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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[469]

Nr. 28.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.
(8. Fortsetzung.)

Daß Hildegard Leuthold in ganz Glaustädt eines ausgezeichneten Rufes genoß, daß sie für eine fromme, verständige, ehrbare Jungfrau, für die beste und zärtlichste Tochter, für die treueste Wohlthäterin der Armen galt, das war dem Blutrichter Xylander zwar nicht unbekannt, denn seine Nichte Bertha hatte ihm jüngst noch während des Aufenthaltes in Königslautern von ihr erzählt. Aber dergleichen sprach dem Verdachte der Hexerei überhaupt nicht mit. Neulich erst hatte man ja einen ähnlichen Fall erlebt mit der Wedekindin. Der ewige Widersacher wählte mit Vorliebe derartige lichte Gefäße für sein teuflisches Gift aus. So betrog er die Menschheit am leichtesten. Auch der Gedanke, daß in dem Brief mit der furchtbaren Bezichtigung ein Akt der Rache und der schnödesten Niedertracht vorliegen könnte, fand nicht Raum in Xylanders blindem Gehirn. Der Unbekannte schrieb ja so weichherzig! Er bat für die Sünderin. Er wollte die gottverfemte Hexe noch schonen.

Gut! Sein Wunsch sollte erfüllt werden! Auch sonst gedachte Herr Adam Xylander so mild und nachsichtig zu verfahren, als es irgend mit seiner Pflicht und seinem Gewissen vereinbar schien. Er selbst war ja geschädigt, um so mehr hieß es, jeder vermeidbaren Härte vorzubeugen. Eins nur blieb ausgeschlossen, und hätte der Landgraf in eigner Person den Fürsprecher gemacht: die Verletzung des Rechts. Auf diesem Gebiet

Stadt und Schloß Abenberg.
Nach der Natur gezeichnet von F. Trost.

[470] kannte der amtstreue Jurist kein Paktieren. Adam Xylander zog sich in Eile um, setzte die Mütze auf, steckte den Brief in die Brusttasche und machte sich auf den Weg zu Balthasar Noß. Unter dem Hinschreiten übersann er bereits den Fall und den mutmaßlichen Gang der Verhandlungen. Zwischendurch beschäftigte ihn doch auch die Frage, wer diese wohlgesetzte, fachkundige Denunziation verfaßt haben möge. Jedenfalls ein gebildeter, weltkluger Mann, der ihm persönlich wohlwollte. Er riet auf dieses und jenes Mitglied des Rates, zuletzt sogar – wegen der augenscheinlichen Sympathie für den Vater der Inkulpatin – auf das weinfrohe Stadtoberhaupt, Herrn Georg Kunhardt. Den wirklichen Urheber jedoch der schmachvollen Epistel streiften die blitzartigen Einfälle Xylanders durchaus nicht. Keine Persönlichkeit lag ihm ferner als der Hausnachbar der Familie Leuthold, Henrich Lotefend.

In der That war es der reiche Tuchkramer, den die Verzweiflung seiner enttäuschten Leidenschaft zu diesem gräßlichen Schritte verleitet hatte. Er spielte hier ein entsetzlich gewagtes Spiel, aber er glaubte doch immer noch an die Möglichkeit des Gewinnens. Er wollte ja keineswegs die Qual und den Tod Hildegards, seine Berechnung zielte nach wie vor auf ihren Besitz. Nach unsäglichem Hin- und Hergrübeln war er auf den Gedanken verfallen. Jetzt könne ihm nur noch eins die Neigung dieses widerspenstigen Herzens erobern – wenn Hildegard nämlich in eine furchtbare Gefahr käme, aus der seine Findigkeit und Macht sie befreien würde. Um eine solche Gefahr nun heraufzubeschwören, fand er bei allem Erwägen und Forschen nichts Wirksameres als diese heimtückische Denunziation. Jede Möglichkeit hatte er sorgfältig in Betracht gezogen, den ganzen Boden der Sachlage gründlich erforscht und vielerlei mit Eifer und Scharfsinn vorbereitet. Henrich Lotefend verhehlte sich nicht, daß ihm die ganze Berechnung fehlschlagen, daß sich das Netz des Unheils über dem Haupte Hildegards bis zur Unlösbarkeit zuziehen konnte, aber das hielt ihn nicht ab, den einzigen Weg, den er jetzt noch vor Augen sah, rückhaltslos zu beschreiten. Wenn es dann im entscheidenden Augenblick nicht mehr gelang, die rollende Kugel im Laufe zurückzuhalten – – nun, so war es für den tolleifersüchtigen Mann immer noch zehnmal erwünschter, Hildegard ging elend zu Grunde, als daß sie in jauchzender Seligkeit das Weib eines andern wurde.

13.

Balthasar Noß wohnte dicht neben dem Stockhaus. Der hohe steinerne Bau, dessen ganzes Mittelgeschoß man ihm eingeräumt hatte, umfaßte verschiedene Abteilungen des Stadtgerichts und vor allem das furchtbare Tribunal, bei dem Balthasar Noß den Vorsitz führte. Unten zu ebner Erde befand sich die Hauptwache der Stadtsoldaten.

Im Gegensatz zu dem windschiefen Geierhäuschen waren die Wohnräume des Balthasar Noß beinahe verschwenderisch eingerichtet. Persische Teppiche und farbenglühende Ottomanen, Ziertische und kostbare Spiegel, prunkvolle Vasen und schwersilberne Hängelampen verrieten den Wohlstand und die genußfrohe Prachtliebe des Insassen. Herr Noß hatte sich ja im Lauf seiner vieljährigen Thätigkeit als Hexenverfolger ein großes Vermögen gesammelt.

Der gefürchtete Mann saß gerade bei Tisch, als Doktor Xylander keuchend und schweißtriefend ins Haus trat. Ein dralles, üppiges Landmädchen, das Herr Noß scherzenderweise in den blühenden Arm kniff, hatte jetzt eben den Rest einer schmackhaften Schleie von der Tafel genommen und ein köstlich duftendes Brathuhn mit goldgelbem Lattichsalat aufgetragen. Da streckte der Leibdiener sein pfiffiges Gaunergesicht durch den Thürspalt und meldete, daß Herr Adam Xylander in höchst dringlicher Sache Zutritt begehre. Unmittelbar hinter dem Leibdiener stand der Gemeldete selbst.

Balthasar Noß erhob sich.

„Immer herein!“ sprach er mit tief dröhnender Baßstimme. „Gott zum Gruß, Herr Collega! Kaum erst wieder zurück von Eurer Erholungsfahrt – und schon völlig der Alte! Kommt, setzt Euch und erzählt mir in aller Gemütsruhe, was Euch hierherführt! Muß wohl etwas von ganz besonderem Gewicht sein, da Ihr trotz der versengenden Mittagshitze den Weg nicht scheut!“

„Allerdings – von ganz besonderem Gewicht!“

„Redet! Ihr macht mich neugierig! Unterdes gestattet Ihr doch, daß ich dem prächtigen Vogel da mit Klinge und Gabel zu Leib gehe. Wäre doch schade, wenn er mir unter dem Hören kalt würde. Aber da fällt mir ein: vielleicht nehmt auch Ihr ein hübsches, saftiges Stücklein? Was? Ihr habt doch sicher noch nicht gespeist? Ich selber liess’ mir heute um fast eine Stunde früher auftischen als gewöhnlich … Bärbel, rasch ein Gedeck und ein Glas. Und dann troll’ dich! Ich will mit dem Herrn Kollegen allein sein.

Adam Xylander hatte schon bei dem ersten Wort dieser Einladung heftig den Kopf geschüttelt. „Dank Euch“, wehrte er nun mit ängstlichem Eifer. „Ich brächte wahrhaftig keinen Bissen hinab. Und verzeiht nur, daß ich Euch so das Mahl störe! Aber ich bin erregt wie seit lange nicht. Jetzt endlich, Herr Vorsitzer, weiß ich, was mich seit etlichen Wochen so zugerichtet und so verfolgt und gehetzt hat wie der leibhaftige Dämon!“

Er zog den halbzerknitterten Brief aus der Brusttasche.

„Wollt Ihr Euch gütigst die Mühe nehmen …? Doch nein! Wenn Ihr gestattet, werd’ ich Euch dies merkwürdige Dokument vorlesen. Ich gebe dann zwischendurch die Erläuterungen.“

„Schön, Herr Collega! Und ich zerteil’ unterdessen ganz geräuschlos den Braten. Recht so, Bärbel! Schenk’ dem Herrn Beisitzer ein! Und nun …“

Er winkte. Das Mädchen, das trotz der Ablehnung des Adam Xylander ein zweites Gedeck und ein Glas gebracht hatte, ging lachend hinaus.

„Ah!“ schmunzelte Noß, den Duft seines Brathuhns mit wohlig geblähter Nase einsaugend. „Die lahme Susanne ist und bleibt doch die Perle aller Glaustädter Köchinnen! Wartet mit Eurer Vorlesung noch einen Augenblick! Nein, wie schneeig und zart! Kommt! Laßt Euch ein Stücklein gefallen! Besser kriegt Ihr’s kaum bei unserem allergnädigsten Landgrafen! Leider fehlt Euch für kulinarische Freuden das rechte Verständnis … Trotzdem – ich wette, das schmeckt Euch!“

Er legte dem Gast eine Scheibe aus der Mitte der Brust vor und reichte ihm dann die schöne Krystallschale mit dem goldgelben Salat. „In vollem Ernst, Herr Collega,“ fuhr er fort, „ich glaube, Ihr eßt zu wenig! Das mit der Milchkur in Königslautern war ja ein glücklicher Einfall, aber was nutzt’s, wenn Ihr daheim wieder fastet und Euch kasteit wie ein Büßermönch! Unser Beruf hat so viel Angreifendes und man verbraucht dabei so viel gutes Gehirnschmalz, daß man ordentlich futtern muß, will man bei Laune und Kraft bleiben. Ein guter Tisch und ein ehrlicher Trunk – das hält Leib und Seele zusammen! Und jetzt thut mir die Liebe an und sperrt Euch nicht länger! Wir haben ja Zeit … Ich will zwar verreisen, und deshalb speis’ ich so früh, aber ich hab’ mir die Stunden reichlich bemessen, um so nicht gehetzt zu sein.“

„So? Ihr verreist?“

„Ich habe Geschäfte im Kurmainzischen. Nur für zwei oder drei Tage. Wärt Ihr nicht hergekommen, hätt’ ich gleich nach Tisch zu Euch geschickt, um Euch zu bitten, mich zu vertreten. Aber das soll uns nicht weiter abhalten, den Leistungen meiner lahmen Susanne in vollster Gemächlichkeit zuzusprechen. Außer dem Huhn da kommt noch ein warmes Gebäck oder was Aehnliches. Unter drei Gängen thut sie’s nicht, die ehrgeizige Künstlerin. Auch das müßt Ihr versuchen – und dann lest Ihr gewissermaßen als Nachtisch Euer gewichtiges Dokument vor.“

Wohl oder übel mußte Xylander nachgeben. Er begriff nicht, daß dieser vollwangige Epikuräer so äußerst behäbig tafeln konnte, während ihm selbst jeder Puls fieberte. Mit sichtlicher Anstrengung würgte Adam Xylander das köstliche Fleisch und den frisch angemachten Salat hinunter, ohne sich klar zu werden, ob die gerühmte Köchin wirklich das Lob ihres verwöhnten Hausherrn verdiene. Dazwischen that er verschiedentlich einen langsamen Zug aus dem großen Muranglas.

Nachdem das Brathuhn bis auf den Hals und die Knochen vertilgt war, klingelte Balthasar Noß mit der eirunden Tischglocke. Die drallarmige Bärbel erschien, räumte rasch ab, lachte ein wenig und trug dann die Mehlspeise auf. Reiskuchen nach Bergamesischer Art, mit Zucker und Zimmet bestreut. Es war unglaublich, mit welch leuchtendem Eifer Balthasar Noß in dies Lieblingsgericht einhieb, während Xylander gleich von vornherein jede Beteiligung ablehnte. Mit einer Art von Grausen hielt er die Hand über den Teller gespreizt.

„Nein, unmöglich!“ sagte er trüblächelnd. „Wahrhaftig [471] Ihr bringt mich um! Wenn ich so schwelge, dann hat die Bosheit Gewalt über mich! Beim ewigen Himmel, nun spür’ ich schon wieder den eigentümlichen Herzdruck! Und in den Ohren braust mir’s wie fernes Bachrauschen.“

„Das macht der Wein. Ihr seid einen so kräftigen Trunk nicht gewöhnt. Aber das ist’s ja gerade! Ihr müßt Euch nach und nach darauf einrichten. Sonst wird Euch das Blut zu dick. Seht Ihr mein lieber Xylander, Ihr glaubt gar nicht, was so ein gut ausgepichter Magen alles verträgt! Ich speise für dreie und fühle mich grundwohl dabei. Ich hab’ meinen Magen aber auch tüchtig im Stand gehalten und ihm tagtäglich ein stärkendes Tröpflein gegönnt von Jugend auf. Ihr, liebwertester Herr Collega, behandelt den Eurigen wie ein hartherziger Stiefvater. Natürlich steht es Euch da schon bis an die Gurgel, wo ein kernhafter Mensch wie ich nur eben erst anfängt. Wie Ihr wollt! Da Ihr denn leider Gottes nicht eßt, so könnt Ihr meinetwegen jetzt loslegen. Ich bin doch neugierig, was Euch so außer Rand und Band gebracht hat.“

Adam Xylander feuchtete sich nochmals die Lippen. Dann hub er mit dünner, eintöniger Stimme zu lesen an …

Balthasar Noß unterbrach zuweilen für Augenblicke die breitmalmende Thätigkeit seiner Kinnbacken und zeigte auch sonst Spuren einer wachsenden Aufmerksamkeit.

„Hildegard Leuthold!“ murmelte er, als der Vorleser fertig war. „Ich kenne die Jungfrau. Neulich im Baumhof der städtischen Waldschenke, als die Künstlertruppe des Zähler zum erstenmal spielte, saß diese Leuthold unmittelbar vor mir. Ein sonderbares Geschöpf! Bei meinem Anblick ist sie jählings zusammengefahren, wie das leibhaftige böse Gewissen …“

„Seht Ihr’s! Da habt Ihr ein schweres Indicium …“

„So scheint es, liebwerter Kollege. Damals schon fiel mir die Sache auf. Jedenfalls bin ich der Ansicht, daß wir genötigt sind, auf Grund dieser Denunziation zur Verhaftung zu schreiten. Benno von Dreysa – das weiß ich aus zuverlässigster Quelle – hat kürzlich einmal geäußert, es sei doch merkwürdig, daß in der Glaustädter Gemarkung der Satan hauptsächlich mit Bauern und Kleinbürgern paktiere. Aber die Reichen tanzen so gern wie die Armen. Ich betrachte es wirklich als eine Gunst des Schicksals, wenn sich uns hier die Möglichkeit bietet, den heimlichen Vorwurf des Herrn Oberhofmarschalls durch ein schlagendes Beispiel zu widerlegen. Der Magister Franz Engelbert Leuthold stammt aus altem Geschlecht, sein Vater war Bürgermeister, seine Mutter sogar eine Adlige. Ich hoffe, unser allergnädigster Herr soll uns das Zeugnis geben, daß wir vor Rang und Stand nicht zurückschrecken, wenn es die Pflicht gilt und sein allerhöchstes Gebot.

Balthasar Noß überschlug schon im stillen, welche Verurteilungs- und Vollstreckungsgebühren er bei diesem vielverheißenden Falle in Ansatz bringen und was für illegitime Nebenverdienste ihm noch erwachsen könnten. Die blanken Goldgulden und Weißpfennige konnte man immer gebrauchen – besonders, wenn man das Glück hatte, von der übermütigen Schauspielerin Adrienne Haricourt so unwiderstehlich gebrandschatzt zu werden. Der kleine Kobold verstand sich darauf, jeden Kuß mit Anspielungen auf maigrüne Smaragden und rotgoldene Armspangen zu würzen …. Man konnte nicht anders, ihr purpurnes Mündchen lächelte gar zu verführerisch – und ein richtiger Weltmann knausert nicht, wo er in heißen, märchenhaften Entzückungen schwelgt.

Ebensosehr wie über das rein Geschäftliche des bevorstehenden Malefikantenprozesses freute sich Noß über die Thatsache, daß es sich hier seit lange zum erstenmal um ein vornehmes, wahrhaft edel geartetes Menschenkind handelte. Hildegard Leuthold war allerdings für seinen Geschmack durchaus keine Schönheit. Er haßte die mildweibliche Anmut und Sittsamkeit ihrer ganzen Erscheinung wie etwas Unnatürliches, Krankhaftes. Adrienne Haricourt mit ihrem keckwiegenden Gang und ihren schwarzuntermalten Augen, ja die bäuerische Bärbel sogar und ihr plumpsinnliches Lachen, war ihm zehntausendmal lieber. Trotzdem fühlte er, daß diese Hildegard Leuthold ein erlauchtes Geschöpf war, dem sich die Herzen aller Unverdorbenen in zärtlicher Teilnahme zuwenden mußten. Und das weckte in ihm die boshafte Natur der Kröte, die nach dem freundlichen Glanz des Johanniswürmchens ihr schmutziges Gift spritzt. Es lockte ihn teuflisch, gerade dies reine, bevorzugte Wesen unter den Griff zu bekommen und so die Hoheit und Menschenwürde, die sich so hold auf diesem liebreizenden Antlitz ausprägten, mit bestialischer Grausamkeit zu erniedrigen. Das dumpfe Bewußtsein der eignen inneren Gemeinheit wollte sich an dieser drückenden Ueberlegenheit rächen. Nach einer Weile sagte Herr Noß zu dem Beisitzer: „Also, liebwertester Herr Collega, um vier Uhr verreise ich. Längst schon hätte ich diese unumgängliche Fahrt ins Kurmainzische angetreten, aber in Eurer Abwesenheit war ja das leider Gottes nicht möglich. Nun bin ich bei meinen Geschäftsfreunden angemeldet und kann’s nicht mehr rückgängig machen, so gern ich gerade der Leutholdin wegen jetzt hier bliebe. Ihr werdet mich also auch in diesem hochwichtigen Casus vertreten müssen. Vor allem, was die Verhaftung betrifft. Ich habe vorhin schon Befehl erteilt, daß Euren Anordnungen in jeder Beziehung gehorcht wird. Verfügt also ganz nach Belieben!“

„Seid Ihr nicht auch der Ansicht, daß wir der Bitte des Unbekannten billigerweise nachgeben müssen? Ich meine die Schonung, die wir dem Vater und seinem unbescholtenen Hause angedeihen lassen sollen?“

„Ich sehe das offen gestanden nicht ein. Aber ganz wie Ihr wollt. Ich mag hier nicht dreinreden. Nur bin ich erstaunt darüber, daß Ihr just bei der Hildegard Leuthold eine so merkwürdige Rücksicht übt, da sie doch – wie aus dem Briefe ersichtlich – Eure persönliche Feindin ist.“

„Eben deshalb!“ eiferte Adam Xylander. „Soll mir die Welt nachsagen, daß ich aus Rachsucht gehandelt, der ich doch nur Gerechtigkeit will? Als Mensch und Christ verzeih’ ich ihr siebenmal siebenzigmal …“ Der selbstlose Mann erläuterte seinen Standpunkt mit großer Ausführlichkeit.

„Das läßt sich hören“, versetzte Balthasar Noß. „Ihr seid ein biedrer, achtungswerter Charakter, wie Ihr ein großer Jurist seid. Bei nächster Gelegenheit muß ich doch unseren allergnädigsten Landgrafen auf diese Vorzüge nachdrücklich hinweisen. Ihr gleicht dem Veilchen, das im Verborgenen blüht. Aber ich will Euch nun endlich einmal aus dieser Verborgenheit ans helle Tageslicht ziehen. Der Landgraf soll Euch ein Ehrengehalt auswerfen und einen Dank verleihen, der weit hinaus in die deutschen Lande funkelt.“

Xylander schüttelte mattlächelnd den Kopf. „Allzugütig, Herr Zentgraf! Da muß ich schon ausweichen. Für solcherlei irdischen Glanz und Prunk lange ich nicht. Mir genügt’s, wenn ich in Arbeit und Fleiß vor Gott meine Schuldigkeit thue.“

„Ihr seid wahrhaftig ein Sonderling. Mit Euch ist weiter nichts anzufangen, das merk’ ich wohl. Nun, sei es! Leiht mir nur auch fürderhin Eure Geistesschärfe, Euer gewaltiges Wissen und Eure glorreiche Pflichttreue! Jetzt aber – Ihr verzeiht – laßt uns dieses Gespräch enden! Ich bin müde geworden und möchte doch noch ein Stündchen Rast halten, eh’ ich mein Roß besteige. Es geht halt nichts über ein Schläfchen, wenn man gut gespeist und getrunken hat. Da legt der Mensch zu. Ihr solltet das auch so einführen!“

Adam Xylander wünschte dem Vorsitzer glückliche Reise. Er solle sich über den Fall der Hildegard Leuthold nicht weiter den Kopf zerbrechen. Alles werde von ihm, Adam Xylander, klüglich geordnet werden. Das Hauptverhör allerdings verschiebe er, bis Herr Balthasar Noß wieder zurück sei.

Noß brachte den Beisitzer mit kollegialischer Höflichkeit bis an die Thüre. Dann befahl er der hübschen Bärbel, ihn Punkt halb vier Uhr zu wecken, zog sich in das verdunkelte Nebengemach zurück und legte sich langwegs auf den breiten lederbeschlagenen Diwan. Die Hände unter dem stark geröteten Kopf, that er etliche Atemzüge tiefster Erleichterung, schmunzelte und schloß behaglich die Augen – das Urbild eines gesättigten, ruhigen, mit sich und dem Schicksal zufriedenen Menschen.

14.

Am folgenden Tage verließ Hildegard Leuthold frühzeitig das Haus. Zunächst begab sie sich in den Gasthof zum Goldnen Schwanen, dessen Inhaber einen schwunghaften Weinhandel betrieb. Dort beglich sie die jüngst fällig gewordene Halbjahrsrechnung für gelieferten Bacharacher. Von hier über den Markt schreitend, sah sie verstohlen nach den weit geöffneten Fenstern des Doktors Ambrosius hinauf. Ihr Herz schwoll vor Entzücken. Wie lange würde es währen, dann gab Doktor Ambrosius diese [472] Wohnung da auf und suchte für den neu zu gründenden Hausstand ein schöneres Heim, größer, geräumiger … Vielleicht in der Nähe der Grossachstraße … Am hübschesten wär’ es ja freilich gewesen, der Schwiegersohn hätte gleich mit einziehen können in das trauliche Landhaus des Schwiegervaters. Aber das war wohl zu eng – und man konnte nicht wissen, ob sich der Vater nicht doch in seinen Gewohnheiten etwas beeinträchtigt fühlte, wenn da ein junges Paar ihm sozusagen über den Kopf wuchs.

Hildegard malte sich jetzt zum hundertstenmal ihre häusliche Einrichtung und die zukünftige Lebensführung mit den verlockendsten Farben aus. Besonders lebhaft schwebten ihr die behaglichen Sonntage im Winter vor, und wie es dann sein würde, wenn ihr vielteurer Vater bei ihnen zu Gast wäre und mit Gustav seine Partie Schach spielte, während sie selbst mit ihrem kleinen zierlichen Spinnrocken dabei säße und bald auf die Wechselfälle des Spiels achtete, bald auf die klugen, herzlieben Spieler. Im hochsimsigen Kachelofen würden dann die Buchenholzklötze traulich knistern und knattern, während sich draußen der Schnee in sanftwiegenden Flocken über die Dächer und Gassen legte.

Von diesen Bildern erfüllt, hatte sie ihren Schritt auffällig verlangsamt. Nun fiel ihr bei, irgend wer möchte dies schwärmerische Hinaufblinzeln nach den Fenstern des jungen Arztes beobachten und daraus seine Schlüsse ziehen. Heimlich schalt sie sich ungehorsam und unvorsichtig. Gustav Ambrosius hatte doch seine gewichtigen Gründe …

Den Kopf wendend, ließ sie den Blick ein wenig über den Markt schweifen, der ziemlich unbelebt in der Sonne lag. Die Höker und Landleute, die hier im Sommer bis acht Uhr früh ihre Waren feilboten, hatten sich längst entfernt. Am Röhrbrunnen standen etliche Bürgermädchen und füllten die großen messingbeschlagenen Zuber, die sie nach alter Glaustädter Art frei auf dem Kopf trugen. Dort und da ging ein Zünftler oder ein Karrenschieber, der sein plumprädriges Fuhrwerk langsam über das Pflaster rollte. All diese Leute hatten sich um Hildegards träumendes Ausschauen, das heute in der That ein wenig an Selbstverrat grenzte, offenbar nicht gekümmert. Nur ein kleiner geschmeidiger Mensch in rostbrauner Handwerkertracht, der jetzt unweit der wasserholenden Jungfern am Röhrbrunnen stand, schien ihr eine versteckte Aufmerksamkeit zu widmen. Er gaffte sie an, wie ein bewundernder Kavalier, kehrte jedoch sofort den Blick wieder ab und trat zu dem Röhrbrunnen, um wie gedankenverloren in die ewig erneuten Kreise des Beckens zu starren.

Hildegard war dergleichen gewöhnt. Dieser rostbraune Bursch da – augenscheinlich ein Werkstattgehilfe – wußte wohl kaum, wer sie war. Ohne eitel zu sein, hatte sie doch die Erfahrung gemacht, daß sie auf hoch und niedrig leicht den Eindruck einer gewissen Fremdartigkeit und Vornehmheit machte. Du lieber Himmel! Wenn man jung war und von schlanker Gestalt und sich zu kleiden verstand, einfach und doch nicht ärmlich – da war das am Ende kein Wunder! Jetzt zumal, wo sie gewiß nicht menschenfeindlich und freudlos dreinsah!

Eiliger als bisher schritt sie weiter. Beim Einbiegen in den Klottheimer Weg begegnete ihr der blondbärtige Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck, der sie ehrfurchtsvoll grüßte.

Ob das wohl auch etwas werden würde mit dem und der hübschen, lustigen Margret? – Die Tochter des Stadtpfarrers – das wußte Hildegard von ihr selbst – war Herrn Woldemar Eimbeck herzlich gewogen. Er aber schien seit einiger Zeit kühler, gedankenvoller, zerstreuter als sonst. Vielleicht ging ihm die Sache doch nicht so tief, wie Margret Melchers gehofft hatte! Obschon er ja ganz gewiß nicht zu den abscheulichen Flatterhaften gehörte, die heut’ die Susanne lieben und morgen die Hanne. Hildegard Leuthold in ihrem tiefen und reinen Glück hätte so gern auch die niedliche Margret am Ziel ihrer Wünsche gewußt. Seit sie mit Gustav Ambrosius eins war, schien es ihr überhaupt ungerecht, daß nicht die ganze Welt einer so himmlischen Seelenfreude teilhaftig wurde.

An der Ecke des Klottheimer Weges und des Neuplatzes betrat sie die flämische Weberei von Thormissen. Sie hatte hier vor etlichen Monaten selbstgesponnenes Garn abgeliefert und fragte jetzt nach, ob das bestellte Tafeltuch, mit dem sie den Vater schon zum Geburtstagsfest überraschen wollte, jetzt endlich vom Webstuhl gekommen sei. Der Weber entschuldigte sich mit dem unerwarteten Abspringen dreier Gehilfen bei längst schon vorliegenden älteren Anforderungen, verhieß aber nun baldigste Fertigstellung und zeigte dem Fräulein dann mehrere neue Muster, auf deren Erfindung der fleißige und talentvolle Mann sich etwas zu gute that. Hildegard lobte die Muster, sprach im geheimen Hinblick auf ihre Heirat die Hoffnung aus, dem Webermeister demnächst einen größeren Auftrag erteilen zu können, und wandte sich dann zum Gehen. Thormissen gab ihr mit vielen Beteuerungen seiner Dienstwilligkeit das Geleit bis auf die Straße.

Beim Heraustreten prallte sie mit dem kleinen geschmeidigen Menschen in rostbrauner Handwerkertracht zusammen, der sie vorhin schon am Markt so merkwürdig – halb scheu, halb zudringlich – angestiert hatte. Daß der seltsame Mensch ihr nun bis an die Weberei gefolgt war, schien ihr schon etwas befremdlicher als das neugierige Gaffen vom Röhrbrunnen her. Immerhin maß sie der Angelegenheit keinen Wert bei. Der Mann entschuldigte sich und lächelte beinahe verschämt, wie ein ertappter Nachläufer, wenn er den Gegenstand seiner Sehnsucht plötzlich aus nächster Nähe zu schauen bekommt. Dann schritt er gemächlich weiter, während Hildegard Leuthold rasch und ohne sich umzusehen über den Platz eilte. Sie war viel zu sehr mit ihren goldrosigen Zukunftsbildern beschäftigt, als daß sie Zeit gehabt hätte, sich um einen so unbedeutenden Zwischenfall den Kopf zu zerbrechen. Sie hatte nicht wahrgenommen, daß der rostbraun Gekleidete sie bereits von ihrer Wohnung an heimlich verfolgt hatte. Noch weniger ahnte sie, daß dieser Mensch ein Späher des Malefikantengerichts, ein Spion vom Geheimdienst war. Fünfzig Schritt hinter dem kleinen Kerl ging ein langbeiniger, großer. Beide waren von Doktor Adam Xylander bevollmächtigt, Hildegard Leuthold unter Beobachtung gewisser Vorsichtsmaßregeln festzunehmen und nach dem Stockhaus zu bringen.

Jenseit des Neuplatzes that sich ein enges Gewirre von Gassen und Gäßchen auf. Zuletzt führte die schmale Weylgasse bis an die Stadtmauer. Hier wohnten fast nur Leute von ganz dürftiger Lebensstellung. Flickschuster und Packträger, arme Wäscherinnen und Nähfrauen, die gegen Kost und etliche Heller bar in die Bürgerfamilien auf Arbeit gingen, Strohflechter und kleine Korbmacher. Die Häuser in dieser Gasse waren zum Teil Hütten. Besonders die in der Nähe des Stadtwalls. Hildegard Leuthold hatte hier einige Pfleglinge wohnen, denen sie ab und zu nicht nur Geld und leibliche Nahrung, sondern auch Trost und menschenfreundliche Teilnahme zutrug.

Da war zunächst ein altes Mütterchen, halb schon erblindet und vollständig verarmt, das ehedem bessere Tage geschaut hatte, jetzt aber mit dem gelähmten Sohn traurig und hilflos zwischen den Kalkwänden eines vermorschenden Kuhstalls hauste.

Hildegard pochte wider die wacklige Tannenholzthür und trat auf den lauten Anruf des Sohnes grüßend herein. Das Mütterchen, das gerade am Herd stand, um eine Suppe zu kochen, wischte sich die runzligen Hände eilfertig an dem geflickten Vortuch ab und ging der Besucherin freudig entgegen.

„Gott sei gelobt, daß Ihr kommt!“ stammelte sie mit zahnlosen Kiefern. „All die Zeit her hab’ ich an Euch gedacht, wie voll Heimweh. Und auch Ephraim hat solche Sehnsucht nach Euch gehabt! Es will und will ja nicht besser werden, das klag’ ich dem lieben Gott. Aber wenn Ihr Euch zeigt, mein gütiges Fräulein, dann ist’s doch wie ein Sonnenstrahl, und wir tragen dann leichter. Nicht wahr, Ephraim?“

Hildegard strich der alten Frau liebreich über die sorgengefurchte Stirn und wandte sich dann mit bestrickender Herzlichkeit zu dem Gelähmten, der, eine halbfertige Strohmatte auf dem Schoß, wie heilverlangend zu ihr emporsah.

„Habt Ihr’s nicht wieder einmal versucht, Ephraim? Der Wille vermag viel ….“

„Bei mir nicht,“ lächelte Ephraim trübselig. „Das hält mich wie Blei. Wenn nicht die Nachbarsleute mit angriffen, könnt’ ich hier in dem Stuhl übernachten.“

„Ihr solltet vielleicht, trotz der argen Erfahrungen, die Ihr gemacht habt, doch noch einmal einen Arzt fragen.“

„Die Aerzte sind für die Reichen. Ihr wißt nicht, wie sie mir damals den letzten Sparpfennig abgeluxt haben, der Arzt und der Apotheker. Und hinterher war alles umsonst, und die Lähmung ist schlimmer geworden!“

[473]

Dorfjugend.
Nach dem Gemälde von B. Genzmer.

[474] „O, ich wollt’ Euch schon einen schicken, der Euch nichts abnähme, der es aus lauter Freundschaft thäte für mich und Euch.“

„Ich dank’ Euch, mein vielgütiges Fräulein! Aber es fehlt mir halt das Vertrauen, und so mein’ ich, er quält mich nur.“

„Der nicht! Der hat größere Weisheit als die berühmtesten fürstlichen Leibärzte. Und manchem hat er schon aufgeholfen, den die Gescheitesten längst für verloren gaben. Es bleibt dabei, Ephraim, ich schick’ ihn Euch her. Ich hätt’ ihn schon früher geschickt, wenn Ihr Euch minder absprechend über die Heilkunst geäußert hättet.“

„Wie Ihr wollt,“ flüsterte Ephraim treuherzig. „Was Ihr thut, ist gewiß allemal wohlgethan. Und fast will mich bedünken, wenn er von Euch kommt, muß ihm schon irgendwie eine heilige Kraft und Mächtigkeit innewohnen …“

Das Mütterchen kochte die Suppe fertig, während sich Hildegard, auf einer gichtbrüchigen Bank sitzend, noch eine Weile mit dem Sohn unterhielt, der unterdes eifrig weiterflocht.

„Wie prächtig Ihr das versteht!“ rief Hildegard. „So schön und so ebenmäßig!“

„Ist ja leider das Einzige, was ich so spät noch hab’ lernen können! Wer von Kind an gepflügt und gesät hat, der ist übel dran, wenn ihn auf einmal das Unheil so auf den Stuhl nagelt.“

„Faßt Euch nur in Geduld, Ephraim, und hofft noch ein wenig auf Doktor Ambrosius! So heißt nämlich der ausgezeichnete Arzt, der Euch mit Gottes Hilfe noch heilen soll …“

Sie ward blutrot, als sie den Namen aussprach. „Aber ich muß jetzt fort,“ fügte sie rasch hinzu und erhob sich.

„Ach? Wollt Ihr schon gehn?“ fragte das Mütterchen. Auch der Sohn warf ihr einen flehenden Blick zu.

„Ich komme schon bald einmal wieder. Für jetzt hab’ ich noch mancherlei vor. Zunächst gleich da drüben beim Flickschuster, dem Gott ehvorgestern das vierte Kind geschenkt hat. Und niemand im Haus, der sich der armen Frau annimmt! Nun will ich halt sehn was sich da raten und thun läßt.“

„O, drüben beim Flickschuster ist wohl alles in guter Ordnung. Vorhin erst war für ein Augenblickchen die Lore hier, um sich ein Waschfaß zu leihen. Die war munter und froh und sagte, die Mutter stünde schon bald wieder auf. Der Lore ihr einziger Jammer war, daß sie jetzt nicht von Haus fort kann und so die Lernstunden bei Euch versäumt.

„Das kleine eifrige Ding!“ lächelte Hildegard. „Ja, sie ist auffallend geweckt, viel klüger als Rottmüllers Dorothea. Nun, sie solls nachholen, sobald sie daheim wieder entbehrlich ist.“ Sie griff in die Tasche und legte zwei Glaustädter Gulden aufs Fensterbrett. „Wenig, aber mit Liebe!“ sagte sie mild. „Die Zeiten sind teuer! Pflegt Euch, Ephraim, und, wie gesagt: nächstens –!“

Die alte Frau weinte vor Dankbarkeit. Der lahme Sohn ergriff Hildegards Hand und küßte sie mit leidenschaftlicher Inbrunst. „Ach, Ihr seid wie ein Engel des Herrn!“ sprach er gerührt. „Gott der Allmächtige schirme und segne Euch! Und lasse Euch jeden Wunsch in Erfüllung gehn!“

„Ein großes Wort, Ephraim! Euch und Eurem treusorgenden Mütterlein wünsch’ ich dasselbe.“

So schritt sie hinaus auf die Gasse.

Inzwischen hatte der kleine, geschmeidige Rostbraune mit seinem langbeinigen Spießgesellen rechts neben dem Ausgang Posto gefaßt. Als Hildegard die wacklige Tannenholzthüre hinter sich zugemacht hatte, traten sie beide vor. Der Große, Dürre verneigte sich und zog halb dreist, halb verschämt seine Tuchkappe.

„Verzeiht uns, vieledles Fräulein,“ sprach er mit breitmäuligem Grinsen, „wenn wir Euch lästig fallen. Wir sind Euch gefolgt bis in die enge Gasse hier, um Euch die Peinlichkeit unsrer Begegnung im hellsten Menschengewühl zu ersparen. Herr Doktor Xylander, Beisitzer des Glaustädter Malefikantengerichts, giebt Euch auf, wie Ihr da geht und steht, vor seinem Stuhl zu erscheinen. Hier ist der Haftbefehl.

Er wies ihr ein schmales, bedrucktes, mit ihrem Namen versehenes Papier vor.

Hildegard Leuthold war blaß geworden. „Ich bitt’ Euch – wer seid Ihr?“

„Diener der Stadt und des Tribunals.“

„Und Ihr wolltet …? Aber was liegt gegen mich vor?“

„Man beschuldigt Euch des Verbrechens der Zauberei und der Teufelsgenossenschaft. Ihr werdet schon wissen, mit welchem Rechte. Wenn ihr nun klug seid, so ergebt Ihr Euch stillschweigend. Am besten geht Ihr voraus. Der Pfad dort links führt hinter Gärten und etlichen Hütten her gradewegs nach dem Stockhaus. So fällt das nicht weiter auf. Sträubt Ihr Euch aber, dann müssen wir leider Gottes ohne Verzug Euch festnehmen. Seht hier die Handschellen!“

So sprechend, ließ er das Ende einer vielgliedrigen Kette aus der Brusttasche hervorlugen.

Hildegard war vor Entsetzen starr. Sie wußte nur zu genau, was eine Anschuldigung vor dem Glaustädter Malefikantengericht zu bedeuten hatte.

„Um Gott – das ist ja unmöglich!“ brachte sie mühsam hervor. „Ich … ich …? Thorheit! Ihr wollt mich erschrecken! Ihr treibt einen Scherz mit mir!“

„Könnt’ uns teuer zu stehn kommen,“ sagte der Rostbraune. „Bei so ernsthaften Dingen spaßt wohl in Glaustädt keiner, am wenigsten wir Geheimboten. Laßt nur alles Geschwätz! Da – schaut! Dort gaffen sie schon zu Dutzenden aus den Thüren und Fenstern heraus! Macht jetzt ein Ende! Oder wollt Ihr vielleicht, daß wir Euch fortschleppen wie ein störrisches Marktweib?“

Dem armen Geschöpf, das noch eben so ganz durchsonnt gewesen von seinen glücklichen Zukunftsträumen, ward es bei dieser fürchterlichen Verwandlung schwarz vor den Augen. So erfüllten sich also die treuen Segenswünsche, die ihr der Kranke da drinnen mit auf den Weg gegeben? Vorgeladen! Vom Blutgerichte des Balthasar Noß in Haft genommen! Der Zauberei und des höllischen Paktes beschuldigt! Lag sie im Fieber – oder war das gräßliche Wirklichkeit?

Hildegard rang die Hände. In ihrer bebenden Todesangst wäre sie fast in die Knie gesunken und hätte laut aufschluchzend um Gnade gefleht. Doch sie besann sich. Aus der Gewalt dieser Schergen war ja doch keine Rettung mehr. Die folgten als fühllose Werkzeuge dem Befehl ihrer Oberen.

Da gewahrte sie in der Thür des Flickschusterhäuschens die kleine flachsblonde Lore. Das kluge, raschbegreifende Kind, das erst scheu und verstört dagestanden, lief jetzt ungestüm auf sie zu und umklammerte angsterfüllt ihre Hüften.

„Hildegard! Herzliebe Hildegard!“

„Vorwärts!“ drängten die Späher.

„Eine Sekunde noch!“ bat sie mit ruhigem Stolz. „Ihr verliert nichts dabei. Laßt mich nur diesem Kind hier ein letztes Wort sagen! Lore, mein Liebling, ich bitte dich, lauf du, so schnell du kannst, zu meinem Vater! Sag’ ihm, was seiner unglücklichen Tochter geschehen ist! Sie führen mich weg! Der Blutrichter Adam Xylander hat’s so befohlen! Sie lügen, ich wär’ eine Hexe! Mein teurer, geliebter Vater soll mir zu Hilfe eilen! Er und alle, die mich als schuldlos und rein kennen! Und du, Lore, bete für mich und für ihn!“

„Genug jetzt!“ rief der Langbeinige Dürre voll Ungeduld. „Mach, daß du fortkommst, Kleine, und bestell’, was du willst! Ihr aber, Leutholdin, habt nun zu wählen: entweder gutwillig … oder …!“- Er wies auf die Handschellen. – „Ich will nicht, daß uns die halbe Weylgasse hier noch Abschiedsbesuche macht!“

Hildegard Leuthold warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Der schroffe, brutale Ton des Knechtes hatte den ganzen Stolz ihrer jungfräulich edlen Natur aufgerüttelt. Die Hände im Schoß gefaltet, schritt sie geruhig und fest um die Hütte herum, aus der sie vorhin so ahnungslos auf die Straße getreten … Da drinnen erscholl unterdrücktes Jammern und Klagen, das Weh des Gelähmten und seiner halbblinden Mutter über das kaum zu fassende Unglück der freundlichen Trösterin. Hildegard aber schien von alledem nichts zu hören. Es galt jetzt, standhaft und gleichmütig zu sein um jeden Preis. Als die Tochter eines so herrlichen Vaters, als die Braut eines so unvergleichlichen Bräutigams stellte sie doppelte Ansprüche an ihre Tapferkeit. Und Gott der Allmächtige würde die Kraft ihres Willens stärken, wenn sie voll kindlicher Gläubigkeit zu ihm aufsah.

„Ein köstlicher Bissen!“ sagte der Rostbraune, als er die wundervolle Mädchengestalt mit den zwei prächtigen Zöpfen so verführerisch vor sich her wandeln sah.

„Eigentlich schade,“ meinte der Langbeinige. „Nun, wer weiß, wie der Hase läuft! Unser Herr Zentgraf, Herr Balthasar Noß, ist ja doch auch nur ein Mensch – und sehr empfänglich [475] für blühende Weiber! Wenn ich einer vom Tribunal wäre, ich ließe hier, glaub’ ich, mal fünf gerade sein. Schöne Frauenspersonen sind rar, schreibt schon der weise Salomo, und vollends ein Püppchen wie die …“

„Einstweilen bin ich zufrieden, wenn uns Adam der Großmütige nach Gebühr ablohnt. Er wird nicht bestreiten können, daß wir die Sache höchst schlau abgepaßt haben.“

„Gewiß nicht. Und wenn ich’s versaufe, gilt mein erster Schluck dieser küßlichen Prachthexe. Himmel und Hölle, ich wollt’, ich könnte die eintauschen gegen die rote Kathrein!“

„Das glaub’ ich dir ungeschworen. Ich bin ja nicht halb so versessen auf hübsche Gesichter wie du. Aber wenn diese Leutholdin schuldig ist, dann muß man dem Teufel nachsagen, daß er einen verwünscht guten Geschmack hat!

(Fortsetzung folgt.)




Ruhiges Eisenbahnfahren.

( gemeinfrei ab 2025)
[476]

Skizzen aus dem Imkerleben.

Von C. J. H. Gravenhorst. Mit Illustrationen von A. Kiekebusch.

Wer die Entwicklung der deutschen Bienenwirtschaft aufmerksam verfolgt hat, wird einen ganz bedeutenden Aufschwung in ihr wahrgenommen haben. Sie beginnt nicht nur wieder, wie vor dem Dreißigjährigen Kriege, gewaltige Massen an Honig und Wachs auf den Markt zu werfen, sondern sie hat es auch erreicht, den Honig in viel besserer Güte zu produzieren, als es früher der Fall war. Das bewirkten die bedeutsamen Erfindungen auf dem Gebiete der bienenwirtschaftlichen Hilfsmittel wie die hiernach sich gestaltenden fortwährend verbesserten Betriebsweisen. Kein Wunder, wenn die Bienenzucht jetzt mehr und mehr wieder zu einem Gewerbe sich emporhebt, das seinen Mann ernährt oder als reichlich lohnende Nebenbeschäftigung behaglichen Wohlstand, mindestens willkommenen Zuschuß zu den sonstigen Einnahmen bei geringem Anlagekapital und Zeitaufwand gewährt.

In der alten Zeit benutzte man hohle Baumstämme, Klotzbauten als Bienenwohnungen, weil sie eine gute Beute an Honig und Wachs ergaben, in manchen Gegenden Deutschlands in ausgiebigster Weise, besonders in waldreichen Gegenden. Nicht allein, daß man hohle Bäume, in welchen sich wilde Bienenschwärme eingenistet hatten, oberhalb und unterhalb des Sitzes der Bienen absägte, mit Fluglöchern für die Bienen, mit Dächern und Thüren versah und beim Hause aufstellte, nein, auch lebende Bäume in den Wäldern wurden künstlich ausgehöhlt und mit Bienen besetzt. Meistens waren diese künstlichen Aushöhlungen so hoch in zweiglosen Baumstämmen angebracht, daß erst eine beträchtlich lange Leiter angesetzt werden mußte, um zeideln, d.h. um Honig ausschneiden zu können. Aber diese Einrichtung war zweckmäßig, Diebstahl zu verhüten. Im 12., 13., 14. und 15. Jahrhundert stand in Deutschland diese Art Bienenzucht in hoher Blüte. Berühmt waren durch sie die großen Reichswaldungen bei Nürnberg, die man den „Reichsbienengarten“ nannte. Hier bildeten die Imker sogenannte Zeidlergesellschaften, die sich vieler Vorrechte und Privilegien zu erfreuen hatten. Vielleicht noch günstiger waren die bienenwirtschaftlichen Verhältnisse in der so oft als des Deutschen Reiches Streusandbüchse verschrieenen Mark. Gab es hier doch zum Teil Kreise, in welchen man 5000 bis 7000 Bienenvölker in künstlich ausgehöhlten Baumstämmen der Wälder oder in abgeschnittenen Baumstümpfen wie unsere nebenstehende Illustration sie darstellt, in den Hausgärten aufgestellt hatte. Heute begegnen wir diesen alten Bienenwohnungen nur noch vereinzelt, in manchen Gegenden Deutschlands als Ueberbleibsel aus längst verklungenen Zeiten.

Von einer eigentlichen Zucht der Biene konnte ja in diesen alten Klötzen nie die Rede sein, da die Honigernte darin nur vom Zufall abhängig ist. Das ist nicht minder der Fall in den kleinen bauchförmigen Strohkörben hoch über dem hofwärts stehenden Fenster des Schwarzwälder Bauernhauses, wie sie auf unserer Illustration S. 477 zu sehen sind. Trotzdem giebt es dergleichen Bienenstände heute noch gar viele, besonders in Süddeutschland, und sie werfen auch in Gegenden, die für die Biene günstig sind, einen Gewinn ab.

Alte Bienenzucht in Baumklötzen.

Schon mehr Vertrauen erweckend auf eine tüchtige Honigernte, tritt vor unsern Blick die Wanderbienenjagd des Lüneburger Heidimkers aus der Provinz Hannover (vgl. Illustration auf S. 477). Selbstbewußt, dem sichern Erfolge seiner Bienenkunst vertrauend, welche ihm seine Tonnen mit Honig füllt, hat der Besitzer, sein Pfeifchen dampfend, soeben die Front seiner Heerscharen abgeschritten und wie ein Feldherr mit Kennerblick Musterung gehalten. Er ist, so scheint es, vollkommen zufrieden mit den bisherigen Ergebnissen seiner Wanderung zu entfernter besserer Weide. Erst mit dem Aufblühen des Buchweizens und der Erica vulgaris eröffnet sich in seiner Heimat eine reiche Honigtracht, während bis dahin seine Bienen kaum so viel Nahrung fanden, um notdürftig ihr Leben zu fristen. Große Massen an Honig würde er verfüttern müssen, bliebe er im Frühling daheim. Da macht er sich denn schon im März auf die Reise mit seinen Bienen nach Gegenden, wo im Frühjahre die Honigquellen reichlich fließen, stellt hier seine Völker aus und läßt sie schwärmen, d. h. sich verdrei- und vervierfachen und neuen Bau ausführen. Anfang Juli, wo der frühe Buchweizen zu blühen beginnt, kehrt er wieder heim. Die von ihm benutzte Bienenwohnung, der sogenannte Lüneburger Stülpkorb, ist gleichfalls uralt, gilt aber noch heute allgemein als eine ganz vorzügliche Bienenwohnung, da in ihr die Bienen gut gedeihen und sich ziemlich leicht behandeln lassen. Der Stülpkorb bahnte einst einen wahrhaft rationellen Bienenzuchtbetrieb an und ist noch heute in vielen Tausenden von Exemplaren im Gebrauch. Nach dem Dreißigjährigen Kriege waren es besonders die Heidimker, die als Hauptlieferanten von Honig und Wachs in Deutschland auftraten. Noch heute können sie in ausgezeichneten Jahren z. B. von 50 Völkern, die sie auf 150 vermehren, über 1500 Kilo Honig neben etwa 25 Kilo Wachs ernten; aber ihr Erzeugnis ist nicht so schön und darum auch nicht so gesucht wie der Honig, der von den heutigen modernen Imkern geerntet wird. Während die Heidimker das Pfund Honig mit 40 bis 50 Pfennig bezahlt erhalten, verkaufen die modernen Imker das Pfund zu 80 Pfennig bis 1 Mark und darüber. Diese ersteren sind eben nicht imstande, gerade den gesuchtesten, den schönsten Honig – den Frühjahrs- und Sommerhonig, zu gewinnen, dagegen aber massenweise den Buchweizen- und den Heidhonig aus der Erica vulgaris. Diese beiden Honigsorten stehen ohne Zweifel hinsichtlich ihrer die Gesundheit fördernden und anderen guten Eigenschaften dem Honige der modernen Imker nicht nach, wohl aber hinsichtlich des Aroms, der Farbe, des Geschmacks und der äußersten Reinheit von jeglichen Beimischungen, wie Blütenstaub und Wachsteilchen. Dazu kommt noch, daß sich beide Honigsorten in Gläsern nie so anlockend dem Liebhaber und Käufer gegenüber präsentieren. Daran ändert der so vortreffliche Betrieb der Heidimker ebensowenig wie ihre sonst ausgezeichneten Bienenwohnungen. Sie können sich eben der großen [477] Hilfsmittel der modernen Imkerei nicht bedienen. Das giebt sich sogar schon äußerlich zu erkennen, denn die Bienenstände der Neuzeit schauen der Hauptsache nach anders aus als die bisher vorgeführten.

Bienenzucht im Schwarzwald.

Sehen wir uns nun einmal einen solchen an, z.B. den eines deutschen Berufsimkers (S. 478), der lediglich von den Erträgen seiner Zucht lebt. Er hat vielleicht, wie das so häufig der Fall ist, vor Jahren mit den vom Vater ererbten Strohstülpern angefangen zu imkern und ist dann zum neuen Betriebe in modernen Bienenwohnungen übergegangen. Dabei hat er alles versucht, wovon er sich für seine Zucht Erfolg versprach, und das Bewährte beibehalten. So finden wir die besten Bienenwohnungen der Gegenwart auf seinem Stande in eleganten Pavillons, in hübsch zusammengestellten Kastenstapeln und neuen und alten Bienenhäusern vertreten. Auch der alte Erbstülper fehlt nicht, da ihn der moderne Imker, wenn auch weniger zur Honiggewinnung, so doch zu Betriebszwecken, sehr gut verwenden kann. Die Mehrzahl der deutschen Berufsimker befaßt sich nämlich nicht ausschließlich mit der Gewinnung von Honig und Wachs, viele fertigen in der Zeit, wo sie mit ihren Bienen so gut wie gar nichts zu thun haben, wie in den Monaten Oktober bis Februar und auch wohl weiter hinaus, Bienenwohnungen und Bienenwirtschaftsgeräte zum Verkauf, handeln mit guten überwinterten Zuchtstöcken und in der Schwarmzeit, im Juni, mit Bienenschwärmen, die gerade reichlich von den runden Strohstülpern erfolgen.

Betreten wir einen so großen Bienenstand, wie den auf unserer Illustration dargestellten, zu einer Zeit, wo die Nektarquellen der Blüten reichlich fließen, so müssen wir uns über die ungemeine Regsamkeit der kleinen Honigvögel wundern. Rastlos, mit fröhlichem Gesumme, ein Bild regsten Fleißes, arbeiten sie auf solch einem Musterstande. In Gärten, Wiesen, Feld und Wald haben sich Millionen von Blütenkelchen geöffnet, die fortwährend von den Bienen besucht werden. Schwer beladen kehren sie mit dem kostbaren Nektar, der ohne sie nutzlos verkommen müßte, in ihre Behausungen heim. Und wie dankbar sind sie für die süße, gespendete Gabe, indem sie bei ihren Besuchen die Blüten durch die Uebertragung des Blütenstaubes befruchten. Sie bewirken dadurch eine bessere Frucht- und Samenernte, ja bei einzelnen Gewächsen sind sie es allein, welche die Befruchtung der Blüten bewerkstelligen. Zu dieser Zeit hat der moderne Imker erst recht alle Hände voll zu thun. Dabei ist er aber insofern in großem Vorteil gegen den Imker alter Schule, als er sich die drei bedeutendsten Hilfsmittel der neueren Bienenzucht zu nutze machen kann. Als erstes unter ihnen ist die Wohnung mit beweglichem Bienenbau zu nennen, der der Imker, ohne Bienen und Bau zu schädigen, zu jeder Zeit die Wachstafeln entnehmen und wieder einfügen kann; das zweite Hilfsmittel ist die sogenannte Honigschleuder, eine Centrifugalmaschine, welche den Honig aus den Wachszellen schleudert, und das dritte die Kunstwabe, d. h. der künstlich hergestellte Bienenbau.

Wanderbienenstand in der Lüneburger Heide.

So sehen wir denn auch den Imker auf unserer Illustration S. 478 gar emsig damit beschäftigt, wie er honiggefüllte Rähmchen, die er soeben den Bienenstöcken entnommen hat, in die Honigschleuder schiebt. Ein paar Umdrehungen der Kurbel derselben genügen, den Honig auszuwerfen, der nun so rein und klar, wie er aus den Blüten gekommen ist, ohne irgend welche Beimischungen von Blumenmehl und Wachsteilchen, in ein untergesetztes Honiggefäß fließt. Das Wachswerk bleibt in den Rähmchen unbeschädigt und wandert mit diesen entweder nach zwei- oder mehrmaligem Ausschleudern in die Bienenstöcke zurück oder am Ende der Saison zum Gebrauche für nächstes Jahr in den Wabenschrank. Wir sehen den letzteren oberhalb der Honigschleuder neben dem langen Gazebeutel, der zum Auffangen der Schwärme dient, offen stehen und wohl gefüllt. Nicht selten schleudert der Imker der neuen Schule einem einzigen Bienenvolke 5 bis 20, ja in Ausnahmefällen wohl gar 50 Kilo Honig aus. So leicht wird ihm jedoch die Honiggewinnung aus dem im Vordergrunde offen stehenden runden Lüneburger Stülper nicht. Da hat er, wie der Heidimker, erst die Bienen zu töten, die honiggefüllten Wachswaben stückweise loszubrechen, zu zerquetschen und den Honig auszupressen. Das ganze Wachsgebäude wird vernichtet und muß bei einer Neubevölkerung des Korbes mit Bienen von diesen selbst neu gebaut werden. Das gestaltet sich alles ganz anders und vorteilhafter bei den Stöcken mit dem beweglichen Bau. Unter Benutzung der Vorräte seines Wabenschrankes, der leeren Wachswaben, füllt unser Imker seine Stöcke, sobald die Bienen anfangen, fleißig Honig einzutragen. Diese ersparen dabei die Zeit, die das Bauen der neuen Zellen erfordert. Viel Honig wird aber auch dabei verbaut. Denn um ein Pfund Wachs zu schwitzen, verbrauchen die Bienen 6 bis 20 Pfund Honig. Der leere Wachsbau ist daher von höchstem Werte.

Diese Erfahrung hat zur Erfindung der sogenannten Kunstwabe geführt, d. h. zu künstlich hergestelltem Bienenbau aus Wachs. Man erfand Guß- und Preßmaschinen zu dem Zwecke. Mit den ersteren, z.B. der Rietscheschen Gußform, kann sich jeder seine Kunstwaben selbst anfertigen. Die Preßmaschinen, sogenannte Walzwerke, werden von den Kunstwaben-Fabrikanten zur Massenanfertigung der Kunstwaben benutzt, denn der Verbrauch der letzteren ist ganz außerordentlich groß. Einer [478] unserer bedeutendsten Kunstwabenfabrikanten, Otto Schulz in Bukow, der sich hohe Verdienste durch seine Erfindungen und Verbesserungen der Maschinen sowie durch Vervollkommnung der künstlichen Wachswaben erworben hat, verarbeitet in einem Jahre über 9000 Kilo Wachs. Vermittelst einer wahrhaft genialen Erfindung, die er vor ein paar Jahren gemacht hat, fertigt er endlose dünne Wachsblätter, die sich von einer Rolle abwickeln und durch ein Walzwerk laufen, das die Anfänge der Bienenzellen wie der Zellenböden in das Wachsblatt prägt. Die nunmehr soweit fertige Kunstwabe wickelt sich hierauf wieder auf eine zweite Rolle (siehe Illustration auf S. 479), von dieser wird sie abgenommen, dann zurechtgeschnitten und in Rähmchen gelötet, um nun in die Bienenstöcke zu wandern.

Bienenstand eines Berufsimkers.

Die Kunstwaben, die Honigschleuder und die Bienenwohnung mit beweglichem Bau bieten dem Imker außer den erwähnten noch andere Vorteile. Wer sich darüber näher unterrichten will, den verweisen wir auf das soeben bei C. A. Schwetschke u. Sohn in Braunschweig in 5. Auflage erschienene Lehrbuch der Bienenzucht, „Der praktische Imker“ von Gravenhorst. Hier sollen nur noch einige Bemerkungen über die Regsamkeit auf bienenwirtschaftlichem Gebiete folgen.

Viele Hunderte von Bienenzüchternvereinen sind bis in die fernsten Winkel des Deutschen Reiches verbreitet, welche sich teils als Centralvereine, teils als Landesvereine deutscher Staaten, wie z. B. in Bayern und Württemberg, zusammengeschlossen haben. Der große Deutsche Centralverein zählt 30000 bis 40000 Mitglieder; er hält alle zwei Jahre eine Wanderversammlung ab, welche mit einer Ausstellung von lebenden Bienenvölkern, Bienenwohnungen, Imkergeräten und hauptsächlich Bienenwirtschaftsprodukten, Honig und Wachs, verbunden ist. Ein reges Leben herrscht auch in den einzelnen Spezialvereinen, die teils wöchentlich, teils monatlich zu gegenseitiger Belehrung zusammenkommen und jährlich eine Hauptausstellung veranstalten. Ohne in Verbindung mit den einzelnen Vereinen zu stehen, tagt alljährlich die große Deutsch-österreichisch-ungarische Wanderversammlung der Bienenzüchter, auf der jeder Bienenzüchter als Gast willkommen ist. Sie wird abwechselnd in Deutschland und Oesterreich abgehalten; Ende August 1897 wird sie in Wiesbaden stattfinden. Eine große Anzahl von Fachblättern trägt fortwährend Belehrung und Aufklärung in Wort und Bild unter die Menge. Dazu kommt noch, daß hervorragende Imker jährlich eine Anzahl Kurse abhalten, in welchen auf den Bienenständen Anfänger theoretisch und praktisch unterrichtet werden.

Das Honigschleudern.

Recht segensreich für die Ausbreitung der Bienenzucht haben sich die seit einigen Jahren gegründeten Imkerschulen [479] in Eberbach am Neckar und in Eystrup in der Provinz Hannover erwiesen. Die erstere, welche unter der bewährten Leitung des Lehrers und Imkermeisters Roth steht, wurde am 21. Mai 1891 eröffnet. Dieselbe erfreut sich ganz besonders der Förderung durch die Großherzogin von Baden, welche die Anstalt mit ihrem Gefolge besucht und in Augenschein genommen hat. Von 233 Bewerbungen um Aufnahme in diese Schule wurden 54 Männer und 22 Frauen bis 1895 zugelassen. Das Großherzogliche Ministerium des Innern bewilligte an sämtliche Schüler bezw. Schülerinnen, welche um eine Unterstützung eingekommen waren, Reisekosten und eine Tagesgebühr von 1 Mark 50 Pf bis 2 Mark 10 Pf. Nach Beendigung eines Kursus, deren mehrere in einem Sommer abgehalten werden, findet eine Prüfung statt. Ein Kursus dauert 10 Tage bei sieben- bis achtstündiger Arbeit im Schulraume oder auf dem Bienenstande.

Herstellung von Kunstwaben.

Die Imkerschule in Eystrup, welche von dem Imkermeister Rudolf Dathe trefflich geleitet wird, ist in ähnlicher Weise wie die in Eberbach eingerichtet. Sie erfreut sich wie diese der kräftigsten Unterstützung der Regierung und zugleich des Hannoverschen Centralvereines für Bienenzucht. Auch sie wird sehr fleißig besucht.

So ist denn allein durch diese Imkerschulen eine ganze Reihe von Männern und Frauen seitdem zu tüchtigen Imkern und Imkerinnen herangebildet worden, die schon mehr und mehr dafür sorgen werden, daß auch die primitiven Bienenstände nach und nach in moderne und gut rentierende umgewandelt werden. Und wie in Baden und Hannover sorgt man überall in Deutschland für Verbreitung der modernen Bienenzucht. Das kann und muß jeden, der sich überhaupt für Volkswohlfahrt nur halbwegs interessiert, vom Grunde des Herzens freuen, zumal wenn er bedenkt, daß alljährlich noch Millionen von Mark für die Bienenprodukte in das Ausland gehen, während noch riesige Massen des schönsten Nektars, viele Millionen von Wert, aus Mangel an den erforderlichen Bienenvölkern, in den Blüten deutscher Flora nutzlos verkommen müssen.


Unter der Linde.

Novelle von Wilhelm Jensen.

(1. Fortsetzung.)

Das Tageslicht verstärkte sich, den Glockenraum mit einer helleren Dämmerung durchwebend, der Zurückgelassene sah den Türmer mit der Leiter auf der Schulter furchtlos den Balken wieder überschreiten, hinter ihm das Mädchen. Ein kurzer Nachhall ihrer abwärtsverhallenden Tritte – dann war Alban allein. In einer wie von einem phantastischen Traum geschaffenen Welt, einer Einsamkeit, die lautloser und lebenverlassener war als etwa diejenige auf einem in die Wolken entrückten Berggipfel.

Warum das? Ihn wollte bedünken, er wäre drunten genug in Sicherheit gewesen. In die ihm überlassene Schlafkammer des Mädchens würde niemand eindringen. Doch sie und ihr Vater hatten mit Hast gedrängt, ihn hier zu verbergen, so mußten sie es für notwendig halten.

Er schämte sich jetzt, auf dem Balken beim Herüberschreiten gezögert, vor Gerlind Furcht gezeigt zu haben. Was ein junges Mädchen, fast ein Kind noch, ohne jedes Bedenken that, hatte ihn, einen Mann, mit Zaghaftigkeit befallen! Freilich war sie wohl von früh auf dran gewöhnt und kannte keinen Schwindel. Hinunterblickend, sah er sie in der Vorstellung wie leibhaft drunten auf dem Balken, furchtlos den Fuß heben, Schritt um Schritt vorsetzen. Im Ohr klang ihm auch wider, was sie gesprochen und wie sie dazu gelacht hatte, um ihm Mut einzuflößen.

Etwas Lebendiges regte sich doch um ihn: Fledermäuse lösten sich irgendwo von der Mauer und den Balken, schossen lautlos bis an die Schalllöcher der Glocken, kehrten um und verschwanden wieder irgendwo im Dunkel.

Ja, der Alte hatte recht. Um sich das Leben zu erhalten, was that’s, selbst zwischen dem flatternden Getier in solcher Stellung hier auszuharren – denn es war schön, zu leben!

Um nicht einzuschlafen und abzustürzen, solle er immer an etwas denken, hatte Linde gesagt. Er saß unbeweglich, vor sich hinschauend, mehrmals schlug die Uhrglocke, doch nur beim erstenmal ließ es ihn aus seinem Denken auffahren, danach kam’s ihm kaum mehr zum Bewußtsein, als sei sein Ohr schon lange dran gewöhnt. Dann aber ward es von etwas andrem berührt, einem verworrenen Getöse, das, wie er horchte, lauter wurde und merklich näher kam. Kein Zweifel blieb: von unten aus der Kirche her dröhnten vielfältige Fußtritte die Wendeltreppe herauf, Rufe tönten, dann ward die Antwort Toralts verständlich, er habe nichts gesehn, wisse nicht, wonach gesucht werde. Nun trat verhältnismäßige Stille ein, offenbar ward die Behausung des Türmers durchforscht. Danach aber sagte jemand. „Es geht noch weiter hinauf zu den Glocken, und die Stimme Gerlinds erwiderte. „Ja, hier – da fangen die Stufen an. Der zuerst gesprochen, versetzte drauf. „Ist die Luke droben offen? Sonst mußt du den Schlüssel mitgeben!“

Merkwürdig war’s, was da drunten geredet wurde, ging unbedingt Alban sehr nahe an, doch sein Gehör, seine Gedanken faßten daraus nur etwas vollkommen Bedeutungsloses auf, daß jeder in der Stadt Gerlind Toralt noch ebenso, wie er’s gethan mit „du“ anredete. Es konnte auch eigentlich niemand eine andere Anrede auf die Zunge geraten. trotz ihrer Großwüchsigkeit war sie ja noch ein Kind, hatte sich heute morgen völlig als ein solches benommen. Ein junges Mädchen in dem gebräuchlichen Sinne des Worts hätte, um ihn zu wecken, an die Thür geklopft, wäre nicht hereingekommen und hätte sich nicht seinem Bett genähert.

Das mußte er denken; er vernahm nur mit dem äußeren Ohr, wie Tritte zu ihm heraufpolterten, als habe er nichts damit zu thun. Nun erreichten die Suchenden die Leiter, klommen auch diese hinan, und der Vorderste sagte. „Hier sind die Glocken. Er trat auf einen der Balken, setzte den Fuß drauf vor, doch sein Nachfolger hielt ihn am Arm. „Da geht’s kopfunter zu den alten Knochen, die Reise wär’ schnell! Rechts kommt wieder eine Leiter.

Der Sitz Albans barg sich in tiefem Schatten, aber er nahm deutlich die unter ihm Anhaltenden wahr. Sie blickten durch den Glockenraum umher und wechselten einige Worte.

[480] „Weiter, als die Balken gehn, kann niemand, da ist’s zu Ende.“ – „Wenn er sich nicht in eine Glocke verkrochen hat und als Klöppel drin hängt, kann er hier nirgendwo stecken. – Sie lachten, die Sprossen der noch weiter nach oben führenden Leiter krachten, sie stiegen vorbei. Alban hatte den Atem angehalten, in der Höhe über sich hörte er eine knirschende Eisenluke öffnen, die vermutlich auf einen letzten Austritt des Turms führte. Nur kurze Weile verstrich, da kehrten die Fußtritte abwärts zurück. „Wenn er nicht, wie eine Spinne am Stein läuft, hat er auf die Spitze nicht hinaufgekonnt. – „Vielleicht reitet er auf dem Kreuz, dann sehen wir ihn von unten und können ein Vogelschießen abhalten!“

Ein Lachen lief wieder zwischen den Glocken um, dann tönten die Stimmen schon von dem Absatz der Türmerwohnung her: „Oben ist er auch nicht, wenn er nicht so ausgehungert ist, daß er in einem Mausloch Platz hat.“ – „Wahrscheinlich haben sie ihn jetzt drunten am Kragen, in der Kirche muß er irgendwo stecken!“

Und nun wieder schweigende Stille, nur in Zwischenräumen kurz vom Schlagen der Uhrglocke unterbrochen. In der That, es war unumgänglich nötig gewesen, daß man ihn hier verborgen hatte, überall sonst im Turm wäre er von den Nachspürenden entdeckt worden. Polizisten mußten es gewesen sein, sie hatten eine Art Uniform getragen; einer von ihnen, obgleich ein noch junger Mann, wohl die eines Sergeanten. Offenbar ward in der Stadt alles aufgeboten, des denunzierten Freischärlers habhaft zu werden.

Alban saß lauschend, ob nichts wieder von der Wohnung des Türmers herklinge, doch Stunde um Stunde vergeblich. Nur Sonnenfunken sprangen durch das nach Osten gerichtete Schallloch herein, schnellten sich hierhin und dorthin über das Gebälk und die Glocken und schienen plötzlich von einer unsichtbaren Hand ausgelöscht zu werden. Aus seinem Versteck sah Alban dem Lichtspiel zu, so hatte es gestern vormittag noch im Wald um ihn durch die Blätter geflimmert. Doch ihm lag’s im Gefühl, als müßte weit längere Zeit seitdem vergangen sein, gleich Tagen, einer Woche schien es hinter ihm. Ihm war’s, er sei in eine Märchenwelt versetzt, und wie ein Knabe beim Lesen eines Märchens, so harre er gespannt darauf, was in der verzauberten Wirklichkeit weiter mit ihm geschehen solle.

Langanhaltend dröhnte nun wieder die Uhrglocke – Mittagsstunde war’s, und jetzt ins Ausklingen des letzten Schlages mischte sich ein andrer Ton, der den Aufhorchenden mit freudiger Empfindung durchlief. Nur einmal hatte er ihn gehört, gestern in der Finsternis beim Treppenaufstieg. Doch er erkannte den leichten Fußtritt wieder. Und da hob sich schimmernd das blonde Haar Gerlinds an den Leitersprossen empor, sie trat behend auf den Balken über, kam hurtig auf ihn heran. In der Hand trug sie einen langen Stock, hielt nun an und fragte mit halblauter Stimme: „Ihr schlaft doch nicht im Nest?“

Er antwortete: „Nein – es ist freundlich von dir, daß du kommst!“

Rasch gab sie zurück: „Ich bringe Euch zu essen, Ihr müßt hungrig sein. Früher konnt ich’s nicht und muß gleich wieder hinunter. Da, seht Ihr’s?“

Die Stange hob sich zu ihm auf, an ihrem Oberende war, in Papier gewickelt, ein Stück warmen frisch zubereiteten Fleisches und etwas Brot befestigt. Das von ihr gebrauchte Wort paßte gut, es hatte etwas davon, wie wenn droben in einem Nest ein unflügger Vogel gefüttert würde. Ein kleines Weilchen blieb sie doch noch stehen und sagte: „Haltet Ihr’s noch aus? Ihr müßt’s schon, dürft noch nicht herunter; könnt’ ich’s nur, macht’ ich’s Euch gern bequem, wollte Euch ablösen, droben zu sitzen. Wie hab’ ich still in mich hinein gelacht, als ich ihn an Euch vorbeisteigen und reden hörte. Aber unten in der Kirche suchen sie immer noch. Der Polizeihauptmann ist überzeugt, daß Ihr Euch drin versteckt haben müßt. Wie ich zu Mittag einkaufte, sah ich drunten zu, sie sind ganz versessen auf Euch und haben sogar ein paar Grabplatten aufgehoben. Mir kam’s vor, als müsse ein strenger Befehl gekommen sein und jeder auf große Belohnung hoffen.“

Ein leichter Seufzer begleitete die letzten Worte, und hinterdrein fügte das Mädchen eine seinen Lippen absonderlich stehende philosophische Bemerkung: „So ist’s einmal auf der Welt, was dem einen Unglück bringt, das bringt dem andern Glück. Aber lieber wollt’ ich keins, und wenn’s mein Leben kosten sollt’, ich gäb’s dran, eh’ ich Euch im Stiche ließe. Nun habt Geduld und haltet Euch gut, bis Ihr wieder unten bei uns seid! Kann ich’s, so komme ich nachher wieder herauf, Euch etwas Gesellschaft zu leisten, wenn mein Gered’ Euch nicht zu einseitig ist. Da giebt der Vater das Zeichen, ich muß hinunter!“

Ein kurz klopfender Ton war von unten her geklungen und Gerlind in einem Nu, wie auf Flügeln niedertauchend, verschwunden. Ward die Durchsuchung der Toraltschen Behausung wiederholt? Alban horchte: es kam wieder etwas aus der Kirche herauf, und bald danach vernahm er auch einige Worte, glaubte die Stimme des Polizeisergeanten zu erkennen. Doch was dieser sagte, blieb unverständlich, eine Thür schloß sich und es ward still.

Ihm schlug plötzlich das Herz schneller, in Unruhe. Wenn er doch noch aufgefunden wurde, so brachte er auch über die beiden Unheil, den Alten und das Mädchen! Die Vorstellung überkam ihn beängstigend, weckte Selbstvorwürfe in ihm. Lieber wollte er sich selbst ausliefern – die Treppe hinunter in die Kirche schleichen und thun, als ob er dort aus einem Schlupfwinkel auftauche. Aber er mußte bleiben, konnte ohne die Leiter nicht von seinem Sitz herab. Ein Sprung hätte ihn unfehlbar zerschmettert in die Tiefe gestürzt, und davor bangte er zurück, denn – es war ja so schön zu leben!

Allmählich beruhigte er sich wieder, Viertelstunden vergingen, und nichts regte sich. Er hatte sich doch wohl in der Stimme getäuscht, man hegte keinen Verdacht mehr.

Für sich selbst konnte er nun ganz unbesorgt sein. Aber Gerlind – wie hatte sie doch gesagt? Ehe sie ihn im Stich ließe, gäbe sie ihr Leben dran! Dem Verstummen der Glocke ähnlich, gingen die Worte in leise nachhallenden Schwingungen durch seine Seele. Er fühlte, sie hatte es nicht leichthin gesagt, sondern thäte es wirklich. Zwar kaum begreiflich – für ihn, den Fremden, den sie gestern zum erstenmal gesehen! Aber sie war die Tochter ihres Vaters, der auch furchtlos, was er war und besaß, dransetzte, einen bedrohten Flüchtling zu retten.

Er schloß die Lider, schlief aber nicht und blieb sich seines gefährliche Sitzes bewußt, denn er wollte ja nicht stürzen. Aber in dem Halbtraumzustand, der ihn befing, wiederholte er sich immer die Frage: „Thäte sie’s nur deshalb, weil sie die Tochter ihres Vaters ist?“

Das Licht unter ihm änderte sich, doch ward es nicht dunkler, vielmehr wieder heller, nur von einer anderen Seite her. Die Sonne mußte nach Westen hinübergegangen sein und anfangen, das dorthin gerichtete Schallloch zu streifen. Richtig, da begannen auch wieder Goldfunken zu sprühen.

Da nahm plötzlich einer von ihnen eine helle Stimme an und fragte mit ihr: „Wie unterhaltet Ihr Euch mit den Fledermäusen? Haben sie Euch etwas über die Langeweile hingeholfen? Es sind possierliche Dinger, ich mag sie gern und hab’ manchmal hier allein gesessen und mit ihnen geschwatzt.“

Er hatte keinen Schritt gehört, und ihm war’s, als spräche die Stimme im Traum zu ihm. Aber unwillkürlich schlug er die Augen auf, und da stand Gerlind Toralt unter ihm auf dem Balken, doch halb ungewiß noch fragte er: „Bist du’s?“

„Wer sollt’ Euch sonst hier besuchen?“ Sie antwortete es lachend, diesmal in fröhlichstem ungekünsteltem Thon. „Ich konnte nicht eher kommen, aber jetzt ging’s.

Bei ihrem letzten Wort flog Alban ein Schrei vom Mund. Es war ihm, als schwanke sie, gleite und falle – ihm ward es schwarz vor Augen. Da klang indes ihre Stimme wieder: „Was ist Euch?“

Zitternd erwiderte er: „Ich glaubte, du –“ er konnte das Wort nicht aussprechen. Sie nahm’s ihm vom Mund. „Ihr meintet, ich fiele? Das hätte auch keine Gefahr, ich bin ein Turmkind und hielte mich wie ein Laubfrosch am Glockenseil.

Mit kinderhaftem frohsinnigem Uebermut sagte sie’s, und nun sah er: sie hatte sich auf den Balken gesetzt, ließ die Füße über der Tiefe herabhängen und hielt sich mit einer Hand an einem neben ihr aus der Höhe niederschwebenden Strick. Es war auch thöricht gewesen, zu fürchten, sie könne stürzen; von ihrer sicheren Gewandtheit abgesehen, hatte, was der Märchenwelt angehörte, ja Flügel oder schwebte, wenn es wollte, von selbst leicht in der Luft.

[481]

Abgeblitzt.
Nach einem Gemälde von M. Soulacroix.

[482] Nun sprach sie von ihrem Sitz aus weiter. „Thut der Arm Euch sehr weh? Ich muß immer an die Kugel drin denken; auch heut’ nacht wachte ich, glaub’ ich, von dem Gedanken dran auf.

Aber heut’ war’s nicht möglich, Euch von ihr zu helfen; morgen in aller Früh’ geht der Vater hinunter zu einem jungen Arzt. Der denkt g’rad’ so wie wir, ist ganz sicher, und ihm wird’s auch eine Freude sein, Euch beistehen zu können und die Kugel aus dem Arm zu holen. Daß nicht alle ebenso denken! Wie viel schöner wär’s dann in der Welt!“

Sie brach ab und lachte. „Nein, wenn sie’s alle thäten, dann säßet Ihr nicht da droben und ich nicht hier –“

Er fiel ein: „Eben das wäre doch schöner –“

„Für Euch freilich, aber ich bin so froh, wie alles seit gestern abend gegangen ist; das wär’ ich dann nicht! Und wie viel giebt’s noch zu überlegen, auf welche Art wir Euch ohne Gefahr über die Grenze – nein, dazu haben wir noch lange Zeit, brauchen heut’ noch nicht dran zu denken.“

Die Sonne war weiter abwärts gestiegen. Sie stand jetzt ziemlich wagerecht dem westlichen Schallloch gegenüber, doch eine große Glocke fing ihren Strahlenwurf auf, der selbst nicht sichtbar ward. Gerlind hielt sich an dem Seil, und um zu dem oben Sitzenden verständlicher hinaufsprechen zu können, lehnte sie sich halb rückgebogenen Kopfes furchtlos ins Leere zurück. Da schlüpfte ein Goldstrahl an der Glocke vorbei, traf ihr Gesicht, und in dem Glanz leuchteten plötzlich ihre Augensterne märchenhaft auf. Alban hielt unwillkürlich den Atem an, er glaubte, auf ein paar wunderbare tiefblaue Edelsteine hinunterzublicken, solche Farbe und solchen Glanz von Augen hatte er noch niemals gesehen. Doch nur für die Dauer eines Gedankens bog sie sich derart zurück, sie rief. „Das blendet gewaltig“ und rückte hurtig den Kopf wieder in den Glockenschatten. Da saß sie, sich an dem Tau leicht hin und her schaukelnd, dem auf sie Niederschauenden drängten sich Vergleiche auf, an eine tropische Liane, an einen Kolibri mußte er denken. Doch das enthielt Widersinniges, nur von dem Saphirglanz Angeregtes, nichts Fremdes war an ihr, alles so deutsch und heimatlich wie es nur sein konnte. Eine durchaus nicht kleine, eher schlankhohe Mädchengestalt wiegte sich an dem Seil, nur war ihm nie solche Vereinigung von gesunder Kraft mit Zierlichkeit vor Augen gekommen. Vorher hatte er seinen Körper von dem langen unverrückten Sitzen allmählich steifer und schmerzhaft werden gefühlt, jetzt empfand er nichts mehr davon, hörte dem Stimmenklang unter seinen Füßen zu und antwortete darauf.

Die Sonne verschwand, und Gerlind konnte nun ungeblendet den Kopf zurücklegen, ihre Augen strahlten jetzt nicht mehr den Edelsteinglanz aus, doch ihr Blau berührte ihn geheimnisvoll, als ob es in seiner Tiefe das leuchtende Wunder verborgen halte. Zufällig traf ihre Fußspitze einmal auf die Glocke neben ihr, und ein singender Ton ging durch den Raum. So eigen klang’s, daß Alban sie bat, es zu wiederholen, und sie that’s öfter. Dann horchte sie, sich ruhig haltend, auf das leise Verklingen, und danach lachte sie. Eigentlich war kein Grund dazu, aber sie konnte nicht anders, wie ein spielendes Kind lachen muß, weil es vergnügt ist. Und aus dem gleichen Trieb schaukelte sie sich dann wieder am Seil.

Er war eine Respektsperson für sie, hoch über ihr stehend, und doch zugleich auch ihr Schützling, vor dem sie keine Scheu empfand, mit dem sie zutraulich sprach. Nun bat sie ihn, ihr zu erzählen, wie er nach dem Gefecht die Tage und Nächte im Schwarzwald zugebracht habe. Er willfahrte gern und ging noch einmal in der Erinnerung alle Wege über Berg und Thal bis zum gestrigen Abend. Sie wollte wissen, in welches Gasthaus drunten in der Stadt er geraten sei, das wußte er nicht, beschrieb’s jedoch von außen, so daß sie’s erkannte. Alban erzählte nun, er würde ungefährdet wieder hinausgelangt sein, wenn die Kellnerin nicht mit einem Licht gekommen wäre und es vor ihn hingestellt hätte. „Das erkannte ich gleich als übel und gebot ihr drum rasch, es wieder fortzutragen, aber sie that’s nicht.“ – „Das glaub’ ich wohl“, schaltete Gerlind ein. – Er fragte: „Was glaubst du?“ – „Daß sie’s nicht fortnahm, sie sah Euch doch natürlich gern an.“

Ein Fußtritt klang von unten herauf, das Mädchen brach ab. „Da kommt der Vater, dann ist alles in Ordnung und Ihr könnt herunter.

Behend schwang sie sich am Tau auf die Füße, Toralts grauer Kopf kam zum Vorschein. Mit der Leiter in den Händen auf den Balken tretend, begrüßte er den oben Verborgenen. „Sie haben wohl Langeweile gehabt; jetzt ist’s still drunten, die Maulwürfe haben das Wühlen aufgegeben und sich überzeugt, daß Sie in der Kirche und im Turm nicht sind.

Vorschreitend richtete der Alte im Winkel die Leiter auf. „Lassen Sie sich Zeit und halten sich mit der linken Hand gut fest! Die Glieder werden Ihnen steif sein.“

Zögernd verharrte Alban noch einige Augenblicke in seiner Stellung. Nicht aus Furcht vor einem Fehltreten – er konnte sich nicht entschließen, seinen Sitz zu verlassen. Jetzt, wo er fort sollte, überkam ihn das Bewußtsein, so schön sei es selbst auf der Schwarzwaldhöhe nicht gewesen, wo die unermeßliche Weite sich aufgethan und die weißen Alpenfirne ihm geheimnisvoll entgegengeblickt hatten.

Doch der Türmer wartete, und so mußte er wohl hinab. Schwindelfrei, an keine Gefahr denkend, stieg er nieder, ging weiter über den Balken. Vor ihm glitt Gerlind hurtig die Treppe hinunter, für das Abendessen zu sorgen. Fröhliche helle Töne einer Volksliedmelodie klangen ihr von den Lippen; man konnte meinen, eine Lerche sei im Innern des Turms aufgestiegen gewesen und tauche trillernd wieder zu ihrem Neste drunten zurück.


*     *     *


Als Alban am andern Morgen aus seiner Kammer ins anstoßende Gemach trat, befand sich nur das Mädchen darin, Toralt hatte sich schon in die Stadt hinunterbegeben. Gerlind teilte es ihm mit und sagte freudig: „Nun hab’ ich allein die Hut über Euch und muß gut aufpassen, wenn ein Wolf kommt, daß er Euch mir nicht wegholt.“

Lächelnd gab er zurück. „Ist es denn ein Lamm, das du hütest?“

Das war köstlich, sie versetzte ernsthaft: „Nein, einen hochgelehrten Herrn, vor dem ich mich schrecklich fürchte“, aber es zuckte ihr schelmisch dazu um die Lippen.

Er fragte: „Wie kommst du darauf, vom Hüten zu sprechen? Bist du einmal auf dem Lande gewesen und hast es gesehen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nie aus der Stadt herausgekommen und werd’s auch nicht. Aber ich möcht’s gern einmal, im Wald und auf den Bergen muß es schön sein, in meinem Buch steht viel davon, auch von Hirten und Herden.

„Was für ein Buch ist das?“

Sie holte es herbei, ein Band Grimmscher Märchen war’s. „Ich weiß sie beinahe alle auswendig.“

Das führte ihn dazu, sich anzusehen, was ihr kleines Bücherbrett sonst noch enthalte. Etwas über ein Dutzend Bände und Bändchen stand dort, der Mehrzahl nach Schulbücher, auch ein französischer Leitfaden darunter, der Alban fragen ließ: „Du sprichst also wohl französisch?“ Zum erstenmal sah er ein bißchen Befangenheit über ihr Gesicht gehen und sie zögerte etwas mit der Antwort; es machte den Eindruck, als hätte sie gern Ja gesagt. Doch dann verneinte sie mit einer kurzen Kopfbewegung. „Ich hatte nur ein Jahr Unterricht darin.“

Halb ohne es zu wissen, nickte Alban. Er sah ihre Büchersammlung noch weiter durch, Erzählungen von Gustav Nieritz, Campes „Robinson“, ein Deutscher Hausschatz in Prosa und Vers, Gedichte von Chamisso, Eichendorff und Hölty, alte, stark gelesene Exemplare.

Nun fragte er wieder. „Welche von deinen Büchern hast du denn am liebsten?“

Sie zeigte auf die letzten drei, und er erwiderte lächelnd: „Und woher hast du sie bekommen?“

„Der Vater hat sie mir auf dem Jahrmarkt gekauft, wenn mein Geburtstag war.“

Jäh brach ein gewaltiges, die Stubenwände erschütterndes Dröhnen in ihr letztes Wort hinein, Glockenklanggewoge, doch nicht drunten her von der Uhr, sondern von oben herab. Ueberrascht fragte Alban: „Was bedeutet das?“

Das Mädchen antwortete: „Sie werden von unten an den Stricken geläutet.“

„Warum denn?“

„Weil’s Sonntagmorgen ist. Hat’s Euch erschreckt und ist’s [483] Euch zu arg? Ich will Euch Watte ins Ohr thun, das macht’s weniger schlimm.“

Doch er faßte sie an der Hand und hielt sie vom Weggehen ab. „Nein – die Glocken sind seit gestern meine Freunde, ich höre sie gern einmal singen.“

„So setzt Euch zum Frühstück, es hat schon auf Euch gewartet und wird sonst kalt.“

Nun saß er am Tisch, und das Wogen der Glockentöne ging über ihm weiter, doch ihm war’s, als ob ihre Schwingungen sich auch in ihn selbst hinein fortsetzten. Er fühlte sich wie leise von Wellen gewiegt, und schöne Wellen der Empfindung durchfluteten ihn. Dabei dachte er über Gerlind nach.

Er war Philologe, und wenn er dies Studium auch nicht mit der Absicht gewählt, den Lehrerberuf einzuschlagen, so hatte er doch eine Vorlesung über Pädagogik hören müssen, und davon her mußte wohl unbewußt etwas in ihm haften geblieben sein, das sich gegenwärtig geltend machte. Seine Augen sahen zu, wie die schlanken Hände Gerlinds ihm aus der buntgeblümten Kanne in die Tasse einschenkten, danach von dem Brotlaib ein Stück für ihn abschnitten, aber seine Gedanken beschäftigten sich wunderlich mit pädagogischen Betrachtungen. Die gingen ihm von der Frage aus. Was war eigentlich Bildung, oder vielmehr, welcher Wert wohnt dem inne, was man gewöhnlich so nennt? Die Tochter des alten Türmers neben ihm am Tisch gab darauf eine eigentümliche Antwort. Was sie in der Bürgermädchenschule gelernt, was der Umgang mit dem Vater, ihre paar Bücher ihr zugetragen, reichte zweifellos nicht hin, sie im gewöhnlichen Sinne gebildet zu heißen. Doch dem jungen Philologen kam jetzt die Erkenntnis, das und anderes Erlernte mache doch nicht die wirkliche Bildung aus. Das Beste, einzig in Wahrheit wertvolle konnte überhaupt nicht erlernt werden, sondern war Mitgift der Natur, die Art des Gemütes, die Anmut und Aufnahmefähigkeit des Geistes. Wo die sich fanden, war der Keim vorhanden, den sorgliche Pflege zur Blüte echtester, schönster Bildung entwickeln konnte.

„Warum seid Ihr so still?“ fragte Gerlind. „Es wird Euch wohl zu lang’ hier und Ihr seid mit Euren Gedanken schon über der Grenze?“

Alban sah ihr, noch etwas abwesend, ins Gesicht.

Nachdenklich fuhr sie fort. „Aus dem Fenster könnt Ihr wenigstens nach Eurem Ziel hinüberschauen, daran müßt Ihr Euch noch genügen lassen. Und schön ist doch auch dieser Ausblick?“

Sie war aufgestanden, trat ans Fenster und deutete in die sonnenbeglänzte Weite.

Er folgte ihr und gab zurück: „Ja, es ist schön, hier zu stehen.“ Er machte dabei mit dem verwundeten Arm eine kurze Bewegung, als wollte er ihn emporheben, mußte ihn aber vor Schmerz wieder sinken lassen.

Das Mädchen wies nach einem über die letzten Häuser der Stadt hin auf dem Feld groß aufragenden grünen Fleck. „Ist das nicht eine Linde?“

Das Wort gemahnte ihn an des Mädchens Kosename und er entgegnete lächelnd: „Ja, Linde.“ Dann setzte er hinzu: „Da du nie ins Freie kommst, woran erkennst du sie?“

„Drunten auf dem Stadtplatze steht eine, wir haben einmal unter ihr gesessen, der sieht die da drüben gleich. Aber unter der da draußen müßte sich’s noch ganz anders ruhen. Und dann weiter zu gehen, dort am hellen Wasser hin, durch die Felder, wenn das Korn wie Gold auszusehen anfängt, das wär’ eine Lust! Stehen dann nicht auch Blumen drin?“

„Ja, schöne – rote und blaue … so blau wie deine Augen, Linde. Vielleicht – gewiß – wirst du sie auch noch einmal sehen, noch oft. Doch was ist dir?“

Gerlind hatte das Haupt horchend erhoben. Ihr geübtes und sich anspannendes Ohr vernahm etwas, wovon er nichts hörte, sie brach rasch ab. „Da kommen Schritte herauf – es wird wohl der Vater sein – aber es könnte – bergt Euch schnell dahinein!“

Sie zog ihn eilig am Arm in ihre Kammer, schloß zurücktretend die Thür ab und verwahrte den Schlüssel in ihrer Kleidertasche. Alban stand eine Minute lang, ohne einen Gedanken fassen zu können, er fühlte nur das heftige Klopfen seines Herzens. Dann klang im Nebengemach die Stimme Toralts, der eine fremde antwortete, die Thür ward wieder aufgeschlossen und das Mädchen sagte: „Kommt, es ist der Herr Doktor.“

Dem der Aufforderung Folgenden streckte ein junger Mann die Hand entgegen. „Sie können mir ruhig vertrauen, ich trage das schwarz-rot-goldene Band unter den Kleidern auf der Brust, sonst hätte Ihr Gastfreund mich nicht heraufgeholt. Nun wollen wir nachsehen, wo die Kugel der heiligen Staatsordnung steckt. Ich habe das schöne Wort eben drunten gehört, darum liegt’s mir noch im Munde.

Er legte seine Verbandtasche auf den Tisch und nahm chirurgische Geräte aus ihr hervor.

Der Türmer erläuterte währenddessen: „Wir sind ein paar Minuten in der Kirche stehen geblieben und haben der Predigt zugehört. Der Pastor redete von der Ruchlosigkeit solcher, die sich, mit dem Teufel verbunden, gegen Thron und Altar auflehnen, und beschwor zeitliche und ewige Verdammnis herab auf die Verbrecher an der von Gott gesetzten heiligen Ordnung des Staates und alle, die vom Wege der Pflicht abirrend ihnen Beihilfe gewähren! Eine Predigt der christlichen Nächstenliebe war’s, man kam im Vorbeigehen kaum los davon.“

Um die sonst stets ruhig gleichmütigen Lippen des Alten schnitt sich beim letzten Worte ein halb spöttischer, halb bitterer Zug ein, sich zu dem Mädchen kehrend, fügte er jetzt nach: „Geh’ du solange auf den Umlauf hinaus.“

Sie fragte: „Warum soll ich fort? Glaubst du, ich fürchte mich und kann’s nicht mit ansehen?“ Ein Klang von Bekümmernis lag darin, sichtlich widerstrebte es ihr, die Stube zu verlassen.

Der junge Arzt hatte Alban geholfen, den Kittel abzulegen, und drehte sich gegen Toralt. „Ich seh’s schon, mehr braucht’s nicht; lassen Sie Ihre Tochter nur hier bleiben. Sie kann sich als Assistentin nützlich machen, ihre Finger flößen mir Vertrauen ein. Uebrigens scheint’s, daß die Sache ohne viel Schwierigkeit abgeht, die Kugel muß schon ziemlich flugmüde gewesen sein und nur noch gerad’ Kraft gehabt haben, durchs Zeug zu schlagen. Man sieht’s an dem Loch, das sie in die Leinwand gerissen, freilich weniger Schmerz macht ihr Anklopfen drum nicht. Bitte, eine Schale mit Wasser, Jungfer Assistentin, und ein Handtuch, einen neuen Schwamm habe ich selbst mitgenommen.“

Beglückt flog das Mädchen nach dem kleinen Küchenraum und kam mit dem Verlangten zurück. Das Hemd Albans zeigte unweit über dem Eckbogen eine Durchlöcherung, es war zur Vornahme der Operation kein weiteres Kleiderabthun nötig, als den Aermel bis zur Schulter hinaufzustreifen. Die Wunde wies keine scharfen Ränder, hart über ihr wölbte sich die Haut etwas vor und die Untersuchung ergab rasch, daß die ermattet angekommene Kugel dort sitzen geblieben, also nicht bis zum Knochen gedrungen war. Der Arzt sagte, nach seinem Messer fassend: „Sie haben den Arm gerade aufgehoben gehabt, wie das Ding herangeschnurrt ist; es hat sich mehr hineingequetscht, als gebohrt, und die Blutung ist nur schwach gewesen. Ein bißchen Blut muß dafür jetzt noch fließen, hoffentlich das letzte für die verlorene Sache. Wollen Sie es“ – er wandte sich an Gerlind – „mit dem Schwamm wegtrocknen, wenn ich das Messer fortziehe. Nun, ein bißchen spüren werden Sie’s natürlich auch. Denken Sie an etwas, was Ihnen lieb ist, das hilft am leichtesten drüber weg.“

Noch während er das letzte sprach, spaltete er mit einem kräftigen Einschnitt geschickt die Haut oberhalb der Wunde, das Mädchen hielt in der Rechten den angefeuchteten Schwamm bereit, doch griff es jetzt hurtig auch mit der linken Hand zu, denn Alban hatte unwillkürlich eine leicht zuckende Bewegung gemacht, die den aufgestreiften Hemdärmel von der Schulter herabgleiten zu lassen drohte. So hielt sie diesen fest, während sie mit der andern Hand ihrer Aufgabe nachkam, behutsam das quellende Blut fortzutupfen. Mit leiser Stimme und bedrücktem Ton fragte sie dazu: „Thut’s sehr weh?“

Alban wollte erwidern, doch er brachte das Wort nicht heraus, schüttelte nur den Kopf. Sein Körper hatte bei dem Schnitt gezuckt, doch er fühlte keinen Schmerz, nur etwas anderes und das allein die warmen Fingerspitzen, die beim Festhalten des Aermels leicht seinen bloßen Arm berührten. Ihr leises Zittern sagte, Gerlind empfinde den Schmerz, von dem sie glaubte, daß er ihn fühlen müsse.

(Fortsetzung folgt.)

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Blätter und Blüten.

Das Denkmal Kaiser Wilhelms I. in Köln. (Mit Abbildung.) Gleich nach dem am 9. März 1888 erfolgten Hinscheiden Kaiser Wilhelms I. bewilligten die Stadtverordneten vom Köln für ein Denkmal desselben 30 000 Mark, welche Summe durch Gaben aus der Bürgerschaft auf 300 000 Mark anwuchs. Aus zwei Wettbewerben ging der Bildhauer Anders in Berlin als Sieger hervor und wurde mit der Ausführung des Denkmals beauftragt. Als Standort für dasselbe wählte man die Stelle auf dem Kaiser-Wilhelmringe in der Neustadt an welcher der alte Kaiser bei seinem letzten Besuche am 23. September 1884 die Huldigungen der Kölner entgegennahm.

Am 18. Juni 1897 ist das Denkmal im Beisein des Kaisers und der Kaiserin feierlich enthüllt worden und bildet nunmehr einen neuen herrlichen Schmuck der berühmten Rheinstadt.

Aus einem rechteckigen Wasserbecken von 20 m Länge bei 16 m Breite erhebt sich, aus moosbewachsenen Basaltblöcken emporwachsend, bis zu 5,5 m Höhe der Sockel von poliertem roten schwedischen Granit, er trägt das gleichfalls 5,5 m hohe Reiterstandbild aus Bronzeguß. Den beiden Kopfseiten des Sockels ist je eine Konsole mit dem Vater Rhein und der Colonia vorgelagert; jede Längsseite trägt eine Inschriftentafel. Der Kaiser hält in der Linken fest die Zügel, mit der geöffneten Rechten macht er eine einladend grüßende Bewegung. Das Haupt schmückt der Helm umwallende Federbusch, um die Schultern hängt der Pelzmantel, der, vorn offen, die Generalsuniform sichtbar werden läßt.

Das Denkmal Kaiser Wilhelms I. in Köln.
Nach einer photographischen Aufnahme von Hans Breuer in Hamburg.

Den Sockel haben Kessel u. Roehl in Berlin, den Guß Martin u. Piltzing daselbst geliefert. Bei dem Rundgange nach der Enthüllung wurde der Bildhauer Anders vom Kaiser für die hohe künstlerische Ausführung zum Professor ernannt.

Abends von 10 bis 11½ Uhr folgte, leider bei ungünstiger Witterung, die Flottenparade auf dem Rheine, wo 65 Dampfer in einer 5 km langen Linie am Deutzer Ufer lagen. Alle Schiffe und beide Ufer waren glänzend beleuchtet, Feuerwerk, bengalische Flammen, Böllerschüsse und Knattern von Gewehrfeuer, übertönt von den Hochrufen der auf den Schiffen und am Ufer stehenden, wohl an 100 000 Köpfe zählenden Menge, dahinter die bis zu den äußersten Dachfirsten und Spitzen beleuchteten Häuser und Türme des einzig in der Welt dastehenden Stadtpanoramas boten dem Kaiserpaare bei der Rundfahrt ein Bild, das seinesgleichen kaum wieder finden dürfte, zumal die Lichteffekte bei Sturm und Regen ganz eigentümlich sich gestalteten.

Schloß Abenberg. (Zu dem Bilde S. 469) In einem anmutigen Hügellande, einige Stunden südlich von Nürnberg, liegt das Schloß Abenberg, das hochragend die ganze Gegend beherrscht und schon durch seine Lage verkündet, daß hier das mächtige Geschlecht seinen Sitz hatte, dem der umliegende Gau unterthan war. Die Grafen von Abenberg hielten auf dem romantisch gelegenen Schlosse einst glänzenden Hof, wenn sie nicht die Pflicht zum Kaiser rief, um an friedlichen Beratungen oder an Kriegszügen teilzunehmen. In hohem Ansehen stand namentlich Graf Rapoko, der Schirmvogt des Hochstiftes Bamberg, der 1172 starb. Seine fromme Schwester Stilla erbaute auf der entgegengesetzten Seite des Städtchens Abenberg eine Kapelle zu Ehren St.Peters. Der Kapelle wurde im Jahre 1488 durch den Bischof von Eichstätt ein Kloster angefügt, das den Namen Marienburg erhielt. Doch waren die Abenberger trotz aller Frömmigkeit keine Kopfhänger. Lust am Liede und am Gesang und ritterlicher Sinn hatten auf dem Schlosse eine gute Pflegestätte. Zeuge dessen ist kein geringerer als der größte deutsche Dichter des Mittelalters, Wolfram von Eschenbach, dessen väterliche Burg nur wenige Stunden von Abenberg entfernt lag. Nach dem Erlöschen der männlichen Linie dieses Geschlechtes kam ein Teil der Abenbergischen Güter um 1192 an den Grafen Friedrich III. von Zollern, den ersten Nürnberger Burggrafen aus dem glorreichen Hause, das beinahe 700 Jahre später dem wieder geeinten Vaterlande einen Kaiser gab. Nicht lange jedoch sollte das romantisch gelegene Schloß den Zollern eigen sein. Burggraf Konrad der Fromme verkaufte es bereits im Jahre 1296 dem Hochstift Eichstätt und diesem blieb es eigen, bis es beim Zusammenbruch des heiligen Römischen Reiches deutscher Nation an die Krone Bayern fiel. Im Jahre 1875 restaurierte Herr Zwerschina aus München das Schloß unter namhaften Opfern, 1881 ging es in den Besitz des Hofopernsängers Anton Schott aus Hannover über. H. B.     

Abgeblitzt. (Zu dem Bilde S. 481) Ja, wenn es der Anzug allein thäte für einen Freier, der schöne neue Frack, die seidenen Beinkleider und die tadellose Halsschleife! Da wäre unser braver Junge hier des Erfolges sicher. Aber ach! in dem Augenblick, wo er seinen schöngesetzten Antrag beginnt, da merkt er erst, wie wenig zuverlässig jene Hilfsmittel sind: die kokette kleine Person lacht seiner treuherzigen Einfalt geradezu ins Gesicht. Er kommt ihr heute in dem feierlichen Aufzug noch viel belustigender vor als sonst, und sie nimmt jetzt, wo sie die Reihe ihrer Triumphe durch den ihm alsbald auszuhändigenden Korb wieder um einen vermehrt hat, keinen Anstand mehr, es ihm unverhüllt zu zeigen. Wenn sie das nur nicht später noch bereut! Aus seinem hübschen verblüfften Gesicht sprechen doch gute Eigenschaften: er wird nach wenig Jahren der Erfahrung ein begehrenswerter Gatte sein. Sie aber, das allerliebste falsche Kätzchen – wenn sie nur nicht das bekannte Schicksal der großen Koketten erlebt: so lange zu wählen und zu täuschen, bis die Zeit der Wahl vorbei ist und alle späte Reue den früher Getäuschten und längst anderweitig Beglückten nicht mehr herbeirufen kann! Bn.     


Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 28/1897 ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.