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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[485]

Nr. 29.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.
(9. Fortsetzung.)
15.

Es schlug halb Elf. Magister Leuthold saß behaglich in seinem bücherumstellten Museum und las die Geschichte der Tantalidin, die der unsägliche Schmerz um den Verlust ihrer Kinder zu Stein verwandelt. Er hatte gelegentlich seiner Martialstudien einen erläuternden Vers des Ovid gebraucht und war dann unwillkürlich von der Lektüre gefesselt worden.

Da kam zitternd und rotglühend vor Aufregung die blonde Flickschusters-Lore ins Haus gerannt. Sie stürzte atemlos nach der Küche, wo die Wirtschafterin Gertrud Hegreiner eben den Braten ansetzte.

„Um Gottes willen, was giebt’s?“ frug Gertrud.

„O, was Schlimmes!“ keuchte die Lore. „Bringt mich zum Herrn Magister! Das Fräulein schickt mich, die liebe, herzige Hildegard! Der geht’s gleich an den Kragen, wenn ihr der Herr Magister nicht hilft. Kommt! Ihr könnt’s ja dann drinnen mit anhören!“ Die Flickschusters-Lore sah so völlig verstört aus, daß Gertrud Hegreiner begriff, es müsse sich hier in der That um Leben und Tod handeln. Sie legte die eiserne Gabel weg und nahm herzklopfend das Kind bei der Hand. So gingen sie nach der Studierstube.

Franz Engelbert Leuthold, ganz vertieft in seinen Ovidius, wollte die Wirtschafterin schon etwas unsanft anlassen. Doch die geisterhaft verängstigten Augen der kleinen Lore verblüfften ihn.

Und das bebende Kind sprach drauf los, ohne zu warten, daß er nach ihrem Begehr fragte.

„Was?“ rief der Magister, aschfahl bis in die Haarwurzeln. „Dir hat wohl geträumt? Unsinn! Erzähl’ mir das noch einmal! Wie war’s und wo?“

Die Flickschusters-Lore wiederholte ihren Bericht mit sämtlichen Einzelheiten. „Ihr sollt ihr helfen – so rasch als möglich, schloß sie die hastig gestammelte Rede. „Die Blutrichter wollen sie umbringen.“

Franz Engelbert Leuthold zuckte mit keiner Wimper. Während der letzten Zeit stark überarbeitet, hatte er oft bei ganz unwichtigen Anlässen große Reizbarkeit an den Tag gelegt. Jetzt beherrschte der Mann sich vollständig. Er fühlte zu tief, wie sehr es hier darauf ankam, daß er nicht die Besonnenheit und den ruhigen Blick verlor. Er schickte zunächst die Wirtschafterin, die laut aufheulte und schrie, mit freundlicher Strenge hinaus.

„Euer Gebahren bringt mich um den Verstand, Gertrud! Was verzagt Ihr so jämmerlich? Gott der Herr wird uns ja beistehen! Geht, geht, Ihr macht mich ja toll! Du, Lore, du bleibst noch! Ich muß dich noch einiges fragen!“

Als sich Gertrud, noch immer wehklagend, entfernt hatte, nahm er das Kind väterlich bei der Hand. „Wer, behauptest du, hat meinen Engel verhaftet? Leute des Adam Xylander?“

„Ja, des Adam Xylander. In seinem Auftrag. Das hat sie ausdrücklich gesagt.“

„Und von wem rührt die Beschuldigung her?“

„Das weiß ich nicht.“ Franz Engelbert Leuthold forschte noch mit scheinbarem Gleichmut nach diesem und jenem, ohne doch Nennenswertes herauszubekommen. Dann strich er dem Kind freundlich über das glühende

Generalfeldmarschall Graf von Blumenthal.
Nach einer Aufnahme von Loescher & Petsch, Hofphotographen in Berlin.

[486] Antlitz. „Ich danke dir! Das will ich dir nicht vergessen, so lang’ ich lebe! Nun aber laß mich und geh’ in die Küche! Erhol’ dich ein wenig! Du bist so abgejagt wie ein verfolgtes Wild. Ich schreibe jetzt gleich ein paar Zeilen an Doktor Adam Xylander. In das Gerichtsgebäude. Willst du mir die besorgen? Hast du noch Kräfte genug?“

„O ja! Für meine herzliebe Hildegard wollt ich mich auch zu Tod rennen. Aber mir thut’s nichts.“ So ging sie hinaus.

Der Magister nahm seinen dumpf brennenden Kopf zwischen die Hände. Aus tiefster Brust stöhnte er auf. Dann setzte er sich vor den Arbeitstisch, nahm einen großen gelbgrauen Conceptbogen und schrieb ohne zu stocken was folgt:

„Hochwürdiger und gestrenger Herr Stadtrichter!
Hochgelahrtester Herr!

Verzeiht einem geängstigten Vater, wenn er Euch mitten in Eurer Amtstätigkeit schier überfällt. Aber Not kennt, wie Ihr wißt, kein Gebot.

Ist es wahr, daß mein geliebtes, unbescholtenes, ehrbares und gottesfürchtiges Kind Hildegard bei Eurem Gericht als Hexe denunziert worden ist, und daß Ihr, Herr Doktor Adam Xylander, Befehl erteilt habt, die sittsame und arglose Jungfrau in Haft zu nehmen? Man hat sie vor einem Haus in der Weylgasse, wo sie Almosen austeilte und einem Kranken Trost brachte, mit Gewalt fortgeführt. Möglicherweise liegt hier ja eine bloße Verwechslung, ein Mißverständnis oder ein Willkürakt untergeordneter Knechte vor. Ich beschwöre Euch, hochgelahrter Herr Stadtrichter, klärt mich hierüber ohne Verzug auf! Die Ueberbringerin dieser Zeilen könnte mir Eure gütige Antwort gleich mitnehmen. Es bedarf ja keiner langen Erörterung, sondern nur etlicher Silben, zu denen Ihr wohl bei freundlichem Willen die Zeit findet. Ich sage Euch schon im voraus meinen gehorsamsten Dank.

Im Fall, daß Ihr die furchtbare Thatsache einer vorhandenen Denunziation bestätigt, unterbreite ich Euch hier gleich das Ersuchen, mir doch eine sofortige Unterredung mit meinem unglücklichen Kinde wohlgeneigtest gestatten zu wollen. Ich hoffe, daß Ihr mir tiefbekümmertem Manne dies billige und gesetzlich unanfechtbare Verlangen nicht abschlagen werdet.

Die eidliche Aussage eines Vaters gilt im peinlichen Prozeß Euch Männern von der Justiz ja wenig. Aber ich leiste hier dennoch bei dem allwissenden Gott einen heiligen Schwur, daß, wer immer meine geliebte Tochter bei Euch denunziert hat, ein elender, ruchloser, feiger Verleumder und Lügner ist. So wahr mir Gott helfe!

Ich nenne mich
Eurer Hochgelahrten freundwilligen und gehorsamsten Diener
Franz Engelbert Leuthold,
weiland Magister zu Wittenberg.“

Nachdem er dies Schreiben gesiegelt und mit der Aufschrift versehen hatte, trug er es selbst in die Küche und übergab es der Flickschusters-Lore. Das Kind sauste wie ein flatternder Vogel zum Thor hinaus.

Der Brief traf den Malefikantenrichter kurz vor elf Uhr in seinem dumpfigen Eigenraum neben der Haupthalle. Er saß hier vor dem tintenbeklecksten Pult und blätterte in den Akten der Wedekind. Da die Flickschusters-Lore nach Leutholds Weisung dem Gerichtsdiener erklärte, es handle sich um eine höchst persönliche Angelegenheit des Herrn Stadtrichters, so ward sie ohne Verzug vorgelassen.

Adam Xylander empfing das Kind mit staunendem Mißtrauen. Wer unterstand sich, ihn hier unmittelbar vor Ausübung seiner Amtspflicht – Punkt Elf sollte die Sitzung beginnen – mit persönlichen Zuschriften zu belästigen? Suchte man etwa sein von Natur so bewegliches Herz heimlich zu gunsten der Wedekind zu beeinflussen? Ihm etwas recht Erschütterndes vorzujammern? Aber die Welt sollte doch nachgerade davon überzeugt sein, daß ihn die Pflicht und das Rechtsgefühl zum unüberwindlichen Brutus machte! Es war an der Zeit, solche Bestrebungen, die sich während der letzten Monate mehrfach zu ihm herangedrängt hatten, energisch festzunageln und als Begünstigung kriminell zu verfolgen.

Mißmutig und ohne ein Wort zu sprechen, nahm er der kleinen Lore den Brief ab. Er drehte ihn etlichemal zwischen den Fingern, beschaute das Siegel, das er nicht kannte und brach ihn dann mit zögernder Selbstüberwindung auf. Er las – die Lippen fest aufeinandergepreßt. Die schmale, zurückfliegende Stirn über der unruhig schnobernden Geiernase umwölkte sich ihm.

Nach kurzem Bedenken ergriff er die Feder und schrieb.

„Hochwürdiger und hochgelahrtester Herr Magister!

Aus besonderer Gefälligkeit und aus ehrlicher Hochachtung für den schuldlosen Vater, der unter dem Frevel der Tochter nicht über Gebühr leiden soll, gebe ich Euch die gewünschte Auskunft, obschon ja der Ton Eurer schätzbaren Epistel mit der Hoheit und Dignität des Richterkollegii kaum noch verträglich scheint.

Ja, Eure Tochter Hildegard Leuthold ist auf meinen Befehl hier zur Haft gebracht worden. Es liegen schwerwiegende Indicia gegen sie vor, deren Berechtigung sich wohl in kurzem herausstellen wird. Heute noch will ich zum ersten Verhör schreiten. Aus Nachgiebigkeit gegen die Fürbitte dessen, der sie bezichtigt hat, soll dies erste Verhör – selbst für den Fall, daß die Beschuldigte hartnäckig leugnet – ohne Tortur stattfinden. Man wird der Beschuldigten einige Tage Zeit lassen in der Zelle des Stockhauses zur Besinnung zu kommen, auf daß sie demnächst ein reumütiges Geständnis ablegen und sich so nicht nur die sonst unabwendbare Folter erspare, sondern auch eine mildere Form der Urteilsvollstreckung auswirke.

Euer Zeugnis und Euer Eid sind hier allerdings vollständig wertlos. Denn das ist ja die Art und die boshafte List solcher Hexen, daß sie ihre Umgebung durch scheinheiliges Wesen geflissentlich täuschen. – Was Euren Wunsch betrifft, die Verhaftete zu besuchen, so stünde der Sache meinerseits nichts im Wege. Doch möchte ich kein entscheidendes Wort sprechen, ohne zuvor Herrn Balthasar Noß gehört zu haben, der wohl morgen, spätestens übermorgen von seiner Reise zurückkehrt. Bis dahin also geduldet Euch! Und tröstet Euch mit dem Gedanken, daß, wenn auch der irdische Richter mitleidslos gegen die Frevlerin einschreiten muß, hiermit doch eine Sühne geschaffen wird vor Gott dem Allmächtigen, der die Bußfertige und Gezüchtigte im Jenseits begnadigt und sie trotz ihres abscheulichen Paktes eingehen läßt in das Reich seiner ewigen Herrlichkeit.

Tiefschmerzlich bedauernd, daß gerade Euch dies furchtbare Verhängnis beschieden war, nenne ich mich

Euren gehorsamsten Diener
Doktor Adam Xylander,
Beisitzer des Glaustädter Malefikantengerichts.“
Und abermals rannte die kleine Flickschusters-Lore durch die schwer sengende Juliglut nach der Grossachstraße.

Als der Magister das unversiegelte Blatt in Empfang genommen und das erschöpfte Kind wieder hinaus zu Gertrud geschickt hatte, warf er sich, am ganzen Leibe zitternd und bebend, in seinen Lehnstuhl und las. Er starrte auf die unruhig verschnörkelten Schriftzüge des Malefikantenrichters wie auf gräßliche Nachtgespenster. Da hatte er’s schwarz auf weiß – dieser hirnkranke Fanatiker war gleich von vornherein von der Schuld Hildegards fest überzeugt, er ließ die Möglichkeit eines Irrtums gar nicht gelten! Die Missethaten, die man den Unholden und Hexen vorwarf, diese haltlosen, öden Gespinste des Aberglaubens, waren für Adam Xylander so höchst wirklich und thatsächlich, daß er sie auf den leisesten Schimmer einer Verdächtigung hin augenblicklich mit Händen griff! Es war zum Tollwerden!

Und mit zermalmender Wucht überkam den unglücklichen Magister das Peingefühl seiner vollständigen Ohnmacht und Hilflosigkeit. Nein, aus dem Todesnetze der Blutrichter gab es auf Gottes Welt kein Entrinnen. Mit diesen schauerlichen Phantasmen der Bosheit und Finsternis kämpfte die Willenskraft ebenso fruchtlos wie der Geist und die Einsicht.

Fruchtlos! Ohne die mindeste Aussicht! Und gleichwohl mußte irgend etwas geschehen! Er konnte als Vater nicht in müßiger Feigheit die Hände in den Schoß legen, wenn man sein Liebstes zerquälte, zertrümmerte und dem schmachvollen Tod überlieferte! Selbst das Unmögliche mußte gewagt, selbst das Hoffnungsloseste mußte versucht werden.

Zunächst galt es wohl, einen Rechtskundigen ausfindig zu machen, der so viel Mut besaß, für Hildegard als Verteidiger aufzutreten. Die Gewinnung eines Verteidigers hielt schwer unter der Herrschaft der Blutrichter. Gleich von Anfang an hatte sich [487] hier die Praxis herausgebildet, von der Bestellung eines Defensors grundsätzlich abzusehen, da ein crimen exemptum, ein Ausnahmeverbrechen, vorliege, dem die Gegenrede nach Möglichkeit zu erschweren sei. Zudem war nicht mit Unrecht die Meinung verbreitet, jede Bemühung eines Sachwalters zu gunsten des Angeklagten erscheine dem Blutrichter als ein halber Beweis heimlicher Sinnes- und Geistesverwandtschaft. So beschränkte sich denn die gesamte Verteidigung auf die geringfügigen Einwände, die rein der Form wegen im Schoße des Tribunals selbst erhoben, aber vom Zentgrafen augenblicks aus der Welt geschafft wurden.

Trotzdem! Engelbert Leuthold kannte in Glaustädt wenigstens einen Mann, der ihn und seine unglückliche Tochter hier unter keiner Bedingung im Stich lassen würde. Dieser Mann war der kleine bucklige Notar Rolf Weigel, dessen unscheinbare Gestalt einen hochfliegenden, starken Geist barg, der ebensoviel Gesetzeskenntnis als Scharfsinn und Mut besaß und den Greueln der Hexenprozesse in kaum noch zu unterdrückender Feindseligkeit gegenüberstand. Unter den Brauen Leutholds flammte es wie ein Blitz. Ebensoschnell jedoch losch dieser freudige Glanz wieder aus. Es war ja doch nur traurige Selbsttäuschung! In der That bot denn auch die kühnste Beredsamkeit Weigels irgendwie eine Bürgschaft für den Triumph der Wahrheit? Und hätte man selbst die starre Unlogik des Adam Xylander mit Erfolg widerlegt, so bliebe doch immer als Hauptschrecknis der goldgierige, blutdürstige Balthasar Noß. Wen dieser Unmensch erst einmal zwischen den Pranken hielt, den gab er nicht wieder frei! Das Geschäft war zu einträglich, das Herz des Mannes zu roh und verstockt, seine Mordlust zu unersättlich.

Nein! Die Sache war hoffnungslos!

Aber … wie dann …? Wenn Hildegard schuldig befunden, wenn sie verurteilt wurde? Leuthold rannte ein paarmal durch seine Stube wie ein keuchendes Raubtier. Dann, plötzlich stehen bleibend, hob er die Hand empor.

„Gott, allmächtiger Gott! Höre du meinen Eid! Strafe mich, wenn ich ihm untreu werde! Eh’ ich das schweigend mit ansehe – eher stirbt Balthasar Noß und das ganze Gelichter von dieser Faust!“ Er sah sich im Zimmer um wie ein Verzweifelter, der eine Waffe sucht. Mit krallenden Fingern griff er nach rechts und links in die Luft. Ein gräßlicher Aufschrei. Er drehte sich halb um und fiel mit schmetterndem Krach auf den Fußboden.

Als Doktor Ambrosius – selber vollständig haltlos und einem Toten ähnlicher als einem Lebenden – kurz vor zwei Uhr bei dem Magister eintraf, fand er bereits alle Symptome einer Gehirnentzündung. Die Plötzlichkeit dieses furchtbaren Schlages hatte dem längst schon angegriffenen und widerstandsunfähig gewordenen Mann den Rest gegeben. Er lag im Delirium. Von Zeit zu Zeit stieß er mark- und beinerschütternde Angstrufe aus, klagte über die Folterknechte, die ihm die Füße zerbrächen, und wimmerte herzzerreißend. „Hildegard, meine arme, verlorene Hildegard!“

Doktor Ambrosius, dem die Gedanken hinter der heißen Stirn jagten wie glührote Wolken, erteilte die nötigen Anordnungen und verließ dann in fürchterlichster Verfassung das Haus. All seine Patienten vergessend, rannte er ein Stück nach dem Lynndorfer Gehölz zu, um sich halbwegs zu sammeln.

Unter dem Gehen fiel ihm Bertha Xylander ein, die er auf heute zwischen Drei und halb Vier an den Brunnen im Bürgergarten bestellt hatte. Vielleicht war das ein Wink des Schicksals, vielleicht konnte er durch diese leicht zu beeinflussende nervenschwache Person auch zu gunsten Hildegards eine Wirkung auf Adam Xylander ausüben. Was er zu thun hatte und wie er das anfangen sollte, darüber war er sich jetzt nicht klar. Nur soviel begriff er, daß er hier die vollkommenste Selbstbeherrschung zu üben hatte. Bertha Xylander durfte nicht ahnen, wie er mit Hildegard stand und was für ihn von dem Schicksale der Beschuldigten abhing.

Das Herz zerfressen von Weh, zwischen Hoffen und Furcht hin und her geschüttelt und innerlich beinahe erliegend, fand er gleichwohl die Kraft, seine Gemütsbewegung langsam zu meistern. So schritt er in scheinbarer Gelassenheit dem südöstlichen Stadtviertel zu, wo der baumreiche Bürgergarten jetzt stumm und verwaist in der lodernden Sonne des Julitages dahinbrütete.

Bertha Xylander war schon zur Stelle. Sie hatte sich mit ihrem Nähzeug ganz harmlos auf eine schattige Bank in der zweiten Allee gesetzt, so daß die Begegnung, wenn sie beobachtet wurde, den Eindruck vollkommenster Zufälligkeit machen mußte. Auch Doktor Ambrosius schlenderte wie in Gedanken und ohne die mindeste Absicht daher, obgleich hier keine menschliche Seele die Einsamkeit störte.

Bertha Xylander empfing ihn mit dem sanftstrahlenden Blick einer Verklärten. Dann ward sie urplötzlich traurig.

Doktor Ambrosius hatte ihr zur Begrüßung die Hand gereicht. „Setzt Euch!“ bat sie mit einem Seufzer. „Was habt Ihr?“ fragte Ambrosius. „Ach, ich bin unglücklich! Ueber den Oheim! Jetzt, wo ich schon dachte, wir hätten ihn endgültig auf den Weg der Vernunft gebracht, jetzt schreit er mich gräßlich an und schimpft und treibt’s mit der Arbeit toller als je zuvor. Und gestern denkt nur – hat er mir untersagt, Euren Namen irgendwann vor ihm auszusprechen. Er hat eine Antipathie gegen Euch. Er brennt darauf, Euch möglichst schnell das ärztliche Honorar zu behändigen, um ja fürder nichts mehr von Euch zu sehn noch zu hören.“

„Aber weshalb?“

„Weil Ihr im Haus der Malefikantin Wedekind wohnt,“ stotterte Bertha. „Als ich zuerst nach Euch schickte, hat er das nicht gewußt. Erst später – da draußen in Königslautern ist’s ihm bekannt geworden. Da hätt’ er Euch denn am liebsten sofort aufgekündigt …“

„Schlimm!“ sagte Ambrosius.

Er hatte schon neulich etwas von dieser Antipathie verspürt. Jetzt schien sie für allezeit unwiderruflich ausgesprochen. Die Haupthoffnung, die er halb unbewußt an die Begegnung mit Bertha geknüpft hatte, es werde ihm glücken, durch ihren Einfluß erneuten Zutritt ins Haus zu erlangen – schwand ihm so unter den Fingern hinweg.

„Schlimm!“ wiederholte er nachdenklich. „Wo das Vertrauen fehlt, da ist’s freilich am Ende! Nun käme ich nicht, und wenn Ihr mich auf den Knieen drum anflehtet. Nicht, daß ich grollte! Beileibe! Nur weil ich jede Maßnahme, die ich hier treffen möchte, für fruchtlos halte. Inzwischen kann ich nur eins raten. Sorgt dafür, daß er in seiner Amtsthätigkeit nichts übereilt! Er hat ein so zartes, leicht verletztes Gewissen, und diese Feinfühligkeit ist durch die immer noch obwaltende Krankheit derart geschärft worden, daß für ihn alles zu fürchten steht, wenn er einmal nachträglich zu der Erkenntnis käme, daß er zu mitleidslos und grausam geurteilt. Sucht ihm das beizubringen! Mich aber erwähnt ja nicht. Um keinen Preis! Ihr werdet schon wissen, wo und wie er am besten zu packen ist.“

„Ich will sehen, was sich da thun läßt. Wie gütig und liebenswürdig von Euch, mir so die Richtung zu weisen …“

Doktor Ambrosius erhob sich. Er hielt es nicht länger aus, hier den unbeteiligten ärztlichen Freund zu spielen, während das Herz ihm vor heimlicher Angst beinahe in Stücke brach.

„Ich danke Euch noch vieltausendmal!“ stammelte Bertha. „Laßt mich die Unfreundlichkeit meines Oheims ja nicht entgelten!“

„Gewiß nicht!“

So trennten sie sich. Doktor Ambrosius war der Verzweiflung nahe. Jetzt erst kam es dem Hoffnungslosen klar zum Bewußtsein, daß selbst mit einer ernsthaften Beeinflussung Adam Xylanders wenig gewonnen war. Die Seele des Malefikantengerichtes hieß ja Balthasar Noß!

16.

Am Morgen dieses ereignisvollen Tages hatte sich Doktor Adam Xylander gegen halb Zehn nach dem Stadtgerichte begeben und sich vorläufig in seinem Eigenraum aufgehalten, wo ihn dann kurz vor Elf die kleine Flickschusters-Lore mit dem Brief des Magisters antraf. Punkt Elf sollte in der Gerichtshalle die Untersuchung gegen die nun seit Wochen schon im Stockhause schmachtende Ehewirtin des Zunftobermeisters Karl Wedekind stattfinden. Doktor Xylander hätte die nochmalige Durchsicht der Akten ebensogut in seiner Wohnung vornehmen können. Aber es drängte ihn, nach so langer Abwesenheit möglichst frühzeitig dem Schauplatz seiner amtlichen Thätigkeit nahe zu sein. Er würde auch die Sitzung schon auf halb Acht – statt auf Elf [488] anberaumt haben, wäre nicht sein Kollege Holzheuer nebst zwei Schöffen durch eine wichtige Inspektionsfahrt behindert gewesen.

Fünf Minuten nach Elf war das Glaustädter Malefikantengericht bis auf Balthasar Noß vollzählich. Adam Xylander nahm den buckelbeschlagnen Präsidentenstuhl ein. Doktor Holzheuer, das gefügigste Werkzeug des abwesenden Zentgrafen, saß dem Präses zur Rechten, links folgten die beiden Schöffen und der Gerichtsschreiber.

Die Halle des Tribunals war ein nicht sehr umfangreicher, stilloser, schwarzgrau getünchter Raum. Zwei etwas verbogene Querbalken zerlegten die hier und da schon des Bewurfs ermangelnde Decke in drei ungleiche Teile. Im Hintergrund rechts, dem Langtisch des Tribunals schräg gegenüber, lief an der Mauer ein hölzerner Sitz entlang. Hier saßen, bis sie gebraucht wurden, die vornehmlichsten Helfer des damaligen Kriminalprozesses: die Folterknechte. Ihnen zur Seite befand sich ein mannshohes Gestell, das in verschiedenen Fächern die grausigen Apparate und Handwerkszeuge enthielt, mit denen das Malefikantengericht arbeiten ließ. Oben in einem der Querbalken war ein schmiedeeiserner Ring angebracht. In diesem Ring lief ein halbzölliger Strick – zur Bewerkstelligung der sogenannten Expansion oder Elevation, des Aufziehens.

Das Stockhaus, wo die Verhafteten untergebracht wurden, stand mit dem alten Gerichtsgebäude durch einen schmalen gewölbten Gang nach Art der venezianischen Seufzerbrücke unmittelbar in Verbindung. Diesen verrufenen Gang hatte Brigitta Wedekind zu durchschreiten, als sie am siebzehnten Juni auf den Befehl Adam Xylanders von zwei städtischen Hellebardieren in die Halle des Tribunals geführt wurde. Die arme Frau blickte stumpfsinnig vor sich hin. Die lange Haft in der engen, lichtlosen Zelle hatte sie vollständig gebrochen. Sie war kaum noch imstande, sich hier im Angesicht ihrer Peiniger auf den Füßen zu halten.

Nachdem Doktor Xylander ihre Persönlichkeit festgestellt hatte, verlas er die schon vor der Verhaftung protokollierten Zeugenaussagen. Es waren die üblichen hirnverbrannten und doch so vielfach geglaubten Anschuldigungen, deren sich auch der Tuchkramer Henrich Lotefend in seiner Denunziation bedient hatte: der Pakt mit dem Teufel, die ihm gezollte Anbetung und gotteslästerliche Verehrung, die schmachvolle Liebschaft mit ihm, die Schädigung argloser Mitmenschen durch zauberischen Unfug, die abscheulichen Orgien auf dem Herforder Steinhügel. Nur daß hier die Zeugenaussagen mehr ins Einzelne gingen und noch andre Punkte umfaßten, vor allem auch die Bereitung der Hexensalbe aus Wolfswurzel, Eppich und dem geronnenen Herzblut heimlich ermordeter ungetaufter Säuglinge. Als Doktor Adam Xylander zu Ende war, legte er das unglaubliche Aktenstück auf den Gerichtstisch, klappte es zu und stemmte die rechte Hand wie eine Kralle darauf. „Inkulpatin, habt Ihr gegen die Richtigkeit dieser Anschuldigungen irgend was Statthaftes einzuwenden?“

„Gott der Allmächtige steh’ mir in Gnaden bei!“ ächzte Brigitta. „Von alledem ist mir auch nicht das Geringste bewußt. Ich bin stets eine ehrbare Frau gewesen und habe in Treue Gott und meinem Erlöser gedient. Wie sollte mir doch je in den Sinn kommen … Ach, mein hochwürdigster, gnädigster Herr, Ihr müßt ja doch einsehen, daß diese Menschen mich grausam verleumdet haben! Oder die helle Furcht hat sie irre geleitet …“

„Also Ihr leugnet?“

„Wie kann ich bekennen? Da ich doch unschuldig bin …!“

„Das wird sich ausweisen. Noch einmal, Brigitta Wedekind, vermahne ich Euch hier ernst nachdrucksamst: erschwert nicht unsre betrübsame Aufgabe durch Halsstarrigkeit und Lüge!“

„Und wenn Ihr mich gleich auf den Stelle in Stücke reißt – ich kann nichts gestehn! Ich bin schuldlos! Ich weiß nichts von dieser Missethat!“

„Herr Gerichtsschreiber! Eh’ ich zur Folter schreite, habt die Gewogenheit, der hartnäckig leugnenden Inkulpatin die einzelnen Instrumente und ihre Wirkung anschaulich zu erläutern!“

Der Gerichtsschreiber stand auf. Mit großer Geläufigkeit, die eine vielfältige Uebung verriet, setzte er dem unglücklichen Weib auseinander, was die vier Hauptwerkzeuge der Glaustädter Folterkammer bedeuteten. Zunächst beschrieb er den Daumenstock. Dann die eiserne Hand. Hiernach die spanischen Stiefel. Und schließlich Elevation. „Dem Inkulpaten – so hieß es bei der Elevation – „werden die Hände hinter dem Rücken fest zusammengeschnürt. An diese kreuzweis verschnürten Hände knüpfen die Folterknechte ein Seil, mit welchem der Inkulpat durch den Ring an der Decke allmählich emporgezogen wird, bis ihm die Arme verkehrt und verdreht über dem Kopf stehen.“

Halb wahnsinnig vor Entsetzen hatte die Wedekind zugehört. Sie schlotterte, als wäre sie schon in den Händen der Folterknechte.

„Zum letztenmal, bekennt Ihr Euch schuldig?“ fragte die schrilltönige Stimme Adam Xylanders.

Verzweiflungsvoll hob sie die kettenklirrenden Hände.

„Ich kann doch nicht! Gott der Herr hat geboten: Du sollst kein falsch Zeugnis ablegen …“

„Man gebe der Inkulpatin den ersten Grad!“

Zwei von den Folterknechten erhoben sich. Der eine trug zwei stahlblaue rundköpfige Klammern, die berüchtigten Daumenstöcke.

„O du meine herzliebe Mutter unter der Erden!“ wimmerte Frau Brigitta. „Hilf mir und rette mich! O du mein allergnädigster Heiland! Ach, erbarme dich meiner! Ach, hilf und rette mich!“ Gleich danach gellte ein rasender Aufschrei durch die Gerichtshalle ein zweiter, ein dritter. Dann – plötzliche Totenstille. Das Uebermaß der unsäglichen Qual hatte der armen Mißhandelten das Bewußtsein geraubt. Wie eine leblose Masse hing sie in den Armen des Folterknechts.

„Satanas springt ihr bei,“ murmelte Adam Xylander.

Jetzt fing die gepeinigte Frau an, sich wieder zu regen. Ein dumpfes Stöhnen und Röcheln kam aus dem schaumüberdeckten Mund. Alsbald schrie und brüllte sie wieder in mark- und beinerschütternden Jammerlauten.

„Gebt’s ihr gelinder,“ befahl der Malefikantenrichter.

Die Folterknechte lösten die Schrauben um eine halbe Drehung.

„Habt Ihr’s Euch nun überlegt, Wedekindin? Wollt Ihr bekennen?“

„Ja, ja, ja!“ ächzte sie mit gebrochenen Augen. „Um Christi Willen, hört auf! Ach, du mein himmlischer Heiland, hilf! Ach, Ihr gestrengen Herren, hört auf, hört auf!“

Ein Wink Xylanders: die Knechte gaben sie frei. Man schob ihr einen Holzschemel hin, auf dem sie noch immer keuchend und winselnd Platz nahm.

„Ihr räumt ein, daß sämtliche Zeugenaussagen begründet sind?“

„Ja, ja, ja! O meine armen Finger! O du meine herzliebe Mutter unter der Erden, erbarme dich meiner!“

„Herr Gerichtsschreiber, nehmt mir zu Protokoll: ‚Auf den ersten Grad der Folter gebracht und nur mäßig torquieret, gab Inkulpatin zu, daß die vorliegenden Zeugenaussagen durchweg und in allen Punkten der Wahrheit entsprechen.‘ So! Das ist schneller gegangen, als ich vorausgesetzt.“

Gratulor!“ murmelte Doktor Holzheuer mit großer Verbindlichkeit.

„Nun aber giebt’s noch mancherlei drum und dran,“ meinte Xylander, „teils von praktischem Wert, teils von rein theoretischem. Da wir noch Zeit haben, will ich hier etliches schon vorweg nehmen, zumal ja unser Herr Zentgraf mehr auf die Schuld selber zu fahnden pflegt als auf deren historische Genesis. Grade bei dieser Wedekindin möchte sich in puncto der höllischen Kniffe höchst Beachtsames ergeben, dieweilen ja Inkulpatin früherhin thatsächlich eine frommgläubige, gottesfürchtige Christin war, zu deren Berückung der Böse ganz absonderlicher Trugkünste bedurft haben muß.“ Er legte nun der vor Angst und Schmerz beinahe sinnlosen Frau eine Reihe von Fragen vor, die sich – halb andeutend, halb ausführend – darauf bezogen, wann, wo und in welcherlei Art und Gestalt sich ihr der Teufel zuerst genähert habe. Stockend, unsicher und mit vielerlei scheuen Verwahrungen gab ihm die Wedekind Antwort. Ihr Geständnis war zusammengesetzt aus den landläufigen Vorstellungen, die damals mit geringen Verschiedenheiten allenthalben im Schwange waren, und aus den seltsamem Einzelzügen, die Adam Xylander dem Schatz seiner eigenen hirnwütigen Einbildungskraft entnahm und nach bekannter Inquirentenmethode in sie hineinfragte.

Als schmucker Jägersmann, völlig in Grün gekleidet, den Schnurrbart zwirbelnd, daß die Funken strichweise gen Himmel

[489]

Die heilige Elisabeth.
Nach einem Gemälde von A. Matignon.

[490] flogen – so hatte der Böse ihr den höllischen Fallstrick gelegt. Er trug ein Hütchen, mit Eppich und Lolch geschmückt. Durch den schwarzgrünen Filz hindurch sah man die Hörner leuchten, zwei an der Stirne und eins am Hinterkopf. Obgleich sie ja wußte, wen sie da vor sich hatte, gefiel ihr der stattliche Jägersmann doch über die Maßen. Er nannte sich Volant, wußte gar süß zu lächeln und noch süßer und verführerischer zu schwatzen.

„Wo war das?“ fragte Xylander. „Wo hat er Euch angesprochen?“

„Nun“ stammelte Frau Brigitta, „es könnte wohl sein … Vielleicht im Lynndorfer Gehölz …“

Hier giebt es kein ‚Vielleicht‘ oder ‚Es könnte wohl sein‘…“ fuhr ihr der Malefikantenrichter streng in die Rede, „sondern ein klares ‚Ist‘ oder ‚War‘.“

Brigitta Wedekind hörte schon wieder im Geiste das Knirschen der entsetzlichen Daumenstöcke. „Verzeiht, hochwürdiger Herr … Ich besinne mich jetzt. Ja, es war im Lynndorfer Gehölz … nah’ bei der Waldschenke …“

„Weiter, weiter! Laßt Euch nicht so jegliche Silbe mühsam herausquetschen. Er ist also plötzlich aus dem Gebüsch getreten, wie Ihr da einsam spazieren ginget, und hat in seiner höllischen Bosheit Euch schön gethan und Euch Gold und die Herrlichkeiten der Erde versprochen, wenn Ihr ihm zu Willen wäret und Euer Christentum abschwören wolltet. Dann hat er verschiedentliche Praktiken gebraucht, über die Ihr uns noch berichten sollt. Und wie Ihr nun vor ihm niedersankt und sein Kleid küßtet, hat er sich den teuflischen Pakt aus der Gurgel gezogen und Euch die Herzgrube geritzt, und mit dem quellenden Blut habt Ihr den Seelenverkauf unterzeichnet. Ist’s so gewesen? Sprecht!“

„Ja, Herr!“

„Wohl! Und dann? Was geschah weiter? Und welcher Art waren diese Praktiken?“

Die Wedekind, längst schon willenlos vor Qual und Entsetzen, durchwühlte ihr armes Gehirn nach den gräßlichen Reminiscenzen aus früher gehörten Zauberer- und Hexengeschichten. Fest überzeugt von der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage und sehnsüchtig nach Erlösung schmachtend, ließ sie dabei ihrer angestachelten Phantasie freien Lauf. Zuletzt ward die Unglückliche beinahe beredt. In ihrem wilden Verlangen, sich recht verderbt und schuldig zu zeigen, gab sie jetzt Dinge zu, die selbst für den hexenkundigen Adam Xylander neu und verblüffend waren. Als sie dann schwieg, las der Gerichtsschreiber vor, was er von ihren denkwürdigen Aussagen zu Papier gebracht hatte.

„Inkulpatin,“ fragte Xylander, „habt Ihr etwas gegen den Wortlaut dieser Urkunde einzuwenden?“

Brigitta Wedekind schüttelte hastig den Kopf.

„Und Ihr bereut?“

„Ja von Herzen. Alles, alles bereue ich, was ich jemals gesündigt habe. Laßt mich nur bald sterben, ihr hohen, gestrengen Herrn! Bald, bald! Es ist eine tiefe Qual, so weiter zu leben! Und erspart mir die Einäscherung!

Sie hob die zermarterten Hände.

„Ach, nur nicht die Einäscherung! Nur nicht die Einäscherung!“

„Reuige Malefikantinnen werden zum Schwert begnadigt. Die Einäscherung bei lebendigem Leibe ist nur für die Unbußfertigen. Nun aber noch eins. Bei Euren schmachvollen Zusammenkünften auf dem Herforder Steinhügel seid Ihr natürlich etlichen Glaustädtern und Glaustädterinnen begegnet, die sich der Strafe ihres Verbrechens bis heute entzogen haben. Hierüber werdet Ihr in der nächsten Sitzung des Tribunals durch Herrn Balthasar Noß eingehend verhört werden. Heute beantwortet mir nur die hier folgende Frage: habt Ihr unter den Teilnehmern am Hexensabbath auch die Tochter des wohlachtbaren Magisters Engelbert Leuthold getroffen? Ein schlankes, vornehmes Fräulein mit Namen Hildegard – von bräunlichem Haar und heller, frischer Gesichtsfarbe?“

Die Wedekindin blickte ihm todstarr in die Augen. Nicht genug, daß sie selber verloren war, nun sollte sie auch noch andere mit ins Verderben ziehen! Das überstieg ihre Kräfte.

„Sprecht!“ fuhr Adam Xylander fort. „Als reuige Sünderin habt Ihr die unabweisbare Pflicht, hier keinerlei Mitleid zu üben. Ihr thut ja sogar ein gottwohlgefälliges Werk, wenn Ihr die Leiber der Missethäter dem Gesetz überantwortet, auf daß doch ihre unsterblichen Seelen gerettet werden.

„Ich weiß von nichts,“ murmelte die Gefragte in zitternder Seelenangst.

„Ihr wißt von nichts? Und doch ist uns eidlich bezeugt, daß auch besagte Hildegard Leuthold in verstrichener Walpurgisnacht an den Schandorgien auf dem Herforder Steinhügel emsig beteiligt war. Da Ihr Teufelsgenossen Euch insgesamt kennt, werdet Ihr Euch auch dieser Mitschwester erinnern.“

„Ich weiß von nichts, bei meiner Ehre und Seligkeit!“

Adam Xylander ward hochrot bis an die Haarwurzeln.

„Hier also hört Eure Bußfertigkeit auf? Ihr hofft wohl noch von der Leuthold irgendwie Heil und Hilfe, daß Ihr sie schonen wollt? Eine thörichte Hoffnung! Die Hexe ist längst schon in Haft genommen. Mit Eurem Abstreiten ändert Ihr also nicht das Geringste. Noch einmal frag’ ich in aller Ruhe: was wißt Ihr davon? Wie hat sich die Leuthold auf dem Herforder Steinhügel gebärdet?“

„Ach, mein hoher, gestrenger Herr! Ich kann doch unmöglich … Es wär’ ja die schändlichste Lüge …“

„Gebt ihr den ersten Grad!“ schrie Adam Xylander außer sich.

Brigitta zuckte zusammen. Ihr armer Leib war nicht mehr widerstandsfähig. Und was half es auch, wenn sie von neuem sich foltern ließ? Hildegard Leuthold würde ja doch den Blutmenschen unfehlbar zum Opfer fallen, selbst wenn die Gefolterte ausharrte bis in den Tod. Sie selbst aber fühlte, daß sie beim ersten Anprall der Marterwerkzeuge doch alles einräumen würde, was dieser furchtbare Mann mit dem Geiergesicht von ihr begehrte.

„Nein!“ rief sie in heller Verzweiflung. „Laßt Eure Knechte, hoher, gestrenger Herr! Ich bekenne schon freiwillig!“

„Um so besser für Euch! Also, Ihr saht die Leutholdin auf dem Steinhügel?“

„Ja, ja! Gott verzeih’ mir die Sünde!“

„Habt Ihr die Hildegard Leuthold schon früher gekannt?“

„Ja, mein gestrenger Herr! So von Ansehen.“

„Und sie hat teilgenommen an all den Greueln und Schändlichkeiten des Hexensabbaths?“

„Ja, mein gestrenger Herr! Ach, so erbarmt Euch doch!“

„Antwortet nur – und laßt Euer Gewinsel! Herr Gerichtsschreiber, nehmt das Bekenntnis der Inkulpatin ja recht ausgiebig und klar zum Vermerk! Diese Aussage ist von entscheidender Wichtigkeit für den Prozeß, der uns heut’ nachmittag in seinen ersten Stadien beschäftigen soll. Ein kurzes Verhör ohne Tortur, lediglich vorbereitend, damit Herr Balthasar Noß bei seiner Heimkehr den Boden schon einigermaßen geebnet findet! Also, malefica Wedekind, laßt Euch des näheren aus über die Worte und Thaten der Leuthold auf dem Herforder Steinhügel!“

Die zitternde Frau wußte nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Sie schwatzte und faselte wieder das unglaublichste Zeug zusammen, mitunter sich widerlegend, hier und da in die schrecklichsten Angstrufe ausbrechend, alles verworren und von haarsträubender Unlogik, aber doch so, daß Adam Xylander in tiefster Befriedigung nickte. Der Herr Gerichtsschreiber hielt eine große Ernte.

Nach Verlesung und Beglaubigung dieser Niederschrift hob Adam Xylander die Sitzung auf. Die Hellebardiere schickten sich an, die tödlich erschöpfte Dulderin wieder ins Stockhaus zurückzubringen. Noch in der Thür, da sich die Richter jetzt eben von ihren Sesseln erhoben, wandte Brigitta sich um und schrie mit losbrechenden Thränen:

„Und das alles ist doch gelogen! O, du mein herzlieber Heiland, verzeih’ mir die Todsünde! Schreibt’s in die Akten! Ich widerrufe! Ihr habt mir das mit Gewalt abgepreßt! Ich bin keine Hexe! Und auch die Leuthold ist schuldlos! Ach, ich verruchte Person! Aus elender Feigheit hab’ ich sie angeschwärzt! Gott der Herr tröste den unglücklichen Vater! Und suche nicht meine Schuld heim an der süßen Elma!

„Führt sie hinweg!“ sagte Xylander gleichmütig. „Die Hölle ist wieder mächtig in ihr. Das nächste Mal wird sich ja zeigen, ob sie auf ihrem Widerrufe besteht! Liebwerteste Collegae, ich wünsche Euch allerseits eine recht gesegnete Mahlzeit!“

(Fortsetzung folgt.)
[491]

Generalfeldmarschall Graf von Blumenthal.

(Mit dem Portrait S. 485.)

Jubiläen um das Vaterland verdienter Männer sind Feste, an denen das gesamte Volk den innigsten Anteil nimmt. Ein solcher Festtag steht uns am 30. Juli bevor, denn an ihm wird einer der hervorragendsten Heerführer in dem großen Kriege für Deutschlands Einheit, Generalfeldmarschall Graf von Blumenthal, sein siebzigjähriges Dienstjubiläum feiern.

Leonhard von Blumenthal wurde am 30. Juli 1810 zu Schwedt a. O. geboren und erhielt seine Ausbildung in den Kadettenhäusern zu Kulm und Berlin. Siebzehn Jahre alt, trat er am 30. Juli 1827 als Lieutenant in das damalige Gardereserve- (jetzige Gardefüsilier-) Regiment ein und besuchte dann von 1830 bis 1833 die Allgemeine Kriegsschule zu Berlin.

Mit dem Avancement ging es dazumal recht langsam vorwärts, erst am 14. Januar 1844 – nach fast siebzehnjähriger Dienstzeit – wurde Blumenthal Premierlieutenant, 1849 als Hauptmann in den Generalstab der Armee versetzt.

Von nun an ist Blumenthal fast ununterbrochen in höchst verantwortungsreichen Stellungen thätig geblieben. Er machte den Feldzug in Schleswig und Jütland im Stabe des Generals von Bonin mit, der nach Ablauf des Waffenstillstandes von Malmö (26. März 1849) die schleswig-holsteinische Armee befehligte, und wurde im Mai zum Chef des Generalstabes ernannt. Die Dänen wurden bei Kolding und Gudsoe geschlagen, dagegen erlitten die Schleswig-Holsteiner vor Fridericia durch überlegene Streitkräfte eine empfindliche Niederlage und mußten die Belagerung aufheben. Trotz aller patriotischen Begeisterung konnten ihre wenig geschulten Truppen den Krieg zu keinem glücklichen Ausgange führen, als Preußen und das übrige Deutschland sie im Stich ließen. Der hochbegabte Leiter des Generalstabes hatte sich aber doch in jenem Feldzuge rühmlich seine Sporen verdient und eine praktische Schule der Befehlserteilung durchgemacht, die keine Generalstabsreife in Friedenszeiten zu ersetzen vermag.

Nachdem er wieder in die preußische Armee zurückgetreten war, wurde Blumenthal 1850 der mobilen Division Tietzen in Kurhessen beigegeben, am 18. Juni 1853 empfing er seine Beförderung zum Major, am 22. Mai 1859 die zum Oberstlieutenant. In letzterem Jahre wurde er zum persönlichen Adjutanten des Prinzen Friedrich Karl ernannt, der in dem genialen Generalstäbler den richtigen Mann fand, um mit ihm seine reformatorischen Gedanken über den militärischen Dienstbetrieb und die Friedensausbildung des Heeres für den Krieg zu erörtern und durchzuarbeiten. Freudig und verständnisvoll half ihm Blumenthal dabei, der auch an des Prinzen Seite blieb, als der Krieg gegen Dänemark ausbrach. Am 15. Dezember 1863 zum Chef des Generalstabes des kombinierten mobilen Armeekorps ernannt, hatte er als solcher entscheidenden Anteil am Sturm auf die Düppeler Schanzen und am Uebergange nach Alsen, zu dem der erste Gedanke von ihm ausging. Die mustergültige Disposition zum Doppelsturm aber war das gemeinsame Werk des Prinzen und seines Generalstabschefs, und dem letzteren erwarb seine Thätigkeit in diesem Feldzuge bereits einen ganz außergewöhnlichen Ruf in militärischen Kreisen.

Die Ereignisse des Jahres 1866 sollten Blumenthal in ebenso nahe Beziehungen zu dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm bringen wie die vorher zum Prinzen Friedrich Karl und damit eine Verbindung anknüpfen, die erst mit dem Tode des Kaisers Friedrich endete. In dem bevorstehenden Feldzuge gegen Oesterreich ward dem preußischen Thronerben eine große Aufgabe zugeteilt, indem er den Oberbefehl über die II. Armee erhielt. Als Generalstabschef wurde ihm General von Blumenthal beigegeben. Am 20. Juni bekam die Armee den Befehl, in Böhmen einzumarschieren. Ihr Vorrücken bezeichneten die Siege von Soor und Königinhof, Nachod, Skalitz und Schweinschädel. In der Entscheidungsschlacht bei Königgrätz führten „Unser Fritz“ und Blumenthal die Moltkeschen Weisungen, die v. Finkenstein dem Kronprinzen überbrachte, in tadelloser Weise aus: die Ankunft der II. Armee bei Chlum brachte den Sieg, durch den sich das Schicksal des Benedekschen Heeres entschied. Nicht minder wie bei Königgrätz zeichnete sich Blumenthal dann noch durch seine Anordnung der Verfolgungsmärsche und Operationen zwischen Olmütz und Wien aus. Nach dem Frieden wurde er Kommandeur der 14. Division in Düsseldorf und bald darauf zum Generallieutenant befördert.

Im Deutsch-französischen Kriege trat dann Blumenthal abermals als oberster militärischer Berater an die Seite des Kronprinzen, als Generalstabschef der III. Armee, die in ihrer Zusammensetzung aus preußischen und süddeutschen Truppen die mit einem Schlage zur Thatsache gewordene Einigung der deutschen Stämme zur Anschauung brachte. Die jubelnd begrüßten Siege bei Weißenburg und Wörth eröffneten die Reihe glänzender Erfolge. Das Verhältnis Blumenthals zum Kronprinzen, zugleich aber auch die seltene Gerechtigkeitsliebe und edle Bescheidenheit des letzteren, wird am besten dadurch gekennzeichnet, daß, als König Wilhelm dem Prinzen bei ihrer ersten Zusammenkunft in Pont à Mousson das Eiserne Kreuz I. Klasse verlieh, dieser erklärte, diese Auszeichnung nur dann annehmen zu können, wenn auch sein Generalstabschef sie erhielte. König Wilhelm entsprach gern diesem Wunsche, er wußte gleichfalls ganz genau, was er an Blumenthal hatte, ebenso auch Moltke, und so kann es nicht wunder nehmen, daß er vor wichtigen Entscheidungen von der obersten Heeresleitung mit zur Beratung herangezogen wurde. Dies geschah insbesondere vor Beginn der Operationen, welche die Katastrophe von Sedan herbeiführten. Blumenthal war es, der jenen von Moltke am 24. August in Bar le Duc gefaßten Plan eines Rechtsabmarsches der auf Paris vorrückenden Heere in nördlicher Richtung, um die Armee Mac Mahons an der Vereinigung mit Bazaine zu hindern und gegen die belgische Grenze zu drücken, in entschiedenster Weise befürwortete. Die Folge dieser strategischen That war der Sieg bei Sedan. Nach diesem ersten Abschnitte des großen Krieges fiel der III. Armee die Aufgabe zu, den südlichen, größeren Halbkreis der Cernierung von Paris zu bilden und diese Einschließung nach Süden und Westen hin gegen Ausfälle wie gegen Entsatzversuche zu decken. Auf die ersten raschen Siege folgte eine langwierige und schwere Arbeit für den prinzlichen Führer und für seinen Generalstabschef, der vom Großen Hauptquartier wiederum mehrfach zu Rate gezogen wurde, namentlich bei den Vorbereitungen der Einschließung und den später zur Sicherung der Belagerungstruppen gegen die Loire getroffenen Maßregeln.

Während des ganzen Krieges waren der Kronprinz und sein Generalstabschef in stetem täglichen Verkehr, und bei allen wichtigen Geschehnissen sah man beide erscheinen, so daß in der Erinnerung der Mitkämpfer und im Bewußtsein des ganzen Volkes „Unser Fritz“ und Blumenthal unzertrennlich zusammengehören. Während des Aufenthaltes der III. Armee in Versailles war der General, wie auch alle nicht dienstlich verhinderten Herren des Stabes, regelmäßig der Tischgenosse des Kronprinzen in der von diesem bewohnten Villa „Les Ombrages“. Er saß neben ihm, als dieser am 18. Januar 1871 zum Schlosse nach Versailles fuhr, um dort die letzten Anordnungen für die Kaiserproklamation zu treffen und bei der Feuertaufe des neuen Kaiserreiches am folgenden Tage, in der Schlacht am Mont Valerien, begaben sich beide nach dem Hospiz Brezin, um den Fortgang des Kampfes zu verfolgen.

Der Maler Anton von Werner, der den General damals in Versailles kennenlernte, schreibt ihm alle Eigenschaften zu, welche einen Militär von seiner fachmännischen Bedeutung liebenswert machen mußte: natürliche Einfachheit, Bescheidenheit, Offenheit und Witz, ohne zu verletzen, unverwüstlichen Humor und herzgewinnende Liebenswürdigkeit. „Ich habe ihn,“ setzt er hinzu, „kaum anders als lachend und mit einem Witzwort auf den Lippen gesehen – trotz seiner sehr ernsten und verantwortungsreichen Stellung. Als Stratege stimmte Blumenthal mit Moltke in dem Grundsatze überein. „Erst wägen – dann wagen!“ ohne deswegen ein Muster der Vorsicht allein zu sein, wie man ihn irrigerweise wohl hingestellt hat. „Allerdings“, urteilt General von Verdy du Vernois, „erwog er persönlich alles, ehe er seine Vorschläge machte, bis in die kleinsten Einzelheiten aufs genaueste und eingehendste, aber in dem Ergebnis seiner [492] Erwägungen war ihm stets das Gewagteste auch das Liebste, da war er am größesten und in seinem eigentlichen Element!“

Nach dem Friedensschluß wurde Blumenthal durch eine Dotation von 450 000 Mark ausgezeichnet. Am 16. Juni 1871 à la suite des 3. Thüringischen Infanterieregiments Nr. 71 gestellt, dann auf kurze Zeit zu den Offizieren von der Armee versetzt, wurde er am 2. Oktober kommandierender General des IV. Armeekorps, am 22. März 1873 General der Infanterie und am 2. September desselben Jahres Chef des Magdeburgischen Füsilierregiments Nr. 36. Er begleitete wiederholt den Kronprinzen auf seinen Reisen. Unmittelbar nach dem Kaisermanöver des Jahres 1883 in der Provinz Sachsen erhob der oberste Kriegsherr seinen bewährten Paladin am 19. September in den erblichen Grafenstand, nachdem bereits seit dem fünfzigjährigen Dienstjubiläum der Orden vom Schwarzen Adler neben zahllosen anderen Dekorationen seine Brust schmückte.

Als Kaiser Friedrich, sterbenskrank, aus dem fernen Süden pflichtgetreu auf seinen Posten geeilt war, da war es eine seiner ersten Regierungskundgebungen, daß er seinen getreuen Berater – am 15. März 1888 – zum Feldmarschall ernannte. Am 12. April wurde er, unter Entbindung von dem Kommando des IV. Armeekorps, zum Generalinspekteur der vierten Armeeinspektion, mit dem Wohnsitz in Berlin, und gleichzeitig zum Chef des Reitenden Feldjägerkorps ernannt.

Am 30. Juli 1890 beging Blumenthal in stiller Zurückgezogenheit seinen 80. Geburtstag; die Feier war leider getrübt durch den Verlust der Gattin, die ihm im Januar der Tod entrissen hatte. Seine treue Lebensgefährtin (Delicia v. Wyner, geboren 1813 in der Grafschaft Warwick in England) hatte alle Avancements, vom Premierlieutenant bis zum Feldmarschall miterlebt und auch noch die Goldene Hochzeit mit ihm begangen.

Auch Kaiser Wilhelm II. hat den greisen Helden durch mannigfache Gnadenbeweise geehrt. So sollte der Feldmarschall bei der fünfundzwanzigjährigen Gedenkfeier der Kaiserproklamation am 18. Januar 1896 das Reichspanier tragen, als der älteste der noch lebenden Heerführer aus jener großen Zeit. Seine Gesundheit war aber damals recht bedenklich erschüttert und gestattete ihm nicht, diesem ehrenvollen Rufe zu folgen.

Als eine der letzten Säulen aus großer Vergangenheit ragt noch der Feldmarschall in die Gegenwart herein. Was er geleistet hat, gehört der Geschichte an, und wie die Armee, so wird auch unser Volk allezeit mit Dankbarkeit des berühmten Strategen gedenken, der an der Vollendung des großen mit Deutschlands Einigung gekrönten Werkes in hervorragender Weise mitgearbeitet hat. S.     


Am Wörther See in Kärnten.

Von Georg Scherer. Mit Illustrationen nach Federzeichnungen von Tony Grubhofer.

Du Perle von Kärnten, mein Wörther See,
Nach dir steht mein Verlangen;
Mir lacht das Herz, wenn ich dich seh,
Dein Reiz nimmt mich gefangen.

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Du Kleinod im grünen Wälderkranz,
Umrahmt von Berg und Hügel,
Still ruht der Sonne goldner Glanz
Auf deinem Zauberspiegel.

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Wieder stehen wir im Zeichen der Erholungsreisen, und das Heer der Touristen und Sommerfrischler rüstet sich zum Aufbruch nach den beliebten Standquartieren. Zu den älteren Reisezielen hat sich seit einiger Zeit ein neues gesellt, das östlich an Tirol grenzende, im Norden und Osten von Salzburg und Steiermark, im Süden von Krain umschlossene Herzogtum Kärnten. In diesem Sommer wird es in ganz besonderem Maße die Aufmerksamkeit der Gebirgsfreunde auf sich lenken, da in den Tagen vom 5. bis 8. August die Generalversammlung des so weit verbreiteten Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins in der Landeshauptstadt Klagenfurt stattfinden wird.

Oestliche Hälfte des Sees mit Pörtschach; im Hintergrunde rechts die kleine Halbinsel Maria Wörth.

Vom Großglockner, dem König der Tauern, dessen Kamm die Grenzlinie zwischen Tirol und Kärnten bildet, zieht nach Osten und Südosten das breitere und niedrigere Mittelgebirge der Ostalpen in mehreren parallelen und fächerartig sich zerteilenden Ketten durch das Land Kärnten. Und derselben Richtung nach Osten folgen auch die Flüsse und ihre Thäler, während sie sich in Tirol (mit Ausnahme des nach Nordosten durchbrechenden Inn) dem sonnigen Süden zuwenden, welcher dafür einen zeitigen Frühling und einen heißen Sommer durch das offene Etschthal bis nach Meran heraufsendet. Auch Kärnten hat eine verhältnismäßig südliche Lage, sowohl die Städte Klagenfurt und Villach, wie auch der zwischen ihnen sich ausbreitende Wörther See liegen etwas südlicher als Meran und etwas nördlicher als Bozen. Gleichwohl hat Kärnten nur ein mittleres alpines Klima, denn jener warme südliche Hauch, welcher von der oberitalienischen Ebene [493] heraufdringt, wird vom Hochgebirge der Karawanken abgehalten, die den südlichen Grenzwall des Landes bilden, während es durch die Mittelgebirgskette der Muraner und Judenburger Alpen, welche die Schneegrenze nicht erreichen, vor den rauhen Nordwinden geschützt wird.

Landungsplatz der Dampfschiffe in Pörtschach.

Infolge dieser günstigen Lage hat Kärnten ein mildes und beständiges Klima und die günstigsten Witterungsverhältnisse, so daß die zwischen den Höhenzügen eingelagerten Thäler die reizvollsten Landschaftsbilder entfalten, welche die Naturschönheiten diesseit und jenseit der Alpen in sich vereinigen. Der tiefblaue Himmel des Südens leuchtet in das nordische Grün der Buchen- und Tannenwälder, und die lebhaften Farben eines wärmeren Landes vermischen sich mit der kräftigenden Waldfrische des Hochgebirges. Dieser Gegensatz verleiht insbesondere den Gebirgen und Thälern Mittel- und Unterkärntens jene eigenartige landschaftliche Schönheit, welche sich vom Lieblichen und Anmutigen des Vordergrundes in reichem Wechsel bis zum Großartigen und Erhabenen des Hintergrundes erhebt. Die mit Laub- und Nadelholz bestandenen Vorberge steigen in der Regel sanft an und tragen in bunter Mannigfaltigkeit die Häuser und Hütten der Bergdörfer, unterbrochen von Feld-, Wiesen- und Obstkulturen, und im Schatten herrlicher Buchen-, Lärchen- und Kiefernwälder eilen muntere Bächlein zu Thal. Dazwischen stehen auf aussichtsreichen Punkten zahlreiche alte Burgen und Abteien, Kirchen und Kapellen mit einer reichen geschichtlichen Vergangenheit, um deren verblichene Gestalten Dichtung und Sage ihren duftigen Schleier weben. „Innerhalb der Grenzen Oesterreichs,“ sagt Heinrich Noé, „giebt es kein Land, in welchem das Gold des Dichtungsstoffes in so wunderbarer Umgebung gleich reichhaltig zu Tage liegt als in dem kleinen Herzogtum zwischen den eisigen Tauern und den blauen Zuflüssen der Save. Die Nachbarländer stehen hierin zurück.“ Und noch eine Schönheit ersten Ranges besitzt Kärnten: seine herrlichen Seen, die schönen „Augen der Landschaft“. Gewöhnlich heißt es, wenn man im Gebirge nach einem Fluß- oder Seebad fragt. „Wo ein Luftbad ist, dort ist kein Wasserbad“. In Kärnten trifft dies nicht zu. die meisten seiner Seen sind warm und „badsam“ und üben daher eine gewaltige Anziehungskraft auf die Sommerfrischler, welche mit dem stärkenden Luftbad auch ein erfrischendes Wasserbad vereinigen wollen.

Von den vielen Seen seien nur die drei größten und bekanntesten genannt: der Millstätter, der Ossiacher und die „Perle von Kärnten“: der Wörther oder Klagenfurter See.

Ernst Wahliß’ Villa IX in Pörtschach.

Dies ist der wärmste Alpensee und der größte und schönste unter den Seen Kärntens. Er liegt 470 m über dem Meere und zieht sich als langgestrecktes, schmales Wasserbecken von Velden im Westen in einer Länge von fast fünf Stunden und einer Breite bis zu 1600 m nach Maria Loretto im Osten, eine Wegstunde westlich von Klagenfurt, der Hauptstadt Kärntens, mit welcher er durch den Lendkanal verbunden ist. Der See ist fast ganz von Hügeln und Bergen umschlossen, welche sowohl die rauhen Nordwinde als auch die heißen Lüfte des Südens vollständig abhalten. Es herrscht auf ihm daher fast immer Windstille, und Stürme sind äußerst selten. Wir haben hier keine stark bewegte, staubige und trockene, sondern stets eine milde, ruhige Luft mit großem Feuchtigkeitsgehalt ohne die gefürchteten Niederschläge. Die Gewitter sind nur von kurzer Dauer, und das Wasser wird vom Kiesboden rasch aufgesogen, so daß man fast den ganzen Tag im Freien zubringen kann. Der See ist von einer ganz reizenden, abwechslungsreichen Uferlandschaft umrahmt, welche in ihren poesievollen Buchen- und Tannenwäldern die mannigfaltigsten Spaziergänge bietet. Die bewaldeten Hügel erheben sich nur allmählich zu schöngeformten, mit Kulturland und verschiedenen Ortschaften bedeckten Mittelgebirgen von mäßiger Höhe, hinter denen sich dann erst der großartige Hintergrund des Hochgebirges aufbaut. Das Ernste und Wild-Erhabene der Gebirgsnatur fehlt also nicht, es tritt hier nur mehr zurück.

Viele unserer Gebirgsseen sind von steil aus der Flut aufsteigenden Felsen eingeschlossen, welche ihren Schatten auf das Wasser werfen und die Sonnenstrahlen einen Teil des Tages davon abhalten, sie machen daher meist einen ernsten, oft düsteren und beengenden Eindruck. Der Wörther See dagegen hat einen heiteren und freundlichen Charakter, sein weites Becken liegt frei und offen und ist den ganzen Tag der unmittelbaren Einwirkung der Sonne ausgesetzt. Es ist ein liebliches Idyll von zauberhaftem Reiz, und man kann mit Recht von ihm sagen: „Es lächelt der See, er ladet zum Bade“, und zwar zu einem ganz köstlichen.

Schwimm- und Badeanstalt in Pörtschach.

Wir sagten, der Wörther See ist der wärmste aller Alpenseen, er hat von Mitte Mai bis Ende September eine Temperatur von 18 bis 22° R (22 bis 27° C.), welche nur im Hochsommer um ein paar Grade steigt. Man kann hier fast volle fünf Monate im Freien baden und braucht eine Badekur nicht zu unterbrechen. Und wie angenehm, wie genußreich sind diese Bäder! Daß aber das wunderwirkende [494] Wasser des Wörther Sees auch der weiblichen Schönheit günstig ist, verrät uns das „Plepperliadl“ eines Kärntner Burschen:

Mei Diandle is sauber,
Is weiß wie der Schnee,
Das macht halt das Wasser
Vom Klagnfurtner See.

Es ist daher begreiflich, wenn unsere Damen für das Seebad schwärmen.

Kielboothütten in Pörtschach.

Infolge seiner idyllischen Anmut, seines herrlichen Bades und seiner entzückenden Uferlandschaft hat sich bereits ein reicher Kranz von Dörfern, Häusergruppen und schmucken Villen um den See geschlungen. Die zwei bedeutendsten Orte sind Pörtschach und Velden. Pörtschach, der Mittelpunkt des Fremdenverkehrs am See, liegt am nördlichen Ufer desselben, 13 km von Klagenfurt und 22 km von Villach entfernt, mit beiden Städten durch die Pusterthaler Linie der Südbahn, durch die Reichsstraße und den Telegraphen verbunden; mit Klagenfurt außerdem durch die Wasserstraße des Wörther Sees und den in denselben mündenden Lendkanal. Der Ort ist Eisenbahn-, Post-, Telegraphen- und Dampfschiffstation, zählt etwa 300 Einwohner und hat eine zweiklassige Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache, zwei Badeärzte mit Hausapotheken, eine Buchhandlung mit Leihbibliothek und verschiedene Geschäftsleute und Handwerker.

Vor dreißig Jahren noch ein unscheinbares Dörfchen mit einem Dutzend unansehnlicher Häuser, hat sich Pörtschach seit Eröffnung der Eisenbahn fortwährend vergrößert und in den letzten 15 Jahren außerordentlich rasch zu einer kleinen Villenstadt und einem klimatischen Kurort ersten Ranges aufgeschwungen. Seiner herrlichen Lage, seiner günstigen Witterungsverhältnisse, des köstlichen Seebades und der in reicher Fülle vorhandenen sonstigen Kurmittel wegen wird Pörtschach sowohl von Sommerfrischlern als von Kurgästen mit jedem Jahre stärker besucht, auch von Reichsdeutschen, denen der Aufenthalt in diesem reizenden Erdenwinkel besonders zusagt.

Promenade im Park in Pörtschach.

Für gute Unterkunft und Verpflegung der Fremden ist ausreichend gesorgt und den mannigfachsten Wünschen nach Möglichkeit Rechnung getragen, sowohl durch die in jedem Reisehandbuch aufgeführten trefflichen Hotels, als auch durch zahlreiche Privatwohnungen in Bauern- und Landhäusern, sowie in stattlichen Villen.

Man findet hier ebenso leicht einzelne Zimmer wie ganze Wohnungen mit und ohne Küche, von der größten Einfachheit bis zur elegantesten Ausstattung. Wer nicht in Pörtschach selbst oder nicht unmittelbar am See wohnen will, findet in einem der am Waldessaum oder ganz im Walde gelegenen Häuser und Villen Unterkunft, wo er in größter Ruhe und Zurückgezogenheit den ganzen Tag die erquickende Waldluft genießen kann.

Von den zur Aufnahme der Badegäste bestimmten Anstalten möchte ich nur zwei hervorheben, weil sie einzig in ihrer Art sind: die „Etablissements Ernst Wahliß“ in Pörtschach und Velden.

Lawn Tennisplatz im Wäldchen zu Pörtschach.

Auf einer von Pörtschach weit in den See vordringenden Halbinsel liegt im oberen, nördlichen Teile ein großer abgeschlossener Park mit herrlichen Baumgruppen, Wiesen- und Blumenbeeten und dem reichen Rosenflor, durch welchen Pörtschach berühmt ist. In diesem trefflich angelegten und gepflegten Park liegen zwölf prächtige, mit allem Komfort ausgestattete Villen anmutig zerstreut, von deren Fenstern und Veranden man die schönste Aussicht auf den See und die Berge genießt. (Unsere Abbildung S. 493 zeigt uns die Villa IX. dieser Anlage.) Den südlichen Abschluß des Parkes bilden der rebenumrankte Musikpavillon und die großartige Restauration mit kleinen Speisesalons für geschlossene Gesellschaften, Damensalon und Spielzimmer, Kaffeehaus mit Billards und Zeitungen, großem Tanz- und Vortragssaal, Musik- und Lesezimmer und mehreren geräumigen Veranden, welche entzückende Ausblicke auf beide Seebecken und die prachtvolle Landschaft bieten.

An den mustergültig gehaltenen Park grenzt südlich ein ebenso wohlgepflegter, nur den Gästen des Etablissements zugänglicher Nadelholzwald mit zahlreichen Ruhebänken, lauschigen Plätzchen und köstlichen Aussichtspunkten, welcher all den Kurgästen bequeme und angenehme Spaziergänge bietet, die keine weiteren Ausflüge unternehmen wollen oder können. In demselben befindet sich ein schattiger Kinderspielplatz und ein von hohen Tannen umgebener Lawn Tennisplatz. (Vgl. die nebenstehende Abbildung.) Auf einer Waldlichtung hat 1878 der Klagenfurter Männergesangverein seinem Ehrenmitglied, dem Komponisten Joh. Herbeck, über dessen Lieblingsplätzchen „Herbecksruhe“ ein schlichtes Denkmal errichtet. Die Südspitze der Halbinsel gewährt einen reizenden Ausblick auf den See, das gegenüberliegende Ufer und die kleine Halbinsel Maria Wörth (vgl. Abbildung S. 495), deren uralte, auf einem Felsen gelegene Pfarrkirche sich in der klaren Flut spiegelt, welcher sie den Namen gegeben hat.

In nächster Nähe der Restauration befindet sich am westlichen Ufer der Halbinsel die trefflich eingerichtete Badeanstalt und Schwimmschule (vgl. Abbildung S. 493), an welcher tüchtige Schwimmmeister Unterricht erteilen. Drei geräumige, mit Flaschenzügen versehene Kielboothütten bergen vorzüglich gebaute Boote in reichster Auswahl.

[495] In der Nähe liegt ferner der breite Quai mit der schönen alten Linde. Hier ist die Landungsbrücke der Dampfschiffe (vgl. die obere Abbildung S. 493) und das Stelldichein der Sommergäste; hier herrscht bis zum späten Abend das regste Leben.

Datei:Die Gartenlaube (1897) b 495 2.jpg

Blick vom Wäldchen in Pörtschach auf Maria Wörth.

Ernst Wahliß hat auch das früher im Besitz des Grafen Dietrichstein befindliche alte Schloß Velden am westlichen Ende des Sees (nicht zu verwechseln mit dem Kurort Veldes in Krain) renoviert und zu einem ähnlichen Etablissement umgebaut. Das weitläufige Schloß hat schöne, große und kühle Wohnräume, welche volle Aussicht auf den See bieten, den man in seiner ganzen Länge bis Pörtschach überblickt. Im großen, schattigen Schloßpark mit Villa, Lawn Tennisplatz und gedeckter Kegelbahn entspringen viele Quellen des westlichsten kalten Trink- und Nutzwassers, welche nicht nur die 17 Teiche der großen Forellenfischzucht speisen, sondern auch die zur elektrischen Beleuchtung des ganzen Etablissements nötige Betriebkraft liefern. Vor dem Schlosse befindet sich die neuerbaute Restauration mit breiter, in den See vordringender Terrasse und das Café mit Billard, ferner die Strandvilla, die Badeanstalt, die Kielboothütte, der Verkaufsbazar und der Landungsplatz der Dampfschiffe.

Die prachtvolle Umgebung verlockt den Gast zu zahlreichen Ausflügen: nach Klagenfurt und Villach, auf den Dobratsch, den „österreichischen Rigi“, nach Tarvis, der Schlitzaschlucht, den Weißenfelser Seen und Veldes, Ruine Landskron, dem Ossiacher-, Millstätter- und Faakersee, Hoch-Osterwitz usw. Jeder dieser Ausflüge kann in einem Tage gemacht werden, während es in nächster Nähe viele kleine reizende Ausflugsorte und Aussichtspunkte giebt, von denen die am Ufer des Sees liegenden mühelos in einer halben oder ganzen Stunde im eigenen Boot aber mit Benutzung der Dampfschiffe erreicht werden können. Auf dem See verkehren zwei größere Dampfer, „Helios“ und „Neptun“, während drei kleinere den Lokalverkehr vermitteln. Dem Rudersport und der Fischerei wird am ganzen See eifrig gehuldigt, und der Segelsport wird auf keinem anderen österreichischen See so fleißig betrieben wie hier.

Schloß Velden mit Restauration von der Seeseite.

Auch der Radfahrsport hat infolge der günstigen Bedingungen, welche am Wörther See für ihn vorhanden sind – ebene, gutgehaltene und staubfreie Straßen und Wege – in den letzten Jahren einen so mächtigen Aufschwung genommen, daß in Pörtschach eine eigene Fahrschule errichtet wurde. Die nahezu vollendete Kaiser-Franz-Josef-Straße am südlichen Ufer des Sees bildet mit der alten Reichsstraße am nördlichen Ufer eine langgestreckte, in sich selbst zurückkehrende Kurve, welche neben zahlreichen kleineren Partien auch eine reizvolle Uferfahrt um den ganzen See ermöglicht. Die Straße läuft dem Ufer bald näher, bald ferner; durch frisches Grün blickt der blanke Spiegel des Sees heraus und spielt mit dem entzückten Auge des Wanderers ein fortwährendes Grüßen und Verstecken.

Häufig hört man die Frage: „Wann ist es am Wörther See am schönsten und wann ist er am stärksten besucht?“ In der Hochsaison und den Ferien, im Juli und August, finden sich natürlich die meisten Kurgäste und Sommerfrischler ein. Wenn ich zu wählen hätte, so würde ich den Mai und Juni, oder den September und Oktober vorziehen. Doch das ist Geschmackssache; der Wörther See ist immer schön. „Vom ganzen nördlichen Ufer aus ist das Hochgebirge der Karawanken sichtbar, dessen Formen der Umgebung des Sees eine hohe landschaftliche Schönheit verleihen, die noch durch den großen Wechsel ihrer Bilder gehoben wird und ihre vollendeten Reize im Frühling zeigt, wenn die noch ganz verschneiten Karawanken sich von dem vorgelagerten frisch ergrünten Mittelgebirge ganz wunderbar abheben und der klare Frühlingshimmel in der Flut sich spiegelt. Geradezu bezaubernd schön wird aber der Anblick, wenn, von den Strahlen der untergehenden Sonne getroffen, die unersteiglich scheinenden Felsenmassive mit ihren schneeerfüllten Geröllrinnen in Purpur erglühen, während schon tiefe Schatten über das Thal sich hingelagert haben.


Dann steigt hinter dem zerklüfteten Hochgebirge der Mond empor und streut sein Silber auf den spiegelglatten See, auf Berge und Wälder. Ein leichter Luftzug trägt aus dem Park den berauschenden Duft von tausend und aber tausend Rosen herüber, gegen den die Wohlgerüche der Nelken, Akazien und Linden nicht mehr aufkommen. Nachtigallenschlag dringt aus den Gebüschen. Eine heitere Gesellschaft sitzt noch plaudernd unter der alten Linde am Ufer. Um die Badehütten klingt ein leises Plätschern der Wellen und ein verhaltenes Kichern von Mädchenstimmen. Kaum hörbar gleiten die Boote pfeilschnell über die schimmernde Fläche, und draußen in der Ferne ertönen Mandolinenklänge und Koschats Kärntner Lieder durch die stille Mondnacht:

Mir lacht das Herz, wenn ich dich seh’,
Du Perle von Kärnten, mein Wörther See!

Schloß Velden: altes
Eingangsthor vom0
Jahre 1603.      


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Unter der Linde.

Novelle von Wilhelm Jensen.

     (2. Fortsetzung.)

Rasch ging die Operation von statten, der Arzt äußerte bald, indem er Albans Arm freiließ: „Da haben wir die Uebelthäterin,“ und die Kugel herausziehend, legte er sie auf den Tisch. Unter Beihilfe Gerlinds verband er die Wunde und drückte ihr dabei seine Anerkennung aus. „So gute Assistenz findet unsereins nicht jeden Tag, wie wär’s, wenn Sie einen Beruf daraus machten?“ Doch lachend fügte er mit einem Blick auf den Vater hinzu. „Nein, Sie haben einen besseren, dem ich Sie nicht abspenstig machen will. Wie steht’s denn mit Ihrer Leber? Ein Turmwart hat eben zu wenig Bewegung.“

Das letzte war an Toralt gerichtet und ließ erkennen, daß der Fragende schon zuvor als Arzt in der Türmerwohnung eingekehrt und mit den Verhältnissen darin bekannt war. Nach kurzer Ablenkung kam er auf den Fall, der ihn heute heraufgebracht, zurück. „Bei Ihrer gesunden Konstitution wird die Wunde rasch heilen und kommt nicht weiter in Frage, die viel wichtigere ist, auf welche Weise wir Sie in Sicherheit bringen. Ich bin höheren Orts selbst eine ziemlich mißliebig und mißtrauisch angesehene Person, so daß ich keinen Versuch wagen darf, Sie etwa auf einer nächtlichen Praxisfahrt über die Grenze zu schmuggeln. Zu lange aber dürfen Sie hier oben auch nicht bleiben, ’s ist gerade die Zeit, in der öfter Fremde wegen der Aussicht heraufkommen, und – ist übermorgen nicht auch ein Feiertag?“

Toralt nickte zu der an ihn gerichteten Frage, und der Arzt fuhr fort: „Da scheint’s mir dringend wünschenswert, bis spätestens morgen abend die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Wie denken Sie sich die Ausführung am besten?“

Alban verband kein Verständnis mit der Andeutung, daß ein Feiertag ihn hier oben mit besonderer Gefahr bedrohen könne, doch er fragte nicht und dachte auch nicht weiter darüber nach. Der nun folgenden Beratschlagung hörte er zu, als ob sie ihn nichts angehe, vernahm nur mit halbem Ohr, daß der Türmer den Plan erwogen und für den einzig möglichen ansah, seinen Schützling in Frauenkleidung fortzuschaffen. Er solle nach Einbruch der Dunkelheit, mit Gerlind zusammen, einen Wäschekorb tragend, die Stadt in der Richtung auf die Grenze umgehen, doch nicht suchen, diese auf Schleichwegen zu überschreiten, sondern auf der großen Straße gradeswegs am Zollwächtergebäude vorübergehen. Gerlind sei klug und ihre Sprache vollkommen unverdächtig, sie werde unbefangen zu schwatzen wissen und sich mit Geistesgegenwart richtig benehmen. Eine Zeit lang ward dieser Plan hin und her besprochen; der Arzt pflichtete dem Türmer schließlich bei, besonders darin, daß es am ratsamsten sei, den geraden offenen Weg auf der Landstraße zu wählen. Er seinerseits wollte am Nachmittag ins Schweizergebiet hinüberfahren, um genau zur verabredeten Zeit von drüben zurückzukommen und zur Zollvisitation vor dem Schlagbaum anzuhalten, während die beiden unter diesem von der anderen Seite her vorbeischreiten würden. Die Untersuchung seines Fuhrwerks, das er mit etwas Zollpflichtigem auszurüsten gedenke, werde die Achtsamkeit der Grenzwächter in Anspruch nehmen und sie leichter die ungewöhnliche Größe der einen Frauengestalt übersehen lassen. So kam’s zum Beschlusse. Der Arzt stellte seine Uhr genau nach derjenigen Albans, die Augen Gerlinds hatten sich mit stummem Glanz gefüllt, man sah in ihnen, wie ihr das Herz vor Freude bewegt war, daß ihr abermals die Hauptaufgabe bei der Rettung zufalle.

Der junge Arzt erhob sich nach endgültig getroffener Abrede, um fortzugehen; in Albans Gesicht that sich etwas Verlegenheit kund, die jener sofort bemerkte, einer Aeußerung zuvorkommend, sagte er. „Es war mir eine herzliche Freude, Ihnen auch ein wenig nützen zu können. Ich muß hier von Ihnen Abschied nehmen, morgen abend auf dem Wagen müssen meine Hand und mein Mund sich ruhig verhalten. Doch sage ich Ihnen nicht für alle Zeit Lebewohl, hoffentlich kommen doch noch andere Tage, die es Ihnen erlauben, den Fuß über den Grenzstrich zurückzusetzen. Und damit auf ein Wiedersehen im Leben und im deutschen Land!“

„Ja, haben Sie von Herzen Dank und nicht zum wenigsten für Ihren letzten Wunsch – auf ein freudiges Wiedersehen, in deutschem Land oder drüben! Wo es sei, Sie werden einen über die Begegnung Glücklichen finden!“ Beide drückten sich die Hand, Alban begleitete den selbstlosen Helfer bis an die Treppe hinaus.

Als er in die Stube zurücktrat, räumte Gerlind die bei der Operation benützten Gegenstände fort; sein Blick ging nach dem Tisch, auf den die Kugel gelegt worden war; er gedachte sie zur Erinnerung zu bewahren, doch sie lag nicht mehr dort. „Hast du sie mit weggethan?“ fragte er.

Das Mädchen richtete den Blick flüchtig nach dem Tisch und erwiderte. „Ja, wohl mit dem übrigen – in Gedanken – wollt Ihr –?“ Sie brach ab und setzte rasch hinzu: „Thut der Arm Euch gar nicht mehr weh?“

Er lächelte, und über seine jugendlich schönen Züge ging’s wie Sonnenlicht. „Nein, du hast ihm so wohl gethan – mit deinem kühlenden Wasser. Ich glaube, ich könnt’ ihn schon wieder gebrauchen.“ Mit einiger Anstrengung hob er den rechten Arm halb in die Höh’. Sie antwortete. „Ein gelehrter Herr braucht ihn ja notwendig, um wieder schreiben zu können.“

„Ja, sobald ich drüben bin, schreibe ich – daraus wirst du hören –“

Da er anhielt, fragte sie: „Was werd’ ich hören?“

„Wie gut du ihm gethan und daß er es nicht vergessen –“

Sich nach Namen und Herkunft des jungen Arztes erkundigend, sprach Alban hastig weiter. Doch seine Gedanken waren nicht bei dem, was er fragte und sagte, und auch an das Stückchen Blei, das er vorher Tage lang im Arm mit sich getragen, dachte er nicht mehr.

*  *  *

Nicht anders als sonst gab die Turmuhr dem Ohr vom Fortgang des Tages Auskunft, aber Alban Hartlaub war’s bei der Wiederkehr jedes Vollschlages, als sei die Stunde geflogen. Seine Natur hatte eine Veränderung erlitten, er war bisher nicht fähig gewesen, bei ruhigem Aufenthalt in einem Zimmer auch nur für kurze Zeit ohne geistige Beschäftigung zu sein, doch hier oben empfand er kein Bedürfnis danach, nicht einmal das, über irgend etwas zu denken. Als Toralt Obliegenheiten im Turm zu versehen hatte und das Mädchen sich zur Bereitung der Mittagskost in die Küche begab, genügte es ihm, unthätig zu sitzen und regungslos mit träumerischen Augen vor sich hinauszublicken, bis jene zurückkamen.

Eifrig berieten sie nach der Mahlzeit, wie seine Verkleidung zu bewerkstelligen sei, was Gerlind für den Zweck zu geben vermocht hätte, konnte, als fraglos für ihn zu eng und zu kurz, nicht in Betracht kommen. Doch ihre Mutter war kräftig und von hohem Wuchs gewesen, so holte sie aus einem alten Schrank von dieser hinterbliebene Kleidungsstücke herbei und half ihm, da er sich mit ihnen nicht zurecht zu finden wußte, beim Anlegen derselben. Das gab zu manchem Spaß Anlaß, sie begriff nicht oder that wenigstens so, als begreife sie nicht, wie jemand so ungeschickt sein könne. „Freilich, Euer Arm trägt wohl die Schuld und dann seid Ihr ja auch kein Mädchen. Doch habt Ihr keine Schwester? Oder wohl gar eine Braut?“

Es klang ein bißchen, als ob sie das erste gesagt habe, um die Frage nachfügen zu können; er verneinte schnell: „Ich habe niemand, an dem mein Herz hängt!“

Darauf antwortete sie nur: „Aber das Herz von manch einer hängt gewiß an Euch,“ und bückte sich eilig, den Rock tiefer auf seine Füße hinunterzuziehen. „Es muß gehen,“ sagte sie, „ich lasse den Saum aus.“

Wie sie sich wieder aufrichtete, strahlte ihr eine kinderhafte Fröhlichkeit aus dem Gesicht, sie wiederholte: „Es geht, nur über der Brust muß ich’s um ein gutes Stück weiter machen. Ihr seht so schlank aus, daß man meint, es wäre nicht nötig, aber ein Mann ist gehörig breiter in den Schultern als unsereins.“

Sie setzte sich und begann gleich mit Schere und Nadel thätig zu sein. Gewandt und leicht ging es ihr von der Hand.

Der Türmer nahm Hut und Stock, er wollte den Weg, den sie morgen um die Stadt bis zur Grenze zu machen hätten, nach der Uhr abgehen, um genau die erforderliche Zeit zu bemessen,

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Hirschziegen-Antilopen auf der Flucht.
Nach einer Originalzeichnung von F. Specht.

[498] auch sonst sich über Umstände, die von Bedeutung sein könnten, unterrichten. So blieben die beiden allein. Gerlind saß, den Kopf leicht über ihre Arbeit gebeugt, emsig bewegten die schmalen Finger sich hin und her. Von seitwärts sah Alban so die feine Linie ihres Rückens, von einem leichten, duftigen Geflock übernickt, vor sich; manchmal wandte er mit einer plötzlichen Bewegung den Blick davon ab, doch immer kehrten seine Augen bald wieder in die gleiche Richtung zurück. Sie sprach jetzt nicht, als ob ihre Näharbeit sie zu schweigsamem Nachdenken nötigte, aber auf die Dauer konnte er diese Lautlosigkeit in der Stube nicht ertragen, und dazu klopfte sein Herz so laut, daß er glaubte, sie müsse es hören. Er wollte ein Gespräch anfangen, doch wußte nicht, über was, endlich kam er auf ein Mittel, die Stille zu unterbrechen, und fragte: „Soll ich dir zu deiner Arbeit etwas vorlesen?“ Aufsehend antwortete sie freudig: „Ja“, und er nahm wahllos ein Buch von ihrem kleinen Bord. Die Eichendorffschen Gedichte waren’s, daraus begann er zu lesen. Ihm war gleichgültig, was, er wollte nur einen Ton in dem Raume hören, nicht weiter so stumm dasitzen. Aber der Zufall ließ ihn gleich ein Gedicht, das ihm besonders lieb war, aufschlagen, und wie er es anfing, konnte er doch nicht mit der gleichgültigen Stimme fortfahren, sondern legte unwillkürlich in ihren Klang die ganze Empfindung des Gedichts hinein. So las er:

„Aus der Heimat hinter den Blitzen rot
Da kommen die Wolken her;
Aber Vater und Mutter sind lange tot,
Es kennt mich dort keiner mehr.

Wie bald, wie bald kommt die stille Zeit,
Da ruhe ich auch, und über mir
Rauschet die schöne Waldeinsamkeit
Und keiner mehr kennt mich auch hier.“

Wie er schwieg, blickte Gerlind auf und ihm ins Gesicht. Aus dem ihrigen sprach ein stummes Erstaunen, erst auf eine Frage Albans, worüber sie sich wundere, antwortete sie. „Ich habe nie vorlesen gehört – das Gedicht kannt’ ich wohl – aber Ihr habt’s gethan, als ob es von Euch selbst sei, oder Ihr müßtet’s erlebt haben. Das könnt nur Ihr – kein anderer –“

Sie hielt, wie leicht zusammenschreckend, inne, aus den Augenwinkeln drängte sich ihr ein feuchter Schimmer hervor und mit leiser Stimme setzte sie jetzt hinzu: „Verzeiht mir, ich dachte nicht dran – Eure Eltern sind ja beide auch tot –“

Hastig, als ob er die Erinnerung daran zurückdrängte, schlug er das Blatt um, begann etwas Neues zu lesen, ein Gedicht nach dem andern, wie er vorher die schweigsame Stille damit aufzuheben gesucht, so schien er nun zu vermeiden, daß er dem Mädchen wieder eine Aeußerung ermögliche. Doch Gerlind that auch keine mehr, vorgebeugt weiter arbeitend, hörte sie ohne Laut zu. Seine Augen nahmen nichts mehr von ihr wahr, unverwandt hielt er den Blick auf das Buch niedergerichtet. Nun klang’s durch die Stille:

„Es zog eine Hochzeit den Berg entlang;
Ich hörte die Vögel schlagen;
Da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang,
Das war ein lustiges Jagen!

Der Bräutigam küßte die blasse Braut,
Die Mutter sprach leis: Nicht klagen;
Fortschmettert das Horn, durch die Schluchten laut,
Das war ein lustiges Jagen.

Und eh’ ich’s gedacht, war alles verhallt.
Die Nacht bedecket die Runde;
Nur von den Bergen noch rauschet der Wald –,
Und mich schauert’s im Herzensgrundes.“

Während der letzten Verse empfand Alban, daß sich das Licht um ihn verändere, helleren Glanz gewinne. Das ließ ihn unwillkürlich zum erstenmal nach langer Zeit wieder aufblicken und die Ursache erkennen. Die Nachmittagssonne, schon abendlich tief gesunken warf eine rötlich goldene Strahlengarbe durchs offenstehende Fenster. In den Lichtstrom eingetaucht, saß Gerlind, ein leiser Luftzug spielte mit dem Haar an ihren Schläfen. Sie arbeitete nicht, sondern hatte die Hände unbewegt auf dem Schoß ruhen; die Strahlen fielen ihr in die Augen, aber diese leuchteten nicht wie gestern im Glockenraum gleich blauen Edelsteinen, ein trübender Schleier schien vor ihnen zu liegen, durch den hindurch sie auch die Blendung heute nicht fühlte. Ohne Zucken der Wimpern sah sie reglos wie in ferne Weite hinaus.

Jetzt fuhr sie zusammen, Alban war mit einem plötzlichen Ruck vom Sitz aufgestanden. Doch das Geräusch eines Fußtrittes draußen vermischte sich damit, und Gerlind stieß hervor. „Es kommt jemand – geht schnell in die Kammer!“ Als er aber stehen blieb, that sie nicht, was sie am Morgen gethan, trotz der sichtbaren Angst in ihren Zügen griff sie nicht nach seiner Hand, ihn fortzuziehen sondern blieb ebenfalls, wie von einer seltsamen Scheu festgebannt, ohne Bewegung stehen. Ein paar Augenblicke, dann kam ihr vom Mund, der tief Atem schöpfte: „Gottlob, der Vater ist’s“, und Alban wiederholte: „Ja – dein Vater – gottlob!“

Der Türmer trat herein, er war befriedigt von dem, was er ausgekundet, und mehr noch von einer Veränderung im Aussehen des Himmels. Vieljährige Obacht ließ ihm außer Zweifel, daß sich das Wetter auf morgen verschlechtern werde. Doch für das Gelingen der Grenzüberschreitung war das günstig, der Alte fragte jetzt, ob Gerlind schon drunten gewesen sei, für die Abendkost einzukaufen. Sie schüttelte den Kopf und versetzte rasch, daß sie warten gewollt, bis er zurückkomme. Doch zu merken war’s, sie habe nicht daran gedacht; eilig ging sie nun, und Toralt beschrieb seinem Schutzbefohlenen die Wege und Oertlichkeiten, die am nächsten Abend für ihn in Betracht kamen. –

In der Nacht träumte dann Alban von dem, was ihm bevorstand. In Begleitung Gerlinds war er unterwegs, doch nicht zu Lande. Sie fuhren in einem Boot über den See und nicht Abenddunkel herrschte, sondern vor ihnen flog im Osten am Himmel ein rosiges Morgenrot auf. Dem trachteten sie entgegen, auch das Mädchen handhabte ein Ruder, und ihr gegenübersitzend, sah er sie stets gleichmäßig in einer schönen rhythmischen Bewegung sich vor- und zurückbiegen, es erinnerte ihn an den melodischen Klang eines Eichendorffschen Gedichtes. Beide sprachen sie nichts; er trug ein Wort auf den Lippen, aber hielt es zurück; er wollte es Gerlind erst sagen, wenn er drüben gelandet sein würde.

Da plötzlich schwankte das Boot, schweres Dunkel fiel vom Himmel, Sturm heulte und Wasser rauschte, und gleichzeitig raunte eine spöttische Stimme: „Das ist das Rauschen der schönen Waldeinsamkeit.“ Er sah nur noch, daß seine Begleiterin verschwunden war, er allein in dem Fahrzeug saß, und wachte dann auf. Doch das Brausen um ihn dauerte fort und ihm kam zum Verständnis, was es sei. Starke Windstöße trafen und rüttelten den Turm, die Voraussage Toralts bestätigte sich, und der Wind hatte dem Träumenden die Fahrt auf dem See, den Sturm, der das Boot zum Schwanke brachte, vorgetäuscht.

Graues Wolkengetriebe bedeckte den Himmel, doch den Augen Albans erschien der Tag in dem strahlenden Blau seines Frühlingstraumes. Er wußte nicht, ob ihm vor dem Herannahen des Abends bange, oder ob er es zu beschleunigen wünsche, bald so, bald so überkam’s ihn. Einem neuen Leben, dem wirklichen Leben erst, das er noch nicht gekannt, ging er entgegen, aber es beginnen, sich erringen und zu eigen machen konnte er nur drüben in der gesicherten Freiheit. Sie war der feste Boden, auf dem er erst stehen mußte, bis dahin schwankte sein Lebenskahn noch ungewiß, gebrechlich in Wind und Wellen.

Mit welchen Gedanken Gerlind dem Einbruch des Abends entgegensehe, ließ sich nicht erkennen; Zuversicht auf das glückliche Gelingen des Rettungswerks schien sie nicht mehr so fest zu hegen; ihr Gesicht war blasser als in den vorherigen Tagen und auch sonst eine Veränderung darin. In ihren Zügen lag keine Fröhlichkeit, und der kindliche Ausdruck sprach nicht mehr aus ihnen. Still ging sie umher, ihr Gehabe suchte etwas Scheues zu verbergen und offenbarte es gerade, wenn Alban zu ihr sprach. Es schien, auch ihr bange vor dem Kommen der Dunkelheit, und zugleich wünschte sie es ebenfalls rascher herbei. Ihre Hauptaufgabe den Tag über bildete das möglichst passende und täuschende Herrichten der Kleidungsstücke für Alban, daran war sie fast unablässig beschäftigt. Bisweilen war eine Wiederholung der Anprobe nötig, aber sie lachte und scherzte nicht dazu und ließ ihn sich selbst das Kleid überwerfen, ohne ihm dabei behilflich zu sein. So wie sie ihn nicht anblickte, vermied ihre Hand sorgfältig, ihn zu berühren.

Der Wind verstärkte und die Wolken verdichteten sich, früher als bisher begann die Dämmerung. Ab und zu kam es fragend von Albans Mund. „Es wird wohl Zeit?“ Doch der Turmwart war ein sicherer Mann der Uhr und erwiderte: „Nein, es [499] ist zu früh, noch nicht die verabredete Stunde. Nun aber mahnte er: „Jetzt müssen Sie die Kleider anziehen, und um einige Minuten später stand der junge Mann fertig in seiner weiblichen Verkleidung da. Der Arbeitseifer des Mädchens hatte bestes Erfolg erzielt, alles saß richtig, man glaubte, eine Frau in einfacher bürgerlicher Tracht vor sich zu haben, nur der hohe Wuchs fiel ein wenig auf. Das kurze Haar wurde, nach Landessitte, von einem Kopftuch verdeckt, das, fest geschürzt, auf den Nacken fiel und sich über die Stirn fast bis zu den Augen niederwölbte. Gerlind richtete in ihrer Kammer die Wäsche für den Korb her, während der zum Fortgang Gerüstete die Hand Toralts umschlossen hielt und ihm stotternden Tones den Dank für seine Hilfe wiederholte. Nun kam das Mädchen zurück und sagte. „Ich bin bereit.“ Bei dem Klang der Worte zuckte Alban zusammen und stieß plötzlich aus. „Nein – ich will – ich kann nicht – heute nicht – morgen abend wollen wir gehen!“ Er machte eine Bewegung, sich das Tuch vom Kopf zu lösen doch der Türmer entgegnete, ihm die Hand zurückhaltend: „Verlieren Sie den Mut? Das geht rasch vorbei, wenn Sie erst draußen sind. Morgen wär’s das gleiche, und heute ist das Wetter günstig und der Doktor wartet.“

„Wenn wir nicht kommen, wird er heimfahren.“ Bei Alban hatte der Drang, noch zu bleiben, im letzten Augenblick jäh die Oberhand gewonnen, der Alte zauderte kurz, dann aber versetzte er:

„Das wär’s nicht allein, doch morgen ist Feiertag und da ist’s wahrscheinlich, daß der Bräutigam der Linde heraufkommt.“

„Ihr – der Bräutigam – Ihrer Tochter –?“ Alban hatte mit der Hand nach dem Tisch neben sich gegriffen und halb bewußtlos das Wort wiederholt; der Türmer versetzte harmlos: „Das hätte ja nichts auf sich, wenn er nicht bei der Polizei und so pflichteifrig wäre, der junge Sergeant war’s, der vorgestern im Turm bei Ihnen vorbeistieg. Ich wollt’ nicht davon sprechen, es hätt’ Sie vielleicht doch beunruhigt – ohne Grund, denn er ist ein braver Mensch, der die Linde sehr gerne hat. Im Herbst soll die Hochzeit sein. Ich bin nicht der Stärkste, sehe gesünder aus, als ich es bin, da mußt’ ich weiter für das Kind denken und habe Ja gesagt. Nun aber dürfen Sie wegen des Doktors keine Zeit mehr verlieren! …“

*  *  *

Nun ging Alban Hartlaub draußen auf einer Straße. Er hatte keine Erinnerung daran, wie er die Turmtreppe herabgekommen sei, mechanisch hielt seine linke Hand den Griff des Korbes, den Gerlind auf der anderen Seite trug. Sie sprach nichts, möglichst unbemerkt zu bleiben, war geraten. Nach kurzer Zeit bog sie von den Häusern ab an den Stadtrand, schlug diesem entlang einen dunklen Weg ein, unbelebt still war’s, nur der Wind fuhr in heftigen Stößen um die Fortschreitenden. Auch vom Munde Albans kam kein Wort, er war wie betäubt; wohin, zu welchem Zweck er hier gehe, er wußte es kaum. Einzig ein Drang beherrschte ihn: in vollständig lichtlose Finsternis einzutauchen; das ließ ihn weit ausschreiten aber auch einmal die Stimme des Mädchens aufklingen: „Der Vater hat gesagt, wir sollten gleichmäßig gehen, dann kämen wir mit dem Doktor zusammen an.“ Danach ging sie wieder schweigend neben ihm her, und sie gelangten von dem Seitenweg auf die matten Scheins sich aus dem Dunkel abhebende Landstraße, der sie folgten. Vor ihnen flimmerten näher kommende Lichter, Gerlind sagte jetzt: „Das wird die Zollgrenze sein.“ Sie stand still und horchte. „Man hört nichts von Wagenrollen; wir kommen zu früh, doch können noch näher herangehen.“

Sie war ganz Auge und Ohr, Aufmerksamkeit und Vorsicht, alles in ihr richtete sich unverkennbar nur auf den einen Gedanken, Alban ungefährdet hinüber zu bringen. Zum erstenmal begannen einzelne schwere Tropfen aus den Wolken zu fallen, die beiden schritten so weit vor, daß der über die Straße niedergelassene Schlagbaum neben dem Zollhaus erkennbar ward; vor diesem bewegten sich einige dunkle Gestalten. Das Mädchen hatte ein paar Augenblicke den Korb zu Boden gestellt, faßte jedoch eilig wieder nach ihm. „Da – das sind Räder – kommt!“ Der Wind stand von Südwest her, er trug jetzt einen rollenden Klang herüber; Alban that willenlos nach ihrem Geheiß. Nun ward auch Hufschlag vernehmbar, und sie zog mit dem Korb ihren fast schwankend gehenden Begleiter rascher vorwärts. Ein Ruf klang vor dem Schlagbaum, den ein mit einer Leuchte herzukommender Beamter in die Höhe gehen ließ, er fragte: „Sind Sie’s, Herr Doktor? Fahren Sie nur zu, Sie haben ja nichts.“ Die Stimme des jungen Arztes tönte auf. „Heut’ doch, ich schmuggle nichts durch und habe mir etwas von drüben mitgenommen.“ Zwei Grenzwächter waren gleichfalls herangetreten, einer von ihnen drehte sich nach den beiden seitwärts auftauchenden weiblichen Gestalten um und rief sie an. „Wohin? Was tragt ihr? Gerlind antwortete: „Wäsche ins Dorf zurück.“ Er setzte den Fuß gegen sie vor, doch zugleich bäumte das Pferd des Arztes sich, als werde es von einem plötzlichen Stich getroffen, hoch empor und riß den Wagen, ihn wild hin- und herschleudernd, vor. Der Zollwärter sprang zur Seite und der eine Grenzwächter herzu, um das Tier am Zügel zu fassen. Gerlind stieß einen Angstschrei aus und flüchtete, Alban mit sich reißend, erschrocken hastig vor den Rädern unter dem des kurzen Zwischenfalls halber noch nicht wieder herabgelassenen Schlagbaum durch. Dem, der sie angesprochen, schien ihre Stimme und was von ihr im Lichtschein sichtbar ward, Gefallen zu wecken. Er streckte die Hand nach ihrem Arm und sagte lachend: „Laß deine alte Base allein mit dem Zeug laufen, der thut der Regen nichts, stell’ dich so lang bei uns unter!“ Doch, sich schnell losmachend, gab sie ebenfalls lachend zurück: „Da käm’ ich schön an, wenn meine Tante zu Haus erzählte, wo ich geblieben wär’!“ Das Pferd ließ sich nicht beruhigen, bäumte nochmals auf und warf die Deichsel gegen den Grenzwächter herum, der, zurückspringend, mit einem Fluch ausstieß: „Was hat denn das dumme Vieh?“ Verdrossen griff er mit nach dem Zaum, drüben tauchten die weiblichen Kleider, rasch unsichtbar werdend, ins Dunkel. Die Grenze lag hinter ihnen und niemand verfolgte sie; Alban war in Sicherheit.

Er wußte, daß er’s sei, doch weder ein Denken noch ein Fühlen verband sich ihm damit, in dumpfer Empfindungslosigkeit setzte er den Fuß weiter. Der Wind brauste, dagegen nahm der Regen nicht zu, sondern ab; zwischen den jagenden Wolken bildeten sich da und dort Lücken, aus denen Sterne niederfunkelten. Gerlind hatte den Korb als etwas unnötig Gewordenes zu Boden gesetzt, aber blieb nicht bei ihm stehen, sondern ging noch mit auf der Straße fort, eine ziemliche Strecke weit, bis vor ihnen Lichter eines schweizerischen Dorfes schimmerten. Da hielt sie an und sagte. „Dort werdet Ihr Unterkunft für die Nacht finden; ich will Euch noch helfen, die Kleider ablegen.“

Wortlos ließ er’s geschehen; es ward so hell, daß er, wieder in seiner männlichen Tracht zum Vorschein kommend, erkennbar dastand. Das Mädchen hatte das Frauenkleid genommen, ließ es aber gleichgültig zur Erde fallen, nur das Kopftuch, das sie ihm ablöste, behielt sie in der Hand. „So,“ sprach sie, „nun muß ich zurück – lebt wohl!“

Sie streckte ihm die Rechte entgegen, er ergriff sie mechanisch und brachte fast tonlos dazu vom Mund: „Habe Dank!“

Ein paar Augenblicke standen sie so, dann zog Gerlind ihre Hand zurück und wandte sich zum Gehen. Doch sich plötzlich noch einmal umkehrend, schlang sie die Arme um seinen Nacken, küßte ihn hastig auf die Lippen und sagte: „Leb’ wohl!“ Nun lief sie auf der Straße zur Stadt zurück, nach wenigen Sekunden war sie verschwunden.

Alban Hartlaub ging automatisch noch ein paar hundert Schritte vorwärts bis zu einer Stelle, wo ein hoher dunkler Baum am Straßenrand aufstieg. Unter dessen Zweigen blieb er stehen und warf sich fassungslos zu Boden. So lag er stundenlang, nur dumpf vernahm er über sich das Brausen des Windes im Laubwerk. Und mit unsagbarem Wehgefühl klopfte ihm das Herz – „das ist das Rauschen der schönen Waldeinsamkeit!“

Als er sich erhob, hatte die Nacht sich verändert. Das Rauschen ging noch fort, doch am fast wolkenlosen Himmel stand der Mond, alle Blätter des Baumes mit silberhellem Glanz umrieselnd. Eine blühende Linde war’s, und es war die Linde, nach der Gerlind Toralt gestern morgen vom Turme hinübergedeutet und gesagt hatte, unter ihr müsse es sich gut liegen und schön müsse es sein, am hellen Wasser hin weiter zu gehen, durch die Wiesen und das sich goldig färbende Korn mit den roten und blauen Blumen dazwischen.

(Schluß folgt.)


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Blätter und Blüten.

Die heilige Elisabeth. (Zu dem Bilde S. 489.) Von den heilig gesprochenen deutschen Frauen ist Elisabeth von Thüringen wohl die volkstümlichste, da sie sich durch Werte der Mildthätigkeit und Barmherzigkeit, bei denen sie dem armen Volk persönlich näher getreten ist, ein schönes Andenken gesichert hat. Elisabeth war im Jahre 1207 geboren, eine Königstochter aus Ungarn, ihr Vater war Andreas II., ihre Mutter Gertrud von Meran. Schon 1211 wurde sie dem Sohn des Landgrafen Hermann von Thüringen, Ludwig, der damals ein elfjähriger Knabe war, zur Gattin bestimmt und auf die Wartburg gebracht, wo sie ihre Erziehung fand, den dort gepflegten Künsten brachte sie indes geringere Neigung entgegen als religiösen Uebungen und kirchlicher Andacht. Nach dem Tode des Landgrafen Hermann bestieg Ludwig im Jahre 1217 den Thron und vermählte sich 1221 mit der ihm bestimmten Braut. Die junge Landgräfin ging gänzlich auf in der menschenfreundlichen Fürsorge für die Armut, sie spann und nähte Kleider für die Armen und verteilte selbst Speisen an dieselben; als eine Hungersnot ausgebrochen war, soll sie täglich gegen 900 Notleidende gespeist haben. Auf unserem Bilde sehen wir am Fuße der Burgmauer die gütige Landgräfin mit dem Madonnengesicht Brote an das hungrige Volk verteilen. Kinder nehmen die Spende in Empfang, ein altes Mütterlein segnet die Gnadenreiche, daneben aber blickt eine von Not und Hunger Ermattete sehnsüchtig nach der rettenden Nahrung und im Vordergrunde kauert ein elendes Mädchen, das mit wilder Gier in das gespendete Brot beißt. Als Elisabeths Gatte 1227 auf dem Kreuzzuge des Hohenstaufenkaisers Friedrich II. gestorben war, wurde Heinrich Raspe Thronfolger, welcher die fromme Witwe seines Vorgängers mit ihrem Sohn und ihren zwei Töchtern vertrieb, so daß sie, durch die Straßen Eisenachs irrend, vergeblich im Winter ein Obdach suchten. Zuletzt gewährte ihr Onkel, der Bischof von Bamberg, ihr und den Kindern eine Zuflucht auf seinem Schlosse Bottenstein. Heinrich Raspe söhnte sich zwar wieder mit ihr aus und rief sie auf die Wartburg zurück, doch in den Tagen des Unglücks und der Verfolgung hatte ihr religiöser Sinn sich so gefestigt und gesteigert, daß sie hinfort in vollständiger Weltabgeschiedenheit allein ihren geistlichen Betrachtungen und Uebungen leben wollte. Sie starb 1231 in einem von ihr errichteten Hospital in Marburg. †      

Die Goethe-Palme in Padua. (Mit Abbildung.) Am 27. September 1786 besuchte Goethe den berühmten, bereits im Jahre 1545 gegründeten Botanischen Garten in Padua, Orto botanico und als er dort eine Fächerpalme betrachtete, wurde in ihm der Gedanke immer lebendiger, „daß man sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus einer entwickeln könne“. Diese Betrachtung bildete den Ausgangspunkt, die den großen Dichter und Denker zu seiner berühmten Lehre von der „Metamorphose der Pflanzen“ führte. Der Baum steht noch heute da; er ist halb überglast, und eine vorn angebrachte Tafel enthält in italienischer Sprache folgende Inschrift: „Johann Wolfgang Goethe, Dichter und Naturforscher entnahm hieraus den Gedanken und die Beweise seiner Metamorphose der Pflanzen. Roberto de Visiani stellte, damit der Nachwelt die Palme, die ihn inspirierte, nicht fehle, diese 1854 in ihrem alten Glanze wieder her.“ Nach Mitteilungen von Geheimrat Professor Friedel gehört der berühmte Baum der Gattung und Art Chamaerops humilis L. (niedrige Zwergpalme) an, die noch in Europa einheimisch vorkommt. In botanischen Handbüchern wird gelehrt, daß sie fast ohne Stamm ist und nur bis 6 m hoch wird. Und was sehen unsere entzückten Augen in dem Orto botanico von Padua? Eine stolze Palme, die bereits vor einigen Jahren bei 0,65 m Stammumfang 9,25 m Höhe hatte und seitdem immer weiter gewachsen ist. Freilich ist das Exemplar bereits fünf Jahre nach Eröffnung des Gartens, also um 1550, gepflanzt worden. Die nahezu 350 Jahre alte Pflege erklärt den ansehnlichen Wuchs des Baumes. Die Palma di Goethe ist in Saccardos „L’orto botanico di Padua nel 1895“ (Verlag von Fratelli Drucker in Padua) abgebildet, und diese Vorlage haben wir bei der Herstellung unserer untenstehenden Illustration benutzt.

Die Goethe-Palme in Padua.


Auf der Flucht. (Zu dem Bilde S. 497.) Auf der Flucht befindet sich das Rudel Hirschziegen-Antilopen auf unserm Bilde. Die Hast der Tiere hat der Maler trefflich wiedergegeben, die Geschwindigkeit selbst ist zwar keine Hexerei, aber zeichnen läßt sie sich nicht. So müssen wir denn mit Worten nachhelfen und etwas über die Hurtigkeit der schönen Tiere mitteilen.

Die Hirschziegen-Antilope ist eine Indierin. Sie bewohnt namentlich Bengalen, schließt sich zu Herden zusammen und zieht offenes Gelände dem bedeckten vor. Die Herden, geführt von einem Bocke, sind äußerst vorsichtig und pflegen Wachtposten auszustellen. Zeigt sich irgendwo Gefahr, so sausen sie wie der Wind davon. Die Hirschziegen-Antilopen dürften die schnellsten Renner der Welt sein, denn sie sollen bei einzelnen Sprüngen sich mehr als drei Meter über den Boden erheben und sechs bis zehn Meter lange Sätze machen. Sicher steht aber das eine fest, daß eine Parforcejagd auf diese Antilopen einfach unmöglich ist: Windhunde und Pferde müssen beschämt hinter ihnen zurückbleiben.

Aber gejagt werden sie trotzdem. Der schlaue Asiate läßt sie von oben durch den Falken beizen oder durch den Jagdleoparden beschleichen. Hurtig und wachsam sind die Sassis, wie sie von den Indiern genannt werden, und doch werden sie außerordentlich zahm, wenn man sie jung einfängt, und es ergeht ihnen nicht schlecht in der indischen Gefangenschaft, denn sie werden dann als heilige Tiere gehalten, schöne Frauen tränken sie mit Milch, und Musikanten spielen ihnen Tonstücke vor. *

Wikingerfahrt. (Zu unserer Kunstbeilage.) Von der Poesie der nordischen Heldensage verklärt, ist uns die Kunde von den kühnen Seezügen der Wikinger überliefert, die von Skandinavien und Dänemark aus übers Meer zogen und im Norden wie im Süden Europas mächtige Reiche sich unterwarfen. Der Name „Wiking“ bedeutet eigentlich „Krieger“; so nannten sich mit Stolz diese verwegenen germanischen Seefahrer, für welche in Deutschland, dessen Küsten sie auch bedrohten, der Name Normannen üblich ward. Der verwegene Mut, der ihnen eigen war, wird um so bewunderungswerter, wenn wir die einfache Ausrüstung der kleinen Kriegsschiffe in Betracht ziehen, mit denen sie die klippenreichen Gestade der Küsten von England und Frankreich anliefen und bis hinunter ins Südmeer fuhren, um auch in Apulien und auf Sicilien ihre Herrschaft zu begründen. Diese Schiffe hatten nur einen Mast und dieser war auch nur mit einem Segel und sehr einfachem Takelwerk ausgestattet. Das eine Segel war freilich groß und von viereckiger Gestalt. Die Steuerung wurde ebenso wie die Vorwärtsbewegung durch Schaufelruder bewirkt. Besonderer Ausschmuck war dem hochgewölbten Vorderteile des Schiffes zugewendet, hier bäumte sich ein geschnitzter Drachenkopf drohend empor, bestimmt, die Feinde zu schrecken und deren Schutzgeister zu verscheuchen. Nach diesem Ausschmuck wurden die Schiffe von den Wikingern selbst „Drachen“ genannt. Auf einem solchen Seedrachen kleinerer Art läßt der Maler unseres Bildes einen Wiking durch die sturmbewegte Meerflut einer Bucht entgegentreiben, an deren mächtigem Felsgeklipp hochaufschäumend die Wogen branden. Die gewaltige Natur des nordischen Meeres gelangt in dem Bilde mit ergreifender Wucht zum Ausdruck und gerade hierdurch macht uns H. Hendrich gleichzeitig den kühnen Sinn und die Kraft der nordischen Seehelden deutlich, die diese Natur mit nervigem Arm zu meistern verstanden.


manicula      Hierzu Kunstbeilage XVI: „Wikingerfahrt.“ Von H. Hendrich.


Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 29/1897 ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.