Die Gartenlaube (1897)/Heft 40
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Nr. 40. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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(9. Fortsetzung)
In dem altdeutschen Trinkstübchen deckte August den Tisch.
Hier oben wurden seit dem Tode der Mutter die Mahlzeiten eingenommen, wieder ganz wie zu Ludwigs Junggesellenzeit, um der Ungemütlichkeit des langen, anspruchsvollen Speisesaales auszuweichen. Mit seiner kleinen Kredenz, seinen verschiednen tiefen Wandschränken und –tischen bot das eichengetäfelte heimelige Gemach Raum genug zur Unterbringung der täglich nötigen Tischgerätschaften. Es lag, mit seinen beiden Fenstern auf die Straße schauend, als gemütliche „Kneipecke“ für kleinere gesellige Zusammenkünfte gedacht, um aber der vielfältig eingeteilten Räumlichkeiten des oberen Stockes durch eine Thür mit dem nach dem Park zu gelegenen Rauchzimmer verbunden. In diesem Raum, dessen viel größere Höhe man durch Hinzunahme des Kellergeschosses erreicht hatte, führte eine schmiedeeiserne, gewundene Treppe direkt auf das flache Dach und in einen ziemlich großen, sehr reizvollen, mit Säulchen umstandenen rankenverhangenen Semiramisgarten; vereinzelte Male hatte man zu Zeiten des Sommers hier unten gespeist, sehr zur stillen Unzufriedenheit der Dienstboten, die mit Schüsseln und Tellern die „halsbrecherische“ Wendeltreppe auf- und abklettern mußten, da der Aufzug wohl bis zum Korridor des oberen Stockes, aber nicht bis aufs Dach hinaus reichte. Jetzt freilich war diese Thür ins Freie seit vielen Wochen schon fest verschlossen und doppelt verwahrt.
August sah, ohne sich in seiner Orientierung zu unterbrechen, mit einem schrägen Seitenblick seiner Herrin nach, die in ihrer rastlosen Wanderung von Zimmer zu Zimmer eben wieder hier eingetreten war und nun in einer der durch vorgebaute Schränke gebildeten tiefen aufgetreppten Fensternischen stand und zu den farbig umrandeten Scheiben hinausschaute. Ein Fieber schien sie umherzutreiben, denn nach kaum einer Minute hatte sie das Zimmer wieder verlassen. Wie im Fieber glühte ihr auch das Gesicht. Das mußte doch wohl mit dem alten Pfarrer zusammenhängen. Ueber eine Stunde war er hier gewesen. Wenn das der Herr wüßte! Ihn, August, traf kein Vorwurf. Was konnte er dafür, daß die Frau ihn vom Fenster aus hatte kommen sehen!
Als Thomas gegen drei Uhr zum Speisen nach Hause kam,wunderte er sich, seine Frau schon oben
[662] im Vorsaal zu treffen, anstatt sie gewohntermaßen in ihrem Zimmer aufsuchen zu müssen.
„Was machst du denn hier?“ fragte er.
„Nichts, ich komme dir entgegen. Ich sah vom Fenster aus den Wagen einfahren.“
„Dieses aufregende Schauspiel wiederholt sich alle Tage. Bis jetzt hat es noch nie den Erfolg gehabt, mir das Vergnügen deiner Begrüßung zu verschaffen. Ist irgend was passiert, daß du mich erwartet hast?“
„Aber nein,“ antwortete sie verlegen. „Ich stand nur gerade am Fenster, als der Wagen kam, und dachte. Sieh’, da ist ja schon der gute Mann.
„Na weißt du, mein Haseken – er trat dicht vor sie hin und faßte sie an beiden Schultern – „wenn du nicht ’ne ganz gewichtige Sache auf der Seele hast, will ich Matz heißen. Für nichts und wieder nichts kommst du mir nicht wenigstens neuneinhalb Meter entgegengegangen. Ich bin doch schließlich nicht von gestern, verstehst du. Also raus mit der Sprache. Was ist los?“
„Wirklich Ludwig, es ist nichts,“ antwortete sie, immer beklommener. „Es thut mir leid, wenn du dich wunderst über eine so einfache Sache, daß ich aus dem Zimmer gehe, um dich zu begrüßen.“
„Das kann dir auch leid thun. Soll dir auch leid thun! Du siehst daraus, wie wenig du mich mit Liebenswürdigkeiten verwöhnt hast. Na, es soll vergeben sein, wenn du dich von nun an ein bißchen anständiger gegen mich benehmen willst. Also komm her, sag ’bitte, bitte, lieber Mann!'“
Sie zuckte aber unwillkürlich zurück, als er sie in seiner ungestümen Weise an sich zog und küßte; sein Bart war naß.
„Na was hast du denn? Reut es dich schon, daß du ein einziges Mal nett gewesen bist?“
„Dein Bart –“ sagte sie halblaut, sich abwendend.
„Ach so,“ lachte er, als er sah, daß sie die feuchte Spur hastig abwischte. „Da hätt’ ich wohl erst Toilette machen müssen. Na wart!“
Geschwind zog er sein Tuch aus der Brusttasche und rieb ihr damit über Mund und Wange. Sie machte sich los.
„Ich bitte dich,“ sagte sie mit einem kleinen, schlecht unterdrückten Schauder, „Jeder mit seinem eigenen. Wie kannst du nur!“
„Ei Donner! Mein schönes seidenes Tuch! Na ja, es ist von gestern. Ekelst dich? Als wenn das unter Kameraden nicht ganz egal wäre. Tuch hin, Tuch her, wenn man sich liebt.“
„O nein,“ wehrte sie eifrig, „auch dann nicht. Das könnte nie sein.“
„Auch dann nicht ist gut,“ sagte er mit einem harten Auflachen. „Dies Zugeständnis ist gut. Auch nicht, wenn du mich liebtest, hm?“
„Was für Thorheiten,“ antwortete sie, leicht erschreckt. „Ich denke, du machst dich jetzt wirklich zu Tische in Ordnung. Hast du rechten Appetit? Pauline meint, der Rehrücken wäre auserlesen.“
„Na schön. Ich werde mich also menschlich machen. Trocken und sauber. Zu Befehl. Trocken hinter den Ohren bin ich übrigens schon, wenn du das noch nicht wissen solltest. Ich kriege auch noch heraus, was heute mit dir los ist, verlaß dich drauf.“
'O nein, das kriegst du nicht heraus,' dachte Hanna, als er in sein Ankleidezimmer gegangen war. – Sie seufzte dann tief; es flog dabei ein leichtes Zittern über sie hin. Die leidenschaftliche Erschütterung dieses Vormittags zuckte ihr noch in jedem Nerv. Ihr Herz ging in schweren, harten Schlägen, ihre mühsam errungene Fassung konnte umgeweht werden wie ein Kartenhaus. Wenn sie doch noch einige Stunden Ruhe vor ihm gehabt hätte! Sie ertrug ihn noch so schlecht. Seine laute, klingende Stimme that ihr weh; jeder seiner Bewegungen hätte sie zurufen mögen: Geh weg, komm mir nicht nahe! Und seine Art, an ihr herumzunörgeln, aus ihren eignen Worten kleine Waffen zu schmieden! O, sie kannte das ja nicht erst seit gestern und heute! Und daß er eine Aenderung ihres Verhaltens nicht ohne Bemerkung aufnehmen würde, hätte sie sich eigentlich denken und hätte darauf vorbereitet sein können. Auch, daß diese Bemerkungen sich nicht zartsinnig äußern würden.
Wie dankbar wäre sie ihm für stillschweigende Schonung gewesen!
Mit ihren nach dem langen Weinen noch fieberisch glühenden Augen sah sie vom Fenster her, an dem sie lehnte, zum Speisetisch hinüber, auf den Platz, wo sie sich von nun an die Mutter sitzend denken wollte, als Warnerin, als Schutzengel.
Ich will ja, ich will ja, murmelte sie. Aber was weißt du davon, wie es ist, ohne dich!
Ludwig trat ein. In seiner hastigen, geräuschvollen Art, die Thür mit einem schallenden Schlag auf die Klinke vor sich herstoßend. Sie kannte das nun schon, aber sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, schreckte auch jetzt wieder unwillkürlich zusammen.
Er lachte.
„Nervös!“ sagte er mit gemacht hoher Stimme, indem er, die Schultern und den Rücken krümmend, ihr Zusammenzucken nachahmte. Und als sie ihm nun, mit Ueberwindung lächelnd, entgegentrat, fuhr er fort: „Na also. Ich melde mich gebügelt und geschniegelt. Nun wollen wir ’mal so thun, als wenn wir uns gegenseitig lieb hätten.“ Er zog sie an sich und küßte sie.
Tapfer, ohne Widerstand, überließ sie sich seiner Zärtlichkeit.
Der Eintritt des Dieners erlöste sie von der sie beklemmenden Umarmung. Sie atmete auf und ging an ihren Platz.
Ludwigs Gedanken erhielten im Umsehen eine völlig andere Richtung. Seine Stimmungen, unberechenbar in ihren Folgen und unberechenbar in der Raschheit ihres Wechsels, gaben der Färbung des Tages stets eine Reihe unsichrer, zackiger Linien unvermittelter Uebergänge von rot zu blau, von schwarz zu weiß. – Mit der brummig kritischen Miene des argwöhnischen Feinschmeckers studierte er jetzt das elegante, in den Farben des Meißner Porzellans verzierte Kärtchen mit dem „Menu“, das immer neben seinem Teller liegen mußte.
„Bouillon mit Risotto – Zanderfilets à la crême – Blumenkohl au four – Rehrücken mit Salat und Kompott – Vol au vent von Birnen – Käse und Obst.“
Die Suppe ließ er hingehen. Den Zander strich er mit dem Daumennagel aus. „Ess’ ich nicht.“
„Aber warum? Du hast ihn ja letztesmal gelobt.“
„Liebes Kind – Abwechslung muß der Mensch haben. Immer dasselbe ist nicht auszuhalten! Den Zander hab’ ich mir nun glücklich übergegessen“
„Bester Ludwig, vor beinahe vier Wochen hast du ihn zuletzt bekommen.“
„Keine Spur. Ich habe ja den Geschmack noch auf der Zunge.“
„Nun, das ließe sich leicht feststellen. Ich bewahre ja die Kärtchen da auf.“
„Sitzengeblieben!“ Er winkte gebieterisch mit der Hand „Alibi nachweisen …. Fehlte noch. Wenn ich dir sage, daß ich ihn mir übergegessen habe, kann dir das doch wohl genügen, was?“
„Gewiß,“ sagte sie ruhig, sich zu einem gleichmütigen Lächeln zwingend. „Der Fisch wird es verschmerzen, wenn du ihn nicht mehr magst. Ich kann dir nur im Augenblick keinen Ersatz schaffen.“
„Ersatz! Als ob ich so ein Tyrann wäre! Wie du manchmal sprichst! Ich werde mich schon so behelfen für heute. Obwohl der Blumenkohl mich auch nicht gerade zu einem Meineid verführen könnte.“ Er runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht was mit der Person, mit der Pauline, los ist. Gar nicht mehr dieselbe!“
Hanna errötete. August, der ab und zu ging und jetzt eben hinter ihr an der Kredenz stand, hörte ja der ganzen Unterhaltung zu. Das war auch eine von Ludwigs Gewohnheiten: in Gegenwart der Dienstboten alles zu besprechen, als ob sie blind und taub wären.
„Oder findest du etwa nicht?“ fragte er, da sie noch nicht antwortete.
„Ich? Nein. Aber du scheinst nicht mehr mit ihr zufrieden zu sein.“
„Hast du das bemerkt? Na weißt du, dann hättest du dich als Hausfrau schon einmal mit Ernst dahinter machen können, um Wandel zu schaffen.“
„Wenn ich nur wüßte, was du ihr vorwirfst. Sie hat an Sorgfalt nicht nachgelassen. Und wir überlegen so vorsichtig.“
[663] „Ich hab’ mir eben die ganze Köchin übergegessen. Das ist die Sache. Und dafür kann ich nichts.“
„Aber Pauline auch nicht.“
„Sag’ ich denn das? Fress’ ich sie denn? Du hast manchmal eine Art, meine unschuldigsten Bemerkungen zu verdrehen – und dabei giebt es überhaupt keinen sanfteren, geduldigeren Menschen als ich bin.“
„I du, mein liebes Herrgottchen,“ dachte August, der mit seinem steinernen Gesicht hinter Ludwigs Stuhl vorbeiging. Bloß der Lohn sollte bei dir nicht so hoch sein! Sonst – – sauer kochen könntest du dich meinetwegen lassen mit deiner berühmten Geduld. Na, warte man!“
Auf das ihr nun schon wohlbekannte Selbstlob ihres Mannes antwortete Hanna nicht. Sie ließ die Unterhaltung über eßbare Gegenstände und deren Urheberin fallen, bis der Diener mit der letzten Schüssel davongegangen war und sie mit dem schwarzen Kaffee am Kamin des Rauchzimmers saßen.
„Ich habe schon hin- und hergedacht,“ begann sie alsdann aufs neue, diese Lebensfrage des Hauses Thomas zu besprechen, „Wie man der Stimmung unseres Küchenzettels wieder aufhelfen könnte.“
Er sah sie mit gespannter Miene an.
„Sieh ’mal, also so viel Interesse hast du doch für deinen Mann, daß dir das ein bißchen durch den Kopf geht?“
„Ich habe sogar sehr viel Interesse für meinen Mann,“ unterbrach ihn Hanna freundlich. „Was meinst du, wenn man sich darauf verlegte, in allen Himmelsrichtungen nach auserlesenen Nationalgerichten zu spähen und sie sich anzueignen?“
„Ach,“ er winkte abwehrend und enttäuscht mit der Hand. „Das ist ja nichts! Nationalgerichte haben nur an Ort und Stelle ihren Reiz. Da macht man schon aus Neugier und um nichts zu versäumen, alles mit. Und es schmeckt dann auch. Oder es schmeckt nicht und man hat’s dann doch kennengelernt. Aber mit dem Uebertragen ist das nichts. Da fehlt das Klima, die Umgebung, die Ausnahmestimmung. Außerdem gelingt so was nie im Ausland, wenn man nicht darauf eingefuchst ist. Es geht nicht, laß das nur! Wenn du weiter nichts weißt!“
„Nun, ich denke mir, es müßte eine sehr hübsche Aufgabe sein, sich diese fremden Fertigkeiten anzueignen. Und dafür ist man eben ein genialer Koch, daß man die ausländische Eigenart nachmacht und sie doch vorsichtig den Gewohnheiten des eigenen Gebrauchs anpaßt. Man muß verstehen, zu modifizieren.“
Ein leises, unwillkürlich humoristisches Lächeln lief ihr über den Mund, als sie sein nachdenkliches Gesicht beobachtete, er nahm die ganze Sache blutig ernst.
„Ja, ja, ja,“ sagte er langsam. „Modifizieren. Das ließe sich allenfalls hören. Es wäre ’mal ’was Neues. Aber – ob diese Pauline dazu imstande sein wird?“
„Glaub’ ich wohl,“ sagte Hanna tröstend.
„Und wie gedenkst du das mit der Jagd auf Nationalgerichte eigentlich anzustellen? Willst du Fräulein Pauline auf Studienreisen nach Italien, Rußland, Spanien und so weiter schicken?“
„So dacht’ ich es nicht zu machen. Fortschicken wollt’ ich sie nicht. Rezepte verschafft man sich irgendwie und ausprobieren thut man es eben nach und nach. Ich denke mir das ganz interessant.“
„Willst dich wohl selber dazu in die Küche verfügen?“
„Warum nicht? Gern.“
„Schaden würde es dir nichts, wenn du dich ein bißchen für deinen Mann bemühtest. Aber es paßt sich nicht. Laß den Unsinn also!“
„Findest du es so unsinnig, wenn ich mich zu beschäftige wünsche? Mich verlangt sehr nach Thätigkeit, Ludwig. Der Müßiggang bekommt mir nicht. Ich schäme mich meines faulen Lebens.
Thomas richtete sich aus seiner halbliegenden Stellung auf und beugte sich zu ihr vor.
„Weißt du, mein Herzchen worüber du dich schämen solltest? Ueber deinen Undank. Fahre nur nicht gleich so zusammen! Ueber deinen Undank, hab’ ich gesagt. Anstatt froh zu sein, daß du jetzt ein bequemes Leben hast und keinen Pfannenstiel mehr anzurühren brauchst, jammerst du über Mangel an Thätigkeit. Als wenn du von der Sorte Unterhaltung nicht genug bekommen hättest, bis ich dich davon befreite. Ich denke, die Geschichte saß dir bis zum Halse, was? Aber mit euch Weibern werde der Teufel fertig. Nie seid ihr zufrieden. Müßt ihr euch plagen, greint ihr aus Angst vor der Not. Schafft man euch ein Paradies auf Erden, greint ihr aus Angst vor der Langweile. Ich denke, du hättest am wenigsten Grund, zu maulen, mein Kind. Wie gesagt, schäme dich!“
Hanna antwortete nicht. Mit zusammengebissnen Zähnen innerlich bebend, sah sie vor sich hin. Still, still, ermahnte sie sich. Nimm’s hin, als gerechte Strafe, schlucks hinunter! So mußte es kommen. Warum hast du des Geldes wegen den Mann genommen, den du nicht liebtest. Trag’ es jetzt mit Geduld! „Maule“ nicht!
„Na?“ fragte er, da sie nichts hören ließ als einen zitternden Atemzug. „Sind wir nun wieder in tiefster Seele gekränkt?“
„Nein,“ antwortete sie mit einem mühsamen Lächeln. „Du bist – – sehr verstimmt gegen mich.“
„Gott, Gott, Gott, verstimmt! Wenn ich dir verdientermaßen ein bißchen die Leviten lese, brauchst du nicht gleich zu sagen, ich wäre verstimmt. Du mußt dich daran gewöhnen, mein Kindchen, Tadel hinzunehmen, ohne gleich tragisch darüber zu werden. Du mußt dir diese gräßliche Empfindlichkeit abgewöhnen. Deine gute Mama hat dich immer viel zu sehr als rohes Ei behandelt. Davon sehen wir nun die Folgen. Ich sollte womöglich jedesmal einen Parlamentär mit der weißen Fahne vorausschicken, ehe ich mir gestatte, dich anzureden, ja? Das mindeste ist, daß du erschrickst. Wie ich dieses Zusammenfahren schon satt habe – na! Und jetzt wieder dies Gesicht! Als ob dir das größte Unrecht geschehen wäre.“
„Du irrst dich,“ sagte sie, sich gewaltsam fassend. „Ich glaube gar nicht, daß mir unrecht geschehen sei. Im Gegenteil. Aber wenn du vielleicht manchmal daran denken wolltest, daß mir noch recht – wund zu Mute ist – –.“
„Ja, Herrgott, denk’ ich denn etwa daran nicht? Als ob ich nicht seit Monaten die unendlichste Geduld mit dir gehabt hätte! Mir Ungeduld vorwerfen zu wollen, ist wahrhaftig unerhört, das muß ich sagen!“
Er sprang auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
Ein Weilchen sprach nun keins von ihnen.
Hanna saß unbeweglich, mit aufgestütztem Kopf, die eine Sesselquaste in der festgeschlossenen Hand, und blickte auf den Teppich zu ihren Füßen nieder. Im Gaskamin glühten die kleinen Fancykohlen, ihr Wiederschein spiegelte sich in den silbernen Gerätschaften auf dem niedrigen Tischchen zwischen den beiden weitläufigen großen Sesseln. Zwei elektrische Lampen in Laternenform verbreiteten durch ihre zartgefärbten Gläser ein sanftes Licht. Im Zimmer war alles still, nur von draußen her klang das unablässige Rauschen und Prasseln des Regens, das dumpfe Stöhnen des noch nicht ermatteten Windes.
Thomas hielt in seiner Wanderung inne, vom entgegengesetzten Ende des Zimmers her sah er zu seiner Frau hinüber. Allerlei Empfindungen, Verdruß gegen sie, die ihn in ihrem ganzen Wesen so schwer enttäuschte, wiederaufglühende Wonne an ihrer lieblichen Schönheit, Triumph der Besitzesfreude, Ingrimm über die Unbesiegbarkeit ihrer kühlen Ruhe seiner Leidenschaft gegenüber – quirlten sich in ihm zu einem heftigen, unklaren Gefühl zusammen.
Es entlud sich, wie sich vorläufig noch ein jeder derartiger Widerstreit in ihm entladen hatte.
„Komm her,“ sagte er, rasch auf sie zugehend, „sei brav –“ und schloß sie heftig in seine Arme.
„Du bringst mich um – erbarme dich –“ bat sie zitternd.
„Ich wollt', du brächtest mich einmal so um,“ gab er lachend zurück.
Er hielt sie jetzt auf seinen Knieen, so fest umschlungen, daß sie sich an seine Schulter lehnen mußte, sie mochte wollen oder nicht. „Wünsch’ dir ’mal was!“
„Ich danke dir, Ludwig,“ sagte sie leise. „Ich habe ja alles, ich wüßte nichts, was ich mir kaufen könnte.“
„Na aber, du langweilst dich ja! Was kann ich thun, um [664] dir die Zeit zu vertreiben? Ins Theater gehen können wir nicht. Während der Trauer kann man ja nichts vornehmen!
„Während der Trauer,“ wiederholte sie sacht wie ein Hauch. Er hatte es aber wohl gehört.
„Ja! Nicht wieder sentimental sein! Ich will und mag nun einmal nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Und übrigens, verstehst du, muß alles seine Grenzen haben. Auch diese Trauerbezeigungen. Du denkst doch wohl nicht, für ewige Zeiten schwarz wie ein Kolkrabe angezogen herumzulaufen. Wenigstens wollte ich mir das verbeten haben. Und auch von mir wirst du nicht verlangen, daß ich deiner verstorbenen Mama zu Ehren mein ferneres Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit zubringe.“
„Gewiß nicht,“ versetzte sie. „Hast du das von mir gedacht?“
„Na, angestellt hast du dich genügend danach. Also, Gesellschaften geben, in Gesellschaften gehen können wir noch nicht, in Theater oder Konzerte auch nicht. Konzerte machen mir auch keinen Spaß –“
„Wenn es dir recht wäre,“ unterbrach sie ihn mit einem schnellen Entschluß, „so möchte ich wohl am Samstagabend wieder einmal in die Kirche gehen, um den Chor zu hören. Selber zu singen wäre mir noch nicht möglich. Aber nach Musik, nach dieser Musik verlangt mich sehr.“
Aus seinem Gesicht war im Nu alle Freundlichkeit weg. Eiskalt sah er sie an. Er hatte auch gleich die Arme sinken lassen, so richtete sie sich auf.
„Es ist dir also nicht recht?“ fragte sie zaghaft, als er nicht antwortete.
„Nein,“ erwiderte er endlich. „Es ist mir sogar im höchsten Grade unangenehm, daß du darauf wieder zurückkommst.“
„Ist dir denn die Musik so sehr unsympathisch?“
„Unsympathisch! Ich halte sie einfach für ungesund. Und besonders für dich ist sie geradezu schädlich.“
„Aber warum denn?“
„Weil sie deine Sentimentalität noch mehr steigert, weil sie dich immer weichlicher macht. Musik schwächt den Charakter. Das ist ein alter Satz.“
„Wo steht der geschrieben –“
„Mein Kind, bohre nicht so an mir herum, das kann ich nicht leiden! Was ich gesagt habe, habe ich gesagt. Und nun gieb dich drein. Aus dem Zuhören und aus dem Singen kann nichts werden. Jetzt nicht und später auch nicht. Ich wünsche es nun einmal nicht. Als wir noch verlobt waren, konnte ich nichts dagegen thun. Ich nahm mir aber gleich vor, nachher mit dem Unsinn aufzuräumen. Ich will eine gesunde Frau, keine krankhaft aufgeregte. Und Musik zu treiben ist ungefähr das Verrückteste, das Krankhafteste, was du thun könntest. Deine Nerven sollen nicht mehr dadurch aufgereizt werden. Also ein für allemal: Gieb den Gedanken auf! Ich weiß, was für dich gut ist. Punktum!“
Sie sah ihn traurig an. „Meine ganze, liebe, arme Musik verbietest du mir?“
„An dieser Fragestellung kann man schon gleich sehen, wie recht ich habe, da mein Veto einzulegen. Du fragst, als wenn ich dir so etwas wie eine Lebensader unterbinden wollte.“
„Und wenn es nun etwas derart wäre?“
„Thu’ mir den einzigen Gefallen, mein Engel, und quatsche nicht! Höchste Zeit, daß du in gesunde Behauptung kommst. Aus dir wäre was Schönes geworden, wenn du mit deinen verdrehten Singbrüdern zusammengeblieben wärest.“
Hanna antwortete nicht mehr. Mit fernhinträumenden Augen sah sie an ihrem Mann vorbei. Wieder war etwas vor ihr versunken, das nicht mehr zurückkam. Wieder war sie um eine Freude ärmer geworden.
„Schade, daß ich das nicht schon heute morgen gewußt habe,“ sagte sie dann ruhig. „Ich hätte es dem Pastor gleich sagen können.“
„Dem Pastor? Was heißt das?“
„Er war hier.“
„War hier?“ fuhr Thomas auf. „Wie kommt der Kerl, der August, dazu, ihn hereinzulassen?“
Hanna sah ihren Mann betroffen an. Plötzlich fiel ihr das verlegene Gesicht des Dieners wieder ein. Sie machte sich hastig los und stand auf.
„Hast du vielleicht Auftrag gegebe,n ihn abzuweisen?“
„Jawohl. Und zwar strengen. Ein für allemal. „Warum?“ fragte Hanna schroff, mit glühenden Wangen. „Er ist mein ältester Freund.“
„Aber nicht meiner,“ antwortete Thomas, der sich gleichfalls erhoben hatte. „Und nach meinen Wünschen richtet sich der Verkehr hier im Hause.“
„Was hat dir Erdmann gethan?“
„Nichts. Aber er ist mir unangenehm und das genügt. Und er beeinflußt dich und das will ich nicht.“
„Du solltest dich freuen, daß er mich beeinflußt. Du weißt nicht, wie sehr er dein Freund ist.“
„Ich brauche seine Freundschaft nicht. Er soll mir vom Halse bleiben! Ich kann famos ohne ihn leben.“
„Daß ich ihn lieb habe, das gilt dir nichts?“
„Du brauchst niemand lieb zu haben als mich. Weder den Pastor, noch den Musikanten, noch den Schulmeister. Ich wünsche deine Freundschaft nicht mit soundsovielen Anbetern zu teilen.“
„Schäme dich!“ sagte Hanna laut und scharf. Ohne ihn noch einmal anzusehen, verließ sie das Zimmer.
Sie sahen sich an diesem Tage nicht mehr.
Thomas verließ nach einer Viertelstunde, ohne sich von ihr zu verabschieden, das Haus und kam erst tief in der Nacht wieder heim.
In der durch nichts unterbrochenen Ruhe ihres dunkler und dunkler werdenden Zimmers hatte die einsame Frau Zeit, das Geschehene und seine Folgen zu überdenken. Rastlos, von schmerzhaft fieberischer Glut getrieben, ging sie auf und ab. Ihre Stirn brannte, durch ihren Kopf schoß es wie jagende Funken.
Das also war der Anfang dieses neuen Lebens! Krieg, Krieg! Wenn das die Mutter wüßte! So durfte es nicht weiter gehen. Ganz gewiß nicht. Aber was thun? Sich einfach ducken? Sich einfach knuten lassen? Also sollte auf der einen Seite alle Willkür herrschen, auf der anderen nur stumpfsinnige Folgsamkeit? Was wurde dann aus dieser Ehe? Eine Hölle. Immer eine Hölle, was sie auch thun und lassen mochte. Eine Hölle, wenn sie sich zu seiner Sklavin machte. Eine Hölle, wenn sie sich sträubte gegen seine Faust. Im Frieden wie im Kampf der gleiche Jammer. Und ohne Ende so, noch zwanzig, dreißig, vierzig Jahre lang, das ganze, entsetzlich lange Leben hindurch.
Wenn das die Mutter wüßte!
Teuer genug erkauft war ihre Ruhe. Aber sie hatte diese Ruhe noch. Kein Leib, kein Schrecknis, das ihr Kind betraf, that ihr jetzt mehr weh. Wie gut das war! Was für ein Trost das war! Was für ein bittersüßer Trost in dieser tiefen Einsamkeit! Einsam war sie, ja, ja, einsam. Wo war die sanfte Kraft dieser unsterblichen Seele geblieben, die helfen sollte, das Schwere zu ertragen, die alle Bitternisse aufsaugen, die Mut zum Wandern geben sollte? Hatte sie ihr nicht noch eben erst zutiefst das Herz bewegt? Fort war sie, hatte sich auf ihren unsichtbaren Flügeln davongemacht. Und sie war in ihrer gottverlassenen Oede wieder allein. – Wirklich? Wirklich? Mit diesem über das Grab hinaus fürsorgenden Zeugnis der Liebe allein? Mit dieser zärtlichen Mahnung zur Tapferkeit allein? Mit diesem auf das weiße Blatt geküßten letzten Gruß allein?
Verzeih mir, Mutter, verzeih!
Also Kampf! – Aber nicht Kampf gegen ihn, der seines Sieges ja doch schon sicher war. Kampf gegen die eigene Schwäche, gegen die eigene Feigheit, gegen den kränklichen Wunsch, sich still auf die Erde zu legen und das Leben über sich weggehen zu lassen, ohne sich noch zu wehren, ohne sich noch zu rühren in Kampf gegen die Furcht, sich in diesem Leben noch einen Lebenszweck zu suchen und ihn zu erfüllen!
Also vor allen Dingen still sein, fügsam, brav! Es war ja auch das einzige, was ihr übrig blieb. Vielmehr das einzige, was ihr von Rechts wegen zukam. Sie hatte keine Selbstbestimmung mehr. Durfte keine mehr haben. Durch das Zugeständnis
[665][666] dieser Ehe ohne Liebe hatte sie sich selber aufgegeben. Denn ehrlich: Mit der tiefsten Sehnsucht im Herzen nach einem anderen Mann hatte sie den geheiratet, der ihrer Seele gänzlich fremd war, allein des Geldes wegen. Und wenn es auch für die Mutter geschehen war, und wenn es auch den Namen Opfer trug – – ein Handel war und blieb es doch! Sie hatte ja auch Vorteil davon gezogen. Ein trauriger Handel freilich. Würde sie ihn wohl geschlossen haben, wenn sie gewußt hätte, daß in wenigen Wochen ihre sonnige Zukunftshoffnung in Trümmer fallen würde? Daß in wenigen Wochen nichts mehr übrig sein würde von dem, was ihrer That allein zur Sühne gereichte? Daß sie zurückbleiben würde inmitten dieses fluchbeladenen Reichtums, dessen Besitze sie sich schämte, als hätte sie ihn gestohlen? Zurückbleiben als Eigentum des Mannes, vor dessen Zärtlichkeit ihr graute bis ins Herz hinein? Zurückbleiben mit diesem Stachel in der Seele, diesem Stachel des verbotenen, sündhaften Heimwehs nach dem liebsten Freund?
Daß Gott erbarm! – Nur von diesem Gedankenabgrund weg! An diesem „Hätte“ und „Würde sein“ verlor sie den Verstand.
Es war nun ganz dunkel im Zimmer. Aber es verlangte sie nicht nach Licht. Sie brauchte nichts zu sehen. Allgemach erlosch die quälende Glut in ihrem Kopf, die schmerzhafte Rastlosigkeit, die sie umhergetrieben hatte, löste sich in dumpfe Schlaffheit auf. Erschöpft und schattenhaft, wolkig gestaltlos schoben sich die Gedanken hinter ihrer Stirn. In einer Art von Traumzustand, der wohlthätig als Widerspiel der leidenschaftlichen Erregung folgte, saß sie jetzt still in einer Ecke – wie lange, kam ihr nicht zum Bewußtsein. – Es war dann das unablässige Nagen und Bohren der Selbstvorwürfe, das in seiner stillen Emsigkeit mächtiger war als alle Klagen über erlittenes Unrecht, was sie endlich weckte. Sie richtete sich wieder auf und starrte in die Dunkelheit.
Ungerecht durfte sie gegen ihren Mann nicht sein. Gegen ihn am allerletzten. Sie hatte viel Ursache, ihn recht milde zu beurteilen, gerade, weil sie ihn nicht liebte. Hätte sie seine Zärtlichkeit erwidert, so wäre es kein besonderes Verdienst gewesen, ihm willig zu gehorchen, die Ecken und Kanten seines Wesens, die Härten seines Charakters mit Sanftmut zu ertragen. Denn die verzeihende und ausgleichende Kraft der Liebe schlägt Brücken über jede noch so tiefe Kluft. Ihm aber war sie in tiefster Seele fremd. Wollte es ihr denn nicht gelingen, sich das Gefühl der herzlichen Sympathie, der dankbaren Ergebenheit zurückzurufen, das sie während der kurzen Brautzeit doch zu allermeist noch erfüllt hatte? – Freilich – damals lebte die Mutter noch, atmete auf, schien zu gesunden! Damals, nach der tapfern Ueberwindung jenes ersten, ach, nur allzu verheißungsvollen, tödlichen Schreckens, war sie noch von dem Fieber der Opferfreudigkeit durchglüht gewesen. Erst die Erfüllung ihres Versprechens gab ihr Klarheit über das, was sie gethan hatte. Erst als es zu spät war, sich noch retten zu können, wußte sie, was ihr Los geworden war. Nun war die Mutter tot, das Opfer vergeblich. Uebrig geblieben allein die unerbittliche Notwendigkeit, die Liebe des Ungeliebten zu ertragen, lebenslang. Und freundlich zu ertragen, sanftmütig und geduldig zu ertragen, in steter dankbarer Erinnerung der empfangenen Wohlthaten, die ja aus gutem Herzen dargebracht worden waren. Nie durfte sie vergessen, daß er bis jetzt stets der Gebende, sie stets die Empfangende gewesen war. Nie durfte sie vergessen, daß ihr zu seiner gerechten Würdigung die Liebe fehlte, daß alles zwischen ihnen anders geworden wäre, wenn sie für ihn so gefühlt hätte wie er für sie – wenn ihr Jawort so ehrlich gewesen wäre wie seine Frage. Mit seiner Eifersucht, die ihn mißtrauisch, zornig, boshaft machte, mußte sie Mitleid haben, statt ihm dafür zu grollen. Es war ein Leiden, das ihr stets fremd bleiben würde und von dem sie ihn doch niemals würde heilen können. Also, also sie mußte ihm viel mehr verzeihen können als er ihr. Das war’s. Lag da vielleicht der Lebenszweck, auf den die Mutter hingewiesen hatte? Nicht vielleicht, sondern ganz gewiß! Da hatte sie also eine Arbeit. Eine Arbeit freilich, zu der das ganze Leben nur gerade ausreichen würde. Eine Arbeit, an der die Seele sich todmüde schaffen konnte ohne Ansehen! Aber wollte sie das nicht? Deuchte sie nicht etwas derart, um sich selber los zu werden? Sie hatte sich das Müdearbeiten zwar vorzeiten anders gedacht – recht, recht anders. Mit viel Sonnengold darüber, und viel frischem Wind um die freie Stirn und viel ehrenfestem Vertrauen in den Augen neben ihr! Das war nun für immer vorbei. Sie mußte nun versuchen, im Schatten und allein fertig zu werden. Der Brief der Mutter sollte nicht umsonst geschrieben sein. Ganz gewiß nicht!
„Sei gegen deinen Mann, das bitt’ ich dich, von ganzem, ganzem Herzen, immer so, als wenn ich noch da wäre. Thu’ mir auch im Tod kein Leid, wie du mir im Leben keins gethan hast.“
Dieser Mahnruf, in dem sich all ihre tiefe Sorge für die Zukunft ausgesprochen hatte, sollte ihr Talisman bleiben von nun an!
Von Heinrich Lemcke. Mit Illustrationen von Ewald Thiel.
Die Vereinigten Staaten von Amerika verdanken den Einwanderern aus Europa ihren Ursprung, ihre Größe und Blüte. Noch vor einem Menschenalter war dem gewaltig emporwachsenden Staatswesen der Zufluß von Fremden willkommen und noch im Jahre 1864 erließ der amerikanische Kongreß einen Beschluß zur „Aufmunterung der Einwanderung“.
Doch die Zeiten haben sich geändert, Amerika ist erstarkt und sucht den Einwandererstrom zu regeln und einzudämmen. Zu diesem Zwecke erließ die Bundesregierung in Washington unterm 7. Mai 1893 ein Gesetz, das allen mittellosen Einwanderern, Kontraktarbeitern, Armenhäuslern, allen Polygamisten, Idioten, Irrsinnigen, Verbrechern usw. die Landung in Amerika verbietet. Dasselbe Gesetz verpflichtet ferner die beweisende Dampfschiffkompagnie, welche derartige Einwanderer nach den Vereinigten Staaten befördert haben, dieselben auf ihre Kosten nach ihrem Abgangsorte zurückzutransportieren und außerdem die Unterhaltungskosten während ihres Aufenthalts in dem amerikanischen Landungsdepot zu tragen.
Um die Kontrolle zu erleichtern, müssen die Dampfschiffkompagnien „Manifeste“ führen, welche bezüglich der Einwanderer zwanzig verschiedene Fragen beantworten. Auf diesen Scheinen sind das Alter, Geschlecht, der Familienstand, die Nationalität, der bisherige Wohnsitz und das Reiseziel der Einwanderer festgestellt, sie geben ferner Auskunft, ob der Betreffende lesen und schreiben kann, ob er im Besitz eines Durchgangs-Eisenbahnbillets nach seinem amerikanischen Bestimmungsort sich befindet, ob er aus eigenen Mitteln die Ueberfahrt bezahlt hat oder auf wessen Kosten er gereist ist, ob er im Besitze von Geld ist, ob und zu welchen Verwandten er reist, ob er gesund oder mit körperlichen Gebrechen behaftet ist usw. Das Manifest muß von dem Kapitän und dem Arzte des betreffenden Schiffes noch vor Antritt der Fahrt vor einem Konsul der Vereinigten Staaten im Auslande beschworen werden und bildet die Unterlage für die Prüfung der Einwanderer in dem amerikanischen Landungsdepot.
Ein solches wurde bald nach dem Erlaß des neuen Einwanderungsgesetzes auf Ellis Island errichtet. Auf dieser etwa 7½ Hektar großen Insel, die an dem Zusammenflusse des Nord- und Ost-Rivers dem Hafen von New York vorgelagert ist, wurden die nötigen Bauten ausgeführt, deren Gesamtansicht unser Bild (S. 668) wiedergiebt. In dem 160 m langen und 50 m breiten Hauptgebäude war das untere Stockwerk für das Gepäckmagazin der Einwanderer bestimmt worden, während in dem zweiten Stocke die riesige Registrierungshalle und die zahlreichen Bureauräume untergebracht wurden. An dieses Gebäude schlossen sich noch besondere Hospitalbauten, Maschinenhaus, Kohlenschuppen usw. an. [667] Die Leitung des Institutes wurde dem Einwanderungskommissar Dr. Joseph H. Senner übertragen, der in anerkennenswerter Weise dafür Sorge trug, daß überall Ordnung und Reinlichkeit herrschte, und die detenierten Einwanderer, d. h. solche, denen aus irgend welchem Grunde die Einwanderung nicht gestattet werden durfte, in humaner Weise behandelt wurden.
Am 15. Juni dieses Jahres wurde das großartige Depot von einer Brandkatastrophe heimgesucht und es wird geraume Zeit vergehen, bis sein Wiederaufbau vollendet ist. Gegenwärtig begnügt man sich mit provisorischen Unterkunftsräumen.
Kurz vorher hatte ich Ellis Island besucht und, überwältigt von den Eindrücken, die sich mir dort boten, den folgenden Bericht niedergeschrieben, der gewiß den weiten Leserkreis der „Gartenlaube“ interessieren wird.
Auf dem Ferry-Dampfboot, welches den Verkehr zwischen dem Depot und New York vermittelt, indem es jedermann unentgeltlich befördert, begab ich mich nach Ellis Island.
Der Einwanderungskommissar gestattete mir in liebenswürdigster und zuvorkommendster Weise, mich überall frei und ungehindert zu bewegen, und wo es not that, war er persönlich mein Führer.
Zunächst postierte ich mich derart in dem großen Registrierungssaale, daß ich den „Einmarsch“ der Einwanderer von dem Hamburger Postdampfer „Pennsylvania“ am besten übersehen konnte. Neben mir standen einige in Seide und Sammet gekleidete Amerikanerinnen, die wohl ein Sonderinteresse an dem Besuch auf Ellis Island haben mochten.
Auf ein gegebenes Glockensignal öffnete sich mit einem Male die Thür zum Registrierungssaal (vgl. Abbildung S. 665), und nun zog ein Schwarm von mehreren hundert Einwanderern in den Riesensaal. Der Nationalität nach waren die meisten Deutsche, aber auch viele Oesterreicher, Ungarn, Russen, Schweizer, Schweden, Norweger und Dänen befanden sich darunter.
Im Gänsemarsch, mit Kisten, Kasten und Bündeln, altem Trödelkram und urväterlichem Hausrat, oft auch mit Säuglingen bepackt, zogen sie hier vorbei, von Aerzten einer Kritik unterworfen, um dann in durch Drahtgitter abgeteilte Räume für je dreißig Personen verteilt zu werden. Ein eigentümlicher Anblick, diese ganze Scenerie! Die jüngeren, namentlich die Mädchen, haben sich festlich geputzt, die liebe Eitelkeit der holden Jugend erlaubt ihnen nicht anders als so den Boden der Neuen Welt zu betreten. Die ältere Generation der Einwanderer befolgt indessen ein anderes Prinzip. „Für die Reise ist’s halt gut genug,“ scheint hier der leitende Gedanke zu sein. In einem Raume sehen wir eine deutsche Familie, die fast einen ganzen Stammbaum bilden. Fünfzehn Personen sind es – das zählt! Dort in einer Ecke erblicken wir ein blutjunges, hübsches Mädchen, eine Waise, kaum sechzehn Jahre alt, die mutterseelenallein die Reise übers Weltmeer machte; hier sehen wir eine Gruppe abgemagerter Männer, welche sichtlich die Not aus der Heimat vertrieb; dort sucht eine Mutter den Hunger eines schreienden Säuglings zu stillen; hier hält ein Landeskundiger seinen Schiffsfreunden, lauter jungen, flaumbärtigen Männern, einen Vortrag über die amerikanische Kunst, reich zu werden. – Und nun gar das Sprachengewirr! Die vielen Dialekte dieser internationalen Gesellschaft!
Das Registrieren beginnt. Nicht weniger als acht verschiedene Registrierungsplätze sind vorhanden. Die Schiffsmanifeste dienen zur Unterlage beim Examen der einzelnen Passagiere, und je nachdem die Fragen, den Einwanderungsgesetzen entsprechend, befriedigend beantwortet werden oder nicht, wird nun der Einwanderer als landungsberechtigt freigelassen oder aber für ein Spezialverhör nach einer Separatabteilung geführt. Die landungsberechtigten Einwanderer können sodann von etwaigen Verwandten und Bekannten in Empfang genommen werden und nach New York sich begeben, oder sie verbleiben bis zum Abgang eines Emigranteneisenbahnzuges nach dem Westen im Landungsdepot, um dann von dort gemeinschaftlich zum Eisenbahndepot befördert zu werden.
Die für Spezialverhöre zurückbehaltenen Einwanderer, deren Zahl im letzten Jahre, 1896, nicht weniger als 43 645 betrug, werden, wenn die Untersuchung jedes einzelnen Falles zu ihren Gunsten ausfällt, ebenfalls freigelassen, sonst aber, wenn der „Board of Special Inquiry“ (Untersuchungsgericht), der aus vier Inspektoren und einem Sekretär besteht, zu ihren Ungunsten entscheiden muß, nach Europa zurückbefördert. Die Zurückzusendenden werden bis zum Abgang eines Dampfers der betreffenden Dampfschiffskompagnie, die sie nach Amerika brachte, auf deren Kosten in dem Landungsdepot untergebracht.
Die Zahl solcher zurückbeförderten Einwanderer belief sich im letzten Jahre auf 2374, es waren vorzugsweise Italiener, Ungarn, Oesterreicher, Russen, Engländer, Irländer, davon die Mehrzahl „mittellos“ und „Kontraktarbeiter“. Die Italiener, Russen und ein Teil Oesterreicher und Ungarn bilden auch ein großes Kontingent der „Illiteraten“, denn 50 Prozent der ersteren und 25 bis 30 Prozent der Einwanderer der letzteren beiden Nationalitäten können weder lesen noch schreiben.
Das interessanteste Schauspiel, das wir auf Ellis Island genießen können, vermittelt jedenfalls der Besuch des Bureaus des „Board of Special Inquiry“ während einer Sitzung desselben. In diesem Raume gewahren wir die Schattenseiten des Einwandererlebens. Hunger, Not, Krankheit, Faulheit, Liederlichkeit, Verführung und Irrsinn haben sich hier ein Stelldichein gegeben. Rechtschaffene Menschen, die unverschuldetes Elend drückt, gescheiterte Existenzen, die eignes Verschulden herabbrachte, stellt das Schicksal hier nebeneinander. Es sind alles zurückgehaltene Einwanderer, über die hier die Jury das Urteil fällen und deren Schicksal – ob sie Amerika betreten dürfen oder nicht – sie besiegeln soll.
Und welch’ heitere und wiederum ernste Scenen kommen hier zur Schau! – Da wird ein russischer Jude, der schon einmal zwei Jahre lang in Amerika gewesen sein will, einem scharfen Verhör unterworfen. Er spricht ein wenig gebrochen Englisch.
Der Vorsitzende fragt ihn. „Was warst du hier in Amerika?“
Die Antwort lautet: „Schneider!“
Der Vorsitzende fragt wieder. „Have you never been begging here?“
Das Wort begging ist dem Russen unbekannt, und unfähig, zu antworten, wendet er sich an den Dolmetscher um Beistand.
Dieser erklärt ihm ganz deutlich. „Du sollst sagen, ob du hast geschnorret, als du sein gewesen in Amerika.“
„Gott der Gerechte soll mich bewahren, wenn ich hab’ geschnorrt“ antwortet der arme Teufel, und da ein ihm bekannter, in New York ansässiger Landsmann sich eingefunden hat, der sich der Einwanderungskommission gegenüber verpflichtet, dafür zu garantieren, daß der Neuankömmling der öffentlichen Armenpflege nicht zur Last fallen wird, so wird ihm die Landung gestattet. Ein anderer Russe, ein junger Farmer, ist nicht so glücklich wie sein Vorgänger. Er ist ein kerngesunder, kräftiger junger Mensch, der tüchtig zu arbeiten vermag, aber – nur 15 Cents Barvermögen bei sich hat, so daß, den Gesetzen des Landes entsprechend, dieses junge, treuherzige Blut nach Rußland zurücktransportiert werden muß. Wenn es nicht gelingen sollte, jemand in den nächsten Tagen zu finden, der den jungen Mann engagiert und mit sich nimmt.
Eine Italienerin, Witwe mit drei kleinen Kindern und einem erwachsenen neunzehnjährigen Sohne, erklärt der Jury, daß sie alle zwar mittellos sind, ihr Sohn jedoch arbeitskräftig ist und ihr Ernährer sein will. Ungläubig sehen sich die Jurymitglieder gegenseitig an und schütteln die Köpfe. Doch der Jüngling weiß durch seine ungeschminkte Klarlegung der Sachlage einen so günstigen Eindruck auf die Jury zu machen, daß sie, zumal sich auch noch Landsleute für die Einwanderer verbürgen, der Familie den Eintritt in die Neue Welt nicht verwehrt.
Nun tritt ein älterer Deutscher, der in den Fünfzigern steht und Schiffbruch in seinem Leben erlitten haben muß, vor und bekennt, daß er unbemittelt ist und seine Familie, Frau und Kinder, sich noch in Deutschland befinden. Eine ihm bekannte deutsch-amerikanische Familie will ihm Arbeit verschaffen. Da tritt auch schon die Frau eines deutschen Restaurateurs aus New York vor und erklärt. „Wir kennen den Mann und wollen ihn beschäftigen als Aufwascher und Hausknecht in unserem Restaurant.“
„Und wenn der Mann nicht zu Ihrer Zufriedenheit arbeitet? Was dann?“ fragt sie ein Jurymitglied.
„Dann schicken wir ihn wieder auf unsere Kosten derheme,“ ist die schlagfertige Antwort der Frau.
[668] Auch diesem Manne wurde die Landung bewilligt. – Wie wird es ihm in seiner neuen Stellung ergehen? – –
Eine junge bildschöne Tochter Italiens, die schon etliche Jahre in New York als Kleidermacherin ansässig ist, reklamiert ihre Stiefschwester, die soeben mittellos gelandet. Erstere übernimmt die Bürgschaft für letztere, und freudestrahlend verlassen beide das Depot.
Wiederum wird ein völlig unbemittelter Mann, ein Schuhmacher aus Rußland, vor die Jury gerufen, die ihn einem strengen Examen unterwirft.
Er will einen Bruder in Amerika haben, der schon längere Jahre in Brooklyn ansässig sei. Doch derselbe ist nicht da, ihn zu reklamieren. „Zurück nach Rußland, wenn dein Bruder nicht kommt, für dich Bürgschaft zu leisten,“ lautet der Beschluß der Jury. Gleichsam vernichtet wankt der Arme nach einer Bank und läßt sich darauf nieder. – Aber nur einen Augenblick. Da hört er mit einem Male eine ihm wohlbekannte Stimme seinen Namen rufen. Es ist der Bruder, der soeben gekommen. – Ein Aufschrei, als beide einander sehen und erkennen! Sie liegen sich in den Armen und Freudenthränen rinnen von ihren Wangen. – Alle und jede Etikette ist vergessen, die Zuschauer, selbst die Jurymitglieder sind ergriffen und es entsteht eine längere Pause. – Gottlob vermag der Bruder der Jury genügend Bürgschaft zu gewähren, daß der Einwanderer der öffentlichen Armenpflege nicht zur Last fallen werde, und beide trollen dann seelenvergnügt von dannen.
Solche Scenen ereignen sich tagtäglich und der „Board of Special Inquiry“ hat das ganze Jahr hindurch an jedem Wochentage stundenlang derartige Verhöre vorzunehmen.
Die von diesem Board für nicht-landungsberechtigt erklärten Einwanderer finden auf Ellis Island bis zu ihrer Rückbeförderung nach Europa eine äußerst humane Behandlung. Die Kost für diese Armen ist kräftig, schmackhaft und reichlich. Die Schlaf- und Waschräume sind von peinlichster Sauberkeit.
Die Zeit gemahnte mich, Ellis Island zu verlassen, doch ich that es nicht, ehe ich nicht auch das Hospital besucht hatte. Bald stand ich vor dem Chef-Arzt des Krankenhauses, von ihm mit einem zuvorkommenden „please“ zum Platznehmen eingeladen. Wie ich von ihm erfuhr, belief sich die Zahl der Kranken im letzten Jahre auf 1717 Personen, also annähernd ½ Prozent sämtlicher Einwanderer, deren Gesamtzahl 1896 263 709 Personen betrug. Es starben von den Kranken 40 Personen, aber auch 10 Kinder erblickten hier das Licht der Welt. Die Gesamtzahl der Verpflegungstage betrug 14 503. Ein Rundgang durch die Räume des Krankenhauses ließ mich überall peinlichste Sauberkeit und die vorzügliche Pflege erkennen, die hier die Kranken finden.
Im Statistischen Bureau auf Ellis Island verschaffte ich mir noch nähere Angaben über die letztjährige Einwanderung. Von den gelandeten 263 709 Einwanderern waren aus Italien 66 445 Personen, Oesterreich-Ungarn 52 085, Rußland 39 859, England 38 226, Deutschland 24 230, Schweden 16 379, Norwegen 6599, Dänemark 2820, Portugal 2476, Holland 1465, Schweiz 2253, Türkei 4252. Die deutschen Einwanderer brachten den größten Prozentsatz an Geld mit und stellten den geringsten Prozentsatz bei den „Illiteraten“.
Da die Schiffahrtsgesellschaften, welche Einwanderer in den Vereinigten Staaten landen, für jeden ein Kopfgeld von einem Dollar zahlen müssen, das in den Regierungs- „Immigrant Fund“ kommt, so reicht diese Steuer nicht nur hin, um daraus die gesamten Ausgaben für die Unterhaltung der Anstalten zu tragen, sondern auch noch alljährlich einen erklecklichen Ueberschuß abzuwerfen.
Vollauf befriedigt von den auf Ellis Island gewonnenen Eindrücken, wandte ich mich zum Gehen nach der „Ferry“. Auf dem Wege dorthin traf ich die eleganten Amerikanerinnen wieder, die vorher mit mir das Schauspiel im Registrierungssaal betrachtet hatten. Ein junges, hübsches Mädchen, eine Deutsche, in einem einfachen Kattunanzug, stand vor ihnen. Vater und Mutter der jungen Einwandrerin, anscheinend dem Bauernstande angehörend, daneben.
„Well, Ihr überlaßt mir Eure Tochter als Dientmädchen?“ [669] Sie soll’s gut haben! Ich zahl’ ihr 14 Dollars monatlich!“ sprach eine der Damen.
„Mutter, was meinst du dazu?“ wandte sich der Alte fragend an sein Weib.
„Mir – soll’s – recht sein,“ stotterte diese. Dabei rannen ihr leise die Thränen von der Wange.
Und die Tochter? Sie willigte ein. War sie doch nach Amerika gekommen, um viel, viel Geld zu verdienen. Wenige Augenblicke später und das junge Mädchen wird mit den eleganten Damen davonfahren, während ihre Eltern mit einem Eisenbahnzuge dem Westen zueilen, um dort als Farmer auf der Prairie sich niederzulassen. – Wird es eine Trennung für immer sein?
„Mien Söhn, o mien Söhn!“ – dieser Aufschrei weckte mich aus meinem Nachdenken. Ich blickte hin und sah ein altes Mütterchen, das weinend und schluchzend am Halse eines stattlichen jungen Mannes hing. Die Situation erklärte sich leicht. Es war ein vor mehreren Jahren ausgewanderter junger Deutscher, der, durch Arbeit zu Wohlstand gelangt, nunmehr seine alten Eltern hatte nachkommen lassen. Hier, auf Ellis Island, sah man sich nach vielen Jahren zum erstenmal wieder. Die Freude des Wiedersehens war für die Mutter zu groß, sie mußte gleichzeitig aufjauchzen und weinen an der Brust ihres wiedergefundenen Sohnes.
Es war schon Abend geworden, als ich mich von Ellis Island verabschiedete. Bei der Landung am Battery-Park in New York gewahrte ich allerhand verdächtige Gestalten, Bauernfänger, die wie eine Meute den unkundigen Einwanderer bei seinem Auftritt von Ellis Island auf Schritt und Tritt verfolgen und sie um Hab’ und Gut zu bringen versuchen. Wahre Galgenvögel!
Welch schmerzliche Kur muß nicht ein solcher Einwanderer oft durchmachen, ehe er sich ganz in der Neuen Welt zurecht gefunden hat! Jeder Neuankömmling fühlt sich zu Vergleichen zwischen dem neu gewählten und dem Mutterlande geneigt, der Anfang ist meist sehr schwer, die Erinnerungen der Jugend steigen in der Entfernung zu idealer Höhe! Bald befindet sich der Arme in jenem Krankheitszustande, der in früheren Zeiten, wo das Reisen noch auf Wenige beschränkt war, den Schweizern als erbeigentümlich zugeschrieben wurde. Das Heimweh ist bei ihm in voller Stärke ausgebrochen und weicht nur früher oder später bei dem, der Erfolg oder Glück in der Neuen Welt findet.
Das Kind.
Gertrud ging in das Bücherzimmer, das für diesen Abend in ein Rauch- und Spielzimmer verwandelt war; der große runde Lesetisch war hinausgeräumt, dafür standen drei Spieltische mit allem Zubehör, auch mit kleinen Rauchtischchen wie die Winkel eines gleichschenkligen Dreiecks da, von dem alten Pedanten Brink wie mit dem Lineal gestellt. Gertruds rosiger Träumerkopf wandte sich in der Thür zurück: „Was noch?“ fragte sie. „Kind, vergiß das Buch nicht!“ rief der Vater ihr nach. „O nein!“ sagte sie, überlegen lächelnd, und machte die Thür hinter sich zu. Die junge, noch überschlanke Gestalt ging langsam zwischen den Spieltischen durch. Ja, ja, ich hole das Buch! murmelte sie, als spräche sie noch zum Vater. Die hellen Augen wurden wieder träumerisch; unbewußt wiederholend, halb singend summte sie vor sich hin: Ja, ja, ich hole das Buch … Ja, ja, ich hole das Buch … Sie stand vor einem der hohen Büchergestelle, schaute auf die hübschen, farbigen Einbände und durch sie hindurch, ins Ferne. Von dort klang er wieder her, ihr Vers, der Vers aus ihrem Traum.
„Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor“ …
Nein, dachte sie, den Vers werd’ ich nicht mehr los. Wie sonderbar und wie feierlich klingt es. „Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor“ … Was wollt ich doch noch? Ich wollte doch was! Weiß nicht. Kann mich nicht besinnen …
In einer süßen Unruhe ging sie weiter, an den Büchern hin. „Ach,“ murmelte sie, da ihr so unbestimmt wohlig ums Herz war, „ach, ich bin so glücklich!“ – ,Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor …‘
Schilcher trat geräuschlos ein, wie er pflegte, war er doch in dieser Wohnung ebenso zu Hause wie in seiner eigenen, der kleinen Junggesellenwohnung eine Treppe höher. Mit seinem einen Ohr hatte er Gertruds hingesummten Vers gehört, die kurze, hagere Gestalt blieb noch auf der Schwelle stehn und legte den Kopf auf die Seite, wie um mehr zu hören. „Was summt das Hummelchen?“ fragte er, ein wenig lächelnd. „Und immer ging sie fort. – – Was heißt das?“
Gertrud lächelte auch. „Das ist aus einem Gedicht, Onkel Schilcher, das du noch nicht kennst.“
„Was?“ sagte der alte Herr, die Augenbrauen hoch ziehend. „Gertrud Rutenberg dichtet?“
Sie schüttelte den Kopf: „Ich? O Gott! Nein! – So wenig wie du! – Ich hab’s nur geträumt.“
„Verse?“ fragte er sehr erstaunt. „Das ist mir noch nie begegnet.“
„Mir auch heute zum erstenmal; heute nachmittag. Weil ich die letzte Nacht schlecht geschlafen habe –“
„Ja, ja!“ warf er ein, mit seinem spöttischklug herzlichen Lächeln. „Vor dem ersten Fall!“
„So war ich heut nachmittag plötzlich weg – im Lehnstuhl, Onkel Schilcher – und hab’ dir so viel zusammengeträumt, es nahm gar kein Ende. Ich glaub’, es war ein ganzes Gedicht, – siehst du, im Traum, da hab’ ich Talent! – Und dieser eine Vers verfolgt mich förmlich …“
Schilcher nickte bedächtig. „Wahrscheinlich weil du den Traum noch niemand erzählt hast –“
Sie schüttelte den Kopf.
„Junge Mädchen pflegen aber ihre Träume gerne zu erzählen … Ist dein Vater zu Hause?“
Sie nickte. Mit dem dunkelblonden Kopf nach dem Salon deutend, warf sie hin. „Doktor Wild ist da; und Lugau.“
[670] „Junge Mädchen,“ wiederholte Schilcher in seiner trockenen Art, „… pflegen aber ihre Träume gerne zu erzählen.“
„Dir?“ sagte sie. „Du lachst mich nur aus!“
„Wie werd’ ich. Siebzehnjährige Mädchen lach’ ich niemals aus, das sind sehr ernsthafte, ernst zu nehmende Wesen. Also ein poetischer Traum?“
„O!“ stieß Gertrud heraus. „Ein wunderbarer Traum! – Weißt du, ich lag auf einer Wiese, oder auf irgend was Grünem, unter einer Eiche, oder so eine Art von Baum. Plötzlich stand da – – Aber du lachst mich wirklich nicht aus?“
„Wie werd’ ich!“
„Plötzlich stand da ein großer, langer, alter weißbärtiger Mann vor mir, sonderbar gekleidet – hast du einmal ägyptische Priester auf Bildern gesehn? Na, so ungefähr. Und der hob eine Hand – eine schauerlich weiße Hand war’s, aber doch sehr schön – und sagte ohne weiteres ein ganzes Gedicht zu mir, warum, weiß ich eigentlich nicht. Es klang aber so feierlich, so – nun lachst du. – Nein? – Es klang wie Musik wunderschön! mir schien’s wunderschön. Und der Inhalt war –“ Sie stockte. Schilcher wartete eine Weile, dann fragte er mit seinem ernstesten Gesicht. „Und der Inhalt war –?“
„Auch sehr feierlich,“ antwortete sie etwas verlegen „von Glück und – Liebe und – – Aber als ich aufwachte, hatt’ ich es vergessen. Nur diesen einen Vers hatt’ ich noch im Ohr – den du vorhin gehört hast.“ –
„Bitte, noch einmal!“
„Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor …“ Gertrud senkte ihr Köpfchen und lächelte still und glücklich vor sich hin.
Schilcher war auch eine Weile still, ganz regungslos wie gewöhnlich, denn viel mit den Gliedern zu sprechen war nicht seine Sache. Das bartlose Gesicht mit den frühen Runzeln, den starken Brauen, der gekrümmten Nase und dem vortretenden Kinn – eigentlich eine Art Nußknackergesicht – betrachtete das Mädel, an dem seine Seele so hing, mit einem langen Blick aus dem Augenwinkel, um die schmalen Lippen ging ein verstohlenes, weiches Lächeln. „Hm!“ machte er endlich und schob das Lächeln weg. „Der Vers ist übrigens eigentlich nicht ganz richtig, Gertrud. Es müßte doch heißen: Und immer ging sie vorwärts aufs offne Himmelsthor’ … Nicht?“
„Ja, ja,“ antwortete sie, dachte aber wohl an etwas anderes.
Der alte Herr schwieg wieder ein Weilchen. „Bist wohl sehr glücklich, meine kleine Gertrud?“ sagte er dann langsam.
Sie lächelte ihn träumerisch an und sagte nichts.
„Freust dich wohl sehr auf den herrlichen göttlichen?“
„Auf wen?“ fragte sie etwas hastig.
„Nun, auf den ersten Ball.“
„Ja, ja!“
„Den ersten Ball, den du selber giebst! – Wenn wir nur erst im Ballkleid prangen – Rosen im Haar, oder Gott weiß was … Wirst du auch noch fertig?“
Sie lachte. „Beruhigen Sie sich, Herr Oberappellationsrat. Regen Sie sich darüber nicht auf!“
„Werd’ mich also nicht aufregen. Danke.- Der erste Ball, den man selber giebt, siebzehn Jahre alt. – Ja, das ist nun auch eines von den Gefühlen, die ich nie gekannt habe! Der erste Ball – die Hochzeit – die Kindtaufe – diese drei höchsten Momente, die sind mir entgangen.“
Gertrud, die nun neben ihm stand – die lange Person war größer als der kleine Herr – hob sich auf den Zehen, im Uebermut, um auf die kleine Glatze zu sehn, die zwischen seinen etwas struppigen, emporgesträubten Haaren wie ein Teich im Schilf lag. „Ach, du armer Mann“, sagte ihre liebe, streichelnde Stimme. „Du bist wohl sehr unglücklich?“
„Könnt’s nicht sagen, nein!“ erwiderte er mit seiner trockenen Ruhe. „Erstens freu’ ich mich mit Gertrud Rutenberg sehr auf ihren ersten Ball. Zweitens hab’ ich diese Gertrud Rutenberg vor siebzehn Jahren taufen helfen und – und liebe sie ja ungefähr wie ein eignes Kind. Und drittens –“
„Und drittens?“ fragte das Mädchen, da er inne hielt. Ihr ganzes kluges Gesichtchen lachte. „Und drittens denkst du noch zu heiraten?“
„Ne, das doch nicht. Aber wenn wir eines Tages Gertrud Rutenberg verheiraten, dann werd’ ich ja auch dabei sein; das heißt später, später, so ein zehn Jahre hat es wohl noch Zeit!“
Gertrud sah ihn über die Schulter an, sagte aber nichts. Sie war schon wieder bei ihrem Traum, in ihr summte es wieder mit der Priesterstimme. „Und immer ging sie fort …“
„Guten Abend, Schilcher!“ sagte jetzt Rutenberg, der Vater, der mit Lugau und Wild vom Salon hereintrat. „Da ist ja wieder die ganze Whistpartie beisammen. Ihr seht, die Spieltische sind schon fertig, könntet gleich dableiben und euch niedersetzen.“
„Ja, das könnten wir wohl,“ entgegnete Doktor Wild, dessen volles Gesicht wie gewöhnlich von Behagen glänzte, „aber schöne Leute haben ihre Pflichten. Wir müssen uns erst durch den Frack und die weiße Weste unwiderstehlich machen, sintemal es ein Ballfest ist. Was würde Gertrud sagen, wenn ihre drei Haus-Adonisse nicht ihre Schuldigkeit thäten, um vollkommen schön zu sein!“
Wild sah seine Kollegen mit den vortretenden Humoristenaugen an und lächelte einen Augenblick. Sie waren alle drei nicht schön, Lugau, Wild und Schilcher, neben dem kleinen „Nußknacker“ Schilcher stand der Doktor breit und mächtig da, aber leider viel zu dick, und der viel kürzere Lugau war fast noch dicker, sodaß ihn die Freunde den „Schneeball“ nannten, weil er wie die Blüten des Schneeballs sich so allmählich aufgerundet hatte. Nur Rutenberg war ganz wohlgebaut, stattlich, ein echter nordischer Germane mit regelmäßigen, kräftigen Zügen und strahlend blauen Augen. Doch im Humor, konnte man wohl sagen, waren sie alle gleich, ein stadtbekanntes „vierblättriges Kleeblatt“, das schon lange zusammenhielt; zwei Witwer, zwei Junggesellen, drei von ihnen sehr dem Whist ergeben, das damals – im Herbst 1880 – noch nicht so wie jetzt vom Skat abgelöst worden war. Rutenberg, der vierte, saß lieber daneben als Zuschauer, allein oder mit seiner Gertrud, seiner geliebten „Puppe“. So dachte er auch heute zu thun, während seine Puppe tanzte; darum sagte er, die Hand auf einen Spieltisch legend. „Alles ist da, ihr Männer, auch den Geist des Strohmanns hab’ ich eingeladen, denn ohne den Strohmann könnt ihr ja nicht leben. Vergeßt nur nicht das Wiederkommen, und zur rechten Zeit!“
Wild verneigte sich. „Hast’s schon einmal gesagt, danke ergebenst für die Wiederholung.“
„Lieber Wild,“ bemerkte Rutenberg, „wir haben unvergeßliche Beispiele von vergeßlichen Junggesellen! – Er wandte sich zu Gertrud: Nun, Kind? Das Buch! Ich warte auf das Buch!“
„Heiliger –!“ rief das Mädel aus. „Vergessen!“
Die drei Whistspieler lachten. Wild sah die Tochter und dann den Vater mit seinen glänzenden Augen triumphierend an. „Es scheint,“ sagte er, „die Vergeßlichkeit beschränkt sich nicht auf zu dick gewordene Junggesellen –“
„Ja, ja!“ schmunzelte Schilcher. „So ein siebzehnjähriges Junggesellchen vor dem erstes Ball!“
Der kleine runde Domänenrat Lugau nahm nun auch das Wort, seine redseligen Arme mitbewegend. „So war’s auch damals mit der Grete, meiner kleinen Nichte, – heute abend kommt sie. Gab auch ihren ersten Ball, konnt’ es nicht erwarten! Ganz in Rosa, sah aus wie ein Flamingo stundenlang ging sie in träumerischer Erwartung durch die Zimmer, – so!“
Er versuchte es nachzumachen, wie das seine Art war, es saß ihm in den Gliedern, er konnte es nicht lassen. Der „Schneeball“ bewegte sich träumerisch, schmachtend hin und her, es war aber doch mehr, wie wenn eine Kugel auf zwei Rädchen rollte. „Und dann“ fuhr er fort, „dann sah sie wieder in den Spiegel, gradaus, seitwärts, rückwärts, – so!“
Er machte es wieder nach, wie seine Grete in den Spiegel schaute. Gertrud lachte, zuletzt unbändig, sie lachte sich auf einen Stuhl. „Ach“, sagte sie dann, „wie anmutsvoll spielen Sie so ein junges Mädchen! Jeder Jüngling muß sich ja in Sie verlieben, Herr Domänenrat.“
„Es war so!“ rief Lugau eifrig aus. „Auf Ehre!“
Jetzt lachten alle.
„Also, das Buch!“ sagte Rutenberg. Gertrud schnellte vom Stuhl empor: „Ja, jetzt hol’ ich das Buch!“
Sie ging wieder am nächsten Büchergestell entlang, mit [671] den Augen suchend; dabei kam ihr aber auch der Traumvers wieder und das süße Träumen im Blick. Indem sie an den bunten Rücken der Bücher mit der streichelnden Hand entlang strich, summte sie gedankenlos vor sich hin, als wäre sie allein: „Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor …“
Doktor Wild, der sie auch so gut kannte, – ihr Arzt seit der Kinderzeit – beobachtete sie heimlich, mit Vergnügen; er sah, wie sie träumte. Ihm kam auch schon die Lust, eine seiner üblichen Schnurren und Komödien zu spielen. Nicht zu ihr, sondern zu Rutenberg gewendet, warf er in seiner raschen Weise hin: „Ja, aber meine lieben Freunde, was hilft das? Es ist sehr zu fürchten, daß das Zauberfest heute abend etwas angespritzt wird –“
„Wieso angespritzt?“ fragt Lugau.
„Nu, ich meine, etwas getrübt; etwas ungemütlich. Denn die Depeschen im Abendblatt –“
Gertrud drehte sich zu ihm herum. „Was für Depeschen?“ fragte sie.
„Ist das Abendblatt schon da?“ fragte Schilcher.
„Allerdings“, sagte Wild und nickte sehr ernsthaft; „Ich hab's schon durchflogen.“ Er zuckte gegen Gertrud die Achseln, mitleidig: „Häßliche Depeschen! Störung des lieben Friedens; oder, um es mit einem kurzen Wort zu sagen: Krieg! – Ja, mein Herz, was hilft’s. Was man schon seit achtundsiebzig fürchtet, ist nun eingetroffen: die grande nation und das ‚heilige’ Rußland haben sich richtig verbündet und was sie von Deutschland verlangen, ist ein bißchen viel!“
Er wiederholte, da er das Mädchen langsam blaß werden sah: „ist ein bißchen viel!“
„Was verlangen sie denn?“ fragte Gertrud stockend.
„Die Herausgabe von Luxemburg, Livland, Kurland und auch Jütland –“
„Im Abendblatt?“ stammelte Gertrud.
Wild zuckte wieder die Achseln: „Ja!“
„Aber – – Aber das ist ja infam!“ rief das Mädchen aus.
„Was wollt’ es nicht!“ sagte Wild. „Freundlich ist es jedenfalls nicht.“
Sie sah den Doktor zaghaft an, nun ganz blaß geworden. „Und das alles können wir Deutschen natürlich nicht herausgeben?“
„Nein“, fiel er ihr ins Wort, sich scheinbar ereifernd, „nein, das können wir nicht! Luxemburg und Jütland, Livland und Kurland – das können wir nicht! Das ist ganz unmöglich!“
Gertrud blickte in ihrer Hilflosigkeit umher und sah, daß alle sonderbar heiter waren. „Worüber lächeln Sie?“ sagte sie zu Lugau.
Der Domänenrat rieb seine Hände. „Ueber die Andacht, meine liebe Gertrud, mit der Sie immer wieder auf Doktor Wilds Erfindungen eingehen. Und ein ganz klein bißchen auch über Ihren Lehrmeister in der Geographie!“
„Ah!“ rief das Mädchen, etwas verlegen. „Luxemburg und Jütland – richtig – das gehört uns gar nicht –“
„Und das andre auch nicht!“
Mit seinem ernsthaftesten Gesicht bemerkte Wild. „Fräulein Gertrud hatten ohne Zweifel in den Geographiestunden etwas Besseres zu thun …“
„Ich?“ fiel sie ihm ins Wort. „Was denken Sie!“ – Ihre rosigen Wangen wurden aber doch noch röter, ihr fiel ein, daß es wirklich schon damals anfing, das mit ihrem Arthur. In einer Geographiestunde, das wußte sie, hatte sie sich zuerst so recht an ihn festgedacht … „Immer haben der Herr Doktor solche Späße im Kopf!“ sagte sie geschwind, um die allgemeine Aufmerksamkeit von sich abzulenken.
„Was soll so ein alter Doktor sonst thun, meine liebe Gertrud?“ erwiderte Wild. „Wenn man nicht gesund genug ist, um so wie früher zu praktizieren, dann verfällt man auf Allotria. Spaß und Ernst – wie’s nun gerade kommt. Wie ein anständiger Mensch für alle Fälle zwei Krawatten im Frack hat – eine schwarze und eine weiße, so hat man auch Spaß und Gruft im Kopf! – – Wünsche also einen ungetrübten Abend, ohne Krieg wegen Jütland, und auf Wiedersehn!“
Er winkte Lugau, mit ihm zu gehen; in diesem Augenblick trat der alte Brink, der Diener, herein, um in seiner förmlichen Manier und mit seiner gedämpften Stimme zu melden, daß Fräulein Gertrud auf einen Augenblick zum Fräulein in die Küche kommen möchte. Das „Fräulein“ war die unverheiratete Schwester Rutenbergs, die seit dem Tode seiner Frau das Haus führte.
„Ah!“ sagte Wild, scheinbar sehr erstaunt. „Auch Fräulein Gertrud hat schon Wirtschaftssorgen!“
„O ja,“ entgegnete das Mädchen heiter, „auch mein Kopf kann schon mit Beidem aufwarten, mit Spaß und mit Ernst! – Auf Wiedersehn beim Whist!“ – Damit war sie schon draußen, dem alten Brink nach.
Wild folgte ihr mit den Augen. „Glückliches Geschöpf!“ murmelte er neidlos.
„Glücklicher Vater!“ setzte Lugau hinzu, mit einem kleinen Junggesellenneid; er hatte, wie Schilcher, nie geheiratet. Die Beiden grüßten und gingen.
Rutenberg, der heute vor Lebenslust strahlte – er gehörte zu den Leichtbewegten, „himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt –“ setzte sich auf einen der Spieltische. „Glücklicher Vater – o ja! – Aber das Buch hab’ ich noch immer nicht.“
„Schlechte Erziehung,“ sagte Schilcher trocken, der sich in seine Lieblingsecke gesetzt hatte.
„Natürlich,“ antwortete Rutenberg nur. – „Ich such’s also selber!“
Er trat an ein Büchergestell, aber mit einem vergnügt ratlosen Gesicht. „Gott mag wissen, wohin das Kind dieses Buch verkramt hat!“ – Er zog ein paar Bücher aus ihren Reihen hervor, schüttelte den Kopf, steckte sie wieder hin. Ebenso heiter wie zuvor wandte er sich dann wieder zu Schilcher und strahlte ihn mit den blauen Augen an, ohne zu sprechen.
„Was kuckst du so?“ fragte der in seiner Ecke.
Rutenberg lachte nur so vor Vergnügen – „Nimm ’ne Cigarre, Alter.“
Schilcher schüttelte den Kopf. „Warum ich so kucke? – Ich bin sehr fidel, Schilcher. – Das heißt, es geht mir gut. Ich beneide mich.“
„Habe nichts dagegen,“ murmelte der kleine Herr.
„Das Kind – – das Kind ist doch entzückend, Schilcher.“
„Hat das Buch verkramt.“
„Ist aber doch entzückend, Schilcher.“
Das gute Nußknackergesicht konnte sich nicht länger enthalten, mitvergnügt zu lächeln. „Meinetwegen!“ stieß er heraus.
„Und auch gut erzogen“ behauptete Rutenberg jetzt.
„Zu weich,“ sagte Schilcher.
„In der richtigen Freiheit, Alter, und darum so gut geraten.“
„Bringt dir aber das Buch nicht.“
„Der erste Ball!“ warf Rutenberg ein.
Schilcher mußte wieder lächeln. „Na ja, meinetwegen!“
Rutenberg, in seiner jugendlichen, glücklichen Unruhe, nahm wieder einen Band, betrachtete ihn, steckte ihn wieder hin. „Dieses verflixte Buch,“ sagte er mit einer Art von Genuß, „wird kein menschliches Auge jemals wiedersehn! – – Ja, was ich sagen wollte … Ich glaube wahrhaftig, Alter, ich war nie so glücklich. Hab’ heut’ nachmittag lange drüber nachgedacht, und mir ist so dankbar zu Mut. Was sich der Mensch wünschen kann, das hab’ ich – – nein, das zwar nicht: meine gute Frau ist fort. Aber es ist doch merkwürdig, was ich alles habe. Gute alte Freunde – eiserne Gesundheit – Freude an der Arbeit – ein schönes Vermögen, das ich mir selber geschaffen –“
„Und es wächst ja noch,“ bemerkte Schilcher.
„Thät nicht nötig, Alter. Aber meine brave Fabrik, die läßt sich ja nicht lumpen, will mich durchaus zum richtigen Millionär machen … Und meine gute Vaterstadt wächst auch und gedeiht, eine unserer hübschesten alten Städte, nicht? Gute, heitere Leute, nicht verschopenhauert, nicht weltwehkrank, thun das Ihre und leben gern! – – Ja und dann dieses Kind. Ihr so merkwürdig ähnlich, beinahe wie eine Fortsetzung meiner guten Frau –“
„Hat aber auch viel von dir,“ murmelte Schilcher. Rutenberg lächelte. „Das thut auch nichts, Alter! Mir deucht sogar, die Mischung ist gut! – Ein sehr liebes Kind, Schilcher.“
„Mein einziges; aber ein Prachtstück, so frisch, so gut, so drollig, so zärtlich – und poetisch auch – – na, kurz, diese Gertrud!“
Schilcher wollte nichts sagen, dieser redselige Rutenberg hatte ihn in eine Weichheit hineingeredet, die ihm beinahe
[672][673] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [674] unmännlich vorkam. Die großen strahlenden Augen schauten ihn aber gar so auffordernd an. „Freilich!“ brummte er.
„Was sagst du?“
„Freilich!“ sagte ich. – – „Mein Patenkind. – Gut, daß wir sie haben, Rutenberg.“
„Ja, gut, daß wir sie haben. Wenn mir’s zuweilen leid that, Schilcher, daß sie immer älter wurde, dieses süße Göhr, dieser kleine zierliche, spaßige, verrückte Engel, unser Trudelchen –“
Schilcher nickte, mit fast geschlossenen Augen. Er hatte ja nichts als die Trudel. Er hatte sie ja unsinnig lieb.
„Daß ich keinen Zauberstab hatte,“ fuhr der poetisch werdende Rutenberg fort, „um das süße Ding damit anzurühren ,Bleib so wie du bist, kleines Spielzeug! kleiner Menschentraum!‘ dann dacht’ ich zum Trost an die Zeit, die nun da ist, Schilcher. Jungfrau Gertrud Rutenberg, siebzehn Jahre alt, ein großes, denkendes, reizend ernsthaftes Geschöpf –“
„Das die Bücher verkramt,“ warf Schilcher ein, gegen seine Weichheit kämpfend.
„Unser Kamerad,“ fuhr der Vater unbeirrt fort, „unser Mitmensch, unsre – unsre Antigone –“
„Die nicht weiß, daß Jütland zu Dänemark gehört.“
„Die aber ein richtiges deutsches Mädchen ist; eine feine Seele – eine gute, vornehme Seele – und dabei doch immer noch unser Kind! Unser langer, magerer, reizender Liebling, ja, ja, unser Liebling; denn du alter Heuchler, dem ich bis in den tiefsten Grund seines schwarzen, grimmigen, galligen Herzens sehe, du hast sie auch so lieb wie dich selbst! Ja, du, Oberappellationsrat Gottfried Schilcher!“
„Lieber,“ sagte Schilcher tonlos und stand dabei auf. – „Nun wollt ich aber eigentlich bei dir ’ne Postkarte schreiben.“
Die Thür zum Salon öffnete sich und hinter dem melden wollenden Brink ward ein hochgewachsener junger Mann sichtbar, der den untersetzten alten Diener überragte. „Mein lieber Brink,“ sagte der auffallend hübsche Bariton des jungen Mannes, „Sie brauchen Arthur van Wyttenbach nicht anzumelden!“ Er schob Brink mit einer leichten, eleganten Bewegung ein klein wenig beiseite, nur so viel, daß er an ihm vorbeischlüpfen konnte, und trat geschwind in das Bücherzimmer. Ein mattes, flüchtiges Lächeln ging über das noch sehr junge Gesicht, die schwarzgekleidete schlanke Gestalt machte eine etwas gesucht nachlässige, aber doch auch ehrerbietige Verbeugung. Darauf warf er das schöngekräuselte Haar zurück, das ihm in die niedrige Stirn fiel, und heftete die kleinen grauen Augen wohlwollend auf Schilcher und verbindlich auf den Hausherrn. „Entschuldigen die Herren gütigst,“ sagte er mit der einschmeichelnden schönen Stimme, „wenn ich stören sollte –“
„Bitte, Sie stören nicht,“ fiel Rutenberg ihm ins Wort. Er wandte sich zu Schilcher. „Herr van Wyttenbach, ein junger – Freund unsres Hauses.“
Schilcher, dem ein Anflug von Unbehagen über das faltige Gesicht ging, machte eine seiner trockenen Handbewegungen; „Herr van Wyttenbach ist mir bekannt.“
„Jawohl, ich habe die Ehre,“ warf der junge Mann leicht und doch verbindlich hin. „Wer wird den Herrn Oberappellationsrat nicht kennen!“ Er verneigte sich nochmals ein wenig gegen den Hausherrn und sprach in fließender Rede fort: „Sie erwiesen mir soeben die Auszeichnung, Herr Rutenberg, mich einen Freund Ihres Hauses zu nennen. In dieser Eigenschaft, auf die ich stolz bin, hab’ ich mir die Freiheit genommen, an diesem festlichen Abend ein unbedeutendes Zeichen der Huldigung darzubringen und die liebenswürdige Königin des Festes damit zu begrüßen.“
Er hob den großen, farbenprangenden Blumenstrauß ein wenig, den er in der rechten Hand hielt die andere hielt seinen schwarzen Hut.
„Ich denke mir,“ fuhr er dann fort, „Fräulein Gertrud wird noch beschäftigt sein, die letzte Hand“ – er lächelte – „an das große Kunstwerk zu legen, ihre Balltoilette zu vollenden, meine ich. In diesem Fall haben vielleicht Sie die Güte, ihr diesen schlichten Blumengruß zu Füßen zu legen.“
„Mit Vergnügen,“ entgegnete Rutenberg höflich. „Ich danke Ihnen. Nehmen Sie Platz, wenn’s gefällig ist.“
„Ich wünsche durchaus nicht zu stören,“ sagte Herr van Wyttenbach rasch, „Sie haben ja selber noch Toilette zu machen und so weiter, nur auf einen Augenblick!“ Er setzte sich, Rutenberg auch. – „Der große Moment ist nun also gekommen,“ fuhr der Jüngling fort. „Der erste Ball! In welcher freudigen Erregung mag das junge Herz da schlagen …“
Er hielt lächelnd inne und blickte zur Decke hinauf.
Schilcher, der sonst so Unbewegliche, begann auf seinem Stuhl zu rutschen und warf dem Hausherrn einen Blick des Mißvergnügens zu. Indessen, Rutenberg schien das nicht zu bemerken, in etwas kerzengerader Höflichkeit erwiderte er. „Sie werden den Ball mit meiner Tochter eröffnen, hör’ ich.“
„Eine Ehre, auf die ich stolz bin!“ entgegnete Wyttenbach, wieder mit einem leichten Lächeln. „Unter diesen besonderen Umständen ist der Tanz natürlich ein Vergnügen für mich, das ich zu schätzen weiß – wenn ich auch sonst nicht mehr der unreife Jüngling bin, den dieses Herumspringen beglückt. Für ernsthafte Männer wird natürlich der Tanz zu dem, was er wirklich ist: zu einer Spielerei – einer ‚angenehmen’ – na ja, mag sein. Aber doch eigentlich zu einer geistlosen Geschäftigkeit der Beine, des unteren Menschen – also des niederen Menschen. So denke auch ich, meine Herren; halte eigentlich schon zu Ihnen – zu Ihnen. Nur die Galanterie gegen die Damen zwingt mich natürlich noch“ – – er verbesserte sich „legt mir die angenehme Pflicht auf –“
„Zu springen,“ ergänzte Schilcher trocken.
„Zu tanzen,“ schloß Wyttenbach seinen Satz.
„Schadet Ihnen nichts,“ bemerkte Schilcher.
Der junge Mann lächelte etwas gezwungen . „Gewiß nicht! – Gewiß nicht! – Außerdem ist es ja eine gesunde körperliche Bewegung – wie schon die Alten bemerkten und wenn Plato das Gehen für die gesündeste Motion erklärte, so –“
Er konnte nicht zu Ende sprechen, Gertrud erschien eben in der Thür, zu seiner Verwunderung noch im Hauskleid, aber mit einem entzückend strahlenden, zugleich auch ein bißchen verlegenen Gesicht. Indem sie ihm flüchtig zunickte und noch stehen blieb, sagte sie: „Brink hat mir’s verraten. Ein Bouquet für mich!“ Wyttenbach war aufgestanden mit einer seiner elegantesten Verneigungen kam er auf sie zu. „Allerdings,“ sagte er, das „r“ wie ein Lieutenant schnarrend, „diese armen Blumen, verehrtes Fräulein Gertrud, möchten Sie begrüßen.“ Wie zur Entschuldigung zuckte er die Achseln. „Das Beste, was unser rauher deutscher November hergab –“
„Das Treibhaus,“ setzte Schilcher hinzu. Gertrud hörte das nicht, sie nahm die Blumen und schaute sie zärtlich an. „O wie dank’ ich Ihnen!“ sagte sie mit fast kindlicher Freude. „O wie bin ich glücklich!“
Sie war aber zu eilig gewesen, der junge Mann hatte noch allerlei zu sagen, mit einer geschickt tändelnden Bewegung nahm er ihr den Strauß wieder aus der Hand und bewegte ihn vor ihr hin und her, wie wenn er damit salutierte. „Die Blumen brauchten zwar nicht deutsch zu sprechen,“ setzte er darauf seine Rede fort, „denn sie haben bekanntlich ihre eigne Sprache, aber sie möchten Ihnen doch auf deutsch ein paar Worte, ein paar Verse sagen:
‚Der Süßen Süßes!‘ spricht ein Dichterwort
‚Der Blume Blumen!‘ wagen wir zu sprechen.
Doch wir verbessern uns sofort:
Der Knospe will man Knospen brechen.
Du Knospe denn, die sich zur Blume heut’ erschlossen,
Nimm Knospen hier und Blumen zu Genossen!“
Nun erst überreichte er ihr das Bouquet, mit feierlichem Lächeln, dann wandte er sich zu den Männern zurück. „Meine Herren,“ sagte er, auf einmal zehn Jahre älter geworden, „verzeihen Sie mir diese kleine lyrische Schwärmerei!“
Das Mädchen hatte mit rührend großen Augen bewegungslos zugehört, während ihr Dichter die Verse mit seiner schönen Stimme sprach, da sie nun den Strauß wieder in der Hand hielt, die vor Freude leise zu zittern anfing, dankte sie über ihn hinweg mit einem verstohlen liebevollen Blick. Sie versenkte ihr feines Näschen, ihr ganzes Gesicht in die duftenden Blumen, küßte sie heimlich, nur Arthur konnte es sehn. Aus dem Bouquet heraus klang dann ein leises, kaum vernehmbares, glückseliges Lachen.
Unterdessen beugte sich Rutenberg zu Schilcher hinunter und sagte ebenso leise: „Ein etwas süßes, fades Herrchen was?“
[675] „Ein Hansquast!“ flüsterte Schilcher.
Gertrud strahlte wieder den Dichter an. „Und wie dank’ ich Ihnen für die schönen Verse! Die müssen Sie mir aufschreiben –“
Mit einer geringschätzigen Bewegung lehnte Wyttenbach diese Zumutung ab.
„Ich verlang’ es!“ sagte sie wie eine kleine Herrscherin, doch dann lieblich bittend. „Sie müssen!“ – Jetzt lief sie zum Vater, den sie so von Herzen liebte, und hielt ihm den Strauß hin, daß auch er daran riechen, sich mitfreuen sollte. „Nun, Ballväterchen?“ sagte sie, als er das gethan hatte, und streichelte ihm die blühenden Wangen trotzig mit dem Strauß. „Deine Trudel geht nun und macht sich schön. Könnt’st das wohl auch thun, du. Bitte, wart’ heute nicht wie gewöhnlich bis zum allerletzten Augenblick!“
„Nein, nein, ich werd’ mich anständig benehmen, Trudel,“ erwiderte der Vater. Er legte ihr eine Hand an die warme und so weiche Wange; es that ihm gar gut. Auf Schilcher hinunterblickend, deutete er mit dem Kopf auf das Kind, voll Liebe und Wohlgefallen. Sein Blick schien zu fragen: Hab’ ich vorhin zu viel gesagt? bin ich nicht sehr glücklich? – Dann fragte er auch noch mit der Stimme durch ein leises „Hm?“
„Hm!“ erwiderte Schilcher einverstanden.
Rutenberg wandte sich zu dem jungen Mann „Sie entschuldigen uns, Herr van Wyttenbach.“
„Bitte sehr“ fiel dieser ein „der sich zu entschuldigen hat, das bin ich!“ – Er nahm seinen Hut, den er vor dem Versesprechen aus der Hand gelegt hatte, wie um nun auch zu gehn.
Schilcher war aufgestanden, er nahm Rutenbergs Arm und zog ihn langsam zur andern Thür, die in Rutenbergs Wohnzimmer führte. „Ich schreib’ noch erst meine Postkarte bei dir,“ sagte er: „Brink will sie dann in den Briefkasten stecken. Im Gehn setzte er leise hinzu, nachdem er den jungen Mann zum Abschied mit der Hand gegrüßt hatte. „Und ich trinke einen Schnaps auf dies Zuckerwasser …“
„Gut zum Tanzen, Schilcher!“ flüsterte Rutenberg, harmlos vergnügt, mit einer kleinen Daumenbewegung auf Wyttenbach zurückdeutend. „Ballfutter!“ – Damit gingen sie aus der Thür.
Hanswurst und Pantalon. (zu dem Bilde Seite 672 und 673.) So weit auch die Lust am Schauspiel sich im deutschen Kulturleben zurückverfolgen läßt, so hat es doch gar lange gedauert, bis die deutsche Schauspielkunst in eigenen Theatern feste Heimstätten gefunden hat. Und als an den Fürstenhöfen Deutschlands und von Seiten einzelner Stadtverwaltungen die ersten ständigen Bühnen errichtet wurden, da waren es anfangs meist fremdländische Sänger- und Schauspielertruppen, aus Italien, Frankreich und England, welche sie angewiesen bekamen und die sich behaglich darin einnisteten. Hat so auch die dramatische Kunst in Deutschland unter dem Druck der Verhältnisse später als in jenen Nachbarländern ihren Aufschwung genommen. Und als sie erstarkte, mußte sie sich die bereits von der Kunst des Auslands beschlagnahmten heimischen Wirkungsstätten erst mühsam erobern. Die ersten Siege in dieser Beziehung wurden aber dabei nicht von der ernsten Muse, sondern vom heiteren Komus – auf dem Gebiete der volkstümlichen Komödie errungen. Wenn später die einseitige Vorliebe des Volks für den Hanswurst und seine meist recht derben Possen die ernste Kunst veranlaßte, dem Hanswurst den Krieg zu erklären, so darf die ruhmreiche Geschichte ihrer weiteren Entwicklung doch der Verdienste nicht vergessen, welche der allbeliebte Spaßvogel sich in jenen Jahren schwerer Kämpfe um das Gedeihen der deutschen Bühne überhaupt erworben hat.
Mit vollem Recht hat daher, als es galt, den stolzen Prachtbau des neuen Burgtheaters in Wien mit Bildern aus der Theatergeschichte auszuschmücken, auch der alte brave deutsche „Hanswurst“ ein Ehrenmal der Erinnerung erhalten. Es besteht in dem prächtigen Gemälde Ernst Klimts, das jetzt dem Treppenhause des herrlichen Musentempels zur anmutenden Zierde gereicht und dessen Wiedergabe unseren Lesern ein lebensvolles Bild vermittelt aus der Zeit, da noch unter freiem Himmel und auf offenem Markt die deutschen „Komödianten“ ihre Bühne aufschlagen mußten, um mit ihrer heiteren Kunst das stets schau- und lachlustige Volk zu erlaben.
Gerade Wien, die alte Kaiserstadt mit ihrer daseinsfrohen Bevölkerung, das als Pflegstätte der deutschen Bühnenkunst einen so hohen Rang einnimmt, hat besonderen Anlaß, dankbare Erinnerungen aus jener Zeit zu pflegen. Daß hier das deutsche Schauspiel zu einem festen Heim gelangte, war das entschiedene Verdienst desselben Mannes, der unter den deutschen Hanswurstdarstellern und Hanswurstiadenverfassern den höchsten Ruhm erlangte, des lustigen Schlesierkinds Joseph Stranitzky. Das von der Stadt erbaute erste Theatergebäude am Kärntner Thor war sofort nach seinem Bestehen einer italienischen Truppe überlassen worden. Dem genannten Komiker gelang es, dank der Beliebtheit, die sein echt volkstümlicher Humor den Wienern abgewann, die Italiener aus dem Haus zu verdrängen. Schon vor 1712 faßte er darin festen Fuß. Von 1720 an bis zu seinem Tod (1726) war er dann mit seiner Truppe im ununterbrochenen Besitz dieses ersten Wiener Stadttheaters. Er verdrängte aber auch das von den Italienern bisher mit größtem Erfolg gepflegte pantomimische Stegreifspiel, ihre commedia dell’ arte aus der Gunst der Wiener, indem er einige der typischen Figuren derselben, wie die Columbine, den Pantalone, in seine deutschen Possenspiele übernahm, dagegen die Figur des Arlechino durch den deutschen Hanswurst ersetzte. Er ließ denselben in der Maske eines Salzburger Bauern auftreten, wodurch er gewissermaßen auf den Lustigmacher der alten Fastnachtspiele zurückgriff. Die Metamorphose fand überall in Deutschland Nachahmung und denselben Beifall wie in Wien.
Auch der Hanswurst aus dem von festlicher Luft und Sonnenglanz durchglühten Klimtschen Bild hat die Salzburger Bauerntracht. Es ist der Marktplatz der alten freien Reichsstadt Rothenburg, aus dem eine Wandertruppe ihre schlichte Bühne „mit hoher obrigkeitlicher Erlaubniß“ aufgeschlagen hat. Eine Posse der neuen Wiener Art hat eben unter dem Beifall der zahlreichen Zuhörerschaft ihr Ende erreicht. Es handelt sich um eine der komischen Eifersuchtsscenen, welche den Hauptinhalt vieler dieser Schwänke bildeten. Hanswurst hat eben einen alternden Gecken, im Maskenkostüm des Pantalon, der um die Gunst seiner geliebten Columbine buhlte, dazwischenfahrend auf die Seite geworfen und setzt nun den Zuschauern triumphierend seine Heldenthat auseinander. Spöttisch lächelnd blickt Columbine auf den besiegten Galan herab, der die Faust ohnmächtig drohend erhebt. Indem der Maler so einen Vorgang darstellte, welcher den deutschen Hanswurst über den welschen Pantalon triumphieren läßt, deutet er mit sinniger Symbolik auf den Sieg hin, der sich in der Geschichte der deutschen Bühne an den Namen des volksbeliebten Wiener Hanswurstes Joseph Stranitzky knüpft. Pr.
Wertvolle Funde. In den Silbergruben zu Aspen in den Vereinigten Staaten wurde im vorigen Jahre der größte Silberklumpen entdeckt, den man auf der Erde jemals in einem Stücke gefunden hat. Das Vorkommen solcher gediegenen Silber- und Goldklumpen oder Nuggets, wie die Bergleute sie nennen, ist nicht ganz selten, aber noch nie zuvor ist man auf ein so ungeheures Exemplar wie dieses, das ein Gewicht von 1650 kg und einen Wert von 144 000 Mark hatte, gestoßen. Der größte vorher gefundene Silberklumpen, auf den man vor einigen Jahren in den Gibson-Gruben stieß, wog nur 150 kg. – Merkwürdigerweise wurde im vorigen Jahre, und zwar ebenfalls in einer amerikanischen Grube in Nevada, auch der größte bisher gefundene Gold-Nugget entdeckt, eine Stufe von 680 kg, die man erst nach langer Zeit unter großen Vorsichtsmaßregeln aus dem umgebenden Gestein herausschälen konnte und von welcher Abgüsse für verschiedene Museen gemacht worden sind. Wenn dieser Klumpen ganz aus gediegenem Golde besteht, so muß sein Handelswert mindestens 1 4/5 Millionen Mark betragen. Dieser Fund wird dadurch noch interessanter gemacht, daß er sich nicht als Seifengold in jungen, angeschwemmten Schichten fand, wie die meisten Nuggets, sondern als sogenanntes Berggold im zusammenhängenden Gestein, wo man das Vorkommen größerer Goldklumpen lange Zeit bestritten hat. Der größte früher gemachte Fund dieser Art wurde, wenn man von einem sagenhaften westindischen Fund von 1350 kg absieht, in Australien gemacht, derselbe wog 124 kg. Nächstdem kommt ein kalifornischer Goldklumpen von 90 kg, der in den sechziger Jahren in der Monumentalgrube gefunden wurde, aber beim Herauslösen aus dem Fels in zwei Stücke zerbrach. Zwei Nuggets von 70 bis 72 kg wurden 1869 in Viktoria gewonnen, dessen Goldgruben überhaupt reich an gediegenen Stücken waren, denn im Laufe von drei Jahren fand man daselbst 6 bis 7 Nuggets im Gewicht von 24 bis 72 kg. Die bekanntesten zwischen 1841 und 1871 gefundenen und zum großen Teil mit eigenen Namen belegten Goldklumpen wiegen insgesamt 700 kg und haben einen Gesamtwert von zwei Millionen. Bw.
Pfeifunterricht. (Zu dem Bilde S. 661). Einen Dompfaffen zu unterrichten, ist ein dornenvolles Erziehungsgeschäft; der Schüler verfügt über ein so ausgiebiges Maß von Dickköpfigkeit, daß sein Lehrer ungewöhnlich viel Zeit und Geduld haben muß, wenn er etwas mit ihm ausrichten will. Beides besitzt unser Josele im tiroler Spitzhut und Lederhöslein vollauf, außerdem hat er seinem Vater, dem weitbekannten Vogelhändler von Imst, oft genug zugehört, wie man lockt und vorpfeift, bis endlich die Tönchen aus dem kleinen Schnabel antworten. Und dieser Dompfaff ist sein Eigentum, der Vater hat ihm den Vogel geschenkt und Josele darf ihn verkaufen, sobald er sein „Stückel“ richtig pfeifen kann. Deshalb „läßt er nicht aus“ mit ihm, wendet jeden freien Augenblick an die Unterweisung und flötet selbst so eindringlich, so unausgesetzt die vier Töne, daß man meinen sollte, es müsse dem Dompfaffen allmählich selbst zu viel werden, so daß er sich lieber zum Nachpfeifen als zum ferneren Zuhören entschlösse. Damit unterschätzt man aber seine Ausdauer. Ungerührt, dick aufgeplustert sitzt er die ganze Zeit auf Joseles ausgestrecktem Zeigefinger, wendet den Kopf hin und [676] her und läßt den geduldigen Lehrer sich abmühen. Plötzlich aber kommt ihm der Ehrgeiz, endlich, endlich öffnet er den Schnabel, und nun wollen wir dem guten Josele wünschen, daß der nächste Augenblick seine vielen und großen Mühen mit dem verdienten Erfolge kröne!
Jeremias Gotthelf. (Mit Abbildung.) Am 4. Oktober begeht die Schweiz den hundertsten Geburtstag von Albert Bitzius, der unter dem Namen Jeremias Gotthelf zu den besten Volksschriftstellern zählt, welche die deutsche Litteratur mit Werken von Dauer bereichert haben. Er war zu Murten im Kanton Freiburg als Sohn
des dortigen deutschen Pfarrers geboren, ihn selbst brachte der gleiche Beruf ins Berner Land, wo er von 1831 an bis zu seinem am 12. Oktober 1854 erfolgten Tode der Pfarrei Lützelflüh im Emmenthal vorstand. Der warmherzige Anteil seines Gemüts für das Wohl und Wehe der Mitglieder seiner Gemeinde führte ihn zur thatkräftigen Teilnahme an den Kämpfen seiner Kantonsgenossen gegen das Familienregiment der Berner Aristokratie. Er machte ihn aber auch zum unerschrockenen Gewissensrat seiner Bauern in allen Nöten, die von ihren eigenen Schwächen herstammten, und der Trieb, als solcher in weitestem Umfang zu wirken, drückte ihm die Feder zu seinen ersten Erzählungen aus der bäuerlichen Welt des Emmenthals in die Hand. Er bediente sich dabei des Dialekts, den jene sprach, und einer unverblümten kräftigen Ausdrucksweise. Und er redete nicht nur seinen Bauern in ihrer Sprache ins Herz, um ihre Fehler zu bekämpfen und das Gute und Tüchtige in ihnen zu pflegen, er schilderte sie auch selber so echt und treu, als sähen sie sich im Spiegel, aber mit Augen, welche die Selbsterkenntnis geschärft hatte. Hierbei entfaltete Bitzius eine ursprüngliche echt poetische Gestaltungskraft, und so kam es, daß, während seine Schriften in der Heimat die beabsichtigte erzieherische Wirkung thaten, sie auch um ihrer poetische Eigenschaften willen weitum im Schweizer Lande, und bald auch in Deutschland, viele Bewunderer fanden. Mit solch frischer Unmittelbarkeit, mit so tiefer Kenntnis des echten bäuerlichen Wesens und der Schweizer Eigenart waren solche Dorfgeschichten noch nie geschrieben worden, und der starke sittliche Geist des Verfassers, der um der Wahrheit und des Guten willen so ungeschminkt die schlimmen Dinge beim rechten Namen nannte, weckte nicht mindere Sympathien. Als eine hochdeutsche Bearbeitung dieser Volkserzählungen, wie „Dursli, der Branntweinsäufer“, „Käthi, die Großmutter“, „Uli, der Knecht“, „Uli, der Pächter“, „Wie Anna Bäbi Jowäger haushaltet“ usw., dem allgemeinen Verständnis in Deutschland noch näher brachte, da gelangte sie bald auch bei uns zu der verdienten Volkstümlichkeit. Seiner ersten Schrift, „Der Bauernspiegel“, hatte er den Charakter einer „Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf“ gegeben, mit diesem Namen zeichnete er auch seine übrigen Schriften und als Jeremias Gotthelf wurde A. Bitzius berühmt. Als Pfarrherr von Lützelflüh führte er ein glückliches Familienleben, sein Sohn Albert, der gleichfalls Pfarrer wurde, gab eine Auswahl seiner besten kleineren Erzählungen („Elsi“, „Erdbeermareili“ usw.) heraus. Der illustrierten Nationalausgabe der ausgewählten Werke Gotthelfs (F. Zahns Verlag in La Chaux-de-Fonds) ist das Porträt des Dichters von A. Anker entnommen, welches wir untenstehend wiedergeben.
Hunde auf Reisen. Zu den Vorrechten des Hundes, anderen Vierfüßlern gegenüber, gehört unter andern auch das Reisen. Das ist amtlich anerkannt. In so manchem Packwagen in Deutschland befindet sich ein kleiner Zwinger, dessen Bedeutung durch einen aufgemalten Hundekopf niemand in Zweifel läßt, und auf jeder Eisenbahnstation kann man Fahrscheine oder Fahrkarten für Hunde haben, genau so wie für jeden homo sapiens, ja, neuerdings sind sogar Hunderückfahrkarten mit mehrtägiger Gültigkeit eingeführt. Nach alledem darf man wohl annehmen, daß die Hunde viel reisen, und dies trifft zu. Im Jahre 1895 sind auf den deutschen Bahnen auf Hundeschein oder –karte insgesamt 1 192 965 Stück unserer vierfüßigen Freunde befördert worden, d. h. täglich 3268 Hunde. Da in dem gleichen Zeitraum rund 585½ Millionen Reisende befördert worden sind, so kommt auf je 491 Reisende ein Hund. Geht man auf die einzelnen Bahngebiete zurück, so stellt sich die interessante Thatsache heraus, daß Süddeutschland ein weit größeres Kontingent reisender Hunde stellt als der Norden. So kommt ein Hund in Bayern schon auf 203 Reisende, in Württemberg auf 279, bei der Hessischen Ludwigsbahn auf 461, bei der Main-Neckarbahn auf 493, bei den Pfälzischen Bahnen auf 531 Personen. In Sachsen stellt sich die Verhältniszahl auf 516, in Preußen auf 564, während in Oldenburg sogar erst auf 602 Personen ein Hund entfällt. Nur Mecklenburg hat die günstigere Zahl 352, während das dem Süden angehörige Elsaß-Lothringen es seinerseits ausnahmsweise erst zu der Durchschnittszahl von Sachsen gebracht hat.
Windstille.
(Zu unserer Kunstbeilage.)
Ein Schifflein liegt auf spiegelnder Flut;
Drin sitzen sie selbzweit: –
„Ich mag dich leiden – bist du mir gut?“
„Gut bis in Ewigkeit!“
Träg spielt das Segel am knarrenden Mast;
Ein Luftzug bewegt es kaum,
Rings wogt auf dem See im Morgenglast
Ein goldiger Nebeltraum.
In der Ferne umschleierte Wasserbahn; –
In der Tiefe die Rätsel der Flut; –
Und dazwischen im schaukelnden Bretterkahn
Ein kosendes: „Bist du mir gut?“
Max Haushofer.
Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 40/1897 ]
[ Verlagswerbung für „W. Heimburgs illustierte Romane und Novellen“. ]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.