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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[645]

Nr. 39.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Einsam.
Roman von O. Verbeck.

(8. Fortsetzung)

19.

Mit einiger Besorgnis hatte Ludwig Thomas der ersten Nacht, der ersten nach dem Begräbnis, entgegengesehen. Er hatte erwartet, daß sie sich in ihre Kissen gedrückt zu schanden weinen und schluchzen würde. – Nichts davon. – Sie lag, ohne sich einmal zu rühren, ohne einen Laut bis zum Morgen. So oft er sich aufrichtete, um nach ihr zu spähen, sah er ihr bleiches stilles Gesicht mit offnen Augen, unverändert. Daß sie gar nicht schlief, war ihm unangenehm, machte ihn eigentlich nervös. Er selber hatte dadurch wieder eine unruhige Nacht. Denn, obwohl er von der Müdigkeit überwältigt, immer wieder einschlummerte, weckte ihn zu ungezählten Malen das quälende Bewußtsein dieser schweigend wachenden Nachbarschaft. Aber er musste ja schon froh sein, wenn sie nicht jammerte und stöhnte. Seine Energie nach der Heimkunft vom Friedhof hatte gute Dienste geleistet. Er hätte nur gleich so energisch auftreten sollen, hätte sich gar nicht erst von der Autorität des sentimentalen alten Doktors beeinflussen lassen sollen, der verlangte, daß man Hanna einstweilen zu nichts, aber auch zu gar nichts zwingen soll, daß man nicht einmal den Versuch mache, sie aus dem Sterbezimmer wegzubringen, daß man sie ruhig mit ihrer Mutter allein lassen, nachdem sie sie mit Hilfe der Bertha gekleidet und in den Sarg gelegt hatte.

Er begriff jetzt nicht mehr, daß er so schwach hatte sein können, diesen offenbaren Verrücktheiten nachzugeben. Ein solches

Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Koblenz.
Nach einer photographischen Aufnahme von P. Schiefen in Ehrenbreitstein.

[646] Sichgehenlassen, ein solches Schwelgen in Jammerseligkeit! Daß ein Arzt so etwas gutheißen konnte! Anordnen noch geradezu! Wenn es nicht der alte Meinhardt gewesen wäre, der seinen despotischen Doktorkopf daraufgesetzt hatte – von einem andern hätte er sich in seinem eigenen Hause nicht dermaßen dreinreden lassen, das war gewiß! Freilich war ihm Hannas Verzweiflungsgesicht allgemach auf die Nerven gefallen. So lange diese Tote noch unbestattet war, hatte er, das fühlte er deutlich, keine Macht über seine Frau. Also abwarten. An diese Tage wollte er denken. Nur drei, aber was für welche! Und Nächte! Denn infolge all dieser schwächlichen Zugeständnisse hatte sich Hanna auch zu Beginn der Nacht nicht von der Toten weggerührt, hatte sich eingeschlossen und weder auf Bitten noch Zureden geantwortet. Erst als er ihr, in aller Schonung, aber doch unmißverständlich, durch die Thür hindurch erklärt hatte, er werde den Schlosser kommen lassen, da hatte sie aufgemacht. Aber er war vor dem Gesicht, mit dem sie ihm da plötzlich gegenüberstand, beinahe zurückgeprallt. – Erbarm’ dich doch, hatte sie gesagt, und das mit einer Stimme, die ihm förmlich Herzklopfen verursachte – erbarm’ dich noch die kurze Zeit, die sie über der Erde ist! Laß mich hier bei ihr. Quäle mich nicht, ich bitte dich sehr! – – Nun, so hatte er sich erbarmt, war schwach genug gewesen, stillschweigend seiner Wege zu gehen hatte noch das Begräbnis mit all seinen Aufregungen und Quälereien abgewartet. Aber es stand bombenfest bei ihm, daß von da an sein Regiment, das des gesunden Menschenverstandes, beginnen würde. Mit dem Schlüssel, den er in die Tasche steckte, hatte er seine Macht und seinen Hausherrenwillen wieder an sich genommen. – Er war dann auf einen sehr heftigen Auftritt gefaßt gewesen, hatte sich auf Schreien und Weinen eingerichtet, auf Festhaltenmüssen, auf gewaltsames Hinauftragen, auf Einsperren, auf Zwang im Sinne des Wortes. Er war zu dem allen entschlossen gewesen, um ein Ende zu machen und sich seine Machtstellung ein für allemal zu sichern. Aber – von dem allen keine Spur. Kampf nur in den Zügen des bleichen Gesichts. Schrecken, Abscheu, Angst, Starrheit. Und mit der Starrheit lautlose, wortlose Ergebung. Gehorsam! Wie er im Stillen verwundert war! Wie er sich dieses ersten Sieges freute! Wie er sie dafür liebte! Wie er sie dafür gern in die Arme genommen, mit Küssen bedeckt hätte! Wenn er nicht bange gewesen wäre, sie damit wieder aufzuschrecken. Einstweilen nahm er sich vor, Geduld mit ihr zu haben, froh zu sein, daß sie nun Tag für Tag da saß, in ihrem kleinen, reizenden Boudoir, zwischen all den Herrlichkeiten mit denen er es geschmückt hatte. Geduld! Ein schweres Stück Arbeit für ihn. Einen Tag, zwei Tage, das ging allenfalls. Aber auf Wochen! Schauderhaft! Er wollte es aber verrichten zur Belohnung, daß sie da nicht im Hause herumjammerte, daß sie nicht mehr vor ihm davonlief. Er wollte auch nicht murren, wenn es noch ein Weilchen dauerte, ehe in den stumpfen Blick dieser grauen Augen wieder Wärme kam.

Einen verteufelt schlechten Anfang hatte ihre Ehe genommen mit diesem Todesfall, mit dieser schweren Erschütterung!

Allerdings war ja die Katastrophe vorauszusehen gewesen. Der Doktor hatte ihn darauf vorbereitet, hatte ihm damals gleich aus der Hoffnungslosigkeit des Falles kein Hehl gemacht. Daß man Hanna die Wahrheit verschwieg, verstand sich von selbst. Mochte sie doch das Zusammenleben mit der anscheinend genesenden Mutter ungestört genießen, so lange als möglich. Vielleicht sogar, daß sich wirklich bei guter Pflege noch eine Art von Aufschub erreichen ließ, ein Stillstand des Leidens. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen, daß sich eine plötzliche Befreiung von Sorgen und Not, ein plötzliches Glück, wenn nicht als Heilmittel, so doch als kräftig wirkendes Linderungsmittel erwiesen hätte. Der Doktor aber hatte den Kopf geschüttelt und ihm bedeutet, er möge dazuschauen, daß die arme Frau es noch erlebe, ihre Tochter gut versorgt und am Herzen eines liebevollen Mannes geborgen zu wissen. Der Bescheid war ihm damals höllisch in die Glieder gefahren. Denn ein dunkles Gefühl hatte ihm versichert, daß er Hanna ohne die Mutter nicht bekommen werde, daß auf diesen zwei Augen seine ganze Zukunftshoffnung stehe. War sie erst einmal sein, so sollte es ihm nicht darauf ankommen, mit allen Teufeln der Welt um die Erhaltung ihres Besitzes zu raufen! Nur so lange noch sollte das ärmliche Lichtchen dieses verbrauchten Lebens brennen, daß es ihm das glühend begehrte Mädchen in die Ehe hinein rette! – Sie hatte diese Mission erfüllt, die blasse Frau, und nach allen Kräften war er alsdann bemüht gewesen, ihr zum Dank dafür den Rest ihres Daseins zu vergolden. Er hatte sie auch wirklich gern gehabt. Allerdings hauptsächlich mit jener Erkenntlichkeit des Wohlthäters, der über die Thränen seiner Almosenempfänger in Rührung gerät. Er hatte sie gern gehabt als wirksame Vermittlerin zur Erlangung von Hannas Gunst. Mit dem Spürsinn des Liebenden hatte er nach Gelegenheiten gesucht, die Mutter zu erfreuen um den Dank dann von den Lippen der Tochter zu küssen. Das war nun vorbei.

Unklare Gefühle bekämpften sich in ihm. Herzliches Leidwesen um den Verlust der freundlichen Frau, die ihm so dankbar ergeben gewesen war. Eine noch verstohlen glimmende Freude über den von nun an ungeschmälerten Besitz der Geliebten. Betroffenheit, ungewohnte, verdrießliche Beklemmung angesichts dieses niedergebrochenen Steges, angesichts dieses Wassers, das noch immer zwischen ihnen rauschte. Die Sympathie der Verstorbenen für ihn hatte dieses rauschende Wasser überbrückt. War sie nicht immer noch viel zu früh davongegangen? Oder sollte er sich nicht vielleicht gefälligst schämen, daß er feige nach einem Brett suchte, anstatt einfach hineinzuspringen und hinüberzuschwimmen?

Wie kam ihm nur dieses dumme, vergleichende Bild? Es war doch sonst nicht Herrn Ludwigs Art, seinen sogenannten Gefühlen in poetischer Form Ausdruck zu geben. Das kam, weil er von dieser ungewohnten Uebung in Geduld schon bald im Begriff war, aus der Haut zu fahren! – Warum schwamm er denn nicht wirklich hinüber? Nahm sie sich? Uebrigens saß sie still auf ihrem anderen Ufer. Es sah nicht gerade danach aus, als ob sie weglaufen würde, wenn er daherkäme. Freilich auch nicht, als wenn sie ihm die Hand hinstrecken und an Land helfen würde. – Aber schließlich, sie mußte einsehen, daß nur der Lebende lebt daß man einen Schatten nicht zu Tisch laden darf. Lieber hätte ja die alte Frau noch dreißig Jahre lang als Dritte im Bunde da bei ihnen sitzen können! Aus der Freundin und Helferin, die sie ihm im Leben gewesen war, wurde sie im Tode sein bitterster Feind. Wahrhaftig, so war die Sache, wenn man sie sich bei Lichte betrachtete. Ein unverwundbarer Feind dazu. Denn er konnte ihm nicht zu Leibe, er konnte ihm nicht sein Haus verbieten, er konnte ihm nicht begreiflich machen: geh weg, setz’ dich nicht immer zwischen uns, ich ertrage das nicht!

Uebrigens. eigentliche Vorwürfe konnte er Hanna ja nicht machen. Seit jener großen Rede, die er ihr da unten an der verschlossenen Thür gehalten hatte, hatte er an ihrem Betragen nichts mehr aussetzen können. All diese Wochen hindurch nicht. Von der Mutter sprach sie keine Silbe mehr, als wenn er ihr auch das verboten hätte. Im Grunde war ihm das ganz recht. Mit dem ewigen Sprechen über den Verlust wurde die Sache nicht besser. Auch verdarb man sich die ganze Stimmung. Es wäre ihr nach einer Unterhaltung über die Verblichene womöglich wie eine Lästerung erschienen, wenn er gewagt hätte, von anderen Dingen anzufangen. Vorwürfe machte er ihr ja auch nicht. Fiel ihm nicht ein. Nicht einmal darüber, daß sie so totenstill herumging, als wenn sie selber auch schon gestorben wäre. Aber sie schien vergessen zu haben, daß sie seine Frau sei. Sie irrte sich denn doch, wenn sie glaubte, daß er es noch lange aushalte würde, in der Rolle eines Krankenwärters um sie herumzusitzen. Dazu hatte er sie nicht geheiratet. Nein, wahrhaftig nicht!

20.

Sie stand am Fenster ihres Zimmers und sah in den öden Garten hinunter, sah dem strömenden Regen zu, der in Bächen die Kieswege entlang rieselte, horchte auf den Novemberwind, der gegen die Scheibe pfiff, der die letzten gelben, von den Bäumen gerissenen Blätter in die Pfützen fegte.

Kein Nachher, Mutter!

Wurde es denn wirklich zum erstenmal Winter, seit sie tot war? – War es denn wirklich erst vier Monate her, daß sie da draußen auf dem Friedhof lag? – Vier Monate! Am Sonnabend siebzehn Wochen. Es mußte viel länger her sein. Es mußte [647] siebzehn Jahre her sein. So endlos viele Tage, wie sie seitdem erlebt hatte! –

Nein, es war vorgestern geschehen, gestern, daß sie sie mit den Rosen in der Hand hatte wecken wollen, und daß sie da gelegen hatte mit diesem fürchterlich stummen Gesicht, mit diesen fest, fest geschlossenen Augen. Ohne Atem. Ohne Bewegung!

Sie hatte sich so in früheren Zeiten, wenn sie in sorgenwachen Nächten an ihrem Bett gesessen hatte, immer wieder vorzustellen versucht, wie es sein würde, wenn dieses Entsetzlichste auf der Welt geschähe, und sie ihr stürbe. Hatte sich mit dem Gedanken zermartert, wie das liebe Gesicht wohl im Tode aussehen würde. Vielleicht wie da im Schlaf, im Erschöpfungsschlaf nach schweren Schmerzen?- Sie hatte nichts geahnt von dieser steinernen, unerschütterlichen Ruhe, von dieser Undurchdringlichkeit, von dieser Unbarmherzigkeit des Schweigens. Sie hatte nichts geahnt von diesem Friedenslächeln, das allgemach den starren Ernst verklärte. Von diesem Lächeln , an dem sie keinen Teil mehr hatte, das nicht ihr mehr galt, das keine Antwort gab auf ihre Frage: an was für Liebes denkst du, Mutter? –

Sie hatte sich vorzustellen versucht, wie es sein würde, wenn sie sie nicht mehr hätte, wenn sie fort wäre aus der Welk wenn sie sie nie mehr sehen konnte. –

Mit allem Schauder der Vorahnung, mit allem Jammer der Seelenangst hatte sie das Wirkliche nicht erreicht. Wie wäre es auch möglich, sich auszudenken, was nicht auszudenken ist.

Kein Nachher, Mutter!

Und nun?

Winter und Sommer werden vergehen, ohne dich. Blumen werden blühen, Schnee wird fallen, ohne dich. Weihnachten wird kommen, dein Geburtstag wird kommen, ohne dich. Ich weine, und du weißt es nicht. Ich sehne mich nach dir, und du weißt es nicht. Ich bin allein, ich fürchte mich, und du weißt es nicht. Du bist fort, aus der Welt hinausgegangen, verschwunden, kommst nie wieder! – –

Wie der Regen strömte. Wie er an den Fenstern in zackig schimmernden Rinnen hinunterlief. Grauer, dunkler Himmel!

Auch auf dein Grab fällt der Regen nieder, Mutter, fließt darum her. Aber das kümmert dich nicht, du weißt es nicht. Sonst – wenn die Blätter fielen, wenn wir vom Sommer Abschied nahmen, wie dir vor dem Winter bange war! Dich friert nicht mehr. Ich kann dir nicht mehr deine armen, kalten Füße wärmen. Du bist eingeschlafen, heimlich, in der Nacht, hast nicht gewußt, daß du sterben müßtest, hast nicht gewußt, daß ich hier geblieben bin, ohne dich, daß ich nun aushalten muß hier, ohne dich, bei ihm, dem ich mich verkauft habe für Geld. Um deinetwillen, Mutter, aber doch verkauft! Wenn du wüßtest, wie schwer es mir geworden ist, damals, im Frühling. Wenn du wüßtest, wie mir nun graut. Ich kann’s ja jetzt sagen, ich kann es rufen, hier in meiner Stube, du hörst es nicht mehr, es thut dir nicht mehr weh. – – Wenn er nach Hause kommt, bin ich schon wieder brav. Ich darf ja nicht von dir sprechen. Ich dürfte schon, aber er hat’s nicht gern, ich weiß. Es ist ihm unbequem, es quält ihn, es stört ihn. Er will eine freundliche Frau, die für ihn allein da ist, die nicht an andere Sachen denkt. – –

Geschehene, unwiderrufliche Dinge müssen überwunden werden, dürfen sich nicht immer wieder vordrängen, mahnt er. Das Leben gehört den Lebenden. Auch die Liebe. Verstorbene, auch wenn sie noch so teuer waren, dürfen nicht den größten Platz im Herzen einnehmen. Damit geschieht den Lebenden unrecht. Und die Toten haben nichts davon. – –

Das war nun schon viele Wochen her und seitdem hatten sie über diese Dinge nicht mehr gesprochen. Besser nicht. Und sie hatte sich Mühe gegeben, sich nicht mehr gehen zu lassen in seiner Gegenwart. Er schien im allgemeinen zufrieden mit ihr.

Die Vergangenheit schlief da drunten, hinter der verschlossenen Thür, im Dunklen hinter den schweren Rollläden. – Hier, auf der anderen Seite des Hauses war die Gegenwart mit ihrem Glanz, mit ihrer raffinierten Pracht, mit ihrem elektrischen Licht und ihren Perserteppichen, mit ihren Oelgemälden „erster Meister“, mit ihren Gobelintapeten im Boudoir und ihren Butzenscheiben im Rauchzimmer, mit ihren ledergepunzten Stühlen und ihren damastnen Ottomanen. Die Gegenwart mit ihrer unabweisbaren Pflicht, das Leben müßig zu genießen, in den Tag hineinzuleben, sich um nichts zu sorgen als um die gute Laune des lieben Mannes, dem man dieses Brillantfeuerwerk, diesen Goldregen verdankte. O verhaßtes Geld!

Die Vergangenheit schlief draußen auf dem Friedhof ihren schweigenden Todesschlaf. Sie schlief mit ihrem Andenken an arbeitsvolle Tage, an sorgendurchwachte Nächte, mit ihrem Andenken an viel Kummer und Not und viele kleine, sonnengoldige, herzwarme Freuden. Mit ihrem Andenken an Liebe und wieder Liebe.

Hannas starre Gestalt rührte sich. Sie hob die aufs Fenstersims gestützten Hände und drückte sie an die Schläfen, über die Augen.

„Mutter!“ – schluchzte sie auf.

Sie wandte sich ab und ging mit unsichern, schleppenden Schritten im Zimmer hin und her.

„Nicht weinen, nicht weinen,“ murmelte sie, faßte ihr Taschentuch zwischen die Zähne und schluckte krampfhaft. – „Nicht erst anfangen zu weinen. Denn wie endet das. Hart, hart!“

Wieder am Fenster stehend, bemüht, sich zu sammeln, sah sie eine Gestalt in ihr Gartenthor einbiegen, eine wohlbekannte, behäbige Gestalt. Den Schirm tief über den Kopf gezogen, vorgebeugt gegen den Sturmwind angehend, kam der Pastor langsam den Weg herauf.

„Da!“ sagte sie auffahrend. „Endlich! Und ich habe den Wagen bestellt …Schnell – –“

Sie klingelte.-- „Lassen Sie wieder abspannen,“ befahl sie hastig dem eintretenden Diener. „Ich fahre nicht aus. Ich sehe Pastor Erdmann auf’s Haus zukommen. Er muß in diesem Augenblick schon unten an der Thür sein. Führen Sie ihn gleich zu mir herauf. Nun? Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Schnell, schnell, daß der Herr Pastor nicht erst wartet!“

„Sehr wohl!“

21.

„Lieber Herr Pastor! Endlich!“ Sie nahm seine beiden Hände. „Wie gut, daß Sie da sind!“ Ihre Lippen zitterten, sie atmete ein paarmal tief auf, um ihre Bewegung zu meistern. „Daß Sie nur endlich einmal kommen!“

„Endlich?“ wiederholte er und sah sie freundlich forschend an. „Ich war schon dreimal hier, außer heute.“

„Nein“ sagte sie laut, erstaunt.

„Doch. Man gab mir regelmäßig den Bescheid, Sie empfingen noch keine Besuche. Es dürfe überhaupt gar nicht bei Ihnen darum angefragt werden. So ließ ich denn nur jedesmal meine Karte und meinen Gruß für Sie da.“

Hanna sah mit scharfgespanntem Gesicht, mit gerunzelter Stirn geradeaus, über seine Schulter weg ins Leere. Sie drückte die Lippen fest zusammen.

„Also“ – sagte sie nach einer Pause, nach einem nervösen Räuspern, „setzen Sie sich vor allem, lieber Herr Pastor. Von Ihren vergeblichen Besuchen weiß ich nichts, auch nichts von Ihren hiergebliebenen Karten. Ein Mißverständnis. Ich werde das – – aber gut. Abgemacht. Sie sind da, das ist die Hauptsache. Ich danke Ihnen, daß Sie immer noch wieder gekommen sind. Wenn Sie wüßten, wie froh ich bin, Sie zu sehen! Wie geht es Ihnen? Wie leben Sie?“

„Das mein liebes Kind zu fragen, kam ich her. Von mir soll jetzt nicht die Rede sein.“ Und als sie nur stumm, mit zusammengebissenen Zähnen, den Kopf schüttelte, fuhr er fort. „Doch, doch! Dazu kommt man unter sehr guten Freunden zusammen, daß man sich auch in schweren Zeiten fragen darf: wie lebst du? wie gelingt’s dir? was thust du den Tag über, damit du nachts Ruhe findest? womit machst du dich tüchtig müde? – Sagen Sie mir, mein liebes, armes Kind, was thun Sie?“

Sie breitete mit einer Gebärde der Hoffnungslosigkeit beide Hände aus.

„Nichts,“ sagte sie schneidend. „Ich habe nichts zu thun, es ist nichts für mich zu thun da. Ich bin ja eine reiche Frau, lieber Herr Pastor, ich bin König Midas, alles ist von Gold rund um mich her. Niemand braucht meine Mühe, niemand braucht meine Sorge, niemand braucht meine Arbeit, es ist alles [648] schon gethan. Ich habe keine Pflichten, ich versäume nichts. Sie ist ja tot, um die ich auf der Welt war!“

„Und Ihr Mann?“

„Er – –“

Sie stand auf, sie griff sich mit beiden Händen in den Nacken, abgewandt blieb sie stehen, ohne zu antworten.

Er rührte sich nicht, sah nur mit erschrockenem, betrübtem Gesicht zu ihr hinüber.

„Liebe Hanna,“ sagte er endlich leise und sanft, „liebt er Sie nicht?“

„Ja, er liebt mich,“ antwortete sie mit rauher Stimme, noch von ihm abgekehrt. „Gott sei’s geklagt, ja, er liebt mich!“

„Sie lästern, mein Kind,“ warnte er sehr ernst.

Nach einem schmerzhaften Zusammenziehen der Schultern wandte sie ihm langsam ihr traurig verstörtes Gesicht wieder zu, kam auch auf ihren Platz, neben ihm, zurück. Ein Weilchen saß sie dann noch mit gesenktem Kopf, die festverschlungnen Hände im Schoß.

„Darauf antworte ich Ihnen nicht,“ sagte sie endlich halblaut, ohne ihn anzusehen. „Verteidigen kann ich mich nicht, weil ich Ihnen nicht erklären kann – – ich klage niemand an, auch ihn nicht. Schweigen wir davon. Mir ist auch nicht zu helfen.“

Er nickte, seufzte dann leise. Nach einem Streifblick durch das im Rokokostil sehr üppig ausgestaltete Gemach, sagte er: „Also hier, nehme ich an, bringen Sie Ihre einsamen Stunden zu. Ihre arme Mutter hat diesen glänzenden Raum nie gesehen?“

„Nein. Natürlich nicht. Und auch ich habe ja eigentlich alle meine freie Zeit bei ihr drunten verbracht. Erst – seit sie fort ist, seit – die Thür verschlossen ist, sitz’ ich hier.“

„Thür verschlossen ist?“ wiederholte er verwundert.

Sie nickte, mit einem bittern, rasch verfliegenden Lächeln. „Er wird ja wohl wieder recht haben. Ein Abschnitt mußte gemacht werden. Also lieber gleich. Er ist sehr für das abgekürzte Verfahren. Und bei meiner Sentimentalität – was konnte er Gescheiteres thun, als kurzen Prozeß machen? Gleich nach dem Begräbnis! Wie gesagt, nun sitz’ ich hier. Vielleicht denkt er, ich sehne mich so weniger. Während ich –“ sie atmete tief, fast stöhnend – „wenn ich doch einmal wieder etwas anrühren könnte, was ihr gehört hat! Ihr Kleid, ihr weiches graues Kleid. Und ihren kleinen Kragen. Und ihre Schuhe. Sehen Sie – wie ein armer Hund, dem sein Herr gestorben ist, so möcht ich mich auf ihre Kleider legen und ihren Duft einatmen!“ Sie drückte die Hände vor das Gesicht und weinte jammervoll.

Stumm vor Erschütterung streichelte er sie leise über den Kopf.

„Nicht einmal ausräumen hab’ ich noch können, zum letztenmal,“ fuhr sie fort. „Ich bin ja so aus dem Zimmer gegangen, hinter dem Sarge her. Und als ich zurück kam, war die Thür schon zu. Ich glaube, er hat Bertha am andern Morgen noch einmal hineingeschickt, Ordnung machen, alles einpacken. Ich weiß nicht. Am Nachmittag, als ich nach ihr fragte, war sie auch schon fort, auch mir aus den Augen, auch der Erinnerung wegen. Kurzen Prozeß, kurzen Prozeß.

Ganz leise, aber unaufhaltsam, und trostlos weinte sie nun vor sich hin. Sie hatte offenbar vergessen, daß sie hart hatte bleiben wollen.

Erdmann ließ sie gewähren, hielt sie nur sacht um die Schultern gefaßt. Von Zeit zu Zeit schüttelte er nachdenklich und bekümmert den grauen Kopf.

Sie richtete sich endlich von selbst aus ihrer vornübergeneigten Stellung auf und trocknete das nasse Gesicht.

„O weh, meine roten Augen,“ sagte sie, noch heiser vom Weinen. „Das geht heute nicht gut. Aber einerlei. Ich bin so froh, daß Sie da sind, lieber Herr Pastor! Und daß ich einmal sagen kann, wie mir zu Mute ist. Immer schweigen, das hält der Mensch ja nicht aus. Und besonders schweigen und dabei nichts thun, als warten, bis der Tag um ist. Sehen Sie – ich tauge nicht zur Millionärin. Ich passe nicht in dieses üppige Haus. Ich tauge nicht zum Müßiggang. Ich müßte arbeiten um mich selber los zu werden. Ich müßte so viel zu arbeiten haben, daß ich nicht wüßte, wie ich damit zu Ende kommen soll. Ueberm Kopf müßte es mir zusammenschlagen. Todmüde müßt’ ich mich machen. Und auch – ich müßte jemand haben, für den ich sorgen könnte, für den ich mich tüchtig quälen könnte, für den ich mir Freuden ausdenken könnte, dem ich, so gut es eben gehen möchte, bei seinen Arbeiten, in seinem Beruf, helfen könnte. Was verstehe ich von dem Geschäft meines Mannes? Nichts. Er braucht auch meine sogenannte Hilfe gar nicht. Er braucht nur seinen klugen Kopf. Ich habe ja auch nicht nötig, etwas davon zu verstehen, daran liegt ihm gar nichts. Ich brauche nur fleißig sein Geld auszugeben. Das Geld, das ich mir nicht selber verdient habe, um das ich nicht den kleinen Finger gerührt habe. Das verhaßte, das teuflische Geld, für das ich meine ewige Seligkeit verkauft habe. Ja! ja, ja! Sehen Sie mich nicht so außer an, meine ewige Seligkeit. verkauft habe! – Und es hat eine Zeit gegeben, wahrhaftig, in der ich geglaubt habe, mich auf den Reichtum, der kommen sollte, zu freuen. Ich habe nicht gewußt, daß ich ihn für mich nicht brauchte, um froh zu sein. Ich habe nicht gewußt, daß er zum Fluch werden kann. Für meine Mutter hab’ ich zu diesem – diesem – Handel Ja gesagt. Für meine Mutter, weil man mir heilig versicherte, sie würde gesund werden, wenn sie keine Sorgen mehr hätte. Es war gelogen. Und alles ist umsonst geschehen!“

„Kind, Kind, Kind!“ sagte Erdmann, erschrocken über diesen leidenschaftlichen Ausbruch, über ihr bleiches, zuckendes Gesicht, in dem die Augen brannten.

Sie sah es und nahm sich sofort zusammen.

„Verzeihen Sie mir,“ sagte sie, schon wieder sanft, mit einem schwachen weichen Lächeln. „Ich habe Sie betrübt. Das ist unrecht. Ich sollte so nicht reden, denn es nützt nichts, es bessert nichts.“

„Nein, das thut es auch nicht,“ erwiderte er sehr ernst. Aber, was viel wichtiger ist. Sie sollten auch nicht so denken. Nun sehen Sie mich an, als ob Sie fragen wollten. Wer verbietet mir das? Darauf antworte ich Ihnen: Ihre Mutter verbietet Ihnen das. Wie ich sie gekannt habe, in ihrer stillen Duldung, in ihrer Gerechtigkeitsliebe, weiß ich, was sie heute sagen würde, wenn sie Sie so reden hörte.“

„Sie hört’s aber nicht, lieber Herr Pastor,“ unterbrach ihn Hanna mit finsterm Lächeln.

Als hätte sie gar nichts gesagt, fuhr er ruhig fort. „Sie würde sagen: Ganz umsonst geschieht überhaupt nichts, mein Kind. Irgendwo sitzt ein Zweck, man muß sich nur die Mühe geben, ihn herauszufinden. Und an jedem Platz, auf den uns das Leben stellt, können wir irgend etwas thun, können wir uns irgendwie nützlich machen. Mach’ nur deine Augen auf. Steck’ nicht den Kopf in den Sand. Warte nicht ab, bis dein Lebenszweck sich bei dir meldet, sondern geh’ ihm nach, such’ ihn dir! – So ungefähr, denk’ ich mir, würde sie reden. Sie glauben das auch, nicht wahr? Klingt es Ihnen nicht, als ob sie zu Ihnen spräche? Ohne eine segensvolle Spur geht so eine Frau nicht durch das Leben. Ihre unsterbliche Seele, die läßt sie uns, mit der leben wir weiter.

„Lieber Herr Pastor! Ich möchte Sie nicht kränken, aber –“ Hanna drückte die Handflächen zusammen – „Sie – –“

„Ehe Sie weiter sprechen,“ sagte Erdmann, wie abwehrend den Finger hebend, „lassen Sie mich Ihnen den Spruch ins Gedächtnis rufen, den ich ihr mit ins Grab gegeben habe. ‚Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben, denn ob der Leib gleich stirbt, doch wird die Seele leben.’ Hauptsächlich Ihretwegen, liebe Hanna, hab’ ich diesen Spruch gewählt. Hauptsächlich Ihretwegen die Sie ihn hören konnten. Das Andenken, das unauslöschliche Andenken dieser stillen, sanften, geduldigen Frau bleibt leben, steht den Uebrigbleibenden als ein milder Schutzgeist zur Seite. Ihrem Andenken zuliebe thut man, was ihr im Leben Freude gemacht hätte. Ihr Andenken sänftigt die Bitternisse, mildert die Wunden, erinnert an Vergebenes, giebt Mut zum Weiterwandern. Ihr ungetrübtes Andenken giebt Ruhe im Schlaf. Sie, mein Kind, brauchen nur zu wollen, so ist Ihre Mutter unsterblich.

Hanna war tief erschüttert. Sie beugte sich auf seine Hand und küßte sie, ehe er es hindern konnte.

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie leise. „Und verzeihen Sie mir.“

„Was, mein Herz?“

„Daß ich Sie bis jetzt so arg verkannt habe. Sie sind doch der rechte Priester. Sie sprechen mit jedem in seiner Sprache.

[649]

Die ersten Hosen.
Nach einer Originalzeichnung von L. Blume-Siebert.

[650] „Das ist, was wir sollen, scheint mir. Darin besteht unsere Aufgabe. Wenigstens denke ich’s mir so. Wenn es uns gelingt, zu trösten, so ist der Weg, den wir wählen, gleichgültig, und auch die Sprache, so lange sie den Stempel der wirklichen heimlichen Wahrheit, der Liebe, trägt. Und nun mein liebes Kind, ehe ich fortgehe, will ich Ihnen etwas geben, was mir für Sie anvertraut worden ist. Eine Botschaft, wenn man so will, aus dem Jenseits, oder richtiger, ein Vermächtnis, einen Gruß –“

Er hatte ein Ledertäschchen hervorgezogen und aufgeklappt. Ein Brief lag darin. Er reichte ihn ihr.

„Was – – – ist das?“ fragte Hanna erstarrend, fahl im Gesicht.

„An meine Hanna“ – stand darauf. Mit der feinen, zarten, etwas unsichern, vom Schreiben entwöhnten Handschrift der Mutter.

„Oeffnen Sie, lesen Sie,“ bat Erdmann, den der Blick mit dem sie an den drei Worten haften blieb, ohne sich zu rühren, zu ängstigen begann. Er schob ihr ein Papiermesser, das er mit raschem Griff vom nahen Schreibtisch genommen hatte, zwischen die Finger und half ihr den Umschlag aufschneiden.

Endlich schien sie aus dieser Schrecklähmung zu erwachen mit einem schweren, zitternden Atemzug stammelte sie ein unverständliches Wort und faltete das Blatt auseinander.

„Mein Herzenskind! Weil ich mich heute so herrlich wohl fühle, habe ich nicht nur den Mut, auf Musik und alle möglichen schönen Dinge zu hoffen, sondern ich habe auch die Kraft, Dir diesen Brief zu schreiben, den Du erst lesen sollst, wenn ich nicht mehr da bin. Günther hat mich an Deinen Schreibtisch fahren müssen und wird nachher dies Blatt an unsern alten Freund Erdmann zur Aufbewahrung bringen. Er soll es Dir dann einstmals geben, wenn Dir recht wundweh und verzagt ums Herz sein wird.

Laß Dir sagen, mein Kind, daß Du mein Glück und mein Trost gewesen bist, daß Deine treue Liebe mein Leben vergoldet hat. Laß Dich aber auch bitten, den Kummer den mein Tod Dir bereiten wird, mutig zu bekämpfen. So tapfer, wie Du immer im Leben bei mir ausgehalten hast, so tapfer zwing’ auch später Dein Herz von meinem Grab hinweg, wo es nutzlos trauert. Laß mich nicht wirklich gestorben sein. Laß mich lebendig bei Dir bleiben durch den immerwachen Gedanken. Wär’s auch der Mutter so recht? Sei gegen Deinen Mann, das bin’ ich Dich von ganzem, ganzem Herzen, immer so, als wenn ich noch da wäre. Thue mir auch im Tod kein Leid, wie Du mir im Leben keins gethan hast. Mehr sag’ ich über diese Sache nicht. Du wirst mich schon verstehen.

Und nun genug. Als Du noch klein warst, weißt Du noch, und zum Besuch beim Onkel, und ich Dir schrieb, da hieß es immer ganz zuletzt an dieser Stelle sitzt ein Kuß, nimm ihn Dir ab. So küß' ich auch zum letzten Abschied dieses Blatt, mein kleines, großes Mädchen.

Gute Nacht!“

(Fortsetzung folgt.)

Ein interessantes Planetenpaar.
Von Dr. H. J. Klein.

Wie sieht es auf den Sternen aus? Seit Jahrhunderten beschäftigen sich die Astronomen lebhaft mit dieser Frage und richten dabei ihr Augenmerk naturgemäß vor allem auf die uns am nächsten gelegenen Himmelskörper auf den Mond und die Planeten. Sind diese Gestirne, die gleich der Erde um die Sonne kreisen, ebenso wie unser Planet beschaffen? Ist ihre Oberfläche von Bergen durchzogen mit Meeren und Seen bedeckt? Sind diese Weltkörper von einer Lufthülle umgeben und erhalten sie so viel Licht und Wärme, daß auf ihnen Pflanzen und Tiere und menschenähnliche Wesen gedeihen können? Was in dieser Hinsicht über den Planeten Mars erforscht wurde, haben wir vor kurzem (vgl. S. 508 des Jahrgangs 1896 der „Gartenlaube“) mitgeteilt. Heute möchten wir unsere Leser darüber unterrichten, was die Astronomen über die physikalische Beschaffenheit der beiden zwischen der Erde und der Sonne kreisenden Planeten, des Merkur und der Venus, erkundet haben.

Merkur befindet sich der Sonne am nächsten. Seine Entfernung von ihr wechselt zwischen 69 und 46 Millionen Kilometer, der Erde kann er dagegen niemals näher als 79 Millionen Kilometer kommen, sich aber bis zu 218 Millionen Kilometer von ihr entfernen. Seine Umlaufdauer um die Sonne beträgt 88 Tage. Venus läuft um die Sonne in einer Entfernung von 107 bis 108 Millionen Kilometer, sie kann der Erde bis auf 40 Millionen Kilometer nahe kommen, sich aber bis zu 257 Millionen Kilometer von ihr entfernen. Ihre Umlaufszeit um die Sonne beträgt 224,7 Tage. Sonach ist das Jahr des Merkur an Dauer etwa einer unserer Jahreszeiten vergleichbar, und das Venusjahr dauert nur 7½ irdische Monate.

Der Planet Merkur hat einen Durchmesser von 4820 Kilometern, seine Oberfläche ist also nur 1/7 der Erdoberfläche und aus der Erde ließen sich 20 Körper von der Größe des Merkur bilden, während das Gewicht dieses Planeten 1/25 vom Gewichte der Erde beträgt. Merkur ist also ein kleiner Planet, ja unter den Hauptplaneten ist er der kleinste. Die Astronomen haben sich viele Mühe gegeben die Oberfläche des Merkur zu erforschen, doch sind in mancher Beziehung bis heute noch keine übereinstimmenden Ergebnisse erlangt worden. Der Grund hiervon liegt hauptsächlich in dem Umstand, daß der Planet Merkur sich stets nahe bei der Sonne aufhält und seine Sichtbarkeitsverhältnisse sich daher für uns sehr ungünstig gestalten. Im Jahre 1801 sahen Schröter und Harding auf der Scheibe des Merkur einen dunklen Streifen, von dem sie glaubten daß er im Laufe einiger Stunden von Ost nach West fortrücke, etwas Aehnliches sahen sie an mehreren Tagen und schlossen daraus, daß dieser Planet sich in etwa 24 Stunden einmal um seine Achse drehe. Zu anderen Zeiten sah Schröter die Sichel des Merkur an der südlichen Spitze abgestumpft und schloß daraus, daß sich dort hohe Berge befinden, wodurch das Sonnenlicht aufgehalten werde und nicht die äußerste südliche Spitze erreichen könne. Spätere Beobachter haben auch bisweilen die abgestumpfte Gestalt der Sichel des Merkur gesehen, allein im allgemeinen ergaben die Beobachtungen so wenig, daß Merkur ziemlich vernachlässigt wurde.

Mit den Fernrohren der Neuzeit ist es indessen nicht schwierig, den Merkur am hellen Tage zu sehen und zu beobachten, sein Licht ist dann sehr gemildert und überhaupt sind die Umstände günstiger für die Beobachtung, da der Planet dann hoch am Himmel steht. Im Jahre 1881 beobachtete Prof. Schiaparelli in Mailand den Merkur wiederholt am Tage und überzeugte sich, daß deutliche, dunkle Flecken auf seiner Oberfläche sichtbar seien. Er begann deshalb ein anhaltendes Studium der Merkuroberfläche und widmete demselben volle 8 Jahre. Als Hauptergebnis dieser überaus mühevollen Untersuchungen fand sich die merkwürdige Thatsache, daß Merkur sich um die Sonne dreht in der gleichen Weise wie der Mond um die Erde. Genau so, sagt Schiaparelli, wie der Mond bei seinem Umlaufe um die Erde diesen ungefähr immer die nämliche Seite und dieselben Flecke zeigt, so wendet sich Merkur bei seinem Umlauf um die Sonne dieser großen Quelle seines Lichtes stets ungefähr dieselbe Seite zu. Merkur bleibt gegen die Sonne wie ein Magnet gegen eine Eisenmasse gerichtet, aber diese Orientierung gestattet eine gewisse schwingende Bewegung des Planeten gegen Ost und gegen West, ähnlich derjenigen, welche der Mond in Beziehung auf uns ausführt. Um sich die höchst merkwürdigen Verhältnisse, die auf dem Merkur herrschen, völlig deutlich zu machen, wollen wir einen Augenblick von dieser schwingenden Bewegung des Planeten absehen, da sie überhaupt nicht groß ist. Unter diesen Umständen sieht die eine Hälfte des Merkur die Sonne ununterbrochen am Himmel, und zwar ohne jede Bewegung, wie angenagelt. Diese Hälfte des Planeten hat also Tag, und zwar ewigen Tag, die gegenüberliegende hat ewige Nacht. Diese sieht niemals eine Spur des Sonnenballs, sie ist in Dunkelheit und Kälte begraben aber auf die Tagesseite sendet die Sonne unaufhörlich ihre glühenden Strahlen, und jeder Teil dieser Hemisphäre wird in der gleichen Weise seit Millionen von Jahren durch die Sonnenstrahlen getroffen. Doch giebt es auch [651] für diese Tagseite eine Art von Wechsel der Jahreszeiten. Die Bahn des Merkur ist nicht rund, sondern elliptisch, und zwar so, daß die Tagseite in der Sonnenferne 4⅔ mal soviel Licht und Wärme empfängt als die Erde, in der Sonnennähe dagegen 10⅔ mal soviel. Hiernach spendet also der glühende Sonnenball der Tagseite des Merkur zur Sommerszeit 2⅓ mal soviel Licht und Wärme als zur Winterszeit, wenn man die Bezeichnung Sommer und Winter für eine Planetenoberfläche anwenden darf, die zweifellos von der Glut der Sonnenstrahlung verbrannt ist.

Infolge der obenerwähnten schwingenden Bewegung bleibt die Sonne für den Merkur nicht völlig unverrückt stehen, sondern beschreibt langsam im Laufe eines Merkurjahres (von 88 Erdentagen) einen Bogen von 47 Grad, so daß es gewisse Gegenden auf dem Merkur giebt, für welche ein Wechsel von Tag und Nacht stattfindet. Diese Regionen umfassen etwa ¼ der Merkuroberfläche, während 3/8 des Planeten ewigen Tag und 3/8 ewige Nacht haben. „Merkur,“ sagt Schiaparelli, „ist eine Welt, welche erheblich von der unsrigen verschieden ist. Die Sonne erleuchtet und erwärmt ihn weit lebhafter und auf eine ganz andere Art wie unsere Erde. Und wenn Leben auf diesem Weltkörper existiert, so findet es dort Verhältnisse, welche derart von den unsrigen abweichen, daß wir kaum wagen, sie uns auszumalen. Die ewige Gegenwart der Sonne, welche fast senkrecht ihre Strahlen auf einen Teil der Merkuroberfläche herabsendet, und die ewige Abwesenheit dieser Sonne für die entgegengesetzte Seite erscheint uns in gleicher Weise unerträglich. Denkt man jedoch darüber nach, so bemerkt man, daß gerade dieser große Kontrast eine viel schnellere Circulation der Atmosphäre erzeugen muß, eine viel mächtigere und regelmäßigere als diejenige ist, welche die Elemente des Lebens auf unserer Erde verbreitet.

Auf Merkur folgt in der Reihe der Abstände von der Sonne der Planet Venus. An Größe kommt Venus der Erde beinahe gleich, denn ihr Durchmesser beträgt 11 970 Kilometer, während der Erddurchmesser 12 756 Kilometer Länge hat. Ihre Oberfläche ist demgemäß etwa 1/12 kleiner als die Erdoberfläche und ihr Volumen ungefähr 1/6 kleiner als das Volumen des Erdballs. Aus den nämlichen Gründen wie beim Planeten Merkur ist auch die Venus schwierig zu beobachten und trotz ihrer zeitweisen großen Annäherung an die Erde wissen wir von ihrer Oberflächenbeschaffenheit noch sehr wenig. Wenn Venus sichelförmig erscheint, fand man bisweilen die Lichtgrenze wie ausgezackt oder eine der Sichelspitzen etwas abgestumpft, woraus man mit Recht auf beträchtliche Höhen an jenem Orte der Venusoberfläche schloß. Auch hat man die Spitzen der Sichel sehr oft heller als den übrigen Teil der Scheibe gesehen, und da in der Nähe dieser Spitzen die Umdrehungspole der Venus liegen müssen, so bezeichnet man jene hellen Flecke als Polarflecke.

Eine überaus merkwürdige und noch unerklärte Erscheinung ist das phosphorische Licht auf der Nachtseite der Venus. Zu Zeiten, wo dieser Planet als Sichel erschien, hat man selbst am hellen Tage den ganzen von der Sonne nicht beschienenen Teil ihrer Scheibe in mattem Lichte schimmern gesehen. Da kein Strahl der Sonne diese Region der Venus trifft und auch kein anderer Weltkörper dieselbe beleuchten kann, so ist es völlig rätselhaft, woher jenes matte Licht stammt. Im ganzen tritt dasselbe, wie schon bemerkt, nicht häufig auf, allein die neuesten Beobachtungen von L. Brenner auf Lussinpiccolo machen wahrscheinlich, daß die Erscheinung nicht so selten ist, als man bisher geglaubt hat, nur bedarf es zu ihrer Wahrnehmung besonders klarer, ruhiger Luft. Die frühesten Beobachter der Erscheinung glaubten, daß auf der Venus von Zeit zu Zeit Polarlichter, ähnlich unseren Nordlichtern, entständen und diese jenes phosphorische Licht hervorriefen, eine Ansicht, der sich neuerdings auch Schiaparelli angeschlossen hat. Die Beobachtungen von L. Brenner haben dagegen wahrscheinlich gemacht, daß das phosphorische Licht nicht eigentlich ein solches ist, sondern vielmehr eine Kontrasterscheinung. Der dunkle Teil der Venus erscheint nicht heller, sondern dunkler als der Himmelsgrund ringsum. Merkwürdigerweise hat L. Brenner etwas Aehnliches auch beim Merkur gesehen, indem er auch dessen von der Sonne unbeleuchtete Seite zu Zeiten wahrnahm, und zwar dunkler als den Himmelsgrund. Wie dies zu erklären ist, muß noch dahingestellt bleiben. Vielleicht ist der Raum in der näheren Umgebung der Sonne bis zu einer gewissen Entfernung von einer überaus feinen, staubförmigen Materie erfüllt, welche verursacht, daß der Himmelsgrund in sehr schwachem Lichte schimmert und auf diese Weise die Kontrasterscheinung zustande kommt. Sei dem wie ihm wolle, jedenfalls ist das Sichtbarwerden der dunklen Seite der Planeten Venus und Merkur noch nicht einwurfsfrei erklärt.

Auch über die Umdrehung der Venus haben seit langer Zeit Zweifel geherrscht, die noch nicht gehoben sind. Man kann nämlich nur selten und mit Schwierigkeit auf der Venusscheibe matte Flecke erkennen und daraus auf die Umdrehungsdauer des Planeten sicher schließen. Der berühmte Astronom Dominicus Cassini sah in den Jahren 1666 und 1667 einige helle Flecke auf der Scheibe der Venus und schloß daraus, daß dieselbe in weniger als einem Tage sich um ihre Achse drehe oder hin und her schwanke. Später, 1726 und 1727 sah der römische Astronom Franz Vianchini eine Anzahl dunkler Flecke auf der Venus, aus deren Bewegung er schloß, daß dieser Planet in 24⅓ Tagen sich einmal um seine Achse drehe.

So weit also gingen die Ansichten über die Umdrehungsdauer der Venus auseinander! Aber selbst der große Beobachter Wilhelm Herschel war nicht imstande, die Frage zu entscheiden. In den Jahren 1839 bis 1841 beobachteten de Vico und Palomba auf der Sternwarte zu Rom zahlreiche matte Flecke der Venusscheibe, sie glaubten daraus auf eine Umdrehungszeit dieses Planeten von 23⅓ Stunden schließen zu müssen, und damit schien die Frage endgültig erledigt. Im Jahre 1899 begann aber Schiaparelli den Planeten Venus aufmerksam zu beobachten, denn derselbe zeigte damals einige Flecke, die deutlicher waren als gewöhnlich. Aus diesen Beobachtungen schloß er, daß diese Flecke keine festen Teile der Oberfläche dieses Planeten sind, sondern atmosphärische Producte, ähnlich unsern Wolken. Die Bewegung der Flecke war schwer genau festzustellen, keinesfalls aber schien sie sich mit einer 24stündigen Dauer der Umdrehung zu vereinigen, dagegen sehr wohl mit einer viel längern. Zuletzt kam Schiaparelli zu dem Schlusse, es sei am wahrscheinlichsten, daß Venus, genau so wie Merkur, der Sonne stets die nämliche Seite zuwende, sich also in 224,7 Tagen einmal um ihre Achse drehe. Dieses Ergebnis, welches übrigens Schiaparelli mit aller Reserve aussprach, ist überaus merkwürdig, denn es stellt die beiden Planeten Merkur und Venus in einen ausgesprochenen Gegensatz zu der Erde und den übrigen Hauptplaneten, welche, soweit wir dies beurteilen können, sämmtlich eine kurze Umdrehungszeit besitzen. Eine Bestätigung der Schlüsse Schiaparellis wurde von Perrotin auf der großen Sternwarte zu Nizza geliefert, während die Beobachtungen auf der Sternwarte zu Brüssel wieder auf eine Umdrehungszeit von etwa 24 Stunden hindeuten. In den letzten Jahren hat Leo Brenner auf der Insel Lussinpiccolo, wo die Luft außerordentlich klar ist, die Venus sehr häufig beobachtet.

Auch er findet die Flecke äußerst matt, aber doch hinreichend deutlich, um die Rotationsdauer festzustellen. Dieselbe würde gemäß seinen Beobachtungen 23 Stunden 57 Minuten 36⅓ Sekunden betragen, also nur unbedeutend länger sein als die Umdrehungsdauer der Erde, welche 23 Stunden 56 Minuten beträgt. Es giebt kaum irgend ein anderes astronomisches Problem, welches die Beobachter zu so durchaus verschiedenen Ergebnissen geführt hat.

Eine höchst merkwürdige Erscheinung an der Venus hat Brenner am 7. März dieses Jahres gesehen. An diesem Tage beobachtete er vom Mittag bis 8 Uhr abends. Venus erschien sichelförmig mit deutlichen dunklen Flecken. Außerdem war die dunkle Seite derselben sichtbar von Mittag bis 6½ Uhr. Sie erschien dunkler als der Himmelsgrund sowie von violetter Farbe, und in ihr sah der Beobachter zwei etwas helle Flecke während einer Zeitdauer von etwa 35 Minuten. Außerdem war die ganze dunkle Seite von einer Aureole oder Glorie umgeben. Man erkennt hieraus, wieviel Merkwürdiges, Unerwartetes und Unerklärtes der Planet Venus unsern Beobachtungen darbietet, trotzdem er ein Weltkörper ist, welcher der Erde verhältnismäßig nahe kommt. Faßt man dasjenige, was wir bis jetzt von ihm wissen, zusammen, so können wir nur sagen, dieser Planet ist im ganzen der Erde sehr unähnlich und wahrscheinlich ebensowenig als Merkur geeignet, ein Wohnplatz lebender Wesen zu sein, welche in ihrer Organisation den irdischen Organismen gleichen.

[652]
Eine Entführung.
Novellette von H. von Schreibershofen.
Mit Illustrationen von Arthur Kampf.

Das Fest in den schönen Räumen der Kommandantur näherte sich seinem Ende, die zahllosen Wachskerzen waren tief heruntergebrannt, die letzte Quadrille wurde getanzt. Dann neigten sich die gepuderten Köpfe der Damen und ihrer Kavaliere noch einmal gegeneinander, die Reifröcke rauschten, die Fächer klapperten, und die Rufe nach den Wagen und Sänften klangen durch den weiten Hof.

Frau Gräfin Schwichard ließ sich im Garderobezimmer den Pelz um ihre vollen, noch immer schönen Schultern hängen. Neben ihr stand die schlanke, zierliche Gestalt ihrer Tochter Armgart, ebenfalls in einen weiten, warmen Pelzmantel gehüllt, aus dem sich ihr reizender Kopf wie eine Wunderblume emporhob. Das hoch aufgebaute, gepuderte Haar war mit Rosen geschmückt, unter den feingezeichneten Augenbrauen leuchteten dunkelblaue Augen in sanftem Feuer und um den schön geschwungenen Mund spielte ein träumerisches, unendlich liebliches Lächeln. Sie schien ganz das Gegenteil ihrer stolzen, energischen Mutter, doch hätte ein scharfer Beobachter wohl die Aehnlichkeit in einzelnen Zügen herausgefunden. Namentlich jetzt, wo das junge Mädchen alle Willenskraft aufwandt, um die sie beherrschende innere Erregung äußerlich zu bemeistern. Der schönste junge Kavalier der Gesellschaft, der soeben in der letzten Quadrille ihr Partner gewesen, hatte gleich beim Beginn derselben ihre Hand leise gedrückt, den Blick seiner glänzenden braunen Augen tief in die ihren gesenkt und, während sie sich eine feierliche Reverenz machten, in hastigem Flüstern gefragt, ob sie seinen Vorschlag in Erwägung gezogen habe. In ihrer Verwirrung hatte Armgart sich nach der falschen Seite gewendet, aber noch Zeit gefunden, ihr heftig errötetes Köpfchen zu schütteln. Bei nochmaliger Begegnung in den Windungen der Quadrille hatte sie ihm ebenso eilig und leise bedeutet, sie wolle die Hoffnung auf ihrer Frau Mutter Einwilligung noch nicht ganz aufgeben, worauf er mit heißem Flehen im Blick versetzte, er werde heute wie immer auf das Zeichen warten, es sei alles vorbereitet. Wie hatte ihr Herz aufgejauchzt und doch so angstvoll gebebt bei seinen Worten! Ach, stände der schöne Mann ihr nur gleich an Familie und Vermögen …

Eine Bewegung ihrer Mutter entriß sie ihren Träumen. Ein gebieterischer Wink der Gräfin scheuchte den Lakaien hinaus, und die stattliche Dame machte eine halbe Wendung nach ihrer Tochter hin, anstatt nach der Thüre zu, hinter welcher General von Hoppestedt, der Stadtkommandant, auf sie wartete, um sie an seiner Hand die Treppe hinabzuführen.

„Sie haben die letzte Quadrille wieder in Unordnung und Ihren Tänzer dadurch in die größte Verlegenheit gebracht,“ redete die Gräfin französisch auf die Tochter ein. „Eine Komtesse Schwichard darf sich solcher Zerstreutheiten nicht schuldig machen, denn aller Augen sind auf sie gerichtet. Ihre Erziehung, Armgart, ermüdet mich, ich werde sie andern Händen anvertrauen! Morgen um 11 Uhr werden Sie bereit sein, meinen Vetter, den Grafen Trosche zu empfangen, der Ihre Hand für seinen Sohn erbeten hat. Ich habe eingewilligt, die Sache ist abgemacht.

Die Gräfin verließ das Zimmer, ohne ihre Tochter anzusehen.

Komtesse Armgart blickte sich wie geistesabwesend um. In ihren Augen lag eine stumme Verzweiflung, ihr Pelz beengte sie zum Ersticken. Sie riß ihn auf, sah sich um – da fiel ihr Blick auf den Spiegel, aus dem ihr bleiches Antlitz fast entstellt heraussah. Auf ihrem Haar schwankten die Rosen – – beim Anblick dieser Blumen kehrte die Farbe in ihre jäh erblaßten Wangen zurück, sie richtete sich gewaltsam auf, ihr Ansatz erhielt einen anderen, sehr entschiedenen Zug, und langsam ließ sie einen ihrer Handschuhe zur Erde gleiten. Dann löste sie geschickt eine Rose aus dem Haar und ging hinaus. Draußen hob sie die Rose zweimal empor an ihre Lippen, ließ sie darauf fallen und eilte ihrer würde voll am Arme des Generals vorwärts schreitenden Frau Mutter hastig nach, so hastig, daß sie auf die Schleppe der Gräfin trat – ein peinlicher Zufall, der einen Aufenthalt verursachte. Armgart entschuldigte ihre Ungeschicklichkeit, doch die Mutter würdigte sie keiner Antwort. Erst als die Komtesse wegen des zurückgelassenen Handschuhs nochmals umkehrte und eine abermalige Verzögerung entstand, konnte die Gräfin einige scharfe Worte nicht unterdrücken. Denn um einer [653] allgemeinen Verwirrung unter den vorfahrenden Equipagen vorzubeugen, mußten die beiden Damen nun warten, bis fast alle Wagen oder Sänften ihre Insassen hinweggeführt hatten.

Frau Gräfin Schwichard war derartiges nicht gewöhnt. Sie pflegte als letzte zu kommen und zuerst wieder zu gehen. Wie eine hergelaufene Abenteurerin so im Vorsaale stehen und warten müssen, das war ihr bisher noch nie geschehen! Sie that, als sei ihre Tochter gar nicht vorhanden, aber um Mund und Nase zuckte es bedrohlich. Armgarts Schuldregister schwoll riesengroß an.

Endlich konnten die Damen einsteigen. Die Gräfin drehte während der kurzen Fahrt ihrer Tochter den Rücken zu und verließ nach der Ankunft den Wagen, ohne sich nach ihr umzusehen. Ihr Gesicht hatte einen strengen

harten Ausdruck, als sie in stolzer Haltung, den mit Federn und blitzenden Steinen geschmückten Kopf zurückwerfend, durch den fallenden Schnee dem Schloßportal zuschritt und die Treppe zu ihren Gemächern hinaufstieg.

Sie flößte ihren Leuten immer Furcht ein, heute aber lag ein besonders böser Zug auf ihrem Gesichte – die sieben dienenden Frauen hatten eine schlimme Stunde durchzumachen. Sprach sie auch wenig, so waren ihre zornigen, verächtlichen Blicke und ungeduldigen Bewegungen hinreichend beredt und ausdrucksvoll.

Endlich wurden die Frauen entlassen und die Gräfin sah befriedigt in den großen venetianischen Spiegel. Ein roter seidener Schlafrock umgab ihre Figur, den Kopf bedeckte ein Turban von türkischem Stoff und um den Hals lag ein feines, gesticktes, linnenes Tuch, von einer Diamantnadel zusammengehalten. Sie ließ sich in einen Sessel fallen, kreuzte die mit gefütterten Hausschuhen bekleideten Füße und erteilte den Befehl, Komtesse Armgart zu rufen.

Es war spät, vielleicht schlief die junge Dame schon, jedenfalls lag sie bereits unter der warmen Federdecke – dann mußte sie eben wieder aufstehen, sich ankleiden und frisieren lassen! Das konnte eine geraume Weile dauern, deshalb wartete die Gräfin ziemlich geduldig. Verschieben wollte sie die Unterredung nicht! Morgen mußte Armgart wissen, wie sie sich als zukünftige Gräfin Trosche zu verhalten habe. In angenehmster Klarheit breitete sich Armgarts Zukunft vor ihrer Mutter Blick aus.

Und mochte Armgart dann Verwirrung in Mennettis Quadrillen und in den Herzen anrichten, das war hernach Sache ihres Gemahls!

Die Gräfin versank – ein höchst seltenes Ereignis – für einige Zeit in Jugenderinnerungen. Hatte sie nicht auch durch ein Lächeln oder einen kalten abweisenden Blick oft genug die Quadrillen in Unordnung gebracht und ihrem Tänzer die Fassung geraubt?

Mit einem leisen Seufzer kehrte sie in die Gegenwart zurück, wunderte sich mit einer Regung von Ungeduld, wo Armgart bleibe, und ergriff die Handglocke auf dem Tische.

Die Kammerfrau erschien so schnell, daß die Vermutung nahelag, sie habe vor der Thüre auf das Glockenzeichen gewartet.

„Komtesse Armgart?“ fragte die Gräfin kurz. Die Kammerfrau antwortete nicht, sondern machte der hinter ihr stehenden Kammerjungfer der Komtesse ein Zeichen, näherzukommen, was diese scheu und zögernd that.

„Was soll das! Was will Sie Meiern? Ist die Komtesse krank?“ fragte die Gräfin scharf.

Die Jungfer kam noch näher und flüsterte einige Worte. „Unmöglich! Sie holt sofort die Komtesse!“ war der Gräfin Entgegnung, von einer sehr entschiedenen Handbewegung begleitet. Doch der Befehl der erzürnten Herrin fand dieses eine Mal keine Beachtung. Die Jungfer wechselte einen Blick mit der Kammerfrau und zuckte die Achseln. Die Gräfin sah es und winkte den Frauen, näherzukommen, indem sie ruhiger sagte.

„Sie hat wohl geträumt, Meiern! Die Komtesse ist an meiner Seite im Wagen hergefahren und nach mir ausgestiegen.

Aber die Jungfer schüttelte den Kopf und wiederholte ihre Meldung. Die Komtesse mochte vielleicht mit eingestiegen sein, war aber jedenfalls nicht wieder mit ausgestiegen.

Die Kammerfrau wagte die Bemerkung, Komteßchen sei am Ende im Wagen eingeschlafen und mit diesem in die Remise geschoben worden.

Die Gräfin sah sie starr an, schickte dann die Meiern hin, um nachzusehen, und blieb einen Augenblick wortlos, man könnte fast sagen, zusammengesunken in ihrem roten Schlafrocke vor dem großen Spiegel sitzen. Ihr Antlitz war ungewöhnlich bleich und erregt. Kaum zeigte aber das Zuschlagen der großen Hofthüre an, daß die Jungfer den ihr gewordenen Auftrag ausführte, so blickte sie auf. Die Kammerfrau stand noch da. „Hast du etwas zu melden, Lotte?“

Die Kammerfrau nickte. „Gnädigste Komtesse haben zweimal heimlich geschrieben. Es ward ihr offenbar schwer, solches von ihrer jungen Herrin berichten zu müssen.

Die Gräfin runzelte die Stirn. „Geschrieben? Das ist sehr bös! An wen? Und wer hat die Briefe –“

„Komtesse geruhten die Schreiben selbst mitzunehmen.“

„Wann?“

„Freitags.“

Jeden Freitag fand eine Vorstellung der französischen Truppe statt, wozu sich auch die Nachbarschaft des Städtchens einfand. Wie nicht anders zu erwarten, war Komtesse Armgart von Bewunderern umschwärmt. Welchem galten ihre Billets?

„Gestern fand die Meiern dieses im Strickbeutel von Komtesse.“

Die Gräfin nahm der Kammerfrau ein abgerissenes Stückchen Papier aus der Hand, auf dem „Paul“ geschrieben stand.

Jetzt kehrte die Jungfer zurück und berichtete, die Komtesse sei nicht im Wagen. Natürlich nicht! Die Gräfin hatte es überhaupt gar nicht erwartet.

Nach kurzer Zeit ward es in dem großen Hause wieder lebendig.

Die Lakaien und der Kutscher wurden heraufbefohlen. Der letztere hatte nichts gesehen und ward sofort wieder entlassen, um möglichst schnell abermals anzuspannen. Auch die Lakaien [654] wollten nichts gesehen haben, doch ihre Herrin ließ nicht ab mit Fragen. Sie erfuhr nach und nach, es sei nicht unmöglich, daß die Komtesse, indes die Gräfin den Wagen verlassen, auf der andern Seite hinausgeschlüpft sei. Es fielen Andeutungen von starken Armen, die sie aufgenommen und auf denen sie im Schneegestöber verschwunden sei – – denn es schneite ja. Es schneite so stark, daß der Schnee zweifellos alle verräterischen Spuren getilgt, aber auch jedes rasche Vorwärtskommen verhindert oder doch erschwert haben müsse.

Das erfuhr die Gräfin, nur von dem Mitgefühle ihrer Leute für Armgart wie von der absichtlichen Zögerung, das Verschwinden der Komtesse zu melden, erfuhr die stolze Frau nichts. Auch hätte die Meiern viel von der Angst ihrer jungen Herrin vor der Verlobung mit dem ungeliebten Vetter berichten, sowie Aufschluß über das Zeichen mit der Rose erteilen können. Das Stückchen Papier war bedeutend größer gewesen, aber die Jungfer schwieg auch

davon, denn sie hing an Armgart und wünschte ihr Gutes.

Der Wagen fuhr vor und die Gräfin hatte aufs neue Toilette gemacht. In ihrer Erregung war ihr die auffallende Langsamkeit ihrer Leute entgangen, sie hatte zu viel zu überlegen. Als sie einstieg, befahl sie. „Nach der Kommandantur!“ Die Sache vertuschen zu wollen, lag ihr ganz fern. Ihr beleidigter Stolz verlangte Genugthuung, einerlei auf wessen Kosten!

Es währte lange, bis sie wieder vor dem General stand, der sehr verdrießlich und gar nicht mehr der liebenswürdige aufopfernde Wirt vom Abend war. Es läßt sich niemand gern im ersten Schlummer stören. Und als die Gräfin ohne irgend welche Erklärung nur zu wissen verlangte, welcher der Kavaliere vom gestrigen Ball mit Vornamen Paul heiße, sah er sie wütend an und schrie zornig.

„Haben Sie mich bloß deshalb aus dem Bette holen lassen?“

„Allein deshalb,“ versetzte sie mit eisiger Ruhe und blickte ihn gelassen an. „Ich muß wissen, wer dieser Paul ist –“ sie zeigte ihm das Papierstückchen – „und Sie müssen es ebenfalls wissen, damit Sie ihn verfolgen lassen können, ihn und meine Tochter Armgart, welche er in dieser Nacht entführt hat.“

„Den Teufel hat er!“ schrie der Kommandant, was aus so aufrichtigem Herzen kam, daß die Gräfin es gern verzieh.

Aber wer hieß Paul?

Der General besann sich vergebens. Doch was der Herr General nicht wußte, war der Frau Generalin bekannt, welche der Beratung zugezogen ward.

„Paul!“ rief sie aus, und ihre Gedanken eilten zu ihren Töchtern, die ahnungslos schliefen, zu ihren Nichten und deren Freundinnen, die samt und sonders für den Namen Paul schwärmten. „Paul – das muß Barringten sein!“

„Barringten!“ wiederholte die Gräfin und ihre Gestalt schien zu wachsen, ihr Kopf hob sich stolz. „Er hat nichts, er ist nichts – ihm gebe ich meine Tochter nie!“

„Aber er hat sie schon“, bemerkte der General und erfrischte sich sehr bedächtig mit einer Prise.

Die Gräfin warf ihm einen zornigen Blick zu. „Wir werden sie ihm wieder abnehmen!“

Dazu wurden denn schleunigst alle Anstalten getroffen. Doch bis das Husarenpikett endlich wirklich dem flüchtigen Paare auf der Spur war, verging eine geraume Zeit. Und sehr bald fand sich zwar der Wagen, der die Liebenden der Stadt entführt hatte, sie selbst aber hatten die Reise zu Pferde fortgesetzt und sich der preußischen Grenze zugewendet.


Der Festungskommandant von Magdeburg saß mit seiner Frau beim Frühstück. Eine kräftige Mehlsuppe dampfte auf dem Tische, vor dem eine Reihe Kinder stand, stramm und erwartungsvoll. In damaliger Zeit wagten die Kinder nicht, sich in Gegenwart der Eltern beim Essen zu setzen.

Der Kommandant, mit Zopf und gepuderten Seitenlocken, hoch heraufreichenden Gamaschen und einem alten Uniformsrock der aus Sparsamkeit als Hausrock verwendet wurde, schien äußerst verdrießlich. Noch niemals, seit er seinem König diente, war er so unzufrieden mit ihm gewesen. Der König ward alt, die Leute hatten recht, wenn sie ihn den „Alten Fritz“ nannten. Bisher hatte der selbst bejahrte Offizier, der alle Kriege des Königs mitgemacht, das nicht zugeben wollen es, mußte aber wohl etwas daran sein.

Eine königlich preußische Festung ist keine Korrektionsanstalt für liederliche Weibsbilder, brummte er immer wieder vor sich hin, denn mit dem frühen Morgen war ihm ein Befehl seines allergnädigsten Königs zugegangen, wonach die Komtesse Armgart Schwichard nebst ihrem Galan aufzuspüren und in die Citadelle festzusetzen sei. „Weibspersonen gehören in keine Citadelle,“ sagte er ingrimmig, aber gegen einen Befehl Seiner Majestät gab es kein Auflehnen.

Die Gräfin hatte sich ohne Zeitverlust an des Königs von Preußen Majestät gewendet, mit der Bitte, die ungehorsame, entlaufene Komtesse Tochter ergreifen und einsperren lassen zu wollen. Solches hatte Seine Majestät huldreichst gewährt, denn Ungehorsam in jeder Form war ihm ein Greuel, und die Komtesse Tochter schien dem hohen Herrn einer gewöhnlichen Landstreicherin sehr ähnlich zu sein.

Noch ehe die Morgensuppe ganz ausgelöffelt war, kam die Meldung, besagte Personen seien festgenommen und ständen im Hofe. Hastig ward der Dreispitz aufgestülpt, ein anderer Rock angezogen, ein Rohrstock mit mächtiger Krücke in die Hand genommen, und so stieg der Gestrenge hinab, indes seine Gattin oben zum Küchenfenster hinausschaute.

Gerade unterhalb des Fensters standen ein junger Herr und eine Dame aneinander geschmiegt. Die Dame trug einen kostbaren Pelz, doch war er beschmutzt und arg zerrissen. Ihr Kopf war nur mit einem Tuche verhüllt und die Füße kaum bekleidet. Auch des jungen Herrn Anzug war sehr verwahrlost, aber dennoch machten beide einen vornehmen Eindruck und hielten sich stolz und aufrecht. Auch schienen sie weder entmutigt noch niedergeschlagen. Als der alte Offizier der Dame mit rauhem Ton befahl, den Arm ihres Galans loszulassen, rief sie sehr entschieden aus: „Wir lassen uns nicht trennen! Wir gehören zusammen.“

Daraufhin legte der junge Mann einen Arm um sie und zog mit der andern Hand seinen kurzen Galanteriedegen. Sein [655] schönes kühnes Antlitz mit den blitzenden brennenden Augen war deutlich zu sehen, und die Dame im Küchenfenster meinte bei sich, es sei schwer, zu entscheiden, wer von den beiden schöner und anmutiger sei.

Der Widerstand des jungen Herrn war im Nu gebrochen. Die Komtesse fing nun an zu bitten, weinte auch beweglich, doch weder ihre Thränen noch ihre flehenden Worte rührten das harte Herz des alten Kriegers. Er hatte seine Ordre und handelte danach. Selbst gegen seine eigene Tochter wäre er nicht schwach geworden.

Man legte dem jungen Manne Fesseln an, und unter dem kläglichen Geschrei des gräflichen Fräuleins ward jedes in ein besonderes Gewahrsam geführt.

Doch bei dem Versuche ihres Verlobten, sich gegen die bewaffnete Macht aufzulehnen, hatte sich der Pelz der Komtesse verschoben gehabt und dem scharfen Blick der Zuschauerin im Küchenfenster war nicht entgangen, daß die Toilette der Flüchtigen einer Erneuerung dringend bedurfte.

„Davon steht nichts in meiner Instruktion, sagte der strenge Befehlshaber der Festung auf die Vorstellung seiner Frau.

„Aber es ist auch nicht verboten,“ antwortete sie, und daraufhin durfte sie die Gefangene besuchen und das Notwendige für die bezweckte Hilfe mitnehmen.

Der Kommandant ging aber auch mit, er traute den Weibern nicht. „Ich lasse mir keine Flausen vormachen,“ sagte er kurz.

„Wenn die Demoiselle sich entführen lassen wollte, hätte sie wenigstens vorher für anständige Kleidertasche sorgen können,“ polterte er dann, als er vor Armgart stand, worauf sie in Thränen ausbrach und vor Scham hätte in die Erde kriechen mögen.

Stolz und energisch sah Komtesse Armgart nicht mehr aus, wie ein betrübtes, unglückliches Kind stand sie mit niedergeschlagenen Augen vor dem gestrengen Festungskommandanten. Von Schluchzen unterbrochen erzählte sie, daß nur ihrer Mutter plötzliche Bestimmung, sie solle ihren Vetter heiraten, sie in die Entführung habe einwilligen lassen. Sie habe es nicht gewollt, aber die Bestürzung, der Schreck –“

„Bleibt immer Desertion und Insubordination und überall straffällig,“ versetzte der Kommandant, aber seine Stimme klang weniger streng und er wandte nichts ein gegen die Versuche seiner Frau, die Weinende zu trösten, selbst als die ältere Hoffnungen auf eine glücklichere Zukunft aussprach.

Dennoch wurden die beiden Verbrecher strenge bayonniert. Einige geringe Erleichterungen wußte die mitleidige Frau ihrem Eheherrn für die Komtesse abzuschmeicheln, doch dem Entführer ward nicht die kleinste Vergünstigung zu teil.

Aber Barringten ließ sich ebensowenig zu einer Verzichterklärung herbei als Armgart ihre Einwilligung zu einer Verbindung mit ihrem Vetter gab. Und vorher sollten sich ihnen die Festungsthore nicht wieder aufthun, das war der feste Wille der Gräfin, die sich zornig fragte, woher ihre Tochter solchen Starrkopf habe.

„Niemals verzeihe ich ihr,“ erklärte sie entrüstet ihrem Vetter dem Grafen Trosche, „Sie muß strenger gehalten werden, Brot und Wasser sind das Rechte für solche ehrvergessene Person. Nicht eher darf sie mir wieder vor Augen kommen, bis sie eingewilligt hat, Euern Sohn, Herr Vetter, zu ehelichen.“

Da sah der Herr Vetter die Erzürnte mit feinem Lächeln an, erhob sich und machte ihr eine tiefe Verbeugung.

„So kann ich endlich auf den Zweck meines Besuches kommen. Wir ziehen unter obwaltenden Umständen unsere Bewerbung zurück und bitten um Erlaubnis, unserer liebwerten Base, Komtesse Armgart, eine neue Equipage als Hochzeitsangebinde verehren zu dürfen. Es möchte die andere auf der etwas übereilten Reise nach Magdeburg doch vielleicht gelitten haben. Wir haben den Wagen schon bestellt und das Allianzwappen derer von Schwichard und Barringten darauf malen lassen. Wir beklagen den Irrtum, in dem wir uns befunden – ohne unsere Schuld, seine Stimme klang etwas schärfer, als er hinzusetzte. „und der uns leider alle in eine schiefe Lage gebracht hat, aus der unserer Frau Cousine gesundes Gefühl hoffentlich den einzig richtigen Ausweg finden wird.

Mit sehr ernstem durchdringenden Blicke empfahl sich Graf Trosche und überließ die Gräfin ihren sehr unbequemen peinlichen Gedanken.

„Nein, ich will es nicht,“ sagte sie aufgebracht in allerschlechtester Laune. Und ihre Stimmung sollte noch schlimmer werden.

[656] Der Festungskommandant von Magdeburg hatte sich zu einem Schreiben an die Gräfin aufgerafft. Mit steifen, kaum leserlichen Krakelfüßen beschwerte er sich über die eines alten Soldaten ganz unwürdige Aufgabe, ein Liebespaar zu bewachen. Ein solches Geseufze und Gejammere gehöre nicht in eine Festung, die überhaupt nicht zur Internierung weggelaufener Töchter eingerichtet sei. Und sintemalen dem Unterzeichneten ganz übel und wehleidig von dem Gewinsel werde, habe er angeordnet, den Galan und die Komtesse unter strenger militärischer Bewachung täglich zwei Stunden zusammen spazieren zu lassen. Auf dem Festungswalle könnten sie, ohne Belästigung anderer, ihre Herzen erleichtern, so daß das unerträgliche Geklage ein Ende habe. Wozu solle schließlich solches Einsperren und Gestöhne dienen? Geheiratet müsse doch werden, wie jeder sehe; je eher desto besser! Unterzeichneter habe solche seine Ansicht ganz submissest dem Könige, Sr. Majestät Friedrich II., unterbreitet, was er hiermit der Frau Gräfin Schwichard zu wissen thue.



Da ward der Gräfin klar, es sei nicht allezeit wohlgethan, sich fremder Hilfe zum Ordnen von Familienangelegenheiten zu bedienen. Jetzt war nicht mehr ihr Wille, sondern der des Königs von Preußen maßgebend, der nach Gutdünken über seine Gefangenen verfügen konnte. Und zum erstenmal in ihrem Leben beschlich die stolze, herrschsüchtige Frau der Gedanke, sie habe übereilt, ja falsch gehandelt. Ein Ausspruch ihrer seligen Großmutter, einer gar klugen feinen Dame, fiel ihr ein, den sie von ihr gehört, als sie sich einst besonders stolz und hoffärtig gezeigt: „Wer den Kopf allezeit hoch trägt, tritt in die Pfützen und fällt über die Steine auf seinem Wege.“ Ihr war, als habe sie beides gethan.

Die Gemahlin des Festungskommandanten von Magdeburg aber war ungemein vergnügt über ihres Eheherrn Schreiben, doch wie viel davon auf ihren Einfluß kam, hat sie als kluge Frau niemals verraten.

Und Friedrich II. mußte seines Kommandanten Vorstellungen wohl für begründet erachten, denn er erließ den Befehl, der Sache ein Ende zu machen:

„Doch nicht mit Sang und Klang, die sich nicht schicken würden, sondern mit geziemendem Ernste, und möchte der leichtfertigen Demoiselle dabei noch eine Lektion erteilt werden – welcher Art, sei dem Ermessen des Kommandanten anheim gegeben!“

„So kann der Geschichte also endlich ein Ende gemacht werde, ich habe sie auch verhenkert satt!“ rief der Kommandant aus.

Nach einer Stunde schon erfuhr Komtesse Armgart, was er gesagt.

Was für ein Ende meinte er?

Vergebens hoffte die Komtesse auf einen Besuch ihrer mütterlichen Freundin, von welcher sie eine Aufklärung erwartete, sie kam nicht. Das sie bedienende Mädchen schüttelte mit ängstlicher Miene den Kopf und wollte keine Auskunft geben, flüsterte aber endlich, der Kommandant habe jeden Besuch strenge untersagt und ausgerufen, die unzeitige Milde müsse jetzt aufhören!

Es legte sich wie ein Alp auf Armgarts Herz, und als auch der tägliche gemeinschaftliche Spaziergang ausfiel, wußte sie sich vor Angst kaum zu fassen.

Drei ganze Tage lang durfte sie ihre Zelle nicht verlassen, erst am vierten Tage erschien die Wache wieder und machte ihr ein Zeichen, mitzugehen.

„Die Demoiselle soll ihn noch einmal sehen,“ sagte der Soldat ganz leise, und Armgart bemerkte ein Zucken in seinem Gesichte, bei dem ihr Herz stelle zu stehen drohte.

Ihn noch einmal sehen! … Eine Flut entsetzlicher Bilder und grauenvoller Vorstellungen stürmten über sie dahin, Was konnte das bedeuten? Ihn noch einmal sehen! …

Mit wankenden Knieen folgte sie ihrem Führer. Auf dem Festungswalle, wo grünes Laub und Vogelgezwitscher schon den Frühling verkündeten, wartete ihrer der Geliebte, ebenfalls von einem Soldaten begleitet.

Auch er sah bleich und erregt aus, verbeugte sich aber zierlich, faßte ihre Hand mit seinen Fingerspitzen, führte sie an seine Lippem und fragte zärtlich nach dem Befinden der Komtesse, deren holdes Lächeln ihm drei lange Tage gefehlt und diese zu einer bangen, traurigen Nacht dadurch gewandelt habe.

Die junge Dame antwortete mit schicklicher Verneigung, dankte für die allzu gütige Besorgnis, die sich in der Frage nach ihrem Befinden ausspreche, und – drückte die Hand auf ihr Herz, sich zaghaft umblickend. Die beiden Grenadiere hatten sich etwas entfernt. Da teilte Armgart ihrem Geliebten mit fliegendem Atem die Worte des Kommandanten wie des Soldaten mit.

„So ist meine Ahnung richtig, ich fühlte es,“ sagte er mit jähem Zusammenschauern und erzählte Armgart von einem Besuche des Geistlichen, der sich lange mit ihm über seine Familie und Jugend unterhalten hatte. „Er wollte mich vorbereiten – man wird mich erschießen.“

Starr vor Entsetzen blickte Armgart ihn an, dann warf sie sich ihm an die Brust. Sie dachte nicht daran, wer sie sehen könnte, was man darüber sagen werde, die anerzogene, steife Förmlichkeit ward von dem mächtigen Gefühl hinweggeschwemmt. „Erst müssen sie mich töten, ich lasse dich nicht!“

Mit leidenschaftlichen Beteuerungen versicherten sie sich ihrer Liebe und hielten sich noch umschlungen, als die Wache herbeikam, sie zu trennen und wieder hinwegzuführen.

„Warum schon jetzt. Gönnt uns die kurze Frist,“ bat Barringten und preßte Armgarts schmale Gestalt an sich.

„Ich verlasse dich nicht, ich will mit dir sterbem. Ich gehe nicht mit, ich bleibe hier,“ erklärte Armgart und wies die Leute hinweg.

Die beiden Grenadiere waren anscheinend unschlüssig, was sie bei dieser neuen Schwierigkeit zu thun hätten. Endlich begab sich einer zum Kommandanten, indes der andere zur Bewachung der Liebenden zurückblieb.

Nicht lange, so kam der Kommandant eilig herbei, den Dreispitz verkehrt auf dem Kopfe, den langen Säbel rasselnd

[657]

Burghausen im Salzachthal.
Nach einer Originalzeichnung von R. Püttner.

[658] hinter sich herschleppend, das Gesicht vor Zorn und Aufregung gerötet. Bei dem Anblicke des Liebespaares, das ihm mit der Erklärung entgegentrat, sie wollten gemeinschaftlich in den Tod gehen, sich aber nicht wieder trennen, brach er in ein grimmiges Hohngelächter aus. Dann erleichterte er sein Herz durch einige derbe Flüche und Verwünschungen auf alle verrückten Liebesleute. „Meinethalben,“ sagte er zuletzt. „Ob sie diese letzte Stunde noch zusammen sitzen oder jedes für sich, kann mir einerlei sein. Aendern thut es nun nichts mehr, es geht doch zu Ende. Er gab der Wache einen Wink und ging hinweg.

Stumm hielten sich die beiden Unglücklichen umfangen, denen die letzten Worte des Kommandanten jede Hoffnung genommen … War ihr Verbrechen in der That so groß, sollte es wirklich zu Ende mit ihnen sein? In Armgart erwachte noch einmal die Liebe zum Leben. Ihr junges Herz wollte an die furchtbare Wendung

nicht glauben. Doch ein Blick auf Barringtens Antlitz erstickte den Zweifel; er hatte keine Hoffnung mehr, das sah sie.

Schon oftmals war ihm der Gedanke gekommen, man werde ihn eines Tages einfach verschwinden lassen, um Armgart gefügig zu machen. Und war er mit seiner Liebe nicht ihr Unglück geworden? Er empfand jetzt sein Unrecht, sie zu der Flucht beredet zu haben, und meinte, nur durch seinen Tod es sühnen und die Geliebte dem Leben zurückgeben zu können. Er wollte leiden, doch sie mußte noch glücklich werden! Er warf sich ihr zu Füßen, preßte ihre Hände an seine Lippen und beschwor sie, sich nach seinem Tode dem Willen ihrer Mutter zu fügen. „Ich sterbe ruhig, so ich Euch geborgen und glücklich weiß!“

„Ich soll glücklich sein – ohne dich, nachdem ich dich in den Tod getrieben?“ rief sie mit einem Entsetzen aus, das ihn ebenso hoch beglückte wie tief betrübte.

Immer wieder bat er sie, ihm das Scheiden nicht so zu erschweren, und währenddem verstrich die Stunde mit unbegreiflicher Schnelle. War es wirklich schon so spät? Dort erschien der Kommandant wieder, in großer Uniform, mit frisch gepuderten Locken, alles so neu, als gelte es eine Parade vor Sr. Majestät! Und es galt ja auch einer ernsten, ach, der ernstesten Stunde des Lebens! Das zeigte seine feierliche, trübe Miene, mit der er auf das junge Paar zuschritt.

Noch einmal hielt er der Komtesse Armgart ihr Unrecht vor und fragte sie, ob sie sich nicht dem Willen ihrer Mutter fügen wolle. „Ueberleg sich die Demoiselle, wie viel Schönes und Angenehmes Ihr das Leben noch bieten könnte!“ Barringten vereinte seine Bitten mit den Vorstellungen des alten Offiziers, der ihn dafür mit einem sehr wohlwollenden Blick belohnte. „Die Demoiselle hört, daß der Herr Junker selbst dafür wäre. Ich meine, seine Gründe sind sehr beachtenswert.“

In den Augen des jungen Fräuleins funkelte es, wie wenn die Sonne auf Tautropfen scheint. Sie legte ihre Hände gefaltet auf ihre Brust und neigte sich etwas vor dem Kommandanten. „In der Todesstunde darf man ungescheut die Wahrheit sagen und bekennen, wie es einem ums Herz ist, nicht wahr? Seht, auch meine Todesstunde ist gekommen und deshalb kann ich es Euch sagen! Ich habe meine Frau Mutter hintergangen und mein Vaterhaus heimlich verlassen, um meinem Herzallerliebsten zu folgen, weil er mir teurer als alles andere war. Könnte ich nun ihn wieder verlassen, so wäre ich mit Fug und Recht Eurer Obhut übergeben und müßte mich zu denen zählen, welche das Sonnenlicht zu scheuen haben! Ich meinte, ihm folgen und anhangen zu sollen so lange uns Gott beisammen ließe – soll ich nun anders denken, weil uns die Menschen auseinander reißen? Er soll um meinetwillen sein Leben lassen und ich ihm nicht einmal die Treue halten, auf die er doch gewiß ein Recht hat? Das Leben hat keine Rosen mehr für mich, so ich allein wandeln müßte, und ich will tausendmal lieber mit meinem herzigen Schatz in den Tod gehen, als an eines andern Seite leben! So es Euch gefällt, bitte ich nur, uns bis zuletzt nicht trennen zu wollen. Auch sage ich Euch noch meinen Dank für Eurer Frauen Güte und Erbarmen! Vielleicht wird es Euch einst freuen, zu wissen, daß ich ohne Groll gegen Euch aus dem Leben scheide!“ Damit reichte die Komtesse dem Kommandanten ihre Hand.

„Aus diesem Leben!“ versetzte er mit einer Rührung, der er vergeblich durch verschiedene Prisen Herr zu werden versuchte. „Die Demoiselle ist ein gutes, tapferes Kind, Seine Majestät selbst müßte seine Freude daran haben. Es wäre Ihr ein besseres Los zu gönnen gewesen, aber es geschieht nichts ohne Absicht. Er fuhr sich mit dem Aermelaufschlag über die Augen. „Sind die Demoiselle und der Junker auf alles vorbereitet?“ fragte er dann mit ernstem forschendem Blick. Blaß, aber ruhig versicherten die Liebenden, auf alles gefaßt zu sein. Barringten ließ sich auf ein Knie nieder, bat Armgart, ihm zu verzeihen, daß seine heiße Liebe, die er dennoch nicht bereuen könne, ihr zum Unglück geworden sei, doch sie hob ihn schnell empor. Mit einem Aufblick zum Himmel erklärte sie nochmals laut und feierlich, sie sterbe gern mit ihm, da das Leben sie nicht vereinigen wolle. Schwere Thränen rannen über ihre bleichen Wangen, aber ihre Stimme klang fest, ihre Worte deutlich, ihre Lippen zuckten nicht, indes Barringten aufschluchzte.

„Das halte der Teufel länger aus!“ rief der Kommandant, trat zwischen sie und ergriff Armgarts Hand, die er durch seinen Arm zog.

„Machen Sie es kurz,“ bat sie beklommen, winkte noch einmal ihrem Geliebten zu und wendete den Blick entschlossen ab.

„So kurz wie möglich,“ versetzte der alte Haudegen mit heiserem Ton, machte dem jungen Mann ein Zeichen, ihnen zu folgen, und ging mit starken Schritten in das Innere der Festung zurück. Erst vor der Kapelle blieb er stehen und ließ Barringten mit den beiden Grenadieren herankommen. Dann räusperte er sich laut [659] Die Thür der Kapelle öffnete sich. Die Gemahlin des Kommandanten trat heraus, ergriff den Arm Barringtens und stellte sich mit ihm hinter ihrem Eheherrn und dem Fräulein auf. Der Kommandant verhinderte jede weitere Verständigung, indem er rauh und kurz sagte. „Folgt uns, Ihr sollt hier noch einmal beten, bereitet Euch dazu vor!“

Die beiden jungen Leute wurden schon vom Geistlichen, der vor dem Altar stand, erwartet. Seite an Seite durften sie niederknien und ihre Hände suchten sich zu gegenseitigem Trost.

Der Geistliche erhob seine Stimme. Doch wie seltsam, wie wunderlich sprach er! Die Knienden blickten verwirrt auf. Hörten sie nicht recht, träumten sie? Sollte das eine Vorbereitungsrede zum Tode sein, oder verstanden sie ihre Muttersprache nicht mehr!

„Willst du, Paul – und willst du, Armgart –“ …

Ja, ja – sie wollten! Sie wollten, wenn nicht für das Leben, so doch im Tode zusammengehören! Jetzt konnte sie ja nichts wieder trennen, die Gott selbst hier zusammenfügte …

Aber konnte es denn sein, daß man ihren sehnlichsten Herzenswunsch erfüllte, nur um sie zu verhöhnen, ihnen zu zeigen, wie köstlich das Leben sein könne? Bot man ihnen wirklich den vollen Kelch nur, um ihn den dürstenden Lippen gleich wieder zu entziehen? War solche Grausamkeit möglich, denkbar? …

Heißes Zagen und Bangen, wildes Fürchten und Hoffen regte sich in Armgart, ein Taumel ergriff sie, in dem ihre Sinne zu schwinden drohten. Barringtens Hände waren eiskalt, auch er zitterte, sein Blick lag fest auf dem Antlitz des Predigers, als wollte er ihr Geschick darin lesen.

Und im Dunkel der Pfeiler regte sich’s leise. Als die Hand des Geistlichen die Häupter des jungen Paares zum Schluß segnend berührte, da tauchte es aus dem Schatten auf und kam näher. Hätte der kühnste Traum solches für möglich gehalten? …

Am Arme des Vetters erschien Frau Gräfin Schwichard. Und Graf Trosche ging auf Armgart zu, brachte ihr seine aufrichtigsten Glückwünsche zu ihrer Vermählung dar, hoffte, sie habe ihm seinen Irrtum verziehen, der – hm! den er beklage – nein, er sei erfreut, Zeuge dieses schönen, erhebenden Abschlusses einer immerhin etwas verworrenen Angelegenheit gewesen zu sein! Dann ergriff er die Hände des jungen Paares, führte es zur Gräfin, und als Armgart vor dieser laut aufweinend niederkniete und um Verzeihung flehte, zog er sich mit zufriedenem Lächeln zurück, bis er zwischen dem Geistlichen und dem Kommandanten stand. Aufmerksam beobachtete er von dort seine Frau Cousine, die sich seine Begleitung hierher hatte gefallen lassen müssen.

Es wetterleuchtete in den Augen der stolzen Frau und ward ihr schwer, sich zu bezwingen; der Zorn gegen den unerwünschten Schwiegersohn ließ sich auch jetzt noch nicht leicht unterdrücken. Doch endlich hob sie Tochter und Schwiegersohn auf und reichte ihnen ihre Hände zum Kuß. „Wer den Tod nicht scheut, um seiner Liebe treu zu bleiben, hat wohl das Recht, dieser Liebe leben zu dürfen,“ sagte sie laut. „Haben Sie auch sehr eigenmächtig gehandelt, so habe ich mich doch nun davon überzeugt, daß die Frau von Barringten den Schwichards niemals Unehre machen wird. Daß ich meine Einwilligung nicht zu bereuen habe, sei Ihre Aufgabe, Herr Schwiegersohn.“

„Und wer da behauptet, der Alte Fritz wisse nicht mit widerspenstigen Frauenzimmern umzuspringen, den fordre ich vor meine Klinge,“ sagte der Kommandant seelenvergnügt zu seiner Frau, während er dem Wagen nachsah, der die Gräfin nebst ihrem Vetter und dem jungen Ehepaar hinwegführte.



Blätter und Blüten.

Das Kaiser Wilhelm-Denkmal am Deutschen Eck in Koblenz. (Zu dem Bilde S. 645.) Nach dem Tode Kaiser Wilhelms I beschloß der Rheinische Provinziallandtag dem heimgegangenen Herrscher ein Denkmal in der Rheinprovinz zu errichten. Da über die Wahl des Ortes eine Einigung nicht erzielt werden konnte, wurde die Entscheidung darüber dem Kaiser überlassen, und dieser bestimmte durch die Kabinettsordre vom 16. März 1891 „das Deutsche Eck zu Koblenz“, eine Landzunge zwischen Rhein und Mosel, als Standort des geplanten Denkmals. Bei dem hierauf erlassenen Preisausschreiben erhielt der Entwurf von Architekt Bruno Schmitz und Bildhauer Emil Hundrieser den ersten Preis, und man schritt zur Ausführung des monumentalen Baues, der am 31. August unter feierlichem Gepränge im Beisein Kaiser Wilhelms II enthüllt wurde. Das großartige Denkmal besteht aus dem Mittelbau mit einer die Figurengruppe tragenden Pfeilerhalle und einem Säulengang, der den Mittelbau umgiebt. Der Kaiser, der in Generalsuniform zu Pferde dargestellt ist, hält in der rechten Hand den Marschallstab, der Genius, der ihn begleitet, trägt die Kaiserkrone. Die Figurengruppe ist annähend 14 m hoch und die Helmspitze des Kaisers erhebt sich etwa 36 m über das umgebende Gelände. Im Friese des Hauptgesimses des Mittelbaues sind die mahnenden Worte Max von Schenkendorffs eingemeißelt: „Nimmer wird das Reich zerstöret, wenn Ihr einig seid und treu.“

Unsere Abbildung zeigt das Denkmal nach der Enthüllung. Im Vordergrunde fließt der Rhein, neben dem Denkmal rechts sehen wir das Kaiserzelt, links erhebt sich das bekränzte ehemalige Deutsche Ordenshaus; im Hintergrunde schimmert die Mosel hervor und weiter hinten baut sich das Bild der Stadt auf, überragt von hohen Kirchtürmen. *      

Der Drache im Dienste der Wissenschaft. Die Meteorologie, welche bisher zur Erforschung der Witterungsfaktoren in bedeutenden, von Bergerhebungen nicht beeinflußten Höhen nur das Mittel der kostspieligen Ballons besaß, fängt jetzt an, zu diesem Zwecke sich der Luftdrachen zu bedienen. In Amerika hat W. Eddy, vom Blue Hill Observatorium aus, Drachen von besonderer Größe und Konstruktion steigen lassen, die über 1000 m Höhe erreichten und mittels eines mit hinaufgezogenen Instrumentenkorbes schöne meteorologische Daten ermittelten. Freilich hat es einige Zeit gedauert, bis das neue Verfahren seine Kinderkrankheiten überstand. Die Windstärken sind beim Durchmessen verschiedener Höhenschichten sehr wechselnd. Wandte man nun leichte Drachen an, die selbst bei schwachem Winde stiegen, so hatten stärkere Windstöße immer Neigung, sie zu zerbrechen. Große und kräftige Drachen dagegen blieben bei flauem Wind gern liegen; trat dann aber oben einmal ein ordentlicher Stoß ein, so gab es mitunter einen Knall, die Leine riß und Drachen nebst Instrumenten waren auf Nimmerwiedersehen verschwunden, wenn man nicht gelegentlich ihre Scherben auf den Feldern fand. Jetzt wendet man meist mehrere, ja bis zu sechs Drachen an, die übereinander an derselben Schnur befestigt werden. Jeder einzelne hat Festigkeit genug, starken Windstößen zu widerstehen, alle zusammen aber entwickeln eine so bedeutende Tragkraft, daß sie einschließlich der haltenden Leine schon mehr als einen halben Centner gehoben haben. Als Leine wird meistens Klavierdraht verwendet, wovon ein ganzes Kilometer erst 3½ kg wiegt und noch nicht 2 Mark kostet. Mit diesen Mitteln gelang es auf Blue Hill schon vor mehr als Jahresfrist, Drachen, die mit ihren Instrumenten 1½ kg wogen, 1200 m hoch in die Luft zu senden, was bei der Anwendung von Fesselballons schon beträchtliche Kosten verursacht. Zum Einziehen solcher Drachen gehört übrigens schon eine ziemliche Kraft, da sie einzeln einen Zug von 10 bis 15 kg ausüben und meist zu mehreren übereinander angewandt werden. Das Einbrechen kalter oder warmer Witterung wurde von solchen Drachen mitunter 6 bis 12 Stunden früher angezeigt, als es am Boden zu spüren war. Mittlerweile wurden die Instrumente noch weiter vervollkommnet und am 8. Oktober 1896 erlebte der Urheber des Verfahrens den Triumph, ein System von 9 Drachen, die an einem Draht zogen und einen Beobachtungsapparat trugen, volle 2800 m sich erheben zu sehen. Die Drachen hatten eine Gesamtfläche von 16 Quadratmetern und trugen während des Versuches ein Stahldrahtgewicht von 23 kg. Das sind glänzende Erfolge, denn sie ermöglichen es, von allen größeren Wetterwarten aus nahezu kostenlos häufige Beobachtungen in Höhen von 1000 bis 2000 m zu machen, was für die Erforschung der meteorologischen Verhältnisse unabsehbaren Nutzen bringen muß. Aber hiermit noch nicht zufrieden, haben neuerdings Hargrave in Amerika und Powel in England Versuche gemacht, die Tragkraft der Drachenflieger sogar dem Menschen dienstbar zu machen. Der Apparat des Lieutenant Powel von der schottischen Garde besteht aus fünf sechseckigen, an einer Leine übereinander befestigten Drachen, mit denen er sich im Christchurchpark zu Ipswich etwa 15 m hoch heben ließ. Ueber dem Korb, in welchem der Beobachter saß und der an dem untersten Drachen hing, war zur Sicherung bei einem Unglücksfall ein Fallschirm angebracht. Die Versuche Hargraves wurden mit einem Apparat von anderer Form angestellt, scheinen aber noch nicht soweit wie diejenigen des Schotten vorgeschritten zu sein. Bw.     

Burghausen. (Zu dem Bilde S. 657.) Zu den schönsten und anziehendsten Landschaften im Deutschen Reiche zählt sicherlich das Thal der Salzach von der prangenden Bischofsstadt Salzburg ab bis zur Einmündung des Flusses in den gewaltigen Inn und die allgemeine Stimme bezeichnet als seine reizendste Perle das altehrwürdige Schloß der bayrische Herzöge, Burghausen, mit dem zu seinen Füßen sich auf schmaler Thalsohle an den Burgberg anschmiegenden und von ihm behüteten, betriebsamen Städtlein gleichen Namens. Und doch, wie wenige unter den vielen Tausenden von Wanderern, die alljährlich, nach den Reizen schöner Gegenden verlangend, die Gauen des Vaterlandes durchpilgern, setzen ihren Fuß dorthin in den weltverlorenen Winkel an den Ostmarken Bayerns? In der That, bis vor kurzem konnte er noch als weltverloren gelten, doch dies ist nicht mehr der Fall. In den letzten Jahren wurde eine Bahn von der Station Freilassing vor Salzburgs Thoren bis Tittmoning gebaut, und seit wenigen Monaten wurde auch die untere Strecke des Salzachthales durch eine Schienenstraße eröffnet, die von dem Städtchen Mühldorf nach Burghausen herüberführt. Schon einmal (in Nr. 12 des Jahrgangs 1895) wurden in Bild

[660] und Wort die hervorragendsten Punkte des durch landschaftliche Schönheit wie durch reiche, wechselvolle Geschichte gleichmäßig ausgezeichneten Landstriches geschildert; heute führen wir unseren Lesern eine Gesamtansicht von Burghausen vor, wie sich das schmucke Städtlein vom rechten, vom österreichischen Ufer unterhalb des Ortes aus dem Auge des Beschauers darbietet. Im Kranze der mit zahlreichen wehrhaften Türmen ausgerüsteten Ringmauer thronen auf hochragendem Felsenrücken die Gebäude der stolzen Burg und Residenz. Sie sind für den Kenner besonders deshalb anziehend, weil sie größtenteils dem 15. Jahrhunderte entstammen. Ursprünglich ein Wehrbau, ist die Burg damals zu einer reichen Residenz umgewandelt worden, in welcher dann zahlreiche Fürsten ihr Hoflager hielten. Während der letzten drei Jahrhunderte dienten die Schloßgebäude zu Wohnungen für Beamte und als Kasernen. In der Hauptwache sind sie aber noch in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten geblieben, obwohl die frühere Pracht schwere Einbußen erlitt. Vor einigen Jahren hat die ehemalige Garnison die Säle im Schlosse verlassen, und statt der blauen Soldaten des Königs soll eine Sammlung von Gemälden, Altertümern und Kunstgegenständen dort oben ihren Einzug halten. Dann wird der Name Burghausens vielleicht öfter genannt werden als jetzt und die Forscher und Gelehrten werden vielleicht in größerer Zahl die Schritte in das stille Salzachthal lenken und ihre Augen weiden an der Hinterlassenschaft der Vergangenheit wie an der Rundschau über die herrliche Umgebung des Schlosses. Hugo Arnold.     

Deutschlands merkwürdige Bäume: Die „krause Buche“ auf dem Wittekindsberge. (Mit Abbildung.) Die Buche, die unsere Abbildung zeigt, verdient gewiß in die Reihe von Deutschlands merkwürdigen Bäumen aufgenommen zu werden. Ihre Aeste sind derartig quer durcheinander gewachsen, daß sie vollständige Treppen bilden und der Baum bis auf die durch wagerechte Aeste gebildete Krone bequem bestiegen werden kann. Die Buche steht auf dem Wittekindsberge im Wesergebirge, etwa eine Stunde hinter dem Provinzialdenkmal für Kaiser Wilhelm I. und eine halbe Stunde hinter dem Gasthaus „Zur Wittekindsburg“; sie ist auch von Bad Oehnhausen leicht in 1½ Stunden zu erreichen. *      

Die „krause Buche“ auf dem Wittekindsberge.

Das Besteigen fahrender Eisenbahnzüge ist seit langer Zeit ein Lieblingsproblem vieler Techniker gewesen. Da in der That das Bremsen, Anhalten und Wiederangehen der Züge nicht nur sehr viel Aufenthalt verursacht, sondern auch unverhältnismäßig viel Kraft verzehrt und zur schnellen Abnutzung des rollenden Materials um so mehr beiträgt, je länger und schwerer die Züge sind, so wäre die Lösung der Frage, wie man das bequeme und gefahrlose Einsteigen in einen vorüberfahrenden Zug ermöglichen kann, für den Verkehr ein nicht geringer Fortschritt. Die auf mehreren Ausstellungen in Betrieb gezeigte und auf S. 715 des Jahrgangs 1896 der „Gartenlaube“ beschriebene Stufenbahn war der erste praktische Schritt zu dieser Lösung, da sie aber eine vollständige Umwälzung der ganzen Verkehrsmittel verlangt, so wird man sich ihrer nur in seltenen Ausnahmefällen bedienen können. Ein anderes System, dessen Erfinder der französische Ingenieur Thévenot le Boul ist, soll auf der nächsten Pariser Weltausstellung in Anwendung kommen. Wenn es von der Vollkommenheit auch jedenfalls noch weit entfernt ist, so hat es doch den Vorteil, praktisch ausführbar zu sein und sich an das vorhandene Betriebsmaterial der Eisenbahnen anzuschließen, und verdient deshalb wohl eine kurze Beschreibung. Die Thévenotsche Erfindung besteht, um es kurz zu sagen, aus einem kreisförmigen rotierenden Perron, etwa vom Aussehen einer riesigen Drehscheibe, welcher auf einer hohlen Achse und einer entsprechenden Anzahl von Laufrädern ruht und vom Mittelpunkte aus betreten wird. Man würde also beispielsweise vom Empfangsgebäude aus, wie auch jetzt schon häufig, den Bahnsteig durch einen Tunnel und eine Treppe erreichen und sähe ihn, in seinem Mittelpunkt stehend, in Gestalt einer riesigen Scheibe langsam um die oberste Treppenstufe kreisen. Das Betreten der bewegten Plattform würde an dieser Stelle, besonders mit Hilfe von Geländern oder Greifpfosten, wie sie auch bei Stufenbahnen angebracht werden, sehr leicht geschehen; dann geht man dem Rande der Scheibe zu und gerät, da jeder Punkt einer rotierenden Scheibe sich um so schneller bewegt, je weiter er vom Centrum entfernt ist, in eine immer schnellere seitliche Bewegung. Die Rotation ist so berechnet, daß der Rand des Perrons genau die Geschwindigkeit des Eisenbahnzuges besitzt, der allerdings seine Fahrt beim Passieren einer Station entsprechend verlangsamen müßte. Der Erfolg ist dann derselbe, wie wenn man auf einem ruhenden Bahnsteig einem stillstehenden Zuge sich gegenüber befände. Ob allerdings nicht die Centrifugalkraft den Einsteigenden dabei hin und wieder üble Streiche spielen würde, indem sie sie schneller als ihnen lieb ist, ins Coupé befördert, muß abgewartet werden. Rechnungsmäßig ist allerdings bei entsprechend großen Scheiben, z. B. von 100 m Radius, nur eine sehr langsame Drehung erforderlich, um ihnen eine hohe Umfangsgeschwindigkeit zu erteilen. Eine solche Scheibe brauchte, um am Umfang die Geschwindigkeit eines auf 20 km gehemmten Personenzuges zu erhalten, nur eine Umdrehung in zwei Minuten zu machen, und wenn die Geleise, wie es beabsichtigt ist, sich je nach der Zugrichtung der einen oder anderen Hälfte der Perronscheibe anschmiegen, so würde zum Ein- und Aussteigen wenigstens für gewandte Passagiere Zeit genug vorhanden sein. Bw.     

Wirtschaftliche Frauenschulen. Wir haben in Nr. 1 des Jahrgangs 1896 auf eine Anregung hingewiesen, welche die Gründung von wirtschaftlichen Frauenschulen bezweckte. Heute können wir über den ersten Erfolg dieser Bewegung berichten. Durch Sammlung und Schenkung ist ein Kapital zusammengebracht worden, welches die Eröffnung der ersten Lehranstalt auf dem Gute Nieder-Ofleiden bei Homberg in Oberhessen möglich gemacht hat. Seit Anfang April befinden sich fünf Arbeitsgruppen in geordneter lebhafter Thätigkeit. Küche, Wäsche, Hauswesen, Gartenbau, Geflügelzucht. Ferner Unterricht in wissenschaftlichen Lehrgegenständen. Gesundheitspflege, Pflanzenphysiologie, Buchführung u. a. Zum Herbst ist die Angliederung einer Kleinkinderschule und Bauernmädchenklasse für hauswirtschaftliche Unterweisung vorgesehen, damit die Schülerinnen der Hauptanstalt Gelegenheit zum Unterrichten und zu sozialer Arbeit finden. – Mädchen mit höherer Schulbildung, die das 18. Jahr zurückgelegt haben, finden Aufnahme. Als Kost- und Lehrgeld sind vierteljährlich 250 Mark zu entrichten. Von seiten des Ministeriums der Landwirtschaft, Domänen und Forsten, sowie der Justiz ist dem „Verein zur Errichtung wirtschaftlicher Frauenschulen auf dem Lande“ dankenswerte Förderung zu teil geworden, indem an unbemittelte Töchter von Beamten der zuständigen Ressorts auf besondern Antrag Zuschüsse gewährt werden sollen. Prüfung der Würdigkeit bleibt im einzelnen Fall vorbehalten. Das Landwirtschaftliche Ministerium wünscht insbesondere die Ausbildung von Lehrerinnen und Leiterinnen ländlicher Haushaltschulen zu begünstigen. Anfragen und Anmeldungen sind zu richten an Fräulein v. Kortzfleisch, Hannover, Hildesheimerstraße 23 oder Freifrau Schenck zu Schweinsberg, Nieder-Ofleiden bei Homberg a. d. Ohm, Oberhessen.

Die ersten Hosen. (Zu dem Bilde S. 649.) Die ersten Hosen! Das ist im Leben jeder Familie, der ein kleiner Stammhalter heranwächst, ein großes Ereignis, und auch der gestrenge Haushaltungsvorstand muß ihm seine volle Teilnahme widmen. Bisher ist der Stolz des Hauses im gestrickten Kittelchen herumgesprungen, in dem er das Laufen gelernt hat – da war er trotz seines energischen Krauskopfs von einem Mädel kaum zu unterscheiden! Mit den ersten Hosen, welche die Mutter ihm selbst zugeschnitten, die junge Tante auf der Nähmaschine mit Aufwand ihrer besten Kunst selber genäht hat, erhält der Junge das erste äußere Kennzeichen seiner Zugehörigkeit zum starken Geschlecht, und kann er auch noch nicht die volle Bedeutung dieses Momentes erfassen, so fühlt er sie doch – mit freudigem Stolz blickt er auf die neue so ansehnliche Beinbekleidung herab, ein ganzer kleiner Mann! In ihnen wird er marschieren lernen, tapfer und kerzengerad’! Und wir teilen beim Anblick der fröhlichen Scene den Herzenswunsch der Eltern und Geschwister: Glück auf den Weg!


Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 39/1897 ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.