meinung von den Gefahren der Großstadt umringt, jeder fremde Mensch, der an die Flurthür kam, versetzte sie in Aufregung. Die meisten hatten nach ihrer Beschreibung immer verdächtig ausgesehen, so, als wollten sie die Gelegenheit zum Einbrechen ausspioniere, und hätten wir ein Dienstmädchen gehabt, so würde Mutter mir wohl nie erlaubt haben, allein in die Gewerbeschule zu gehen, sondern das Mädchen hätte mich stets begleiten müssen. Zum Glück hatten wir aber bloß eine Aufwartefrau, die unsere Wohnung des Morgens reinigte und dann ihrer Wege ging. Bis jetzt war unsere Mutter immer die vertrauensvollste Seele von der Welt gewesen – die große Stadt hatte das Gift des Argwohns in ihr gutes Herz gegossen.

Heute nun war der Krieg um den Schlüssel ganz unverhofft entbrannt, weil Fritz, der bis dahin immer rechtzeitig um zehn Uhr zu Hause gewesen war, erklärt hatte, heute etwas länger fortbleiben zu wollen, da er eine Zusammenkunft mit mehreren Freunden verabredet hätte. Mutter aber gab vorläufig weder den Flurthürschlüssel, noch den Hausschlüssel aus der Hand. Sie behauptete, kein Auge zuthun zu können, so lange auch nur ein einziger ihrer Schlüssel sich außerhalb des Hauses befände.

Um Zehn pflegte sie zu Bett zu gehen, dann schlossen wir die Flurthür ab und legten die Kette vor. Um halb Elf wurde die Hausthür von den Bewohnern des Parterres abgeschlossen denn einen Portier pflegte es damals in Dresdener Häusern noch nicht zu geben. Ich weiß nicht, ob es jetzt damit anders ist.

„Es ist ja doch einfach lächerlich“, sagte Fritz, mit majestätischen Schritten, die Hände in den Taschen, im Wohnzimmer auf- und abgehend, „einfach lächerlich! Wie kann denn ein erwachsener Mensch jeden Abend nur Zehn zu Hause sein, Milly?“

„Bis Elf hat Mutter dir ja heute Urlaub gegeben, Fritz, wir sitzen dann auf, bis du kommst.“

„Ach ja, bis Elf!“ sagte Fritz mit wegwerfendem Hohn. „Du, Milly, die Wahrheit zu sagen, es liegt mir ja gar nicht viel daran, eine Stunde länger auszubleiben, aber so etwas ist doch Ehrensache! Die anderen hänseln mich ja, wenn sie merken, wie ich am Gängelband geführt werde. Mit neunzehn Jahren ist man doch wirklich kein Kind mehr!“

„Nein, da gehört man schon mehr zu den älteren Herren,“ sagte ich ernst, immer weiter zeichnend.

„Und kurz und gut – Mutter geht ja doch zu Bett, sie ist um Zehn ja immer todmüde – du wirst natürlich allein bis Elf auf mich warten. Sollte es dann vielleicht eine Viertelstunde später werden, so fürchte, bitte, nicht gleich, daß man mich totgetreten hat. Solltest du aber doch solche Sorgen nicht unterdrücken können, so behalte sie, bitte, für dich und melde sie Mutter nicht!“

„Nun, auf eine Viertelstunde soll es mir nicht ankommen.“

„Du weißt, meine Uhr geht immer nach, es ist kein Verlaß auf sie. Wird es also eine halbe Stunde später, so räuspere ich mich auf der Straße unter dem Fenster. Ich denke, das wird man hier oben hören können? „Ich denke wohl. Wir können ja nachher einmal Probe machen.“

Fritz nickte. „Also, wie gesagt, wird es eine kleine Stunde später, so räuspere ich mich und du kommst recht leise herunter und schließest die Hausthür auf. Wozu sollen wir Mutter erst wecken? Das hat ja keinen Zweck. Sie bedarf des Schlafes.“

„Nein, das würde keinen Zweck haben,“ stimmte ich bei, „und die Viertelstunde will ich schon auf dich warten, Friedel. Sieh nur zu, daß die Uhr nicht gar zu sehr nachgeht“.

[125] Fritz lachte, brummte etwas von „unberechenbar“ und verschwand aus dem Zimmer. Dann öffnete er die Thür wieder, um in Hut und Ueberzieher Adieu zu sagen. Ich hörte ihn die Flurthür hinter sich zuziehen und die Treppe hinuntergehen.

Gleich darauf räusperte sich unten auf der Straße dicht unter dem Fenster etwas, es war merkwürdig gut zu hören, obschon wir im zweiten Stock wohnten. Ich öffnete das Fenster ein wenig und nickte hinaus.

„Sehr gut, Fritz! Vollständig laut genug! Dann machte ich das Fenster wieder zu und setzte mich an mein Zeichenbrett zurück, um die letzten hellen Minuten des trüben Februartages noch auszunutzen.

Mein Bruder Friedel und ich, wir waren immer prächtig miteinander ausgekommen. Er war nur ein Jahr älter als ich, und da wir Frauenzimmer ja bekanntlich das zweifelhafte Glück haben, früher für erwachsen zu gelten als gleichaltrige männliche Wesen, so hatte mir das immer ein gewisses Uebergewicht über ihn verliehen, während ich doch zugleich seiner entschieden größeren Begabung mich willig unterordnete. Es stand felsenfest bei mir, daß einmal etwas ganz Großes aus ihm werden würde, und im Grunde meines Herzens war ich viel stolzer auf ihn, als er ahnte.

Augenblicklich freilich stand er nicht gerade in einer sehr liebenswürdigen Entwicklungsperiode, in derjenigen nämlich, wo jede Anspielung darauf, daß er weniger als fünfzig Jahre zählte, von ihm für eine tödliche Beleidigung angesehen wurde, eine Auffassung, für welche Mutter, die in ihm immer noch ihren „großen Jungen“ sah, leider ein beklagenswert geringes Verständnis zeigte, was mitunter beiderseits verstimmte.

Als Mutter mit uns nach Dresden zog, hatte sie es sich durchaus nicht so gedacht, daß Fritz seine eigenen Wege gehen sollte – keineswegs! nicht im mindesten!

Heute jedoch war er uns nun einmal entronnen. Mutter fand das Zugeständnis, er dürfe bis elf Uhr fortbleiben, eigentlich ein wenig gewagt, und als ich nach dem Abendessen den Tisch abgeräumt hatte, setzte sie sich mit der offenbaren Absicht in ihrem Lehnstuhl zurecht, ihren schwärmenden Aeltesten zu erwarten.

Kurz nach Zehn lehnte sie sich ein wenig zurück, um die Augen einen Augenblick zuzumachen, wie sie sagte. Sie schlief nicht – bewahre! Mutter schlief nie, unter keinen Bedingungen und Umständen, wenn sie nicht in ihrem Bette lag – nie! Mit ihren fünfundvierzig Jahren hätte sie sich ja schämen müssen, auf einem Stuhl einzuschlafen! Nein, sie saß nun, wie gesagt, und machte die Augen ein bißchen zu; aber als plötzlich unsere Wanduhr mit zwei lauten, hellen Schlägen halb Elf angab, da fuhr sie doch in die Höhe, als wären die Augen recht fest „zu“gewesen.

Sie wickelte ihr Strickzeug zusammen und sagte, sich erhebend. „Er wird ja nun gleich kommen, Milly. Eigentlich ist es ja Unsinn, daß wir beide aufbleiben. Ich schließe also die Flurthür ab und gehe in mein Zimmer; ich habe da noch allerlei zu thun. Natürlich schlafe ich nicht, bis er im Hause ist. Kommt er, so gehe recht leise hinunter und schließe auf!“

„Ach, Mütterchen, in den anderen Etagen sind sie gewiß alle noch wach, gar so leise brauche ich wohl nicht zu sein; bleiben will ich aber gern, ich bin noch kein bißchen müde.“

Wir sagten aus darauf Gute Nacht und Mutter ging fort.

„Der kommt sobald noch nicht,“ dachte ich, als sich die Thür hinter ihr geschlossen hatte, „auf halb Zwölf muß ich wohl gefaßt sein. Gut, daß Mutter jedenfalls schon in fünf Minuten fest schläft!“ Und damit schüttete ich noch ein paar Schaufeln voll Kohlen in den Ofen, holte mir ein interessantes Buch, kauerte mich in Mutters Lehnstuhl zusammen und rückte die Lampe nahe zu mir heran.

Das Buch war wirklich sehr spannend. Mit der ganzen brennenden Lesegier meiner achtzehn Jahre schlug ich Blatt um Blatt um – viele Blätter nacheinander, in fast atemloser Spannung, „ob sie sich kriegen würden“. Einmal schien es so, dann zerschlug und verwickelte sich alles, nun wieder schien sich die Sache zu klären – ach, und nun war ich bis zum letzten Kapitel gekommen, den ganzen Band hatte ich durchrast bis auf dieses eine Schlußkapitel.

„Wenn bloß jetzt Fritz nicht kommt,“ dachte ich, das Buch mit einem tiefen Atemzuge einen Augenblick zurückschiebend und mit heißen Augen um mich sehend. „Gott, wie spät ist es denn? Er muß ja nun wirklich gleich da sein.“ Und ich sah auf das Zifferblatt der Uhr.

„Zwanzig Minuten nach Zwölf! Unmöglich! Und er ist noch nicht da?“ Ein gräßlicher Gedanke kam mir. Wie, wenn er nun dagewesen war und sich unten geräuspert hatte, ohne daß ich in meinem Leseeifer es hörte? Wenn er etwa jetzt unter dem Fenster auf der Straße stand und auf mich wartete? Es war so bitter kalt.

Ich eilte ans Fenster, öffnete es leise ein wenig und blickte hinaus. Nein, nichts. Die Straßenbeleuchtung war nicht gerade brillant, aber doch durchaus hell genug, daß ich eine untenstehende Gestalt hätte bemerken müssen. Nichts – gar nichts! Seine Uhr war wohl eben stark unberechenbar.

Ich kehrte zu meinem Buch zurück und machte mich an das letzte Kapitel. Aber ich hatte keine rechte Ruhe dabei, sondern horchte zwischen dem Lesen immer nach der Straße hin, ob ich nicht ein Räuspern vernähme. Doch alles blieb still.

Ich klappte mein Buch zu – sie hatten sich „gekriegt“ – reckte mich und gähnte.

„Dreiviertel auf Eins! – ach, mich dünkt, er könnte nun wohl kommen! Dies artet wirklich schon mehr in Rücksichtslosigkeit aus. – Zehn Minuten vor Eins! Das ist ja unausstehlich! Bin ich denn dazu da, die ganze Nacht seinetwegen aufzubleiben? Fünf Minuten vor Eins! So, wenn er jetzt nicht bald kommt, gehe ich zu Bett, da mag er dann sehen, wo er bleibt!“ dachte ich erbittert.

Eins! – nein, geradezu mich ins Bett zu verfügen, das ging doch wohl nicht, das brachte ich nicht über mein liebevolles Schwestergemüt, aber meine Vorbereitungen treffen, das konnte ich ja immerhin. Da mein Schlafkämmerchen an das Wohnzimmer stieß, machte das gar keine Schwierigkeiten. Die Haare wenigstens [126] konnte ich mir auskämmen und aufwickeln, denn ich trug kurze, krause Locke um den ganzen Kopf, die ich abends auf Papilloten zu wickeln pflegte.

Möglichst leise holte ich mir also meine Kämme und Bürsten herbei, entledigte mich meines Kleides, warf meinen großen Frisiermantel aus Flanell über, setzte mich dicht an den Ofen, denn es wurde inzwischen empfindlich kalt im Zimmer, und begann mein Haar zu bürsten. Daß mich Friedel im Frisiermantel mit aufgewickelten Locken sehen würde, genierte mich wenig. Das war schon mitunter geschehen, und er war ja durchaus kein „fremder“ junger Herr.

Zwanzig Minuten nach Eins! Ich war halb fertig mit meiner nächtlichen Frisur. Die eine Seite meines Haares war schon kunstvoll aufgewickelt, die andere hing als dicke, lose Mähne um meinen Kopf. Da hörte ich ganz deutlich – viel zu deutlich sogar, es wäre gar nicht so laut nötig gewesen – ein scharfes Räuspern unter dem Fester. Also endlich! Na, Dem wollte ich morgen aber ordentlich die Wahrheit sagen, das stand fest!

Ich ging an das Fenster, öffnete einen Spalt und guckte hinunter. Richtig, da stand er und sah erwartungsvoll zu mir herauf.

„Bist du es, Friedel?“ fragte ich leise.

„Jawohl!“

„Paß auf, ich werfe dir den Schlüssel hinunter. Kannst du ihn wohl fangen?“

„Ja.“

„Schließ also selber auf und denke daran, daß du ihn nicht stecken läßt! Bringe ihn ja mit herauf!“

„Wird besorgt!“

„Und ziehe unten die Stiefel aus, Friedel, daß Mutter dich nicht hört.“

„Schön!“

Ich öffnete also das Fenster etwas weiter und warf den Schlüssel hinaus. Ich hörte, wie er unten klirrend auf das Trottoir schlug, und sah, wie Fritz sich nach ihm bückte, zog mich zurück, nahm die Lampe und ging an die Flurthür, die ich von innen aufschloß und aufkettete. Die Lampe hoch erhoben haltend, damit Fritz auf der Treppe auch sehen könne, stand ich dann vor der offenen Thür.

Nun drehte sich der Schlüssel unten im Schloß, jetzt noch einmal. Dann dauerte es ein Weilchen. Fritz entledigte sich offenbar seiner Stiefel, und nun schlich es die Treppe herauf. Ich hielt meine Lampe höher.

Eine Treppe – zwei Treppen – nun war er oben.

„Du bist mir –“ der Rechte! wollte ich empört flüstern aber ich brach jäh ab. Aus dem Dunkel der Treppe tauchte, hell von meiner Lampe bestrahlt, erst ein gewaltiger Helm mit Federbusch auf, darunter ein junges Gesicht mit keck aufgedrehtem Schnurrbart und schwarzen Augen, dann eine vollständige Ritterrüstung, in der ein langer Mensch steckte – ein gänzlich Unbekannter, offenbar im Maskenanzuge.

Ich hatte Geistesgegenwart genug, nicht zu schreien aber mit einem einzigen schnellen Schritt hinter die Flurthür flüchten und in demselben Augenblick, eingedenk meiner fragwürdigen Gewandung, die Lampe, die ich in der Hand trug, ausblasen, war eins!

Noch sah ich, wie der lange Mensch sich tief, tief vor mir verbeugte, hörte noch, wie er sagte. „Ich danke ganz ergebenst! – dann umfing mich Finsternis und Schweigen – Gott sei Dank, wenigstens hinter der geschlossenen Thür!

Da stand ich nun im Dunkeln und drückte die Hand gegen das Herz, welches entsetzlich klopfte. Ich hatte wirklich einen unerhörten Schreck bekommen.

Als ich mich über ein Weilchen besonnen hatte, wurde mir die ganze verzweifelte Sachlage erst recht klar.

Der Unbekannte hatte ja meine Schlüssel mitgenommen! Unseren Hausthürschlüssel, den viel umstrittenen, von Mutter mit Argusaugen gehüteten, mir mit feierlichen Ermahnungen anvertrauten mit dem ich dem treulosen, heimkehrenden Fritz die Thür öffnen sollte – den hatte der lange Ritter mitgenommen!

Eine kleine Hoffnung blieb noch: Vielleicht hatte er ihn im Thürschloß stecken lassen. Ich zündete meine Lampe wieder an, vervollständigte meinen Anzug ein wenig und schlich dann auf Socken die beiden Treppen hinunter bis zur Hausthür.

Nichts! –

Ja, nun war guter Rat teuer. Wiederhaben mußte ich den Schlüssel, das stand fest. Fritz mußte eingelassen werden, und nie hätte ich gewagt, Mutter wieder vor Augen zu treten, wenn ich nicht den geheiligten Schlüssel in ihre Hände zurücklegen konnte. Ich würde ihr Vertrauen in meine Zuverlässigkeit für immer verscherzen!

Wo aber war der lange Ritter?

In meiner Verblüffung und in der Dunkelheit hatte ich durchaus nicht darauf geachtet, ob er die Treppe wieder hinunter, oder ob er noch weiter hinauf gestiegen war, und da er folgsam meinem Gebot, auf Strümpfen ging, hatte ich auch keinen Schritt mehr gehört. Nicht die leiseste Ahnung hatte ich, wohin er geraten sein möchte, zumal da wir von den übrigen Bewohnern des großen Hauses noch sehr wenig wußten. In welches Stockwerk ein junger Herr gehören möchte, war mir ganz unklar.

Ja, da half nun nichts: ich mußte anfragen. Zaghaft drückte ich auf die Glocke der Parterrewohnung. Drinnen war natürlich längst alles dunkel und still. Es war ja mitten in der Nacht, und es dauerte eine ganze Weile, bis endlich innerhalb der Thür ein schlurfender Schritt laut wurde, dann öffnete sich die Thür zwei Finger breit, ein Lichtstrahl fiel heraus, und jemand fragte, offenbar sehr erbost: „Was wollen Sie?“

„Ach, bitte, entschuldigen Sie, ist hier vielleicht eben ein junger Mann im Ritterkostüm eingetreten? Ich hielt ihn für meinen Bruder, und er hat unsere –“

„Nein!“ scholl es wütend zurück. Die Thür klappte zu, und der schlurfende Schritt entfernte sich.

Es folgte also der zweite Akt. Ich schellte an der ersten Etage.. Hier dauerte es noch ein wenig länger, bis sich endlich ein strubbeliger Dienstmädchenkopf mit ganz verschlafenen Augen aus der Thür herausstreckte.

„Brennt’s denn?“

„Ach nein – entschuldigen Sie, – hier ist wohl nicht ein junger Herr eben hineingegangen? Vor fünf Minuten. Ich habe ihm aus Versehen unseren Schlüssel zugeworfen, den muß ich doch –“

„Gott bewahre!“ sagte das Mädchen in einem Tone, als hätte ich eine ungeheure Beleidigung vorgebracht. „Bei uns wohnt kein junger Herr. Meine Gnädige hat die Etage allein. Und zu schnappte die Thür.

Ach so, richtig, ja, hier wohnte ja die junge, vornehm aussehende Witwe mit den allerliebsten Kindern, die sah freilich nicht danach aus, als wenn der Jüngling mit dem offenbar entliehenen Maskengewande ein Verwandter von ihr sein könnte. Es blieb also nur noch die dritte Etage, denn irgendwo mußte ja der Fremdling wohnen, das war doch klar! Wie ein Einbrecher hatte er gar nicht ausgesehen, so viel Menschenkenntnis traute ich mir schon zu.

An unserer Thür schlich ich auf Fußspitze leise vorbei. O, wie segnete ich Mutters gesunden Schlaf!

Nun war ich oben. Tief aufatmend drückte ich wieder auf die Glocke. Jetzt endlich mußte meine Mühe doch belohnt werden.

Zu meiner Verwunderung öffnete sich die Thür gleich und eine kleine, dicke, freundliche Frau kam heraus, in der Nachtjacke und Nachthaube zwar, aber sonst noch völlig angekleidet.

„Herr Jeses – das Fräulein von unten! Es ist Sie doch niemand krank bei Ihnen, Fräuleinchen?“

„Nein,“ sagte ich schüchtern, aber ich habe eben aus Versehen einem fremde, jungen Herrn im Maskenkostüm, den ich [127] für meinen Bruder hielt, unseren Hausschlüssel gegeben, den muß ich ganz notwendig haben, der Herr muß jedenfalls hier zu Ihnen hineingegangen sein.“

„Nä, mein kutestes Fräuleinchen nä – da sind Sie irre. Wir sind hier noch auf, mein Mann ist Sie ja nämlich Schneider, und da giebt es in dieser Zeit viel zu thun. Aber zu uns ist niemand hereingekommen, das kann ich Sie ganz genau sagen!“

Mir traten die Thränen in die Augen. Was sollte ich beginnen, wenn der Mensch sich vielleicht irgendwo im Hause versteckt hatte? Gräßliche Bilder tauchten in meiner Phantasie auf.

„Es wohnt Sie aber unterm Dach noch ein junger Maler, der ist heute auf der Maskerade gewesen. Ich weiß es, mein Mann hat ihm was geändert an seinem Anzug. Der wird es wohl gewesen sein, Fräuleinchen.

„O ja gewiß, der ist es – aber da kann ich doch nicht fragen,“ fügte ich kleinlaut hinzu.

„Nein, Fräulein, da haben Sie recht, das können Sie nicht. Doch mein Mann wird Sie schon so freundlich sein. August!“ rief sie in die Wohnung hinein, und sofort erschien ein schmächtiges, erstauntes und höfliches Schneiderlein, den Fingerhut am Finger, die Nadel noch in der Hand.

Ueber die Sachlage verständigt, erklärte er sich sofort bereit, die Anfrage für mich zu übernehmen. Die kleine runde Frau und ich folgten ihm in vorsichtiger Entfernung, als er die Treppe zum Hängeboden, denn dort befand sich die Kammer des Malers, hinaufstieg.

Oben klopfte er.

„Was giebt’s denn?“ hörten wir eine schlaftrunkene Stimme.

„Hören Sie, mein Kutester, haben Sie sich vielleicht eben von einer jungen Dame die Hausthür aufschließen lassen?“

„Gott, – ja!“ sagte die Stimme, „ich wußte mir wahrhaftig nicht zu helfen. Meinen Schlüssel hatte ich vergessen, und das Fräulein war so überaus gütig, mir ihren aus dem Fenster zuzuwerfen, als ich mich unten räusperte, um irgendwen herbeizulocken. Er war wohl nicht gerade für mich bestimmt, aber ich mußte doch nun einmal hinein!“

„Jawohl, das ist Sie ja ganz schön,“ sagte der Schneider, „aber das Fräulein hat den Schlüssel nicht wieder bekommen. Reichen Sie mir den gefälligst ’mal heraus!

„Was? Schlüssel nicht wieder bekommen?“- In dem Ton spricht nur tief gekränkte Unschuld. „Aber ich habe ihn dem gnädigen Fräulein doch zu Füßen gelegt!“

Und so verhielt es sich. Als wir alle Drei bis zu unserer Thür herabschlichen und den Flur beleuchteten, da lag mein Schlüssel still und friedlich unmittelbar vor der Schwelle. Der Ritter hatte, als er seine galante tiefe Verbeugung machte, ihn dorthin gelegt.

Nun, jedenfalls hatte ich ihn wieder. Ich dankte den freundlichen Hausgenossen bestens für ihren Beistand und drückte meinen Schlüssel ans Herz. Dann eilte ich vor allen Dingen an das Fenster, öffnete es und guckte hinaus, ob Friedel etwa unten stände, denn es war inzwischen zwei Uhr geworden.

Richtig, da stand er, sich wütend räuspernd und ungeduldig in der Kälte von einem Fuß auf den andern tretend. „Bist du es, Friedel?“ „Ja, natürlich!“ „Wirklich?“ „Ja doch!“

„Bist du es auch ganz gewiß?“ „Ja, wer sollte denn wohl sonst so dumm sein, hier unten zu stehen bei der Kälte? So wirf doch den Schlüssel herunter! Meinst du, mich friert nicht?“

„Nein,“ sagte ich, das Fenster zumachend, „ich komme selbst.“ Und hinunter schlich ich wieder meine zwei Treppen und schloß selber auf. Diesmal hatte ich den echten Fritz erwischt.

„Zieh doch die Schuhe aus, Friedel!“

„Dummes Zeug!“ sagte mein Bruder großartig, schlich aber trotzdem so leise wie er nur konnte. Gottlob, er konnte noch leise schleichen, er war sicher auf den Füßen, trotz der späten Stunde!

„Warum ließest du mich eigentlich so lange warten?“ fragte er oben verdrießlich.

„Nein, du, erst komme ich mit meiner Frage. Warum ließest du mich so lange warten?

„Ach, das kam so, du weißt ja, meine Uhr! das Ding geht so schauderhaft nach.“ – „Gute Nacht!“ sagte Friedel, nahm mir meine Lampe, welche ich für mich angezündet hatte, aus der Hand und verschwand in sein Schlafgemach.

Am nächsten Morgen zeigte es sich, daß Mutter das ganze nächtliche Abenteuer gesund und fest verschlafen hatte. Ich fühlte dafür in meinem Gemüt eine aufrichtige Dankbarkeit. Als ich aber mittags aus der Gewerbeschule kam und eben den Tisch deckte, schellte es an der Thür. Mutter, die in der Küche war, ging hin und öffnete.

„Ich wollte mir erlauben, den Damen meine Aufwartung zu machen und mich wegen der nächtlichen Störung, die ich gestern verursacht habe, noch einmal zu entschuldigen“ sagte eine junge männliche Stimme.

„Nächtliche Störung?“ fragte Mutter befremdet, „bitte –“ sie zögerte – „bitte, treten Sie doch näher! Nächtliche Störung, sagten Sie? Aber davon weiß ich ja gar nichts! – Milly!“ Ich kam herbei, verlegen, rot bis an das heute schön ordentlich frisierte Haar, und wenn Wünsche irgend welchen Erfolg hätten, so hätte der ritterliche Jüngling in diesem Augenblick irgendwo sein müssen, wo scharfe Gewürze wachsen. Uebrigens war er bei Tage und ohne die scheußliche Ritterrüstung ein recht hübscher Mensch, reichlich lang allerdings, aber doch recht hübsch, es ließ sich nicht leugnen.

„Nächtliche Störung? wiederholte Mutter, nachdem der junge Maler seinen Namen genannt hatte. „Bitte, nehmen Sie doch Platz, Herr Baumann, das müssen Sie mir noch näher erklären!

Und nun kam alles heraus. Ich übergehe das zunächst folgende – genug, es kam alles ans Tageslicht, und der [128] Unglücksmensch in seiner Harmlosigkeit und seinem Eifer, sich zu entschuldigen, merkte nicht einmal, wie Mutters Gesicht länger und länger wurde. Ja, so tappig sind die Männer manchmal!

Und doch, einen Funken von Verständnis zeigte er zuletzt noch. Als Mutter ziemlich aufgeregt fragte. „Ja, aber wann war denn das alles? Ich habe mich um zehn Uhr schlafen gelegt – ich hoffe doch, Milly, Fritz kam zur rechten Zeit nach Hause? – da antwortete er nach einem schnellen Blick auf mich. „Ganz genau weiß ich die Zeit nicht. Ich denke mir aber, es wird so um Elf herum gewesen sein!“

Das habe ich ihm nicht vergessen.

Nach diesem ersten, unglücklichen Besuch ist er nämlich noch recht häufig unser Gast gewesen. Fritz befreundete sich mit ihm, Mutter gewöhnte sich an ihn – und ich verliebte mich mit der Zeit sogar ein wenig in ihn, obschon er vorläufig noch nichts war und gar nichts hatte als einen wundervollen Humor, ein flottes Talent, ein Paar treu blickender Augen und ein gutes Herz. Auch er – doch genug!

Ich bitte aber dringend, daß diese letzten Anspielungen ganz unter uns bleiben, denn ein Brautpaar sind wir schließlich doch nicht geworden. Ich glaube, er wohnt noch immer in einer Dachkammer.


Die Hansebrüder.

Roman von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).

(7. Fortsetzung)

14.

Es entsprach den sonderbaren Ansichten Hans Ritters über Erziehung heranwachsender Jugend, daß er von seinem Pflegebefohlenen keine Minute Zeit mehr beanspruchte, als dieser ihm freiwillig widmete. Er sah es gern, daß der Jüngling mit einigen passenden Schulkameraden, die anscheinend eine besondere Gruppe in der „Klasse“ bildeten, fleißig verkehrte, auch an ihren Leibesübungen und gemeinsamen Ausflügen teilnahm, und besonders gern sah er es, daß Karl die Einladungen von Frau Professor Weber und ihrer Tochter nicht vernachlässigte, mit den erziehenden Damen respektvoll verkehrte und sich auch bei solchen kleinen Festen, an denen die jüngeren Insassinnen des Hauses unter üblicher Aufsicht teilnahmen, den Ruf eines wohlerzogenen jungen Mannes erwarb, „den man ruhig einladen kann.“

Zu solchem großartigen Verkehr war das weiße Mädchen noch ein paar Jährchen zu „klein“, aber auch sie war alsbald zu einem friedlichen und familiären Verhältnis mit dem „Vetter“ gelangt, sie freute sich über jeden kleinen Dienst, den sie ihm im täglichen Verkehr leisten konnte, und er widmete ihr eine gewisse brüderliche Ritterlichkeit, die von seiner früheren gelehrten Herablassung angenehm abstach. Grete war auch äußerlich ein sehr liebes Mädchen, groß und stark für ihr Alter, ihr rundes Gesichtchen unter dem vollen, aufgekämmten Goldhaar, das hinten in zwei mächtigen Zöpfen niederhing, war nicht eben „klassisch“ geschnitten, aber ungemein angenehm durch die reinen, blütenfrischen Farben und vor allem durch den Ausdruck der großen blauen Augen, aus denen eine Welt von Liebe strahlte. Wenn sie neben dem schönen, kräftig schlanken Jüngling einherschlenderte und seelenvergnügt zu seinem braunlockigen Haupte aufblickte, so sahen gute Menschen mit Wohlgefallen nach den beiden, und mancher, der betrübt war, kam ein Weilchen auf andere Gedanken.

Weder der Hauptmann von Seedorf noch der Doktor Hans Ritter gehörten zu jenen Männern, die es als eine Kränkung ihrer bürgerliche Ehre ansehen, wenn „ihr Junge“ in der Schule nicht auf dem ersten Platze sitzt. Uebrigens hatte sich Karl, dank der vortrefflichen Ausbildung des Pädagogiums und seiner Fassungsgabe, leicht und ohne Nachhilfe auch auf dem Gymnasium in der vordersten Reihe gehalten und brauchte das Examen nicht zu fürchten. Natürlich begann gleichwohl für ihn im Winter eine Zeit verstärkten „Ochsens“ und Repetierens. Eben aber in dieser Zeit machte der Doktor Hans Ritter eine Entdeckung, die ihm bewies, daß doch auch für ihn noch eine verschlossene Kammer in der Seele seines Zöglings war. Zunächst fiel ihm, kurz nach einer fröhlichen Neujahrsgesellschaft im Weberschen Hause, die merkwürdige vergnügte Zerstreutheit Karls auf, die zeitweilig in entschiedene Schwermut umzuschlagen schien. Nach ewiger Zeit fanden sich für diese ungewöhnlichen Stimmungen die ersten Ursacherscheinungen: ein Löschblatt, mit flammenden Herzen bemalt, ein leerer Briefumschlag, welcher, zwischen ähnlichen Zeichnungen, auf deutsch, lateinisch, griechisch, englisch, französisch und sogar hebräisch die verhängnisvollen Worte „ich liebe Dich!“ trug. Ueberraschend konnte die Entdeckung für ihn nicht sein; er hatte sich schon früher gelegentlich erinnert, daß bei ihm selbst und verschiedenen Schulfreunden der platonische Zustand ein bis zwei Jahr früher eingetreten war als Karl jetzt zählte. Einstweilen schwieg er noch. Aber wiederum nach mehreren Tagen sagte ihm Fräulein Weber lachend: „Wissen Sie übrigens, lieber Herr Doktor, daß Ihr Karl auch dichtet? Dieser Tage hat er meiner Cousine und mir hier eine Probe vorgelesen und das Autogramm sogar aus Versehen liegen gelassen, ganz wie ein richtiger Dichter. Da sehen Sie, da sind die Verse!“

Es waren wirkliche Verse, anscheinend ein Schwanengesang, denn der jugendliche Dichter versicherte darin wiederholt, daß sein Herz gebrochen, seine Hoffnung tot sei, er sprach den unbescheidenen Wunsch aus, das „Himmelsrund“ möge einstürzen, um ihn zu begraben, und knüpfte daran überraschenderweise die Zuversicht, alsdann werde wohl „eine“ kommen, um an seinem „einsamen Grab“ zu beten. „Wenigstens die Reime sind ziemlich sauber, seufzte der Doktor Hans Ritter, aber es war ihm doch unbehaglich zu Mute, denn dieses Symptom schien ihm bei diesem Menschen doch schon auf weitere Fortschritte des Uebels zu deuten. Man konnte schließlich nicht wissen – Karl mußte sehr einnehmend für weibliche Augen erscheinen, und auch unter Hans Ritters Zuhörerinnen gab es sehr anziehende Gesichtchen. – –

Er beschloß, den Sünder einmal nach Tisch auszuhorchen. „Sag’ ’mal, mein Junge, ich höre, du dichtest jetzt auch?“

Karl wurde dunkelrot. „Ach, weißt du, Onkel Hans, das war nur so … Es ist aus“, fügte er mit Grabesstimme hinzu.

„So,“ sagte der Onkel, „na, das freut mich. Wirklich aus?“

Karl zog ein beschriebenes Blatt aus der Logarithmentafel und überreichte es ihm. „Das ist mein Abgesang“, sagte er und verschwand, es war Zeit zum Nachmittagsschulgang, und selbst mit einem Vulkan im Busen darf man nicht zu spät kommen.

Auch der Doktor Hans Ritter machte sich auf den Weg, denn er hatte um drei Uhr Litteraturvortrag über Goethes „Tasso“. Unterwegs überzählte er nachdenklich seine Zuhörerinnen. „Ade! An E. Sc.“ lautete die Ueberschrift des „Abgesangs“. Aber er erinnerte sich nicht, jemals eine junge Dame gekannt zu haben, deren Familiennamen so ungewöhnlich war, mit Sc anzufangen.

Sehr zerstreut betrat er sein Vorlesungszimmer und verbeugte sich wie üblich nach dem Seitentischchen, an welchem die alte Frau Professor Weber als dame d’honneur zu sitzen pflegte. Die Inhaberin des Tischchens erhob sich und schüttelte nickend sechs hellblonde Hobelspanlöckchen. „Ach,“ sagte sie, „Sie werden entschuldigen, Frau Professor ist heute verhindert –“

„Ach, das ist mir aber wirklich sehr angenehm!“ rief der Doktor Hans Ritter. „Das heißt, ich wollte sagen … wer denkt auch an so etwas!“

Die Dame mit den sechs Hobelspanlöckchen und der nadelspitzen Nase war Miß Edith Scott, die englische Lehrerin des Pensionats, die sich kurz nach Neujahr in der Blüte ihrer achtunddreißig Winter mit dem Zeichenlehrer Rabe verlobt hatte.

„Wissen Sie, lieber Herr Doktor, das ist ja sehr beruhigend für Sie“, meinte Fräulein Martha Weber, als ihr Hans Ritter [129] nach der Stunde seine Entdeckung mitteilte. „Ein junger Mann, der mit achtzehn Jahren die Erstlinge seines Herzens einer beinah’ vierzigjährigen Miß opfert, der ist normal, auf den können Sie sich verlassen!“


15.

Ein paar Monate, nachdem das Herz des Jünglings im Entsagungsschmerz um die nichtsahnende Miß gebrochen war, bestand er mit Glanz sein Examen, und die zum letztenmal vor ihm geöffnete Pforte des Gymnasiums erschien, seinem heitern Blick als das Ausgangsthor in ein herrliches und unabsehbares Gefilde. Es war ausgemacht, daß er zunächst seinen Vater auf einer großen Reise in die Schweiz begleiten und dann in Freiburg zurückbleiben sollte, um dort sein erstes Semester Naturkunde und wohl mehr noch Naturgenuß zu pflegen. Dann sollte er in einer erheblich weiter ostwärts gelegenen Universitätsstadt sein Jahr abdienen, bei einem Regiment, dem auch sein Vater angehört hatte und in dessen Annalen der Name Seedorf seit drei Geschlechtern ruhmvoll fortlebte.

Doktor Hans Ritter hatte darauf bestanden, daß Karl seine Studien auswärts beginne. „Es taugt nicht, wenn der junge Wein im alten Fasse bleibt“, meinte er; „eine Erziehung ist jetzt zu Ende, die neue muß von neuen Erziehern geleitet werden, und ihr Katechismus ist das ungeschriebene Gesetzbuch des löblichen Burschentums.“ Karl hatte sich bereits für eine Verbindung entschieden, welche seit einiger Zeit auf vielen Universitäten Wurzel geschlagen hatte und mit vielem Feuer für sittliche und patriotische Ideale eintrat. Hans Ritter hatte nichts gegen diese Ideale einzuwenden, wenn es ihm auch vorkommen wollte, als ob ihre jugendlichen Vertreter sich nicht immer frei von dem Uebel eines leitartikelschreibenden Säkulums hielten, Selbstverständliches als Tugend zu preisen. Er gab wenig auf äußerliche Zeitformen und war es schon zufrieden, daß Karl sich einem

Vor dem Kostümfest.
Nach einer Originalzeichnung von E. Rosenstand.

[130] festen Verbände einfügte und nicht vorzog, erziehungslos auf eigene Hand durch den Ocean der akademischen Freiheit plätschern zu wollen.

Zum Abgang vom Gymnasium hatte er seinem Zögling ein Kommersbuch gestiftet. Es war ein dicker, stattlicher Band mit goldgepreßtem Deckel, der Doktor Hans Ritter lächelte ein wenig ironisch, als er dieses Prachtwerk mit dem bescheidenen Buche verglich, welches ihm vor zwanzig und etlichen Jahren die Texte zu seinen musikalischen Versündigungen geliefert hatte. Auch der Inhalt wies schon bei flüchtigem Durchblättern manche Neuerung auf. Viele gute und schöne Lieder waren hinzugekommen, vieles Gute und Schöne hatte man aus Gründen, die der Doktor Hans Ritter nicht begreifen wollte, unter den Tisch fallen lassen, und manches war dafür eingesetzt worden, was nur aus Versehen in einem Liederbuch für die erwachsene Jugend mitzulaufen schien. Eines von jenen Liedern, die der Doktor Hans Ritter nicht wiederfand, schrieb er mit seiner kleinen, ebenmäßigen Handschrift auf das weiße Schutzblatt vor dem Titel.

Karl las die Verse, und mit halblauter Stimme und begeisterungsroten Wangen wiederholte er eine Stelle, die ihm besonders Eindruck zu machen schien:

„Edler Geist des Ernstes soll
Sich in Jünglingsseelen senken,
Jede still und andachtsvoll
Ihrer heil’gen Kraft gedenken!“

„Siehst du, Onkel Hans,“ rief er, „das drückt ganz genau aus, was meine Bundesbrüder wollen! Von wem ist das Lied? Es klingt manchmal so altertümlich, und es predigt doch unsere Ideale!“

„Habe ich den Namen des Dichters nicht darunter gesetzt?“ erwiderte der Doktor Hans Ritter. „Wahrhaftig, ich hab’s vergessen! Ich dachte, du kenntest das Lied. Es ist von dem deutschesten der deutschen Dichter, wie man ihn wohl nennen mag, von Ludwig Uhland. Er schrieb diesen ‚Gesang der Jünglinge‘, als er so alt war wie du jetzt bist und wie du im Begriff stand, die Freuden des Burschenlebens zu genießen; im Jahre, in dem Schiller starb, und ein Jahr vor der Schlacht bei Jena. Wir mögen daraus merken, daß diese Ideale, für die ihr eintreten wollt, nicht ganz so neu sind, und das ist das Beste daran. In trüber Zeit gingen sie leuchtend auf und führten die deutsche studierende Jugend aus einer bösen Versumpfung heraus. Wenn ich gewisse Erscheinungen unserer Zeit in Betracht ziehe, so fehlt es jetzt, unter der neuen Herrlichkeit deutscher Einheit und Macht, auch nicht an Irrsternen und Irrlichtern, welche die Jugend wieder in den Sumpf locken möchten. Es ist auch weiter kein Wunder, denn es ist mit den Völkern wie mit den Menschen, sie können nichts schwerer ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Ihr wollt euch ans Ideale halten, das ist fein und löblich, vielleicht ließe sich’s noch kürzer sagen: ihr wollt freudig bleiben! Denn das Heilige, welches alles Gute im menschlichen Leben zur Reife bringt, und welches auch dies Lied preist, das ist die Freude; die Freude an der Natur, an Wissen und Kunst, an den Geschlechtern, die vor einem Gutes geschaffen haben, an seinem Volke, und besonders die Freude an sich selber, an allem, was einem der Herrgott gegeben hat und was man fortbilden soll, um andern Freude zu machen; die Freude, die man schlürft wie die tägliche Lebensluft und nicht schlingt, die Freude, die uns vom Tier unterscheidet! Wer sich rein zu freuen strebt, der kommt über die Versuchung weg, gemein zu genießen.“

Der Hauptmann von Seedorf war während dieser Worte unbemerkt eingetreten und hatte still zugehört. Als Karl mit seinem Buche weggegangen war, schüttelte er Hans Ritter die Hand und sagte:

„Doktor, Sie hätten Prediger am Kadettenhaus werden sollen, aber recht haben Sie. Ich danke Ihnen, daß Sie’s meinem Jungen gesagt haben, und ich wollte, mir hätt’ ’s einer in dem Alter auch so gesagt. – – Beiläufig, wissen Sie auch das Neueste von Ihrem weiland Freunde, dem fürstlichen Geheimrat Johannes Mohr, und seiner besseren Hälfte? Da müssen ja nette Dinge vorgekommen sein! Erst fällt diese Frau Beate aus Eifersucht – noch dazu aus grundloser Eifersucht – über eine ihrer jungen Lehrerinnen her, dann wird sie auf Antrag dieser Lehrerin, die anscheinend etwas sehr viel weniger Geduld besitzt als unsere liebe selige Freundin, wegen wörtlicher und thätlicher Beleidigungen zu so und so viel Strafe und Entschädigung verurteilt; und dann geht die Lehrerin auch noch hin und schreibt eine Broschüre: „Eine Musterschule für Equipagenkinder“ oder so ähnlich. Was sagen Sie dazu? Ich wollte es Ihnen schon gestern erzählen, mir hat’s unterwegs ein alter Bekannter berichtet, der die Geschichte genau kennt, denn er hatte die ehrenvolle Aufgabe, die Klägerin als Rechtsanwalt zu vertreten.“

„Ich habe davon gehört,“ sagte Hans Ritter. „Es sind arme Leute.“

„Na, wissen Sie,“ meinte der Hauptmann, „so weit bin ich nun doch noch nicht, diese Sorte noch zu bedauern. Sie haben ihre Anstalt um ein Heidengeld verkauft und fühlen sich möglicherweise sehr wohl!“ –

Diesmal weinte Grete doch sehr, als Karl mit seinem Vater abreiste; sie hatte sich an ihn gewöhnt. Dann aber nahm sie sich vor, den Paten nun, wo er „nur sie“ hatte, erst recht lieb zu haben und dieser Vorsatz gewann an Stärke, als sie erfuhr, daß auch dies Zusammensein bald auf eine „schrecklich lange Zeit“ unterbrochen werden solle.

Zum erstenmal hatte Fräulein Martha Weber durch ihren Zuspruch einen lange widerwillig erwogenen Entschluß Hans Ritters entschieden, wobei sie mit großer Umsicht seine eigenen Ratschläge über Karls Studiengang als Waffe gegen den Unschlüssigen gebrauchte.

„Da haben Sie sehr weise gehandelt, lieber Freund“, sagte sie in ihrer bestimmten, munteren Weise. „So ein langes Edelhähnchen muß zur rechten Zeit aus dem Nest, fort von den Alten und unter seinesgleichen, damit es sich in der Welt aus eigenen Augen umsieht und fliegen lernt. Aber nun müssen Sie auch ebenso an Ihre Grete denken. Lieber Gott, wir kennen Sie und wissen, wie gut es das herzige Kind bei Ihnen hat! Aber sie wird jetzt im Herbst vierzehn Jahre, und in dem Alter kann ihr kein Schulunterricht einen Ersatz mit nach Hause geben für das, was nun einmal ihr wie so manchem Mädchen zu Hause fehlt; ich meine, häusliche Gesellschaft ihresgleichen und Obhut einer gebildeten Weiblichkeit. Es hilft Ihnen nichts, Sie müssen sie jetzt ein paar Jahre ganz von sich thun, an einen Ort, wo sie das findet.“

„Könnte sie denn nicht vielleicht bei Ihnen … ich meine, wenn Sie sie eine Zeit lang ganz zu sich nähmen –?“ stotterte der unglückliche Pate, aber die entschlossene Dame schnitt ihm mit einem Lachen die Rede ab:

„Lieber Freund, das meinen Sie doch unmöglich im Ernst! Es wäre ja gerade, als wenn Sie Ihren Zögling hier auf die Universität geschickt und ihm nur eine Wohnung außerhalb Ihres Hauses gesucht hätten! Nein – Sie wissen, wie gern wir das Kind haben und immer bei uns haben möchten, aber das geht nicht! Recht weit weg müssen Sie sie thun und wenn es nach meinem Willen ginge, so würde sie auch während der Ferien fürs erste dort bleiben oder zu Besuch bei Freundinnen, wo sie denn auf die einfachste Weise lernt, sich auch ohne das gewohnte Gängelband unter Fremden zu bewegen. Was meinst du dazu, Mutter?“

Die Frau Professor saß in ihrem Lehnstuhl und arbeitete an einem Erstlingsjäckchen. Es war ein geheiligter Brauch für sie, jeder ehemaligen Schülerin zum ersten Sprößling eine selbstgehäkelte und gestrickte „Garnitur“ zu stiften, und diesmal war es, wie sie mit vielem Stolz ausrechnete, gerade Nummer Hundert und eins. Die Sache schien Eile zu haben denn die Frau Professor sah nur einen Augenblick freundlich lächelnd auf und nickte dem Doktor ermutigend zu.

„Ich finde, meine Tochter hat recht,“ sagte sie weiterarbeitend; „Sie wissen, lieber Herr Doktor, ich bin keine strenge Verfechterin des Pensionatswesens und habe selber oft genug Eltern abgeraten, aber diesmal muß ich zuraten. Sie müssen auch nicht denken, daß es draußen in der Welt nur Anstalten von der Art giebt wie die, worin der ehemalige Kollege von meiner Tochter, der Herr Doktor Mohr, damals hineinheiratete; Sie sind etwas parteiisch, wenn Sie uns immer als einzigartige [131] Ausnahme ansehen, ich habe Ihnen das ja schon öfters gesagt. Da ist zum Beispiel eine, an die wohl meine Tochter auch gedacht hat, sie liegt in einer reizenden Gegend und die Besitzerin ist eine frühere sehr liebe Gehilfin unseres Hauses. Ihr liebes kleines Mündel bliebe damit sozusagen ganz in der Tradition – –“

„Das wäre ja gewiß sehr viel wert,“ sagte der Doktor Hans Ritter erleichterten Gemütes, aber er erschrak doch wieder, als er nun hörte, wie weit jene Anstalt ablag. Sehr sorgfältig und umständlich zog er während der nächsten Wochen seine Erkundigungen ein, aber das Ergebnis war doch schließlich, daß Fräulein Weber wieder einmal recht behielt und das Verbannungsurteil unterzeichnet wurde.

In diesem Sinne betrachtete es wenigstens Grete anfangs. Sie war sehr unglücklich und empfand es als eine besondere Verschärfung, daß sie „nicht einmal Wöppy“ mitnehmen durfte. Allmählich aber siegte die verlockende Aussicht auf das Neue und der letzte Rest von Kummer löste sich vor der Ankündigung, daß der Pate sie selber hinbringen werde. Grete war noch niemals auf Reisen gewesen, und nun sollte sie eine so lange Reise, noch dazu auf Umwegen mit allerlei Unterbrechungen an schönen Orten, mit ihm machen, der alles am besten verstand und einem alles so schön zu erklären wußte!

Mit befreitem Herzen und einem Gefühl großer Wichtigkeit trat sie nun in die Beratungen über ihre Pensionatsaussteuer und über die Reiseausrüstung des Paten ein; und nun empfing der Doktor Hans Ritter allerdings von den Weberschen Damen, von der guten Luise und selbst von Gretes junger Weisheit so viel Belehrungen über alles das, was zu einer solchen Ausstattung gehört, daß er jetzt erst die Höhe der modernen Civilisation zu ahnen glaubte. Er hatte bisher noch immer der Anschauung seiner Studentenzeit gehuldigt, wonach ein Reisender im gesitteten Europa weiter nichts brauchte als eine mit dem Nötigsten gefüllte Umhängetasche, einen Stock und in jeder Hosentasche eine gleich große Summe Geldes, eine für die Ausfahrt und eine für die Heimkehr, und nach dieser Auffassung hatte er auch Karl angeleitet. Nun schrieb er ihm schleunigst einen entschiedenen Widerruf nach Freiburg, damit der unglückliche junge Mann sich nicht durch seine Schuld eines Tages in irgend einer Schlucht des Kaiserstuhls oder des Schwarzwaldes fände, hilflos und von allem entblößt, was ein wohlbedachter Reisender nach weiblicher Aussage gegen die Wechselfälle dieses Lebens bedarf.

Nicht ganz ausschließlich über lustige Orte führte der Umweg, auf dem der Doktor Hans Ritter sein weißes Mädchen in die Fremde führte. Er besuchte mit ihr die Stadt ihrer frühesten Kindheit. Welch’ lange Zeit war verflossen, als Grete nun zuerst wieder, an einem sonnigen Herbsttage, die alte Heimat betrat! Der Pate zeigte ihr das Haus, in welchem sie gewohnt hatte – es waren noch dieselben Läden im Erdgeschoß, und er fuhr mit ihr hinaus nach der Stätte, die dem Hauptmann von Seedorf zufolge die „einzige halbwegs anständige Lokalität in diesem Nest“ bildete. Dort vor dem Grabe ihres Vaters und vor jenem andern Grabe, an welchem der arme Hans Bardolf zweimal sein Herz vor Gott geopfert hatte, erzählte er ihr vieles von ihren Eltern und von ihren eigenen frühesten Lebensjahren. – –

Gar viele solche Erinnerungsreden erklingen an jedem Tag auf großen Friedhöfen, vor hölzernen Kreuzchen und vor hohen Marmorengeln. Es ist sehr gut, daß die Engel von Stein nicht hellhörig und leichtbeschwingt sind, wie wir uns ihre himmlischen Urbilder deuten; manche wären sonst längst auf und davon geflogen vor all der Bitterkeit und dem Selbstruhm, womit das Lob der Verstorbenen durchsetzt ist. Auf den Gräbern Hans Bardolfs und seines Weibes standen nur einfache Steinkreuze mit Namen und Todestag, von blühenden Herbstblumen umgeben und von dunklen, schon angewachsenen Lebensbäumen beschattet. In dem Budget des Doktors Hans Ritter war noch lange nach dem Tode seines Freundes kein Platz für marmorne Statuen frei gewesen, und wenn doch zwischen den Lebensbäumen ein Engel stand und zuhörte, so muß es einer von den unsichtbaren gewesen sein. Es war nichts Bitteres für ihn zu belauschen, und auch kein Selbstlob, wenn die Lebensbäume leise dazwischen flüsterten, so kam es vom Herbstwind, der sie berührte, und nicht vom unwilligen Flügelschlag eines Himmelsboten.

Aber manches, was Hans Ritter verschwieg, ergänzte der grübelnde Geist des Kindes an seiner Seite. Indem sie schweigsam, die zum Andenken gepflückten Herbstblüten in der Hand, neben ihm dem Ausgang zuschritt, suchte sie in ihrer Erinnerung den Weg ihres Lebens von heute bis zu jenen Zeiten zurückzuschauen, von denen er ihr erzählt hatte. Sie fand ihn nicht völlig, das Ende verlor sich im erinnerungslosen Dunkel der ersten Kindheit, aber so weit das Licht des Gedächtnisses reichte, sah sie überall denselben treuen Hüter und Weggenossen an ihrer Seite, kein Glück, das sie nicht von ihm empfangen, kein Weh, über das er sie nicht getröstet hatte!

Plötzlich blieb sie stehen, reckte die Arme zu ihm auf und lehnte schluchzend ihr Köpfchen an seine Brust – „Lieber, lieber Pate!“

Er blickte liebevoll auf sie nieder und legte sanft seine Hand auf ihre Schulter. Dann machte er sich los und strich ihr die Löckchen aus der Stirn.

„Gieb mir die Blumen,“ sagte er, „ich will sie dir in meinem Taschenbuch verwahren.

Dann verließen sie den Friedhof und fuhren zur Bahn zurück, durch eine neue Vorstadt mit mehreren Fabriken, vielen Arbeiterhäusern und einer halbfertigen Kirche. Der Ort blühte. In seinen Preßverhältnissen schien sich wenig verändert zu haben. Die neueste Nummer der Zeitung, die Bardolf einst redigierte, fand sich im Wartesaal.

Als die Sonne dieses Tages sank, waren die beiden schon viele Meilen von dem „Kohlen- und Heidenest“, und am fünften Tage sah Grete zum erstemal, atemlosen Staunens voll, das Meer, die Ostsee, still und schön, leuchtend im Sonnenschein und belebt von unzähligen Fahrzeugen. Sehr viel Wunderbares hatte man auf dieser Reise erlebt und gesehen; alte Städte mit Kirchen und Rathäusern, die der Pate „natürlich“ genau kannte, waldige Berge mit turmhohen Denkmälern, große Häfen voll tausend haushoher Schiffe, und Gasthöfe mit mehreren Kellnern, die einen als gnädiges Fräulein anredeten – aber dies war doch das wunderbarste! Und am Strande dieses Meeres, in dem schönen, weißen Hause, inmitten des wundervollen Buchenwaldes, sollte sie nun zwei Jahre lang wohnen!

Ach, man erlebt doch recht viel Großes, wenn man alt wird!

Der Doktor Hans Ritter hatte schon etwas mehr erlebt; er hatte sogar beinahe drei Jahre am Meere gewohnt, allerdings nicht als reichlich zahlender Schüler, sondern als sehr kärglich bezahlter Hauslehrer. Aber auch er war zufrieden. Fräulein Martha Weber hatte wieder einmal recht gehabt; und was ihn noch besonders freute, war, daß er sich mit dem Geistlichen, der Grete hier zur Einsegnung vorbereiten und einsegnen sollte, ebensogut verstand wie mit den Damen der Anstalt.

Wiederum sehr auf Umwegen kehrte der Doktor Hans Ritter heim, er hatte Geschmack am Reisen gefunden; vielleicht war ihm sein Heim auch plötzlich minder anziehend geworden.

Als er dieses dann wieder betrat, fand er bereits das erste Briefchen Gretes vor. Er las so lange darin, als ob es ein Buch wäre. Dann ging er auf ihr verlassenes Zimmer, wo auf dem Tischchen das verblichene Bild ihrer Mutter inmitten des dichten frischen Epheus stand. Noch nie war ihm die wachsende Aehnlichkeit so aufgefallen wie jetzt, da er beim Lampenschein Gretes Züge aus dem Gedächtnis mit diesem einige Wochen vor Emiliens Vermählung aufgenommenen Lichtbilde verglich. Nur stärker, freier versprach Hans Bardolfs Kind zu werden.

Er wollte das Bild auf seinen Schreibtisch hinübertragen. Aber er ließ die Hand wieder sinken, ohne es zu berühren. Es war ihm, als gehörte es noch immer einem andern, außer dem es niemand bewahren dürfte als das Kind der beiden. Als aber die gute Luise am anderen Morgen das Arbeitszimmer ihres Herrn betrat, sah sie auf seinem Schreibtisch das neueste Bild Gretes aufgestellt, das er vor ihrer Abreise hatte machen lassen, und davor lag ein kleiner, blaßgrüner Epheuzweig.

(Schluß folgt.)

[132] 0


Blätter und Blüten.

Der Fastnachtsbär. (Zu dem Bilde S. 117.) Sang und Klang schallt die Dorfstraße herauf. Groß und klein ist auf den Beinen, denn der „Fastnachtsbär“ hält heute seinen Umzug. Er ist ein zottiger Geselle; aber böse Zungen behaupten, daß sein Fell niemals auf einem Bärenleibe gesessen habe. Er ist offenbar an südlichere Luft gewöhnt, und in Böhmen ist es ihm zu kalt, darum ist er vom Kopf bis zu den Füßen in Erbsenstroh gehüllt und fest mit Strohbändern umbunden. Auch hat er Stiefel an, und wenn man ihn neckt, klingt’s bisweilen wie ein menschliches Lachen mitten aus dem Stroh. Aber er tanzt fleißig und gut und geht so hübsch aufrecht auf seinen Hintertatzen, daß man denken könnte, er hätte außer in frühester Jugend seine Vordertatzen noch niemals zum Laufen benutzt. Ihre Fertigkeiten hat er indessen wohl ausgebildet; hält er doch ganz richtig eine Kanne Bier in den Tatzen und bietet diese den Umstehenden manchmal zum Trunke dar. Sein Führer ist ein netterer Geselle. In seinem grauen, weiten Kittel, den kurzen Hosen, roten Strümpfen und Schnallenschuhen sieht er gar sauber aus, und der breitkrempige Hut macht einen verwegenen Eindruck. Offenbar hat er selbst den Bären so gut abgerichtet; denn derselbe folgt ihm auf’s Wort und tanzt nach seiner Pfeife Polka, Walzer oder Ländler. Nur wenn ihm die Weiber das Stroh auszupfen, wird er etwas ungeduldig. Sie lassen sich aber dadurch nicht abhalten, es immer wieder zu thun; denn, in die Hühnernester gelegt, hilft es zu reicher Eierzahl!

Nicht überall wird es dem Fastnachtsbären so wohl, daß er nur seine Tanzkünste zu zeigen braucht. In Schwaben fertigt man ihn aus einem Strohmann, dem man ein Paar alte Hosen anzieht, und den man dann zum Richtplatz führt, wo er sterben soll. Denn er ist angeklagt, eine blinde Katze getötet zu haben, er kann das nicht leugnen, und so wird er in aller Form zum Tode verurteilt und – enthauptet.

Dieser seltsame Aufzug ist der letzte Rest einer Frühlingsfeier, die in alter Zeit fast bei allen germanischen Völkern begangen wurde. Der Bär ist ein Sinnbild des Winters. Nun wird es Frühling, und darum muß der Winter sterben. Darum wird ihm der Prozeß gemacht und das hochnotpeinliche Halsgericht an ihm vollzogen. Dieselbe Auffassung liegt auch der „Groppenfasnacht“ in Ermatingen am Bodensee zu Grunde, welche im vorigen Jahrgang der „Gartenlaube“, Seite 305 und 308, unseren Lesern in Bild und Wort vorgeführt wurde. Bei derselben bildet der „Groppenkönig" das Sinnbild des Frühlings, während der Winter durch eine Strohpuppe dargestellt wird. A. T.     

Der Walzer. In den gegenwärtigen Faschingstagen, wo die tanzlustige junge Welt allerorten wieder dem beliebtesten deutschen Tanze, dem Walzer, huldigt, erinnert ein Aufsatz von Alexius Becker in der „Allgemeinen Zeitung“ daran, daß der berühmte Walzerkönig Johann Strauß sich mit der Absicht trage, den Walzer „auszubauen“, in der Weise, daß die sich stets wiederholende Drehung einer größeren Mannigfaltigkeit der Touren und Figuren weichen solle. „Wenn irgend jemand, so erscheint gewiß Johann Strauß zu diesem Werke berufen. Möglich ist eine solche Erweiterung dieses graziösen Tanzes unter allen Umständen, und gründliche Kenner der Choreographie mögen oft genug bedauert haben, daß der so anmutige, schwebende Pas nur dazu dienen soll, dem Körper stets ein und dieselbe, mit der Zeit selbstverständlich monoton werdende Drehung zu ermöglichen. Auch die Allemande, der Schwestertanz des Walzers, entzückte einst unsre Großeltern durch den bunten, anmutigen Aufputz, mit dem sie geschickterweise verbrämt war. Man tanzte in Quadrillenform, jedoch immer mit jenem schleifenden Schritt, der ihre charakteristische Aehnlichkeit mit unserm Walzer ausmacht. Was der Allemande möglich gewesen, das darf man vom Walzer mit aller Sicherheit erhoffen. Vielleicht gelangt er dadurch in eine neue, feinere Phase seines ohnehin unvergänglichen Ruhmes.“ – Das wäre ja wohl möglich. Ob aber diese „neue feinere Phase“ je die Volkstümlichkeit unseres guten alten und doch ewig jungen Walzers erreichen würde, das möchten wir denn doch sehr bezweifeln.A. K.     

„Den Brotkorb höher hängen.“ Den Sinn dieser Redewendung versteht heute jedermann, aber wie sie entstanden ist, das ist im Volke in Vergessenheit geraten. Es bestand einst die Sitte, in der Wohnstube an der Thür einen Korb anzubringen, in den man Reste von Brotschnitten, die beim Mittagsmahl unverzehrt blieben, hineinzuthun pflegte. Den Kindern des Hauses war es nun erlaubt, wenn sie zwischen den Hauptmahlzeiten Hunger verspürten, in den Brotkorb hineinzulangen. Waren die Kleinen unartig, so drohte man ihnen, man werde den Brotkorb höher hängen, so daß sie ihn nicht würden erreichen können. Der „Brotkorb" ist im Laufe der Zeiten aus der deutschen Wohnstube verschwunden, die Redewendung hat sich aber bis auf unsere Tage erhalten.*      

Karnevalsfreuden. Zu den Bildern S. 120 und 121, 129 und zu unserer Kunstbeilage.) Nur fröhliche Leute dürfen dem Prinzen Karneval huldigen, und fröhlich sind in der That alle Gestalten, die auf den Bildern unserer heutigen Nummer den Lesern vorgeführt werden. Da ist auf dem Bilde „Vor dem Kostümfest" das lustige Mädel, dem die kleidsame Tracht aus Großmutters Zeit so trefflich steht. Am Tage vor dem Ballabend prüft sich das Fräulein im Spiegel; sie gefällt sich ausgezeichnet und wird so aufgeräumt, daß die Füßchen unwillkürlich im Tanztakte schwingen. Das sind Vorfreuden des Karnevals. – Mitten in den tollsten Tanzjubel versetzt uns dagegen das reichbelebte Bild der Karnevals-Française. Die karnevalistische Lust vieler Teilnehmer ist schon mehr in Ausgelassenheit übergegangen – es scheint, als ob sie das Vergnügen dieses Abends doppelt auskosten möchten, weil er der letzte des Faschings vor dem trübseligen Aschermittwoch ist. Es wird gerade eine Française getanzt, bei der sich die übermütige Stimmung eines Teiles der Ballgäste noch viel lebhafter geltend machen kann als bei den Rundtänzen. Die Damen sind in den verschiedenartigsten Kostümen erschienen: dort sieht man Pierretten, hier allerliebste Teufelchen, dann wieder Tänzerinnen, die nach der Mode aus der Biedermaierzeit gekleidet sind, und daneben eine Menge von Nationaltrachten aus allen möglichen Gegenden. Wie unterschiedlich sie aber auch angezogen sind – allen gemeinsam scheint, daß sie das Ballvergnügen mit vollen Zügen genießen und sich aufs köstlichste unterhalten. Die Augen blitzen und funkeln und schauen bald hierhin bald dorthin; die Lippen lachen und lassen muntere Scherzworte erschallen und die Wangen zeigen eine lebhaftere Färbung. Auch die Herren huldigen mit Leib und Seele dem Prinzen Karneval. Der possierliche Clown in der Mitte unseres Bildes sucht durch allerlei komische Gebärden und Bewegungen auch die übrigen Tänzer und Tänzerinnen zu ergötzen. Eifrig bei der Sache ist auch der wohlbeleibte Flügelmann, dem eine kleine Schweningerkur offenbar recht heilsam wäre; bei der im Saale herrschenden Hitze muß er stark dafür büßen und wischt sich gerade den Schweiß ab, den ihm die Ausführung der Françaisetouren verursacht. – Der Darstellung heiterer Karnevalsscherze, die beim Heimgang der letzten Gäste noch in den ersten Stunden des Aschermittwoch auf der Treppe sich abspielen, ist auch unsere heutige Kunstbeilage gewidmet. Hier sorgt wieder der Clown für die Unterhaltung und die belustigten Mienen der zur Garderobe herabsteigenden Ballschönen beweisen, daß ihm auch der letzte Scherz gelungen ist. R.     


Kleiner Briefkasten.

H. T. in S. 0Die Photographie des in Nr. 50 der „Gartenlaube“ 1896 erschienenen Bildes von Victor Blüthgen ist von Photograph Schäffner in Mühlhausen in Thür. aufgenommen.

C. M. in Elberfeld. Wir haben einen illustrierten Artikel „Ueber den Ocean“, Bilder von einem deutschen Schnelldampfer, gebracht, und zwar im Jahrgang 1890, Nr. 15.


☛      Hierzu Kunstbeilage IV: „Im Karneval“ von St. Grocholski.

Inhalt: Trotzige Herzen. Roman von W. Heimburg (7.Fortsetzung.) S. 117. – Der Fastnachtsbär. Bild. S. 117. – Karnevals-Française. Bild. S. 120 und 121. – Reingefallen. Plauderei von Rudolf Kleinpaul. S. 123. – Der Schlüssel. Eine nächtliche Geschichte von Eva Treu. S. 124. Mit Abbildungen S. 124, 125, 126 und 127. – Die Hansebrüder. Roman von Ernst Muellenbach. (Ernst Lenbach) (7. Fortsetzung). S. 128. – Vor dem Kostümfest. Bild. S. 129. – Blätter und Blüten: Der Fastnachtsbär. S. 132. (Zu dem Bilde S. 117.) – Der Walzer. S. 132. – „Den Brotkorb höher hängen.“ S. 132. – Karnevalsfreuden. S. 132. (Zu den Bildern S. 120, 121, 129 und zu unserer Kunstbeilage.) – Kleiner Briefkasten. S. 132.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.