Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[677]

Nr. 41.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Einsam.
Roman von O. Verbeck.

(10. Fortsetzung)

25.

Ja, also Pauline, das mit der Epanada, mit der finnischen Fleischpastete, das ist nun nicht sonderlich geglückt. Der Herr hatte so viele Einwendungen, ich weiß gar nicht mehr alle. Das müssen wir fürs erste ganz auf die Seite thun. Aber hier habe ich eine andere Sache. Ein Zwischengericht. Türkische Dolmas. Das ist so eine Art Krautwickel, verstehen Sie, nur sehr viel feiner. Ein äußerst pfiffiger Teig aus gemahlenem Fleisch und Zubehör, zu Kugeln geballt und in Blätter eingewickelt und dann gedämpft. Das ist das Rezept. Besorgen Sie alles dazu. Morgen wollen wir sie machen. Dann hab’ ich hier zwei Angaben für süßes Gebäck. Der gute Masurekkuchen von neulich hat mir Mut gemacht. Also erstens Kurabiedes das ist griechisch, soll vorzüglich sein. Dann eine Art von Theekuchen,

Auf dem Anstand.
Nach einem Gemälde von A. Müller-Grantzow.

[678] Russisch-Diad. Nächste Woche müssen wir dann auch endlich einmal die kleinen russischen Pastetchen versuchen, die vor der Suppe gegessen werden. Kolduny, wissen Sie. Und auch die neue Suppe, die provencialische, Bouillabaisse.

„Gott, gnä' Frau, mir wird schon wieder schwindlig!“

„Schwindlig darf uns nicht werden, sonst machen wir Dummheiten. Also zu morgen die türkischen Dolmas. Das griechische Backwerk setzen Sie aber heute noch an. Ich komme dann nachher auch hinunter.“

„Ja, bitte, gnä' Frau. Wenn gnä’ Frau dabei sind, ist mir lange nicht so angst vor die neuen Sachen. Und die Verantwortung ist auch nicht so groß.“

„Das glaub’ ich schon. Aber Sie haben sich wirklich sehr geschickt zu all den wunderlichen Dingen angestellt, Pauline. Ich muß Sie dafür loben. Nach und nach bilden wir uns zu einer Spezialität für die tollsten Nationalgerichte aus, und Sie werden noch eine Berühmtheit.“

„Das hätt’ ich dann gnä’ Frau zu danken.“

„Also bis nachher. In einer Stunde, oder in anderthalb sind Sie zurück; dann komme ich in die Küche.“

Paulinens Genialität hatte wirklich nichts zu wünschen übrig gelassen. Das neue Küchenrepertoire verfügte nach sechs Wochen bereits über eine Reihe der abenteuerlichsten Dinge, und das neugierige Studium der mit fremdländischen Namen gezierten Speisekarte, freilich zumeist das überraschende Gelingen der glücklich „modifizierten“ Nationalgerichte, übte häufig einen wohlthätigen Einfluß auf Ludwigs Laune aus. Daß seine Frau sich nun doch mit der Köchin in die Urheberschaft teilte, hatte er erst nach und nach erfahren und diese „Marotte“, da sie sich so augenscheinlich zu seinen Gunsten darthat, nachträglich gnädigst gestattet. Nur verbat er sich mit aller Strenge, daß sie ihm jemals mit erhitztem Gesicht oder sonst irgend der leisesten Spur ihrer untergeordneten Thätigkeit vor Augen käme. Er wolle eine elegante, schöne Frau und keinen Küchendragoner vorfinden, wenn er heimkäme!

Hanna lernte also, zur rechten Zeit von dem heißen Herde wegzubleiben um dem Vorwurf zu entgehen, sich „mutwillig“ die Haut verdorben zu haben. Vor groben, die Zartheit ihrer Hände angreifenden Arbeiten schützte sie Paulinens Wachsamkeit, die nach und nach eine kleine Schwärmerei für ihre Gnädige gefaßt hatte, in Uebereinstimmnug mit dem gesamten Personal, vom Herrn Kammerdiener abwärts bis zum Stallburschen, mit etwaiger Ausnahme vielleicht des ersten Hausmädchens, oder der Jungfer, wie sie sich lieber nennen hörte. Was sie unter einer „feinen“ Damen verstand, war Hanna nun einmal nicht, das war sicher. Dazu war sie viel zu selbständig. Sie zog sich allein an und aus, sie ließ sich nicht die Stiefel zuknöpfen, sie hängte ihre Kleider selbst in den Schrank und nähte sich selbst abgerissene Haken oder Borten an. Und was das schlimmste war: sie schnürte sich nicht. Aber auch kein bißchen! Das hatte Henriette denn doch noch bei keiner ihrer früheren Damen erlebt, und sie war immer nur in sehr feinen Häusern gewesen. Daß man ein Korsett an- und ablegte wie ein Leibchen ohne die Schnürung zu lösen, daß man am Mittag oder Abend dasselbe leichte Miederchen trug wie am Morgen beim Aufstehen, das war ihr doch noch nicht vorgekommen. An solchen Dingen zeigte es sich eben, was eine wirklich feine Dame war.

Für das Thema der Tischgespräche oben im altdeutschen Trinkstübchen war wohl gesorgt, so lange es sich um Essen und Trinken drehte. Denn voll Spannung und mit dem tiefen Verständnis des Kenners ließ sich Thomas Herkunft und Zusammensetzung der Neuheiten seiner Mittags- und Abendtafel erklären. Nicht selten gab er auch nach einer ersten Probe persönlich Befehl zu kleinen, verfeinernden Aenderungen, und Hanna that gut, sich diese dann sofort und genau zu notieren denn ein nicht buchstäblich ausgeführtes Kommando verursachte die ärgerlichsten Auftritte. Waren jedoch die Essensfragen, die freilich keine geringe Zeit in Anspruch nahmen, erledigt, die Kritik erfolgt, so sank die Unterhaltung der Eheleute alsbald in sich zusammen wie ein erlöschendes Feuerchen. Es gebrach Hanna durchaus an dem häufig so reizvoll wirkenden geselligen Talent, ein sacht schwirrendes, anspruchslos anregendes, liebenswürdig seichtes Gespräch zu führen, das über Pausen hinweghilft. Reden, nur um etwas zu sprechen, konnte sie nicht. Wenn sie nichts zu sagen wußte, war sie eben stumm. Nicht jeder ist imstande, jedem Gedanken sofort Ausdruck zu geben. Menschen, die sich verstehen, weil sie sich lieben, bedürfen auch nicht stets einer gesprochenen Unterhaltung, um sich mitteilsam zu fühlen. Wie gut wußte sie das aus den Zeiten des stummen Plauderns mit der Mutter. Wie sie da manch’ liebes Mal halbe, auch ganze Stunden lautlos einander gegenüber gesessen hatten, zwischen sich den Arbeitstisch, auf dem Hannas Gerätschaften ausgebreitet lagen, in ihrem Sessel die Kranke, langsam und leise mit den müden Fingern die lange Häkelnadel rührend, Masche auf, Masche ab an den Streifen der dunkelgrünen Fensterdecke, die niemals fertig werden sollte, auf der anderen Seite das Mädchen, eines seiner kleinen Kunstwerke unter den rastlosen Fingern. Wie oft hatten sie darüber gelacht, wenn nach langer Stummheit eines von ihnen den angesponnenen Gedankenfaden laut zu Ende dachte, mitten im Satz, nur gleichsam weitersprechend. Keine Sorge aber, daß etwa das andere nicht verstanden hätte! Sie waren ja nur scheinbar Zwei.

Jetzt waren sie ihrer Zwei in aller Wirklichkeit. Sie und ihr Mann hatten sich nichts zu sagen. Aber auch gar nichts. Die Oede völliger Seelenfremdheit dehnte sich zwischen ihnen, wuchs und wuchs. Und mit immer wachsender Pein schaute Hanna über diese starre, unfruchtbare Ebene hin. Mit welchen Zauberkünsten sollte sie sie urbar machen? Tagaus, tagein mühte sie sich vergebens, zergrübelte sich den Kopf um ein Plätzchen in der weiten Welt, wo sie gemeinsam, als Kameraden hätten hausen können. Es gab keins. Es gab keine Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Allenthalben redeten sie zweierlei Sprachen. Mitzuleben in seinem Beruf, was sie so herzlich ersehnt hatte, war ihr versagt geblieben. Von Geldgeschäften, vom Börsenspiel verstand sie nichts; es fehlte ihr jede Ader dafür. Freilich auch jedes Interesse, obwohl sie ihm das nicht eingestand. Trotz der immer wiederholten Erkundigungen, die sie sich abzwang, um ihm Teilnahme zu bezeigen, blieb ihr der Eingang in das Bereich seiner Thätigkeit verschlossen; stand sie vielmehr vor einer Wand ohne Thür.

Ihn hatte „die Drängelei und Fragerei“ schon bald belästigt und gelangweilt, und er hatte sie ersucht, „das ewige Gedruckse“ zu lassen. Im Hause wenigstens wolle er vor dem Geschäft Ruhe haben, auch solle sie ihre hübsche Nase nur aus seinen Angelegenheiten herauslassen, die ja doch nur böhmische Dörfer für sie wären. So schwieg sie denn ein für allemal von diesen Dingen, erleichtert und bedrückt zu gleicher Zeit.

Womit nur ihn unterhalten, wenn er heimkam, da sich nirgend ein gemeinschaftliches Interesse finden wollte? Die Musik war verbotenes Land. Seit jenem einen entscheidenden Gespräch war es über diese Frage zwischen ihnen stumm geblieben. Er nahm an, daß sie es sich habe gesagt sein lassen, und war zufrieden, daß sie nicht muckste. Der prachtvolle Konzertflügel drunten im Festsaal stand unter seiner kostbaren, gestickten Decke als schönes Schaustück da, der Soireen wartend, die „nach der Trauer“ wieder gegeben werden würden. Im verschlossen dunklen Terrassenzimmer träumte der verstummte alte „Klapperkasten“ von vergangnen, liedfrohen Zeiten. Hannas Lippen blieben geschlossen. Hannas Hände ruhten im Schoß oder bewegten langsam, gleichgültig irgend eine feine Stickerei, die keinen besonderen Zweck hatte, die niemand eigentlich brauchte, die auch übers Jahr noch früh genug fertig wurde. Womit ihn unterhalten?

Sie hatte es mit dem Vorlesen versucht. Nach Tische, nach dem schwarzen Kaffee, im Rauchzimmer, in der Fensternische. Zwei gleichgesinnte Menschen hätten da so behaglich zusammen sitzen und aller geschriebnen Herrlichkeiten froh werden können. Zuerst – wunderbar genug – fehlte es an der Hauptsache. In ihrem strahlend eleganten Zimmer gab es keinen eigentlichen Bücherschrank. Auf dem zierlichen Gestell, das vergoldete Säulchen schmückten, protzten nur einige Prachtbände in leuchtenden Farben, ein paar andere lagen in malerischem Kreuz und Quer „arrangiert“ auf dem Tischchen mit der grauen Marmorplatte – es war so kalt, das Tischchen. Man fror, wenn man den Arm darauf legte, aber eine Decke würde die kostbare Goldverzierung des Randes und der geschwungnen Füße verborgen haben. [679] Hanna sorgte für vorsichtiges Abstäuben und peinliches Wiederordnen dieser „Dekoration“, wie aller andern im Zimmer, die sie vorgefunden hatte – ihre eignen Bücher, die von den Eltern nach und nach geschenkten, vom Vater ererbten, zärtlich gehegten Lieblinge, standen unten im verschlossen Terrassenzimmer. – „Wozu? Du hast ja so schöne Bücher in deinem Boudoir“ – war die Antwort gewesen, als sie eines Tages zaghaft darum gebeten hatte. „Diese Thür bleibt geschlossen. Basta! Kauf’ dir meinetwegen, was du noch brauchst, wenn du noch nicht zufrieden bist. Wo die Buchhändler wohnen, weißt du.“ – Das hatte sie dann gethan und sonderbar genug nahm sich der große, dunkle Bücherschrank in ihrem rosenfarbenen Ankleidezimmer aus, wo er hatte Platz finden müssen, da in dem zierlichen Damensalon kein Raum für ihn war; die Einheitlichkeit des Stils hätte auch jedenfalls durch ein so großes, anspruchsvolles Möbel gelitten. Von dort wo sie manche ihrer einsamen Stunden, in einen tiefen Sessel geschmiegt, lesend, grübelnd verbrachte, hatte sie alsdann, stiller Hoffnung froh, herbeigeholt, was sie für die Nachmittage, die er ihr widmete, zu brauchen dachte. Auch dies vergebens.

Das Unglück wollte, daß ihm nichts gefiel, was ihr Freude machte, daß aber ihr Vortrag eintönig und reizlos blieb, sobald das Geschriebne nicht ihr innerstes Empfinden weckte. Und auch dann nicht immer, da Rührung oder Erschütterung ihrer Stimme Klang und Farbe nahmen. Der Stoff beherrschte dann sie, nicht sie ihn. Von der eigentlichen, wohlstudierten Vortragskunst wußte sie nichts. Für die Mutter hatte sie immer gut genug gelesen und war gut genug von ihr verstanden worden, auch wenn ihr gelegentlich die Kehle eng wurde und sie eifrig Wasser trinken mußte, um sich zu fassen. – Jetzt befand sich ihr anstatt des lieben, feinen, aufmerksamen Gesichts der Unersetzlichen das fremde, ach, immer fremder werdende ihres Mannes gegenüber, in dem nichts von horchender Teilnahme geschrieben stand. Und es blieb nicht einmal immer auf demselben Fleck. Ludwig hielt ein längeres Stillsitzen nicht aus. Eine stete körperliche Unruhe trieb ihn oft nach wenigen Minuten schon von seinem Platze. – „Lies nur weiter, ich höre schon!“ rief er über die Achsel zurück, wenn Hanna sich unterbrach, das Buch sinken ließ und ihm nachsah. Sie versuchte alsdann auch, weiterzulesen, aber um die Sammlung war es geschehen. Es störte sie unsäglich, daß er nun ohne Anhalten im Zimmer hin und her ging, die Hände in die Hosentaschen geschoben, wo er mit dem Schlüsselbund klimperte. Sie las unwillkürlich mit erhobener Stimme, ohne jede Modulation um gegen das Geräusch anzukommen. Gleichzeitig peinigte sie der unwiderstehliche Zwang, immer wieder nach ihm hinsehen zu müssen; dadurch verlor sie den Faden, geriet in die falsche Zeile und verwirrte sich. In dem sacht glimmenden, nur mühsam niedergehaltenen Fieber der Nervosität wurde sie in wenigen Minuten heiser und hörte dann entmutigt auf. Blieb er wirklich ihr gegenüber an dem Fenstertischchen sitzen, so trieb er wenigstens irgend einen kleinen störenden Unfug. Er rollte ihr Garnknäuel oder ihren Fingerhut hin und her, er nahm ihr Scherchen lose an der Spitze und klopfte damit auf den Tisch oder versuchte, sich damit die Nägel zu schneiden, er faßte den Henkel des Arbeitskörbchens mit einem Finger, ließ es baumeln und niederfallen. Anfangs merkte er nicht, daß diese Dinge Hanna quälten. Er that sie so nicht aus böser Absicht. Sie beherrschte sich eine Weile ziemlich gut, bis sie ihm einmal ganz plötzlich – mitten im Satz innehaltend – den Gegenstand, mit dem er gerade spielte, aus der Hand nahm und weit weglegte.

„Nanu?“ sagte er, „was fällt dir denn ein?“

„Ich kann das nicht vertragen,“ entgegnete sie indem ihr eine fliegende Röte über das Gesicht lief „Thu’ mir den Gefallen und sitz’ still.“

„Alle Wetter,“ gab er mit etwas gereiztem Lachen zurück „bist du aber nervös. Das ist ja scheußlich. Mußt du dir ganz entschieden abgewöhnen. Uebrigens, ’ne nette Art, mir das Ding einfach aus der Hand zu reißen, als wenn ich ein unnützer Junge wäre. Mit deinem Mann könntest du schon anders umgehen, würde dir nichts danach fehlen.“

„Ich hab’ es dir doch nicht weggerissen,“ verteidigte sie sich möglichst sanft „nur weggenommen. Ich hielt eben dies fortwährende Geklapper und Gespiele nicht mehr aus. Entschuldige!“

„Nein, mein Engel, das entschuldige ich nicht, wenigstens nicht so ohne weiteres. ,Ewiges Geklapper und Gespiele!' Du thust ungefähr, als wenn ich den Veitstanz hätte. Man wird sich doch noch rühren dürfen in deiner Gegenwart. Und als sie darauf stillschweigend und unbeweglich vor sich niedersah: „Natürlich, wieder beleidigt! Gott im Himmel ist das ein Kreuz mit so einer reizbaren Frau! Klapp’ dein Buch nur zu. Mir ist alle Stimmung heute vergangen.“ Sie that es sofort.

„Klapp’ zu, hab’ ich gesagt, nicht schlag’ zu! Du willst mich wohl herausfordern, ja?“

„Ich denke nicht daran,“ sagte sie ruhig, ihn fest ansehend. „Ich war nur ganz mit dir einverstanden, aufzuhören. Sehr gefallen hat es dir wohl überhaupt wieder nicht.“ Es waren Ludwig Anzengrubers „Dorfgänge“, was sie las.

„Ist die Geschichte aus?“ fragte er mit gespielter Harmlosigkeit.

„Es scheint so,“ antwortete sie ruhig, noch ohne den Blick zu ihm zu wenden.

„Für diese tiefsinnige Antwort bin ich zu dumm. Wende dich gefälligst an meinen beschränkten Unterthanenverstand.“

Sie hörte die aufsteigende Gereiztheit in seiner Stimme; nur zu gut kannte sie nun schon diese scharfgespannte Saite, die bei der leisesten Berührung mitsummte und die, einmal gestreift, mit ihrem Mißklang schnell alle andern Töne überschrie. Aber sie besaß im Augenblick doch nicht mehr genug Herrschaft über ihre durch dieses beständige Rupfen und Zupfen gepeinigten Nerven um noch geschickt einer neuen Disharmonie auszuweichen. Mit einem scharfen Blick in seine ärgerlich funkelnden Augen sagte sie: „Es scheint, du willst, daß sie aus ist.“

„Du bist ’ne dumme, empfindliche Person, weißt du das?“

„Möglich. Aber such’ dir jemand, der dir vorliest, wenn du es so treibst wie heute. Ich glaube nicht, daß es ein andrer so lange aushält wie ich.“

„Du brauchst mir überhaupt nicht mehr vorzulesen, wenn du dich so albern anstellen willst!“

„Wie du wünschest. Ich hab’ es ja nicht mir, sondern dir zu Gefallen gethan.“

„Ach Gott, ja! Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Der Gerechte erbarmt sich seines Viehes! Besonders Ludwig Thomassens hochgebildete Gattin. Wolltest mich belehren was? Erziehen. Meinen verrotteten Geschmack ausbessern. Bin dir nicht fein genug in meinen litterarischen Anschauungen. Möchtest wohl auch gern meinen schlechten kaufmännischen Stil in die Mache nehmen, ja? Neuneinhalben Fehler. Mit Bedauern gelesen. Sechse runter. ’ne Stunde nachbleiben. Könnte dir passen!“

Mit einem schwachen Lächeln ging Hanna über diese letzte Anklage hinweg.

„Ich weiß ja noch immer nicht, was in der Litteratur dir eigentlich gefällt,“ bemerkte sie. „Nichts von dem, was ich dir bis jetzt vorgelesen habe, war dir recht.“

„Ne. Konnte mir auch nicht gefallen. Ist kein Saft und keine Kraft drin.“

„So?“ sagte Hanna sehr verwundert, mit einem raschen Seitenblick auf Anzengruber. „Und was müßte es denn schließlich für dich sein?“

„Na eben – was saftiges. Wo man doch noch sein Vergnügen dran haben kann.“

„Ach so,“ erwiderte Hanna eiskalt. „Nun, das lies dann nur für dich allein.“

„Kann ich, prüde Gans du!“ Sie nickte ernsthaft „Prüde – in deinem Sinn – hoff’ ich immer zu bleiben – –.“

Mit dieser Klarlegung hatte ein neuer Abschnitt seine Erledigung gefunden, hatte sich ein neuer Riß zwischen ihnen aufgethan. Wieder gab es nun einen Punkt mehr, über den nicht mehr gesprochen werden durfte sollten nicht Bitterkeiten hin und wider sprühen.

Allein gelassen, hatte sich Hanna aufs neue mit heftigen Selbstanklagen zerquält. An ihr war es, das Hereinbrechen von Streitigkeiten zu verhüten, da sie doch nun schon aus Erfahrung wissen konnte, daß Ludwig, einmal aufgereizt seiner bösen Laune keinen Zügel anlegte. Aendern würde sie seinen Charakter nicht mehr, das wußte sie nicht erst seit heute und gestern. Es galt

[680]

Ein Ehrentag Hamburgs: Kapitän Karpfanger siegt über fünf französische Kaper (1678).
Nach dem Gemälde von Hans Bohrdt.

[681] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [682] nur, seinen Zacken und Kanten auszuweichen. Eine Verteidigung ihrer selbst war unter allen Umständen zwecklos. Er fühlte sich stets im Recht, und in diesem Recht gröblich verletzt. Die Möglichkeit, daß er Fehler begehen könne, war ausgeschlossen. Also Geduld, Geduld und immer Geduld, war die Lösung. Schweigen oder Ablenkung die einzige richtige Antwort auf seine Angriffe.

Da sie in der wichtigsten ihrer Lebensfragen zweierlei Meinung waren, da sie seine Leidenschaft nicht erwiderte, konnte nie und nimmer Frieden zwischen ihnen herrschen, nur Waffenstillstand, den nach Thunlichkeit zu verlängern das Bestreben des Besonneneren von ihnen beiden sein mußte, also das ihre! Alle Gegensätze, durch Geburt ererbt, durch Erziehung und Lebensweise herangebildet, hätten sich ausgleichen lassen, wenn sie sich in dem einen entscheidenden Punkte begegnet wären. Nun wurde gerade er zur Ursache alles Elends. Aus dem Ingrimm darüber, daß die Leidenschaft zu der Frau, deren zarte Schönheit seine robuste Natur entflammte, unerwidert blieb, entsprang die trübe Quelle seines Hasses gegen alles an ihr, was seiner Eigenart zuwiderlief. Ein heiteres, durch keine Mißklänge gestörtes Liebesleben würde, was ihm an sympathischen Eigenschaften verliehen war, zum frohen Wachstum gebracht haben. In dem dunstigen Schatten aber seines immer wachsenden Mißmuts, seiner Enttäuschung, seiner Erbitterung, seiner Eifersucht zumal auf jedes, was sie außer ihm wohl lieben mochte, trieben alle bösen Knospen Wucherblüten. Hanna wußte dies wohl; sie sah dem Wachsen dieser schlimmen Saat mit Schrecken zu. Aber so ängstlich sie auch bemüht war, seinen vielen kleinen Eigenheiten gerecht zu werden, um des lieben Friedens willen seinen Schrullen nachzugeben, die liebevolle Hingebung, die er von ihr zu fordern ein Recht hatte, blieb sie ihm doch schuldig.

Mit dem Tode der Mutter waren alle guten Geister von ihr gewichen. Die Mahnung der Vielgeliebten an ihr einsames Kind war noch immer kein rechter Talisman geworden. Es schien fast, als sollte sie es überhaupt nie werden, als sei der Tautropfen dieses Himmelsgrußes auf ihren von Leiden fieberheißen Lippen alsbald wieder vertrocknet. Hanna empfand es mit tiefem Kummer und zugleich mit schmerzlicher Scham. Sie hatte ja den redlichsten Willen gehabt, der sanften Stimme zu gehorchen: „Sei gegen deinen Mann immer so, als wenn ich noch da wäre!“ – Das aber war es eben. Gerade das konnte sie nicht. Gerade das Andenken der Mutter hatte er rücksichtslos verletzt, indem er all die armen Erinnerungszeichen aus dem Wege räumte, kaum daß die Tote unter der Erde lag. Und gerade damals hätte er es noch in der Hand gehabt, sie sich zu gewinnen, wenn er mit Sanftmut und Gewährenlassen an ihrem Kummer teilgenommen hätte. Aber was ihr das Herz bewegte – er fragte nicht danach, oder vielmehr, er schwieg es tot, weil es für ihn nicht leben sollte, weil seine Eifersucht sogar schon das Andenken der Toten zu hassen und zu verfolgen begonnen hatte.

(Fortsetzung folgt.)

Eine Weltumseglerin.
Zum hundertsten Geburtstag von Ida Pfeiffer.

Auf dem Centralfriedhof in Wien ruht in einem Ehrengrabe eine der merkwürdigsten und interessantesten Frauen, die Weltumseglerin Ida Pfeiffer. An ihrer Gruft erhebt sich ein prächtiges Denkmal, eine sieben Fuß hohe, aus geschliffenem Granit hergestellte Pyramide, deren Mitte das in weißem Laafer Marmor ausgeführte Bildnis der Weltreisenden zeigt. Darunter ist ein auf stürmischer See dahinfahrendes Segelschiff aus Bronze angebracht, und die Spitze des Denkmals ist symbolisch mit einer Erdkugel, ebenfalls aus Bronze, gekrönt. Ueber der Inschrift, welche einfach und schmucklos lautet: „Ida Pfeiffer geb. Reyer, geboren in Wien am 14. Oktober 1797, gestorben ebenda am 27. Oktober 1857, glänzt ein goldenes Kreuz.

Ida Pfeiffer war eine in ihrer Art einzig dastehende Frau. Ihr Vater, ein schlichter Bürger Namens Reyer, ließ ihr eine gründliche wissenschaftliche, nur ein wenig zu männliche Erziehung zu teil werden. Infolge des Einspruchs ihrer Eltern durfte sie ihrer Herzensneigung nicht folgen und ihren Jugendgeliebten nicht heiraten, vermählte sich aber im Alter von 22 Jahren mit dem um 24 Jahre älteren Lemberger Advokaten Dr. Pfeiffer, dem sie allezeit Treue und Sympathie bewahrte. Fast zwei Jahrzehnte lebte sie als fleißige, brave Frau in stiller häuslicher Weise, bis ihre Kinder aufgewachsen und versorgt waren und ihr Mann das Zeitliche gesegnet hatte. Erst dann hatte sie den Mut, die von der zartesten Jugend her mächtig in ihr lebende, aber nie gestillte Sehnsucht nach fernen Zonen zu befriedigen. Mit den bescheidensten Geldmitteln, auf sich allein angewiesen, ohne Begleitung und von niemand aufgemuntert, großartige und gefahrvolle Reisen zu unternehmen und Länder aufzusuchen, die bisher kein Fuß eines Europäers betreten hatte. In der harten Schule des Lebens, da sie nicht nur für sich und ihre Kinder, sondern auch mitunter für ihren unpraktischen Mann sorgen und schwer arbeiten mußte, hatte ihr Charakter sich gestählt, ihre Energie sich befestigt und sie gelernt, selbständig zu handeln. Als sie, bereits 45 Jahre alt, zum erstenmal auf einer Reise nach Triest, wo sie Verwandte besuchte, das Meer sah, brach es wie Jubel aus ihr hervor und Thränen rollten über ihre Wangen. „Mir war,“ erzählte sie später, „als hätte der Himmel das ganze Meer als Taufwasser über mich ausgegossen, ich glaubte, erst jetzt geboren worden zu sein. Ich begriff den Freudenschrei der Griechen: das Meer! das Meer! als sie es erblickten. Sie dachte, sie träumte fortan nur von den Meeren der Erde, die zu befahren sie sich sehnte, und von der weiten Welt, die sie kennenlernen wollte. Was sie dazu trieb, war aber keineswegs bloß gewöhnliche Reiselust, Ida Pfeiffer war vielmehr vom echten Wissensdurst und dem ernsten Wunsch beseelt und angefeuert, die geographische Wissenschaft zu fördern und unsere Kenntnis von Land und Leuten in dunklen Erdteilen zu bereichern. Am besten charakterisiert sie ein Empfehlungsbrief Alexander von Humboldts vom 8. Juni 1856, den er ihr beim Antritt ihrer letzten Reise nach Madagaskar mitgab, worin es u.a. heißt:

„Diese Frau ist nicht bloß berühmt durch die edle Ausdauer, welche sie inmitten so vieler Gefahren und Entbehrungen zweimal um die Welt geführt hat, sondern vor allem durch die liebenswürdige Einfachheit und Bescheidenheit, die in ihren Werken vorherrscht, durch die Wahrheit und Reinheit ihres Urteils und durch die Unabhängigkeit und zu gleicher Zeit Zartheit ihrer Gefühle. Des Vertrauens und der Freundschaft dieser achtbaren Frau genießend, bewundere ich diese unbezähmbare Energie des Charakters, welche sie überall gezeigt hat, wohin sie gerufen oder, besser gesagt, getrieben wurde durch die unbesiegbare Leidenschaft, die Natur und die Gebräuche der verschiedenen Menschenrassen zu erforschen.“

In Gedanken und Worten einfach, bescheiden und schlicht, gemessen und gelassen in ihrer persönlichen Erscheinung, war sie frei von jeder Sucht, sich vorzudrängen und von sich reden zu machen. Ihre Wahrheitsliebe und ihr strenger Sinn für Recht und Ehrenhaftigkeit verleugneten sich bei ihr nie, weder in ihrem Leben, noch in ihren zahlreichen Schriften, in denen sie die Ergebnisse ihrer Weltreisen in anziehender und volkstümlicher Weise zu schildern wußte. Das prahlerische Wesen so vieler „Weltreisenden“ war ihr in tiefster Seele zuwider, nie erzählte sie etwas, das nicht vollkommen der Wahrheit entsprach, ebenso wie sie nie im Leben etwas versprach, was sie nicht hielt. Ein ausgesprochenes, ja außerordentliches Reisetalent, verstand sie es, in allen Weltteilen, wohin sie auch kam, die Teilnahme der Menschen zu erwecken, und indem sie frei von allen politischen, religiösen und nationalen Vorurteilen war, sah sie alle Dinge so an, wie sie waren, und war ihr Urteil nie getrübt durch die Brille einer vorgefaßten Meinung.

Im März 1842 trat die bereits alternde Frau ihre erste Reise an, indem sie nach Palästina, Syrien und Aegypten wanderte. Die Reiseerlebnisse, welche sie 1844 anonym in zwei Bänden [683] herausgab, erregten allgemeines Aufsehen. Das Buch erlebte rasch hintereinander mehrere Auflagen und wurde auch in zahlreiche fremde Sprachen übersetzt. Köstlich sind die Erzählungen, welche sie von ihren Besuchen in den orientalischen Harems, von ihrem Zug durch die Wüste, an das Rote Meer usw. zum besten giebt. Aus der Fülle derselben sei nur eine kleine Episode erwähnt. Ida Pfeiffer hatte sich vor der Reise ihre Haare kurz abgeschnitten in der richtigen Voraussicht, daß sie weder Zeit noch Gelegenheit haben würde, dieselben unterwegs gehörig zu ordnen und zu pflegen. Als sie den Damen des Harems eines hochstehenden Paschas ihren Besuch abstattete, staunten die Odalisken über die kurzen Haare, indem sie meinten, die Natur habe wohl den Europäerinnen den langen Haarwuchs versagt; mitleidig besah und befühlte jede der Frauen des Paschas den Kopf der Wienerin. Nicht wenig schien sie auch die Magerkeit Ida Pfeiffers zu befremden, denn alle Orientalinnen des Harems zeichneten sich durch außerordentliche Körperfülle aus.

Drei Jahre später unternahm Ida Pfeiffer eine Reise nach dem Norden. Ueber Kopenhagen ging sie nach Island, bestieg den Hella und kehrte über Skandinavien nach Wien zurück. Das Tagebuch dieser zweiten Reise erschien

Ida Pfeiffer.
Nach einem Stahlstich von Weger.

unter dem Titel: Reise nach dem skandinavischen Norden und der Insel Island in zwei Bänden, Pest 1846, diesmal unter ihrem Namen, und wurde gleichfalls viel gelesen. Der Erlös der mitgebrachten Naturalien, sowie das Honorar des Verlegers bildeten für sie die Grundlage von Ersparnissen für neue Unternehmungen. Die beiden ersten Reisen betrachtete sie nur als Vorstudien, als Kraftprüfungen, als Anreiz zu weitaus größeren gefährlicheren Reiseunternehmungen. „Ich habe,“ meinte sie dann als scherzhaft, „Blut geleckt und spüre mich zu etwas tigerhaften Abenteuern aufgelegt. Eine Reise um die Welt war es, die den Geist der kühnen Frau jetzt beschäftigte, und diese einmal gefaßte Idee ließ ihr keine Ruhe mehr. Indem sie von ihren großartigen Reiseplänen ihren Verwandten! und namentlich ihren Söhnen nichts sagte, sondern nur Brasilien als ihr Ziel nannte, nahm sie am 1. Mai 1846 von Wien Abschied, um ihre Weltfahrt anzutreten, die sie in das Innere Brasiliens, und durch den Westen Südamerikas bis zum chinesischen Küstenland, und nach Hindostan brachte. Sie sah u. a. Tahiti, Canton, Calcutta, Delhi, Bombay und Bagdad und sie kehrte dann über Afghanistan, Persien und Georgien nach Triest zurück. Furchtbare Mühseligkeiten und Entbehrungen hatte sie auf dieser Reise zu erleiden. In Canton z. B., wo die ungewöhnliche Erscheinung einer europäischen Frau auf die Söhne des Reiches der Mitte sinnverwirrend wirkte, wäre sie beinahe erschlagen worden, und anläßlich eines Ausfluges in das Innere Südbrasiliens wurde sie von einem entlaufenen Negersklaven in raubmörderischer Absicht überfallen und schwer verwundet; nur einem Zufall verdankte sie die Rettung ihres Lebens.

Lange hielt es Ida Pfeiffer in ihrer Heimat nicht aus. Als sie ihre zahlreichen Sammlungen verkauft, ihre Tagebücher unter dem Titel „Eine Frauenfahrt um die Welt (3 Bände, Wien 1850) veröffentlicht hatte und dabei nicht den geringsten Abbruch ihrer Kräfte fühlte, begann in ihr, trotz der überstandenen ungeheuren Strapazen, der Plan einer zweiten Reise um die Welt zu reifen. Inzwischen war sie eine weltbekannte Persönlichkeit geworden, alle großen Zeitungen der Erde erzählten von der kühnen Weltreisenden, welche schon damals 30 000 Kilometer zu Land und mehr als 150 000 Kilometer zur See zurückgelegt hatte, und so sah sich die österreichische Regierung veranlaßt, ihr einen Reisebeitrag von 1500 Gulden zu spenden.

Das Jahr 1851 sah sie wieder auf dem Meere. Diese vierte Reise ging ebenfalls, aber in umgekehrter Richtung, um die Welt, und zwar über das Kap der guten Hoffnung nach den Sundainseln, Borneo, Java und Sumatra. Nach 1½ jährigem Aufenthalt in jenem Archipel, in Neuholland und der australischen Inselwelt wanderte sie nach Amerika, durchzog Kalifornien, drang bis an die Quellen des Amazonenstromes vor, wagte sogar die Besteigung des Chimborasso und kehrte nach dreijähriger Abwesenheit 1854 über Hamburg zurück. Sehr liebenswürdig und wohlwollend kamen ihr überall die holländischen Offiziere und Beamten entgegen, und sie fühlte sich denselben für ihre zuvorkommende Hilfe und Unterstützung so sehr zu Dank verpflichtet, daß sie das Werk, welches sie über diese zweite Weltreise 1856 veröffentlichte, den Holländern in Indien widmete. Auch die Nordamerikaner bezeigten ihr lebhafte Sympathien. Sie gestatteten ihr viele Freifahrten, sowohl auf Segelschiffen als auch auf ihren großen prachtvollen Dampfern, und behandelten sie überhaupt mit der auszeichnendsten Aufmerksamkeit.

Die von unserer Weltumseglerin gesammelten reichhaltigen und wertvollen Naturalien und ethnographischen Gegenstände gelangten zum größten Teil in das Britische Museum und in die kaiserlichen Sammlungen in Wien. Großes Interesse nahmen weltberühmte Naturforscher und Geographen wie Alexander von Humboldt und Karl Ritter an den Bestrebungen und Forschungen Ida Pfeiffers. Auf den Antrag der beiden Gelehrten ernannte die Berliner Geographische Gesellschaft sie zum Ehrenmitglied – eine Ehrung, welche ihr übrigens später auch von der Geographischen Gesellschaft in Paris zu teil wurde – und der König von Preußen verlieh ihr die Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft.

Ihr reger Geist und ihr Forschungstrieb ließen ihr noch immer keine Ruhe, auch meinte sie, daß die Ergebnisse ihrer Weltreisen sich bei einem neuen Unternehmen noch glänzender gestalten würden; so begann sie denn 1856 ihre dritte Weltumseglung. Diese letzte Reise, die sie am 21. Mai des genannten Jahres von Wien aus unternahm, ging zuvörderst nach Madagaskar, wo damals die ruchlose und blutdürstige Königin Ranavola herrschte und die grausamsten Unthaten ausführte. Vergebens warnte A. v. Humboldt sie vor einem Besuch jenes barbarischen Landes, der Reiz, sich das geheimnisvolle, noch fast gänzlich unbekannte Innere dieser Insel aufzuschließen, war jedoch für sie unwiderstehlich. Anfangs günstig aufgenommen, wurde sie von der Tyrannin bald für eine Spionin gehalten, aufs heftigste verfolgt, mehrere Monate als Gefangene in sumpfigen Wüsteneien herumgeschleppt und dann aus dem Lande gewiesen, und so brachte sie mit dem Malariafieber den Todeskeim mit in die Heimat zurück. Ihre bisher unerschütterte eiserne Gesundheit war gebrochen, und sie ließ sich nach Wien bringen, um dort zu sterben. In der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober 1858 hauchte die edle Frau ihre unsterbliche Seele aus. Mit ihr starb eine Heldin der Wissenschaft und der Forschung von unerschrockener kräftiger Natur, mit einer kühnen und mutigen Seele, welche frei von jeder nervösen Schwärmerei war und das Wort vom schwachen Geschlecht zu Schanden machte. Mit bewunderungswürdigem Heroismus hat sie Seestürme, die Glut der Tropen, die Kälte der Polarzonen, Hunger und Durst, Todesgefahr und die Verräterei tückischer Menschen überstanden, nur um der Gesamtheit zu nützen und der Wissenschaft neue Siege erringen zu helfen.

Dr. Adolph Kohut.
[684]
Die Unfallstationen in Berlin.
Von Dr. G. Klitscher. Mit Illustrationen von Fritz Gehrke.

Der erste Verband entscheidet das Schicksal der Wunde. Der leider allzu früh verstorbene Chirurg Vollmann hat aus dem reichen Schatz seiner Erfahrung heraus die Worte gesprochen. Die Erkenntnis von der Richtigkeit des Satzes hat sich allmählich auch in Laienkreisen Bahn gebrochen, und ihr verdankt die Reichshauptstadt die Gründung ihrer Unfallstationen, einer Anzahl von Anstalten, die den Zweck haben, bei Unglücksfällen oder plötzlich eintretenden Erkrankungen dem Betroffenen so schnell als irgend möglich ärztliche Hilfe und sachgemäße Behandlung zu teil werden zu lassen. Vor wenigen Jahren noch war es damit in Berlin übel bestellt. Wenn jemand verunglückt war, mußte man den Arzt in seiner Privatwohnung aufsuchen; war derselbe erschienen, so hatte er nicht immer alle zu einem operativen Eingriff oder zu einem komplizierten Verband nötigen Instrumente sofort zur Hand; um einen Krankenwagen zu beschaffen, war man genötigt, sich an die Polizei oder eines der meist weit entfernten Krankenhäuser zu wenden. Bei dieser mangelhaften ersten Hilfe in Unglücksfällen nahm manche Verletzung einen schlimmen Verlauf, der durch ein rechtzeitiges ärztliches Eingreifen hätte verhütet werden können.

Schon seit einer Reihe von Jahren war man bestrebt, diese Uebelstände durch Gründung von Samaritervereinen und Samariterwachen zu bekämpfen. In jüngster Zeit haben diese menschenfreundlichen Bestrebungen von seiten der Berufsgenossenschaften eine wesentliche Förderung erfahren. Denselben liegt bekanntlich nach den Rückversicherungsgesetzen die Pflicht ob, diejenigen zu entschädigen, welche länger als 13 Wochen unter den Nachwirkungen eines Unfalls leiden. Die Berufsgenossenschaften haben darum ein besonderes Interesse daran, daß den Verunglückten möglichst rasch eine sachverständige Hilfe zu teil wird.

Diese Erwägungen führten zur Gründung der Unfallstationen in Berlin. Im Jahre 1894 bildete sich dank der Bemühungen der Direktoren V. Knoblauch und M. Schlesinger, von denen besonders der letztere seine ganze Kraft dem Unternehmen widmete, ein Kuratorium, das zunächst zehn Anstalten einrichtete. Diese haben sich für die Berufsgenossenschaften aufs glänzendste bewährt. Denn während in Berlin 1893 auf 10 000 Arbeiter 180,63 gemeldete Unfälle und 17,53 entschädigte Unfälle kamen, sind 1895 zwar 255,14 gemeldete aber nur 7,26 entschädigte Unfälle zu verzeichnen. Während also die Zahl der zur ärztlichen Behandlung gebrachten Verletzungen nicht unerheblich gestiegen ist, sank die Zahl der Entschädigten, d. h. der über 13 Wochen lang nutzlos behandelten oder arbeitsunfähig gebliebenen – ein erfreuliches Ergebnis, das dem Wirken der Unfallstationen wesentlich mit zu verdanken ist. Da die neue Einrichtung sich im engeren Kreise so segensreich bewährte, lag es nahe, sie auch der Allgemeinheit zu gute kommen zu lassen, und nicht nur bei Unfällen sondern auch bei plötzlichen Erkrankungen. Diesen Schritt hat das Kuratorium gethan und sich damit um die Volkswohlfahrt Berlins ein großes Verdienst erworben. Denn allein im August 1897 wurden die Anstalten von 2063 Patienten in Anspruch genommen.

Von den zehn Unfallstationen die zur Zeit über Berlin verteilt sind, stehen vier, die sogenannten Hauptstationen, in Verbindung mit kleinen Kliniken von 30 bis 40 Betten. Diese Kliniken sind jedoch den Patienten der Berufsgenossenschaften vorbehalten. Die Leitung jeder Station hat ein chirurgisch besonders vorgebildeter Arzt, ihm steht ein genügendes assistierendes Personal zur Verfügung. An Instrumenten und Apparaten ist alles nötige vorhanden. Die Stationen sind durch selbständige Telephonleitungen, unabhängig von dem Netz der Reichspostverwaltung, miteinander verbunden so daß im Falle eines Massenunglücks nicht nur die Hilfe einer, sondern mehrerer, beziehungsweise sämtlicher Stationen in kürzester Zeit in Anspruch genommen werden kann. Außerdem ist jede Station mit der Polizeiwache ihres Reviers direkt telephonisch verbunden. Die Stationen I und IV besitzen eigene Stallungen und Remisen mit Krankenwagen und Gespannen. Bei den übrigen

Uebungen der Berliner Unfallstationen: Transport der Verwundeten.

[685] Stationen sind diese so nahe wie möglich untergebracht. Das Anschirren der Pferde geschieht in gleicher Weise wie bei der Berliner Feuerwehr, die ersten Geschirre wurden sogar von dieser geliefert. Unmittelbar nach

Uebungen der Berliner Unfallstationen: Verbinden der Verwundeten.

der Meldung eines Unfalls kann der Krankenwagen, der mit Verbandzeug, den notwendigen Instrumenten und Erfrischungsmitteln ausgerüstet ist, sich nach der Unfallstelle begeben.

Ein Teil dieser Wagen, welche sich äußerlich von eleganten Equipagen kaum unterscheiden, wurde nach einem neuen System des Direktors Merke vom Moabiter Krankenhause in Berlin durch die Fabrik Kühlstein in Charlottenburg gebaut und ist derartig konstruiert, daß der Transport des Patienten auch auf schlechtem Straßenpflaster in ruhiger, geräuschloser und deshalb für den Kranken möglichst schonender Weise ausgeführt werden kann. Die kleineren Wagen werden einspännig, die größeren zweispännig gefahren. In den kleineren Wagen ist Raum für eine liegende und eine sitzende Person, in den größeren haben neben dem gebetteten Kranken noch zwei Wärter Platz.

Um die Unfallstationen so leistungsfähig wie möglich auszurüsten, hat das Kuratorium sich mit der Friedensabteilung der Vereine vom Roten Kreuz sowie mit dem Vaterländischen Frauenverein in Verbindung gesetzt. Die aufopferungsfreudigen Mitglieder dieser segensreichen Institute widmen ihre Kräfte in gemeinsamer Arbeit mit den Beamten der Unfallstationen den Verunglückten.

Unsere Illustrationen veranschaulichen eine Uebung dieser modernen Samariter und Samariterinnen. Die Unfallstationen wurden alarmiert unter der Annahme, daß eine Kesselexplosion in einem Fabrikgebäude stattgefunden habe. In kürzester Frist erschienen die Retter aus der Unglücksstätte und entfalteten hier die regste Thätigkeit.

In allen Schichten der Berliner Bevölkerung bringt man dieser neuen Blüte des Rettungswesens das allgemeinste Interesse entgegen, eine große Anzahl von Frauen hat in den Unfallstationen bereits Unterweisung in der richtigen Behandlung Verunglückter erhalten. Polizei und Stadtverwaltung stehen dem Unternehmen mit dem größten Wohlwollen gegenüber. Der Polizeipräsident hat die Mannschaften der polizeilichen Exekutive und der Feuerwehr angewiesen, bei vorkommenden Fällen die Hilfe der Unfallstationen für Verletzte und plötzlich Erkrankte nachzusuchen an denjenigen Stellen der öffentlichen Anschlagsäulen, wo sich die Nachweise amtlicher Institute befinden, sind jetzt auch die Adressen der Stationen vermerkt. Die Stadt Berlin zeigt ihr Interesse an der Sache dadurch, daß sie einen jährlichen Zuschuß zu den Kosten bewilligt hat. Auch andere Gönner sind mit namhaften Zuwendungen nicht zurückgeblieben.

Im allgemeinen aber sind die Stationen für ihre materiellen Bedürfnisse auf die Berufsgenossenschaften angewiesen. Denn da von keinem, der Berufsgenossenschaft nicht angehörigen Patienten, welcher angiebt, unbemittelt zu sein, irgend welches Honorar gefordert wird, so sind die baren Einnahmen natürlich nur gering. Durch diese freie Behandlung aber wird die Einrichtung besonders dem unbemittelten Teile der Bevölkerung nur noch schätzbarer. Jetzt findet in Berlin jedermann bei Tag und Nacht Aerzte, Hilfspersonal, moderne Verbandsmittel und einen sauberen Verbandsraum zu seiner Verfügung, ohne zu einer Gegenleistung irgendwie verpflichtet zu sein.


Das Kind.
Roman von Adolf Wilbrandt.

(1. Fortsetzung.)

4.

Herr van Wyttenbach hatte sich, während die beiden Alten noch in Sehweite waren, mit einer förmlichen Verbeugung von Gertrud verabschiedet, als sie verschwanden, blieb er an der Salonthür stehn, warf das schöngekräuselte Haar zurück und lächelte das Mädchen zärtlich an. Die Stimme ein wenig dämpfend, doch nur so, daß sie noch Wohllaut behielt, fragte er, indem er die Lippen spitzte. „Also ich hab’ Ihnen etwas Freude gemacht, meine süße Gertrud?“

Sie nickte liebevoll. „Die Blumen – und ihre Sprache! Ach, ich bin so glücklich!“

„Sind Sie glücklich, Gertrud?“

„Ich kann Ihnen so nicht sagen,“ antwortete sie, „wie ich glücklich bin! – ,Und immer ging sie fort’ … Ich muß Ihnen noch einen Traum erzählen –“

Sie sollte aber ihren Traum heute nicht zum zweitenmal los werden. Arthur legte plötzlich einen Finger auf die Lippen und deutete mit dem Kopf hinter sich nach der Thür. Nun hörte sie auch Schritte dort, und Brinks verschleierte Stimme. Es wollte offenbar jemand kommen, man sprach hin und her. Arthur zuckte entsagend die Achseln, Gertrud, die siebzehnjährige, stampfte auf die Erde; sie fühlte, wie sie diesen Jemand haßte.

Richtig, dachte sie, da kommt das Ungetüm! Die Salonthür ging auf, eine lange Gestalt, ebenso lang wie Wyttenbach, ebenso schwarz gekleidet, erschien auf der Schwelle. Es war ein junger Mann mit blassem Gesicht, mit sehr ernsten Zügen, den weichen schwarzen Hut hielt er in der Hand. Den kenn’ ich ja, dachte Gertrud, die ihn mit herzlichem Widerwillen ansah, da er sie so störte. Zu ihrem Erstaunen zitterten ihm die Lippen eine Weile, ehe er mit etwas unsicherer Stimme zu sprechen anfing. „Entschuldigen Sie, Fräulein Rutenberg –!“

„Ach ja, wir kennen uns,“ sagte sie nun gutmütig, seine Aufregung entwaffnete sie. „Herr von Hiller, nicht wahr –“

Der junge Mann lächelte, im ersten Augenblick etwas schmerzlich, aber schnell gefaßt. „Sie verwechseln mich mit einem andern, mein Fräulein,“ sagte er schlicht. „Waldeck ist mein Name.“

„O!“ stieß sie erschrocken aus. „Verzeihen Sie! – Ja, ja, nun seh’ ich –“

„Was ist da zu verzeihen,“ unterbrach er sie, „Sie haben mich ja nur ein paarmal gesehn. Ich wollte mir erlauben, Ihren Herrn Vater – wohl etwas spät – in einer besonderen Sache – – Aber ich höre eben, hier ist heute Ball. Ihr Herr Vater wird also nicht mehr zu sprechen sein, vielleicht könnt’ ich morgen –“

[686] Gertrud schüttelte den Kopf. „Ach nein! Wenn Sie hier etwas warten wollten – er zieht sich an, aber er ist bald wieder da. Mit seiner Toilette“ – sie lächelte ermutigend – „dauert es nicht lange! Ich werd’ ihm sagen lassen, nicht wahr, daß Sie auf ihn warten …“

Na, dachte sie, während sie sprach, ich bin doch freundlich genug gegen das Ungetüm!

„Zu gütig, mein Fräulein,“ erwiderte der andre mit seiner sonderbar gepreßten Stimme, die das Mädchen so weich und liebenswürdig gemacht hatte.

„Aber jetzt entschuldigen Sie mich,“ fiel sie ein, mit einem Blick auf ihr Hauskleid, „ich muß nun endlich fort, ’s ist die höchste Zeit! – Wenn Sie Waldeck heißen – ach Gott, wie konnt’ ich, dann sind die Herren ja alte Freunde, nicht wahr?“

Wyttenbach nickte: „Schulfreunde, jawohl.“

„Ich lasse Sie also allein – Sie können ja von alten, alten Zeiten miteinander sprechen.“ – Ueber ihren Strauß hinweg warf sie rasch noch einen zärtlichen Blick auf Arthur, ganz verstohlen, wie sie dachten; er war aber doch nicht verstohlen genug, denn der Herr Waldeck fing ihn auf. „Auf Wiedersehn!“ rief sie, „bald!“ – Mit anderer Stimme und einer ihrer gelernten leichten Verbeugungen wandte sie sich dann zu dem andern „Adieu, Herr – – Waldeck!“

Sie errötete nachträglich, daß sie ihn „Hiller“ genannt hatte, und lächelte und huschte hinaus.

Waldeck sah ihr nach. Seine starken, dunkelblonden Brauen zogen sich zusammen, als dächte er an den heimlichen Blick mit dem sie Arthur eben angestrahlt hatte. Er zuckte, als ihm nun Arthur eine Hand auf die Schulter legte; er schien merkwürdig erregt zu sein. „Nun, Waldeck?“ sagte Arthur. „So düster?“

„So heiter?“ fragte Waldeck zurück.

„Das ist ’ne komische Frage. Warum sollt’ ich nicht heiter sein? Wenn irgend ein Mensch dazu Ursache hat, so hab’ ich – –“

Er unterbrach sich, nach einem neuen Blick auf den alten Schulfreund, mit dem er als Junge so manchen lustigen Streich ausgeführt hatte. Gutmütig, wie er im Grunde doch war, legte er ihm wieder eine Hand auf den Arm: „Uebrigens, wenn ich dir mit etwas nützlich sein kann, so disponier’ über mich. Du siehst so aus, alter Junge, wie wenn du Sorgen hättest, – brauchst du vielleicht ‚Kies’? oder ‚Schotter’, wie der Oesterreicher sagt? Ich hab’ im Augenblick ’heidenmäßig viel Geld’!“

Offenbar wider Willen lächelnd, sah Waldeck den jungen Krösus freundlich an. „Ein guter Kerl bist du doch!“

„Daran hast du hoffentlich nie gezweifelt,“ warf Wyttenbach hin. „Also – brauchst du Geld?“

„Gott sei Dank, nein. Weder das, noch sonst was! – Es geht dir also gut.“

„O ja,“ sagte Wyttenbach, die kleinen Augen vor Vergnügen noch kleiner machend. „O ja, mehr als gut! – Ich werde jetzt solid. Ich werde jetzt un homme sérieux.“

„Schon? – Dann bist du ja mit vierzig ein Greis!“

Wyttenbach lächelte überlegen, sein braunes Schnurrbärtchen in die Länge ziehend. „O, ich werd’ es schon verstehen, mein Junge, mich jung zu erhalten! – Von allem etwas, weißt du, und von nichts zu viel: Arbeit, Ruhe, gutes Leben, zuweilen eine Reise zur Auffrischung, ein viertel Jahr auf dem Lande, denn meine entschiedene Absicht ist, Großgrundbesitzer zu werden. Das gehört jetzt mit dazu, und mit Recht! Das giebt dir festen Boden unter den Füßen, giebt dir eine gesunde Existenz, eine solide Weltanschauung, Ansehen und Einfluß. Später laß‘ ich mich dann in den Reichstag wählen –“

„Und dein Großgrundbesitz,“ fragte Waldeck, „wer verwaltet den?“

„Ich selbst, wer denn sonst? Eine Thätigkeit muß der Mensch haben, natürlich, das ist der kategorische Imperativ des Lebens … Ich studiere jetzt erst eine Weile Landwirtschaft und Nationalökonomie, dann mach’ ich noch eine kleine Reise um die Erde – das gehört mit dazu –“

„Und dann heiratest du,“ ergänzte Waldeck, mit einem unwillkürlichen Blick auf die Thür, durch die vorhin das junge Mädchen hinausging.

„Wahrscheinlich!“ sagte Wyttenbach lächelnd.

„Und heut’ – wirst du hier tanzen.“

„Naja!“ – Wyttenbach lächelte wieder, aber matt, resigniert. „Ich bin ja noch in dem Alter, wo man herumhopsen muß. Und überhaupt – eine Zeit lang muß ich die Kindereien noch mitmachen. Obgleich ich eigentlich, kann ich dir sagen, mit all diesen Jugendeseleien ziemlich fertig bin –“

„Bist wohl schon sehr blasiert?“ fragte Waldeck, nach einem neuen düsteren Blick auf die Thür.

„Die Sachen verlieren ja natürlich mit der Zeit ihre Reize! Indessen, wenn man noch jung ist –“

Waldeck unterbrach ihn wieder, mit einem etwas unsicheren Anlauf. „Und – durch was für einen Glücksfall willst du das alles erreichen, wenn man fragen darf?“ Wyttenbach trat einen Schritt zurück, sein glattes, hübsches Gesicht verzog sich: „das möcht’st du wohl wissen,“ sagte er vergnügt. „Das ist mein Geheimnis. – Adieu!“

Er ging zur Salonthür.

„Adieu!“ rief ihm Waldeck nach.

Mit der blasierten Grazie eines Prinzen öffnete Wyttenbach die Thür und stieß sie vor sich her.

5.

Fritz Waldeck stand eine Weile, ohne sich zu rühren, dann seufzte er langsam, tief, er wußte nicht warum. Ein schwer wütiges Gefühl lag ihm so breit und voll auf der Brust. Der wird nicht umkommen, dachte er, der macht seinen Weg … Und diese hübsche Figur aus Chinasilber scheint der Gertrud Rutenberg gar so gut zu gefallen …

Er versank in diesen Gedanken wie in weichen Moorgrund; er kam nicht wieder heraus. Vielleicht hatte er schon lange so dagestanden, auf demselben Fleck, als endlich die andere Thür, die zu Rutenbergs Wohnzimmer, aufging und der Hausherr erschien. Die noch so jugendliche breitschulterige Gestalt war nun für den Ball gekleidet, ins Knopfloch hatte Rutenberg eine Rose gesteckt, die ihm Gertrud durch die kleine Jungfer aus ihrem Arthur-Strauß geschickt hatte. Hinter ihm, etwas später, kam Schilcher, noch in seinem Hausrock.

„Ich stehe Ihnen jetzt zu Diensten,“ sagte Rutenberg. „Mit wem habe ich – –“

Er unterbrach sich selbst; der schlanke, blasse junge Mann stand wie ein Fragezeichen vor ihm. Es war ihm, als hätte er schon eine ähnliche Erscheinung gesehn, und doch war ihm diese fremd. Er sah in ein tiefernstes, kühnes, geistiges Gesicht, es erinnerte ihn an eine Büste von Schiller, die er vor Zeiten gesehen hatte. Der junge Mann gefiel ihm, eine gewisse sonderbare Schwermut in den starken Zügen ging ihm gleich zu Herzen.

„Entschuldigen Sie, Herr Rutenberg,“ sagte Waldeck schlicht, die magern Wangen flogen aber rötlich an. „Ich komme zur unrechten Zeit –“

„Durchaus nicht,“ erwiderte Rutenberg. „Bis die ersten Gäste kommen, und das dauert noch lange, hab’ ich nichts zu versäumen. Also –“

Nach einem ungewissen Blick auf Schilcher der regungslos bei der Thür stand, fiel Waldeck ihm in die Rede: „Dann verzeihn Sie. Ich hätte eigentlich mit Ihnen allein –“

„Ist mein Freund da zu viel?“ fragte Rutenberg, gemütlich lächelnd. „Er ist eigentlich wie mein zweites Ich. Indessen, wenn Sie wünschen –“

Schilcher wandte sich stumm zur Thür.

Mit einer hastigen, etwas eckigen Bewegung suchte ihn der Jüngling jetzt zurückzuhalten. „Ach nein! Bitte, bleiben Sie Herr Oberappellationsrat. Unter diesen Umständen … Es könnte vielmehr gut sein … Es wird mir nämlich so furchtbar schwer, ich meine, das, was ich sagen will. Vielleicht bring’ ich’s leichter heraus, wenn der Herr Oberappellationsrat da ist – den ich doch schon kenne. Ich habe nämlich die Ehre –“

„Wir kennen uns, ich weiß,“ murmelte Schilcher. Er warf einen freundlichen, ermutigenden Blick auf Waldeck und lehnte sich in seiner kurz entschlossenen Art an den nächsten Tisch.

„Also, wie Sie wünschen!“ sagte Rutenberg, in dem sich die angeborene Ungeduld nun doch zu regen anfing. Er lud den jungen Mann ein, sich zu setzen. „Ihr werter Name, mein Herr –!“

[687] „Eh’ ich Ihnen den sage,“ fiel Waldeck ein, indem er sich niedersetzte, „gestatten Sie mir drei Worte … Es handelt sich um eine – eigene, delikate Sache; und es wird mir so schwer, den Anfang – – wie ich beginnen soll, mein’ ich –

Rutenberg lächelte. „Nun, so überlegen Sie sich’s; wir haben ja Zeit!“

„Sie sind gar zu gütig … Ich hab’ also das Unglück gehabt, Herr Rutenberg, mein Herz an Ihre Tochter zu verlieren –“

Rutenberg stand auf. Diese gänzlich unerwartete Mitteilung fuhr ihm in die Glieder. Schilcher rührte sich nicht. Auch Waldeck saß ohne Regung da; er atmete nur tief, als hätte er das eine Weile gar nicht gethan, und ward wieder blaß, noch blasser als vorher.

„Bitte, erschrecken Sie nicht!“ fuhr er dann mit einer Art von Lächeln fort, das den gutherzigen Rutenberg wieder rührte. „Wenn Sie etwa fürchten sollten, es könnte das gegenseitig – ach nein, so steht’s nicht. Das Fräulein kennt mich so wenig – daß sie mich verwechselt …“

Rutenberg setzte sich wieder.

„Daß sie mich verwechselt … Mein Fall ist so eigentümlich. Eh’ ich es wagen würde, mich dem Fräulein zu nähern – das ich leider schon zu oft, zu viel gesehen habe –“

„Entschuldigen Sie,“ nahm nun Rutenberg doch das Wort. Der junge Schiller da schien ihm allmählich ein junger Don Quichote zu werden. „Sie reden nun schon einige Zeit, aber ich muß Ihnen offen bekennen, noch versteh’ ich kein Wort.“

„Ja,“ stammelte Waldeck, „das mag wohl sein … Eh’ ich es also wagen würde, mich dem Fräulein zu nähern, möchte ich von Ihnen hören – muß ich von Ihnen hören – ob Sie je gestatten würden, daß der Sohn Ferdinand Waldecks Ihre Tochter heiratet.

Rutenberg stand wieder auf, diesmal schoß ihm aber das Blut ins Gesicht. In seine leuchtenden, menschenfeindlichen Augen stieg eine plötzliche Glut, seine Hände zogen sich zusammen. „Ferdinand Waldecks?“ fragte er.

Waldeck erhob sich nun auch. „Ja“ antwortete er.

Schilcher nickte jetzt vor sich hin, er hatte bisher kein Glied gerührt. Da die andern aufgestanden waren, setzte er sich nieder.

„Versteh’ ich Sie recht?“ fragte Rutenberg, den sein Gefühl, wie so oft, fortzureißen anfing. „Ferdinand Waldecks, der damals – – damals nach Amerika floh? Der sich das Leben nahm?“ – Der junge Mann nickte, mit einem schmerzhaften Zucken. – „Der aus der Welt ging, weil er in ihr keinen Platz mehr hatte – weil er ein verlorener Mensch, ein Verbrecher war?“

„Herr –!“ rief Waldeck aus.

Rutenbergs Empörung war aber nicht mehr aufzuhalten: „Der ein Betrüger und ein Schurke war,“ fuhr er fort, „bis in seinen Tod?“

Der unglückliche Fritz Waldeck bebte. Zwischen den völlig farblosen, zitternden Lippen stieß er hervor: „Herr, das lü – –!“

Er brach aber ab. Mit einer überraschenden Gewalt, eine Hand aufs Herz legend und dann an die Stirn, erstickte er sichtbar, was er sagen wollte, und zwang sich zur Ruhe. Ihm kam auch wieder etwas Blut in die Lippen. Erst nachdem er sich ganz gefaßt hatte, sagte er mit Haltung und sogar mit Würde: „Sie sagen da nicht die Wahrheit, mein Herr!“

„Hm –!“ murmelte Schilcher, nur so vor sich hin.

Rutenberg warf einen Blick auf Schilcher, sein altes lebendiges Gewissen, er suchte sich dann ebenso zu fassen wie der Junge da. „Na ja,“ fing er weich und unsicher, fast etwas verlegen an „es thut mir leid. Sie sagten ja – – Sie sind also der Sohn. Der Fritz, den ich als Kind – – Jetzt ist mir auch, als seh’ ich in Ihnen das Kind. Es macht mir kein Vergnügen, bei Gott nicht, jemandem weh zu thun … Was aber Ihre Behauptung betrifft, daß ich nicht die Wahrheit sage – Sie sind jung – sehr jung –“

„Verzeihen Sie,“ entgegnete Waldeck mit fast heiserer Stimme, „wenn ich trotz meiner Jugend wiederhole, Sie haben nicht das Recht, meinen Vater so zu nennen, wie Sie ihn nannten. Es ist nicht die Wahrheit!“

Rutenberg sah den jungen Fritz Waldeck eine Weile schweigend an, er murmelte unverständlich, er bewegte die Brauen, die Lider. Doch kein Don Quichote, dachte er, doch mehr Friedrich Schiller … „Ich will Ihnen was sagen, junger Herr,“ nahm er endlich das Wort. „Gehn Sie wieder. Es ist besser so. Sie können mich nicht bekehren, und ich kann nicht lügen – obwohl Sie vorhin meinten, ich könnte es. Wozu uns böse Worte sagen. Sie mögen ein guter Sohn und ein guter Mensch sein. Eine – eine Art von Antwort hab’ ich ja schon gegeben –“

„Verzeihen Sie,“ sagte Fritz Waldeck und trat in seiner blassen Erregung einen Schritt näher zu Rutenberg hin. „Ich kann so nicht gehn. Diese Beschimpfung, diese Entehrung meines toten Vaters –“

„Herr!“ rief Rutenberg, in dem es wieder überwallte, „wer hat ihn denn beschimpft, wer hat ihn denn entehrt, als sein eigenes Leben und sein eigener Tod?“

Er glaubte jetzt zu hören, daß sich auf Schilchers Stuhl etwas rührte; sogleich zwang ihn ein inneres Unbehagen, einen Blick hinüberzuwerfen: richtig: aus dem guten, klugen Nußknackergesicht sahen ihn die blaßgrauen Augen ganz still und doch wie um etwas mehr Ruhe bittend an. Naja! dachte Rutenberg, einen Augenblick verstimmt, dann einverstanden, und knöpfte am Rock über seiner Brust „Junger Mann,“ sagte er ruhiger, „ich war sein Freund, als Sie noch ein Kind waren. Sie waren auch noch ein Kind, oder nicht viel mehr, als er meine Freundschaft, mein Vertrauen täuschte – bitte, reden Sie nachher – als er uns alle täuschte, die wir ihm vertraut hatten, und – – ja, und dann davonging, auf Niewiederkommen. Es war diese tolle Zeit, vor Dreiundsiebzig, die hoffentlich auch nie wiederkommt, wo die neuen Gründungen über Nacht in die Höhe schossen wie Pilze, und die Millionen kamen und gingen wie die Seifenblasen und die guten Namen mit ihnen! Damals gründeten Sie auch diese gottverfluchte Bank – und Ihr Vater mit. Und weil ich ihm glaubte – nicht den andern, verstehen Sie wohl, sondern ihm, ihm, dem grundgescheiten und gründlich eingeweihten und ehrlichen Ferdinand Waldeck – so gab ich mein sauer erworbenes junges Geld hinein, mehr und immer mehr. Und wenn ich doch einmal zauderte, wenn ich zweifelte – Gieb nur her! schrieb er, gieb nur her! es steht gut, wir blühen, wir gedeihen, wir machen rasende Geschäfte, du wirst Millionär dabei! – Ja, und endlich – krach! Wie loses Pulver flog alles in die Luft. Alles war hin. Herr, ich jammere nicht um das Pulver, um das Geld. Ich hab’s längst verschmerzt. Wenn meine Fabrik damals in Gefahr kam, durch diese vielen Aderlässe zu blutarm zu werden und umzufallen, sie hat sich wieder erholt, und wie! Aber um Ferdinand Waldeck hab’ ich’s nie verschmerzt – werd’s auch nie verschmerzen. Er hat seine Ehre, seine Seligkeit – – Und nun rühren Sie nicht länger auf, was ich da in mir habe; lassen Sie mich, gehn Sie fort!“

Waldeck Sohn schüttelte jedoch den Kopf, als wollte er durch die stumme Bewegung sagen: Ich kann noch nicht gehn! Er drehte den Hut zwischen den zitternden Händen, ungelenk wie ein Bauernknecht. In seinen übergroß gewordenen Augen leuchtete aber eine unverzagte Flamme, die das abgemagerte Gesicht verklärte und verschönte. Mit überraschend klarer Stimme erwiderte er dann: „Sie sagen die Wahrheit nicht, Herr Rutenberg, weil Sie sie nicht wissen. Nicht ein Betrüger war mein Vater, sondern betrogen wie Sie. Die andern, die andern hatten ihn getäuscht. Und das trieb ihn dann in die Verzweiflung, in den Wahnsinn und in den Tod!“

„Herr, beweisen Sie das!“ rief Rutenberg aus. „Worten glaub’ ich nicht. Worte, Worte hatte auch Ihr Vater, die waren alles, was er uns zurückließ. Dann – fort übers Meer – und dann in die andere Welt!

„In die andere Welt,“ wiederholte Waldeck mit bitterem Lächeln. „Dahin ging er ja, weil er es nicht mehr aushielt, in dieser Welt so beschimpft zu leben. – und weil die Verzweiflung ihm den Verstand verwirrt hatte. Noch auf dem Sterbebett hat mir meine Mutter – die nie eine Lüge auf der Seele hatte, glauben Sie mir das – noch in der letzten Stunde, eh’ sie das Bewußtsein verlor, hat sie mir beteuert: dein Vater war ohne Schuld! Aber die blinde Wut der Menschen, die giftigen Verleumder brachen ihm das Herz –“

Jetzt fuhr Rutenberg wieder in die Höhe. „Junger Mensch, von wem reden Sie? Wer sind die Verleumder? – Geben Sie [688] besser acht, was Sie sagen. Sie können weder Ihren Vater noch Ihre Mutter aus dem Grabe rufen, schaffen Sie Beweise, die für Ihren Vater und Ihre Mutter zeugen –“

Waldeck zuckte hilflos die Achseln.

„Oder reden Sie nicht von giftigen Verleumdern! – Als diese Bank damals in den Erdboden versank, und nichts als einen wertlosen Haufen bedruckter Papierbogen auf der Welt zurückließ – und der oberste dieser Schurken, der Direktor, mit seinem Sekretär in irgend ein unbekanntes Land verduftete – warum blieb Ihr Vater nicht da, wo sein Platz war, und stellte sich dem Gericht, um sich zu reinigen – wenn er sich schuldlos fühlte? Warum ging er auch, bei Nacht und Nebel, über den Ocean? Warum that er nichts, gar nichts, um es gut zu machen? Warum wurde er still wie das Grab, statt für seinen guten Namen zu reden und zu zeugen, so lang’ er noch Atem hatte? – Herr, wenn so die Unschuldigen handeln, dann kenne ich die Welt nicht. Ich hab’ Ihre Mutter bedauert, ich kann Sie bedauern aber Ferdinand Waldeck –“

Er machte mit dem Arm, den er erhoben hatte, einen langen Strich nach unten durch die Luft „So tief, wie die Erde ist,“ setzte er dann mit der ganzen Kraft seines überströmenden Gefühls hinzu, „ist der Abgrund zwischen mir und ihm!“

„Und seinem Sohn,“ ergänzte der unglückliche Waldeck langsam, nachdem er wieder einen tiefen Atemzug gethan hatte. Er trat hinter sich und stieß dabei gegen einen der Spieltische. Auf den blickte er dann verstört. „Ich hab’ also meine Antwort,“ murmelte er, nachdem er sich eine Weile gesammelt hatte. „Also leben Sie wohl“ – Er ging zur Thür.

„Sie haben keine Beweise?“ fragte Rutenberg hinter ihm her, um doch noch etwas zu sagen.

Der Jüngling schüttelte den Kopf. „Die hier verlangt werden, nein, die nicht. – Ich kann die Toten nicht aus dem Grabe rufen. O, Sie haben recht. – Dennoch weiß ich, mein Vater – –“

Er brach aber mit einem Seufzer ab, der tief aus der Brust stieg. Mit überraschend frühreifer Würde verneigte er sich darauf gegen beide, und sagte zu Rutenberg: „Ich bedaure, wenn ich Sie an so einem Tage des Vergnügens störte. Leben Sie wohl!“

Etwas taumelnd, dann wieder fest und sicher kam er aus der Thür.

6.

Die beiden, die zurückblieben, waren eine Weile still. Daß er immer wie aus Holz geschnitzt dasitzt, dachte Rutenberg, der seitwärts auf den regungslosen Schilcher blickte; manchmal ist’s doch unerträglich. – „Hm!“ machte er selber endlich, um die Stille zu unterbrechen. „Ferdinand Waldecks Sohn. – Auch ein Schicksal. – Armer Junge …“

Schilcher brummte etwas, aber nach seiner unausstehlichen Art so leise, daß man’s nicht verstand.

„Was sagst du?“ fragte Rutenberg. „Nichts,“ antwortete Schilcher und erhob sich von seinem Stuhl.

„Hab’ ich ihm unrecht gethan, Schilcher? – Hab’ ich etwas gesagt, das dir nicht gefällt? Ging es wieder mit mir durch? – Aber um des Himmels willen, konnt’ ich denn schweigen, Schilcher? Oder sollt’ ich sagen er war unschuldig, ja, ja, Sie versichern es, also glaub’ ich es –?“

„Nein,“ warf Schilcher hin, der auf seinen Weg zur Thür sah und seine Halsbinde rückte. – „Ich muß mich nun also auch verschönern. Eh’ zur Polonaise geblasen wird, bin ich wieder hier.“

Es mißfiel Rutenberg, daß der andere in diesem Augenblick die Polonaise erwähnte. „Ich bitte,“ sagte er verstimmt. „Ja, ja. – – Die ganze Festtagslaune, die ist hin, Schilcher!“

„Wird wiederkommen. Das geht fix bei dir.“ Schilcher hustete und machte die Salonthür auf, um in seine Junggesellenwohnung im oberen Stock zu gehen.

„Na ja!“ brummte Rutenberg. Er wollte aber den „Heimtücker“ nicht so stumm hinauslassen, darum fing er noch einmal an: „Ferdinand Waldecks Sohn …“

Richtig, jetzt drehte sich der kleine Schilcher herum und sah dem alten Freund ins Gesicht. „Der wird einmal ein Mann,“ sagte er in äußerer Ruhe. „Ein richtiger.“ Dann schob er sich aus der Thür.

Rutenberg lächelte einen Augenblick, nickte nach einer Weile, versank in immer tieferes Nachdenken und ging in sein Wohn- und Arbeitszimmer zurück. In diesem behaglich geschmückten Raum – nicht reich, denn er war bei einfachen Gewohnheiten geblieben – vertrug er sich mit seinen Gedanken am besten und dachte sie am leichtesten bis zu Ende durch. In den alten bequemen Lehnstuhl gesunken, den er vom Vater geerbt hatte – sonst war fast alles eigene Erwerbung – fühlte er sich ganz eigen zurückgeworfen in die Jugendzeit, da er sich mit Ferdinand Waldeck befreundet hatte … Das war die Aehnlichkeit, dachte er; dieser Fritz erinnerte mich im ersten Augenblick an den Vater. Aber wie sie doch verschieden sind! der Sohn sieht interessanter aus, ein merkwürdiger Knochenbau. Und ein ganz anderes Feuer in den Augen – in dem Jungen ist mehr, viel mehr. Der alte Heimtücker, der Schilcher hat recht: „Der wird einmal ein Mann!“ – Rutenberg sann nach – zehn Jahre war es jetzt her, daß er den Fritz Waldeck hier in seiner Vaterstadt gesehen hatte, da gab ihn der Vater von Berlin hierher aufs Gymnasium, damit der etwas zarte Junge in einer kleineren Stadt recht gesund heranwüchse. Damals war er zwölf Jahre alt, also jetzt zweiundzwanzig … Na ja, dachte Rutenberg, dann sah ich ihn bald nicht mehr wieder, weil ich meine Fabrik in Warnowrande gegründet hatte. Und als ich die hierher verlegte und größer machte, da war ich mit Waldecks weltweit auseinander …

Er rückte jetzt mißmutig in dem alten Lehnstuhl; es gefiel ihm nicht, daß Schilcher so gegangen war, offenbar mehr auf Fritz Waldecks Seite, offenbar nicht zufrieden mit den rücksichtslos empörten Worten des alten „Durchgängers“ Rutenberg. Und dieser Durchgänger hatte sich so sehr gewöhnt, auf den alten Nußknacker zu hören, wie wenn es sein ganz persönlicher nur für ihn angestellter „Oberappellationsrat“ wäre – nicht eher mit sich einig zu sein, als bis er auch mit dem kleinen holzgeschnitzten Mann sich einig wußte. Er vertiefte sich in die Frage: hab’ ich wieder unrecht? – Dann mußte er doch auch gegen den Vater Waldeck unrecht haben und das hatte er nicht! Gegen diesen Vater, den er einst mit seiner ganzen überschwenglichen Herzlichkeit geliebt hatte, der in diesem Augenblick lebendig, leibhaftig vor ihm stand wie in alten Zeiten, als der so gerngläubige Rutenberg noch geschworen hätte: der ist echtes Gold …

Er lächelte auf einmal, aber unruhig, beklommen und jetzt verliebt sein Sohn sich in meine Gertrud. – Das ist denn doch wirklich eine närrische und verrückte Welt!

So mochte er wohl lange dagesessen haben er erwachte wie aus einer Art von Traum, als durch die Thür zum Bücherzimmer, die er offen gelassen hatte, seine Gertrud eintrat. Sie kam in ihrem leichten, schwebenden Gang, den er mit so viel Vaterstolz liebte und in dem sie ihre einst so anmutige Mutter doch noch übertraf. Das schlichte rosafarbene Ballkleid, das auf der schlanken Gestalt wie ein zarter Duft lag, stand ihr wirklich gut, auch die frischen Blumen im seidigen dunkelblonden Haar, das sich auf der leuchtenden Stirn so angenehm natürlich kräuselte, obwohl er wußte, daß es gebrannt war. Sie kam mit Wyttenbachs Bouquet in der Hand, mit dem strahlenden Rutenbergschen Lächeln. „Da bin ich!“ sagte sie, wie ein Lieutenant vor dem Oberst salutierend.

„Bravo!“ sagte der Vater, sogleich wieder vergnügt „Rosig wie der junge Tag!“ – – In die ist Fritz Waldeck verliebt, fuhr ihm aber auf einmal wieder durch den Kopf. Ihm ward unbehaglich. „Komm einmal her, mein Kind,“ sagte er so harmlos wie nur irgend möglich.

Sie trat vor ihn hin. „Du solltest der erste sein, der mich so sieht! – Hab’ nur vorher noch die Anstalten für den Ball revidiert. Alles in Ordnung. – Na? Aber was hast du denn? Ich glaub’ gar, du machst ein sorgenvolles Gesicht?“

„Nein, nein –“

„Gefall’ ich dir nicht?“

„Närrin! – Sehr. – Sehr gelungen, Gertrud. – Nun sag’ aber ’mal: du kennst einen Herrn Waldeck, nicht wahr? Einen jungen Mann –“

„Ja, ein wenig, ja!“ warf sie so natürlich gleichgültig hin,

[689]

Am Schluß der Saison.
Nach einer Originalzeichnung von G. Mühlberg.

[690] daß es ihm Freude machte. Darauf fing sie an zu lächeln. „Du, der hat mich vorhin schön verlegen gemacht; ich hab’ ihn verwechselt. Mir war so, als müßte er Herr von Hiller heißen. – Mein Gott,“ setzte sie übermütig lustig hinzu, „wenn man so viele junge Männer kennt!“

Freilich, sagte Rutenberg ebenso lustig, dabei atmete er beruhigt auf. „So viel merk’ ich, Trudel, einen sehr lebhaften Eindruck hat er dir nicht gemacht.“

Sie schüttelte die schönen Löckchen: „Er? – Nein, O nein!“

„‚Er’ nicht! wiederholte der Vater, noch ganz arglos lächelnd. „O nein! das könnt’ ja so klingen, wie wenn –“

Bei diesem wenn brach er aber ab. Lieber gar nicht von der Möglichkeit reden, dachte er; man male nur nie den Teufel an die Wand! …

Das Mädel blickte ihn etwas unsicher an. „Wie wenn was –?“ fragte sie.

„O nichts. Gar nichts von Bedeutung. – Siehst poetisch aus, Kind.“

„Also ich gefall’ dir doch?“

„Ganz entschieden gefällst du mir,“ sagte er mit dem sachlichen Vatergesicht und streichelte ihr vorsichtig über das blumengeschmückte Haar. „Kein Geflitter und kein Geprunk, einfach, simpel, siebzehnjährig. So lieb’ ich’s.“ – Er steigerte sich drollig, in seiner inneren Heiterkeit. „Ja, ja, ja, so lieb’ ich’s!“ Und sich so recht zufrieden über sie neigend, küßte er sie auf die Stirn.

„Ach,“ dachte Gertrud in ihrer jungen, selig schmachtenden Seele, wie gern möcht’ ich’s ihm jetzt sagen! Könnt’ ich’s ihm jetzt sagen! – Sie fühlte, ihr kam der Mut, und das Geheimnis drückte sie, so süß es zuerst gewesen war, es drückte sie jetzt. Auf einmal begann sie mit seiner Hand zu spielen, sie versuchte, seine großen goldenen Ringe hin und her zu schieben; dann streichelte sie über die Finger hin. „Du! Vater!“ fing sie an. „Wie wenn was –?“

Er verstand sie noch nicht „Was meinst du, Kind?“ fragte er.

„Ach, du sagtest vorhin ,das könnt’ ja so klingen, wie wenn’ – –“

Sie sah ihm mit einem raschen Blick ins Gesicht, dann wieder auf seine Hand.

Zuerst nur verwundert, dann betroffen, starrte er sie an. Erst nach einer Weile brachte er heraus: „Warum fragst du noch einmal? So neugierig? – Wie? Jetzt wird sie rot! – Er nahm ihre Hand, die noch auf der seinen lag, und sah ihr fest in die Augen. Alle Teufel! dachte er. Wenn dieses Kind einen Andern –

Nein, sagte er sich geschwind, um diesen Schreck wieder abzuschütteln, und ließ ihre Finger los, – nein, das ist unmöglich. Das thut mir das Kind nicht an. – Nur nichts merken lassen …

Er schaute umher, er wollte sich etwas zu schaffen machen, sein Blick fiel auf die offene Thür und auf die Spieltische im Bücherzimmer. „Mir war doch so,“ warf er hin, „als hätte Brink auf den Rauchtischchen die Aschenbecher vergessen. Will doch mal sehn –!“

Damit ging er schon durch die Thür. Im Bücherzimmer sah er nun freilich, daß er den alten Pedanten, den Brink, falsch verdächtigt hatte: an Aschenbechern fehlte es nicht. Dagegen überfiel ihn jetzt ein zweiter Schreck. Gertrud kam ihm nach, trat zu ihm, als er still stand, und legte mit einer plötzlichen Bewegung ihr Gesicht stumm an seine Brust.

„Um Gottes willen!“ entfuhr ihm, indem er zusammenzuckte. „Was hast du?“

„O, nichts Trauriges,“ sagte sie leise. „Süßer alter Vater du. Du bist so gut gegen mich, und machst mich heut’ so glücklich …“

Er atmete etwas erleichtert auf. „Dankbarkeit?“ fragte er.

„Ja, Dankbarkeit und – –“ Sie brachte eine Art von Lächeln zustande, das ihm aber nicht gefiel, und sagte wieder leise: „Er nicht! O nein!“

„Gertrud!“ stieß Rutenberg hervor. „Was heißt das?“ Jetzt flüsterte sie nur noch: „Kannst du’s nicht erraten?“

Unwillkürlich, und ohne es zu wissen, drückte er das Mädel langsam von seiner Brust hinweg, sah sie nicht mehr an und ging durchs Zimmer. Hinter einem der Tische blieb er dann wieder stehn, hob in seiner Ohnmacht den Arm ein wenig; fortlaufen konnte er dem Schicksal ja doch nicht – „Trudel!“ sagte er. „Du bist toll!“

Sie schüttelte den Kopf.

„Du bist toll, Trudel.“

Sie schüttelte ihn wieder. So recht weich und sanft sagte sie dann „Warum sollt’ ich toll sein? – Ich möcht nur vor dir kein Geheimnis haben …“

Rutenberg horchte, was nun noch kommen werde. Sie war aber still. Die innere Unruhe fuhr ihm in die Finger, er nahm die neuen Spielkarten von dem Tisch, hinter dem er stand, zog sie aus dem Umschlag, legte sie wieder hin. Dann nahm er ein Häufchen davon ab, warf es auf den Tisch. Es war doch eine Art von Thätigkeit, drum fuhr er auch damit fort, ohne es zu wissen. Unglückliches Kind! sagte er, wieder ein Häufchen hinwerfend. „Du bist siebzehn Jahre alt!“

„Eben darum!“ erwiderte sie leise.

„Ich glaube, du bildest dir ganz im Ernst ein, dich ernsthaft verliebt zu haben –“

„Ach!“ seufzte sie, vor sich niederblickend. „Ich weiß es, Vater!“

„Was sagst du?“

Sie lächelte ihn nun etwas mutiger an. „Ich sagte nur, ich weiß es!“

„So! – Und wer ist dieser andre?“

„Wer? Arthur van Wyttenbach …“ Rutenberg ließ die Karten, die er noch in der Hand hatte, vor Schreck auf den Tisch fallen. „Heiliger Gott!“ rief er aus.

„Was ist dir?“ fragte sie.

„Arthur van – Arthur van – Dieser –! Der Name „Wyttenbach“ blieb ihm in der Kehle stecken.

„Ja, Vater. Ja, der ist’s, lieber, guter Vater. Und wenn du mir nicht erlaubst, ihn zu heiraten – sie suchte zu lächeln, es sah aber sehr ernsthaft aus – „dann sterb’ ich!“

Rutenberg schob die Spielkarten auseinander, daß sie den ganzen Tisch bedeckten „Da haben wir’s,“ sagte er. „Dann stirbt sie. – Unsre Antigone. – Schilcher! Schilcher!“

„Warum rufst du Schilcher?“ fragte das Mädchen ängstlich. „Was soll der? – Lieber, süßer Vater …“

Ihre Stimme war so rührend weich; sie ging ihm zu Herzen. „Lieber, süßer Vater“ – das machte ihm wieder etwas Mut. Er faßte sich so nach und nach. Ihm half dabei, daß er die Karten langsam wieder zusammenschob. „Komm her, Kind!“ sagte er dann, nicht so weich wie sie, aber ganz ohne Strenge und ohne Härte. „Setz dich. Da an den Tisch! – Sie kam und setzte sich. Er stellte sich vor sie hin. – „So, nun laß uns mal ruhig reden. Sitz’ still. Also du liebst ihn, sagst du. Diesen – –“

Er sprach nicht weiter. Sie nickte. In ihrem Ballkleid, mit den Rosen im Haar, saß sie so unheimlich romantisch da, als gehöre die Liebe selbstverständlich dazu, als sei es ganz natürlich, daß sie jemand liebte.

„Und er liebt dich,“ fragte Rutenberg weiter. „dieser – -“

Sie nickte.

„Und ihr wollt euch heiraten –“ Sie nickte wieder.

„Und wenn ich es nicht erlaube, dann stirbst du.“

Sie lächelte, doch dann nickte sie, wieder mit ihrem ernsthaften siebzehnjährigen Gesicht.

„Und dieser Bund der Seelen dauert wohl schon lange –“

Nun schüttelte sie den Kopf. „Noch nicht lange, Vater. – Aber so sehr! so sehr!

In einem Anfall von humoristischer Verzweiflung schlug Rutenberg die Augen zum Himmel auf. Einen „Hansquast“ nannte ihn Schilcher! fuhr ihm durch den Sinn. Ahnungsloser Schilcher! Na, und ich? Ich nannte ihn „Ballfutter“. Ahnungsloser Vater! – Er schaute wieder seine romantische Ballnixe an. „Wofür hältst du ihn, Gertrud?“ fragte er, sich wieder fassend, so gut er konnte.

„Wen?“ fragte sie.

„Nun ihn, diesen – – den Jüngling.“

[691] Wofür ich ihn halte? – Ach, Vater, wie fragst du nur. Für das, was er ist, für den besten, liebenswürdigsten, edelsten Menschen auf der Welt!“

„Und für den begabtesten –“

„Ja,“ sagte sie mit einem rührend ernsten Nicken. „Er kann alles, Vater. Die andern, die können dies oder das, er kann alles, Vater. – Es trieb sie von ihrem Stuhl in die Höhe: „Ach, und sein Herz –!“

„Bitte, bleib sitzen, Kind!“ unterbrach er sie. In träumerischem Gehorsam sank sie wieder hin. „Ich weiß,“ fuhr Rutenberg fort. „Er kann allerlei, so von allem etwas. Er tanzt gut, sehr gut. Er spielt Klavier. Er hat einen hübschen Tenor –“

Gertrud schüttelte den Kopf. „Bariton.

„Bariton, richtig. Er schneidet aus schwarzem Papier Silhouetten aus. Er singt Lieder in allen möglichen Sprachen.“ Er malt etwas. Er macht sogar Verse, wie ich heut’ erlebt habe –“

Sie nickte und lächelte dankbar.

„Er kleidet sich elegant,“ fuhr der Vater fort. „Er spricht so fließend wie ein Parlamentsredner, dieser junge Mensch … Du siehst, ich weiß alles. Wenn ich dir nun dennoch sage meine liebe Gertrud, schlag dir den aus dem Sinn, der ist kein Mann für dich –“

„Vater!“ rief sie ganz erschrocken und stand wieder auf.

Diesmal drückte er sie aber mit sanfter Hand auf ihren Stuhl am Spieltisch nieder. „Bitte, bleib sitzen, Kind! – Muß mich selber setzen; bei mir kommt alles nachträglich“ … So auch dieser Schreck! dachte er, sagte es aber nicht. „Sieh mich an!“ sagte er dann weich, nachdem er seinen Sessel näher gerückt hatte. „Wir haben uns ja immer gut verstanden, meine kleine Gertrud. Ein unvernünftiger, strenger Vater bin ich nie gewesen, was?“

Sie schüttelte wieder die Löckchen aber eine Unruhe, eine Bangigkeit flog über ihr Gesicht, das die Rosen auf den Wangen weggegeben hatte.

„Hab’ mich immer hineingedacht in das kleine Köpfchen, in das Mädchenherz. Na, und zuletzt wurden wir immer einig. Vater Rutenberg, der ältere, hat recht! – Also wenn ich mich nun heut’ in Ruhe fasse – du siehst, wie wunderbar ruhig ich jetzt bin – und zu meinem Mädel sage. Kind, du bist gut – bist klug – aber um zu wissen wer der Rechte ist, bist du noch zu jung, glaub’ dem erfahrenen, alten Rutenberg, der die Männer kennt, der ist nicht der Rechte! – dann wird meine liebe Gertrud –“

„Nein“ sagte sie, ebenso ruhig wie er, und stand zum drittenmal auf. Nein? „Nein“ wiederholte sie. Mit einem süßen, altklugen Lächeln setzte sie hinzu. „Verzeih', das verstehst du nicht. Lieber, guter Vater.-“

„Das versteh’ ich nicht?“

„Ach!“ seufzte sie. „du quälst mich. Ach, du weißt es nicht! – Ich hab’ ja mein Herz geprüft, lieber, guter Vater und die Stimme in meinem Herzen sagt es mir, und die lügt nicht, Vater. Ja, das ist der Mann, der für mich geschaffen ist, nie kann ich einen andern lieben als ihn, und ich werd’ ihn lieben und an ihm hängen bis an meinen Tod!“

Nun erhob sich Rutenberg auch, mit seiner Ruhe und Fassung war’s aus. Er riß den Frack vorne auf, er hatte ihn zugeknöpft; er fing wieder an, durchs Zimmer zu laufen, die verwünschten Spieltische standen ihm im Wege, gegen den dritten rannte er an, und einen Augenblick hob sich seine Faust, um ihn umzustoßen. Die ist ja wirklich toll, dachte er. Und sie macht mich toll. Ah! Da soll doch gleich –

Er war wieder bei den Spielkarten, die er vorhin ausgebreitet und dann zusammengeschoben hatte; mit einem jähzornigen Griff packte er sie und wollte sie auf die Erde werfen. Er hielt sie dann aber doch noch fest. Nein! sagte er zu sich, so toll bin ich doch noch nicht! – Dann wär’ ich ja wie das Kind, und wär’ nicht der Vater. Wenn das Schilcher gesehen hätte! Wie würd’ der mich auslachen. Wenn so ein Kind Dummheiten macht, dafür ist sie ja doch das Kind! – Rasch, nach seiner Art, hatte er wieder sein altes, freundliches, liebevolles Vatergesicht, legte noch ein gutes Lächeln hinein, da er seine Trudel so bleich und beklommen da stehen sah, und kam gemütlich langsam zu ihr zurück. „Schau,“ sagte er, sie anlächelnd. „Das Kind spricht ja wie ein Buch. Fließend, und resolut – resolut wie immer, – als Vater Rutenbergs Kind. – Wenn ich nun wär wie die andern Väter, so würd’ ich dem Kind eine Scene machen. Trotzkopf! Keckes Ding! Ich weiß es besser und ich sag’ Nein und dabei bleibt’s! Punktum! – Aber nein, so bin ich nicht. So ein Mädchenherz, und so ’ne junge Liebe, sind ’ne ernste Sache… Ich kenn’ meine Trudel ja. Die ist ja nun kein Kind mehr, dem kleinen Herzen, dem sind Flügel gewachsen – die bekannten Flügel, die uns geradeswegs in den siebenten Himmel tragen – na ja, und weil es ein edles, feines, schwärmerisches Herz ist, darum sieht es auch mit verklärten Augen in die Welt, sieht nichts als lauter Himmel um sich her, und fühlt nichts als hohe, heilige Gefühle. Und darum denkt es dann: Hab’ ich nicht recht? – Wir andern, wir alten Leute, kriechen unten auf der Erde, Gertruds Herz schwebt oben, in einem schönen, goldenen Sonnendunst; durch den sieht es einen himmlischen Adonis, einen holden, idealen, vollkommenen Jüngling sein Name ist Arthur van Wyttenbach …“

Vater Rutenberg hielt inne. Sein gutes Gesicht, seine herzliche Stimme hatten dem geängstigten Mädchen wieder Mut gemacht; sie schob sich leise heran, die liebe Gestalt lehnte sich an ihn. „Ach! Vater!“ sagte sie, mit einem Arm unbewußt über seinen Rücken streichend. „Ich seh’ ihn so, wie er ist – und ich muß ihn lieben!“

„Na ja!“ entgegnete Rutenberg lächelnd, dem ihre Hand im Rücken so wohl that, er streichelte ihr dagegen das Haar und die Stirn. „Du mußt ihn lieben das ist nun einmal so; natürlich. Also gut, der Vater giebt nach, und wir heiraten ihn! Und nun kommen wir dann so allmählich aus dem Sonnendunst und Aetherduft etwas mehr nach unten – immer etwas tiefer – bis pur ganz unten auf der alten Erde und, in der Wirklichkeit. Da wird dann aus dem idealen Jüngling Arthur van Wyttenbach ein netter, alter junger Mann, der noch manchmal abends aus schwarzem Papier Silhouetten schneidet, der gut ißt und trinkt, alles praktisch einrichtet, alles ruhig und nüchtern’ ansieht, über alles reden kann, ohne was zu sagen der sein ‚kleines Frauchen’ auslacht, weil sie noch immer so eine ‚komische Idealistin’ ist und endlich das ‚kleine Frauchen’ durch seine Suada aus der Thür hinauslangweilt … Und dann kommt sie zum Vater: Lieber guter Vater, laß uns wieder scheiden sonst sterb’ ich!“

Gertrud hatte ihren Arm von ihm sinken lassen, war zurückgetreten; die großen, hellbläulichen Augen sahen ihn wie in starrem Entsetzen an. „Vater!“ stammelte sie. „Ich bitte, scherz’ nicht so mit mir. Ich versteh’ dich nicht. Ist das – – ist das deine wirkliche Meinung von ihm?“

„Ja, mein Kind, so wahr ich lebe, das ist meine Meinung!“

„O mein Gott!“ stieß sie jetzt schwach heraus. „O mein Gott!“ – Ihre Augen wurden wie leblos, schlossen sich halb, sie drohte umzusinken. „Und ich,“ sagte sie mit fast vergehenden aber doch noch trotzender Stimme, „nie, nie, nie werd’ ich von ihm lassen …“

Damit sank sie auf einen Stuhl.

„Gertrud!“ rief Rutenberg aus und trat hinzu; er fürchtete, sie werde sogleich wie ein geknicktes Pflänzchen auf die Erde fallen. Doch als sein gesundes, starkes Mädel kam sie wieder zu sich, sie öffnete die Augen – sowie sie aber den Vater sah, schlug sie sich beide Hände vors Gesicht. Fast hätte er dasselbe gethan ihm war ganz so zu Mute. Also nie, nie, nie, dachte er, wird sie von ihm lassen von dem Bengel da, dem Süßholz, dem „Hansquast“. Meine Tochter … Heiliger, großer Gott!“ – Er war außer sich, er warf die Karten, die er in der Hand hatte, alle auf den Boden hin.

Gertrud fuhr zusammen. „Was hast du?“ sagte sie, die Hände von den Augen nehmend.

„O, nichts,“ antwortete er. „Ich werfe nur die Karten auf die Erde!“

(Fortsetzung folgt.)

[692] ----

Blätter und Blüten.

Schloß Burg an der Wupper. (Mit Abbildung.) Wo der Eschbach, der so vielen Hammerwerken des nach ihm benannten Thals die Triebkraft seines Elementes spendet, in die hier scharf nach Nordwesten umbiegende Wupper fließt, liegt zur Hälfte im Thal und zur Hälfte auf einem waldreichen Höhenzuge das Städtchen Burg, und auf dem breiten, steil abfallenden Bergrücken hoch oben lagert sich in malerischster Weise das aus Schutt und Ruinen zu neuem Glanz erstandene Schloß Burg, die Stammburg der alten Grafen und Herzöge von Berg. Vor zehn Jahren waren hier nur die kläglichen Ruinenreste des gewaltigen Burgwerkes zu sehen, dessen Ursprung auf das 11. Jahrhundert zurückgeht. Als Graf Adolf I. seinen Sitz Altenberg dem Cistercienserorden überließ, verlegte er seine Residenz nach Burg (1133 bis 1160), das, mehrfach verändert und erweitert, auch noch ein Lieblingsaufenthalt der bergischen Grafen und Herzöge blieb, als sie um 1300 in dem neuerstandenen Düsseldorf ihren dauernden Wohnort genommen hatten. Das Andenken bedeutsamer geschichtlicher Ereignisse und manche Sage haften an dieser bergischen Landesburg. Hier saß 1288 nach der Schlacht bei Worringen (vgl. S. 507 des laufenden Jahrgangs der „Gartenlaube“.) der gefangene Erzbischof Siegfried von Westerburg in ritterlicher Haft. Im Dreißigjährigen Kriege wurde Schloß Burg, welches hessische Besatzung hatte, durch den kaiserlichen Obersten Sparr mit Kanonen und Brandkugeln zur Uebergabe gezwungen und dann 1648 bei dem Abzug der kaiserlichen Truppen zerstört. Nach der Wiederaufrichtung des deutschen Kaisertums hat der pietätvolle Sinn und werkthätige Eifer des bergischen Volksstammes in freiwilliger Arbeit die Wiederherstellung des alten großartigen Bauwerkes in Angriff genommen.

Schloß Burg an der Wupper.

Es bildete sich unter dem Vorsitz von Julius Schumacher in Wermelskirchen ein besonderer Verein zur Erhaltung der Schloßruine. Unter der Leitung des Baumeisters G. A. Fischer in Barmen, der mit feinsinnigstem und gründlichstem Verständnis bei seiner Rekonstruktion vorging, ist innerhalb dieser letzten verflossenen zehn Jahre ein Teil des Schlosses nach dem andern wieder erstanden. Nur der auf unserer Ansicht so stark hervorragende Wartturm ist noch im Bau begriffen. Die Kosten des Gesamtbaues belaufen sich auf etwa 400000 Mark. Viel ist auch bereits für die künstlerische Ausschmückung im Innern gethan worden und mehr wird noch gethan werden. Dank seiner landschaftlichen Lage und seinem historischen und künstlerischen Charakter wird das eigenartige romantische Schloß einen wichtigen Anziehungspunkt für den Fremdenverkehr bilden. H. M.     

Auf dem Anstand. (Zu dem Bilde S. 677). Wir jagten Ende Oktober im Rehberger Walde, einem unmittelbar an der Grenze der norddeutsche Tiefebene sich erhebenden Bergrücken, von dessen Höhe man in die Hannoversche Ebene mit ihren grünen Wiesen, Heiden, Mooren und Sandländereien hineinblicken kann, so weit das Auge reicht oder der dünne, die Ferne verschleiernde Dust es erlaubt. Es war Abend geworden, die Strecke gemacht, der langbebartete Jagdherr hatte sein Rehbock-, Hasen- und Fuchstod in die Dämmerung hinausgeblasen und der Jagdzug setzte sich zur Heimkehr in das nahe Städtchen in Bewegung. Wir aber schritten noch durch die Felder auf die nahe moorige Wiese, um Enten zu schießen, die um diese Jahreszeit vom Steinhuder Meer über die Wiesen und Moore nach den Feldern, Gräben und Teichen zur Aesung streichen. In kurzer Zeit erreichten wir unser Ziel. Es war Sumpfboden. Wir sanken bis an die Knöchel ein und wo man den Fuß fortzog, sammelte sich das Wasser. Wir stellten uns in langer Reihe weit auseinander ohne Deckung hin, und bald war es so dunkel geworden, daß wir den nächsten Nachbar kaum noch sehen konnten.

Ich hatte vielleicht eine Viertelstunde gestanden, da stieg weit links von mir ein kurzer, raketenartig sprühender Feuerstrom schräg aufwärts – – bum! noch einer – bum! und jetzt hörte ich vor mir in der Luft ein leises Geschnatter, das rasch vernehmlicher wurde, dann hörte ich auch das pfeifende Fitfitfit! der Schwingenschläge von heranstreichenden Enten und sah links von mir, fast in einer Linie, aber hoch, dunkle Schatten hinziehen, die sich kaum vom lichten Himmel abhoben. Rasch den Kolben an die Wange – – bum! – – alles verschwunden – – dort sind die Schatten wieder – bum! – – wupp! – Es war was gefallen, auf dem Boden aufgeschlagen – ich hatte es gehört. Jetzt knallte es öfters in der Ferne. Aber vor mir fing es an, weiß zu werden. Vom See und den nassen Wiesen kam ein Nebelstreif herangezogen und machte der Jagd ein Ende. „Luska, such verloren!“ Meine Hündin lief in die Nacht hinein und es dauerte auch nicht lange, so kam sie zurück – die Ente im Fange. K. B.     

Ein Ehrentag Hamburgs. (Zu dem Bilde S. 680 und 681). Zum Schutz ihrer Handelsflotte bauten die Hamburger im Jahre 1668 ihre ersten beiden wirklichen Kriegsschiffe, den „Kaiser Leopold I“ und das „Wappen von Hamburg“. Das Orlogschiff „Kaiser Leopold I“ unter dem Kommando des Kapitäns Jakob Karpfanger hatte die Aufgabe, die Hamburger Handelsflotten nach dem Mittelmeere und nach Grönland zu convoyieren, wie man damals den bewaffneten Schutz zur See nannte. Karpfanger räumte unter den algerischen Seeräubern tüchtig auf. Seine größte Heldenthat vollbrachte er jedoch, als zwischen Hamburg und Frankreich Zwistigkeiten ausgebrochen waren, im Kampfe mit einem französischen Kapergeschwader.

Am 11. September 1678 wurde er, als er mit der heimkehrenden Grönlandflotte in die Elbe einsegeln wollte, von fünf gut armierten französischen Schnellseglern angegriffen. Sofort warf er sich dem Feinde entgegen und manövrierte so vortrefflich, daß nach zwölfstündigem hitzigen Gefecht zwei feindliche Schiffe in Grund sanken, während die übrigen unter dem Schutze der Nacht entkamen. Hamburg jubelte dem Sieger zu.

Unser Bild zeigt das Ende des Kampfes. Die Sonne ist hinter grauen Wolken untergegangen. Kapitän Karpfanger manövriert mit seinem mächtigen Orlogschiffe „Kaiser Leopold I“ bei Backstagswind zwischen zwei feindlichen Schiffen, von denen das eine im Sinken begriffen ist und das andere in Flammen aufgeht, hindurch. Während er dem letzteren noch eine glatte Lage giebt, feuert er mit seinen Bugkanonen auf den dritten weiter zurückliegenden Kaper. Die Geschütze der Steuerbordseite sind ausgerannt, um den Gegner zu enfilieren, d. h. der Länge nach mit seinen Geschossen bestreichen zu können. Die Mannschaften der sinkenden französischen Fahrzeuge suchen sich in die Boote zu retten. Im Hintergrunde sieht man die freisegelnde Hamburger Grönlandflotte. H. B.     

Am Schluß der Saison. (Zu dem Bilde S. 689.) Es wird wahrhaftig hohe Zeit zur Heimreise! Dem schönen Sonnenschein sind wieder schlechte Tage gefolgt, mit schwarzen Wolken und endlosen Regengüssen, der erste Herbststurm hat heute nacht die welken Blätter der Bäume weggefegt, der nahe See aber überflutet in raschem Steigen bereits Ufer und Schiffstege. Wie ungemütlich! Was soll man bei solchem Wetter noch länger hier aushalten … Die Gesellschaft geht, wie in früheren schönen Tagen, den gewohnten Uferweg, aber fröstelnd und mißvergnügt. Nur einzelnen Damen ist es ja vergönnt, ein vorsorglich mitgebrachtes warmes Mantelet als elegante Neuheit an diesem letzten Tage zu zeigen und dadurch, wie die vordere Schöne unseres Bildes, in rosigste Stimmung zu geraten. Drei Tage später ist die bunte Gesellschaft verflogen und die Promenade vereinsamt. Still und verödet liegt der Ort da, bis im nächsten Sommer die Wandervögel wieder erscheinen.


Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 41/1897 ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.