Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[341]

Nr. 21.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.
(1. Fortsetzung.)

Der junge Arzt kam aus dem Nachbarhaus, dem altertümlichen, burgähnlichen Bau mit dem runden Turm und dem stattlichen Wehrgang. Hier wohnte seit etlichen Jahren der Tuchkramer und Ratsherr Henrich Lotefend, der reichste Mann in der ganzen Landgrafschaft Glaustädt-Lich. Henrich Lotefend hatte sich letzthin ein Fieber geholt, das ihn mehrere Tage bettlägerig machte und anderthalb Wochen hindurch an die Stube fesselte. Jetzt war der Patient wieder so gut wie hergestellt. Doktor Ambrosius hatte ihm nur noch ein paar Verhaltungsmaßregeln für die nächste Zukunft erteilt und dann auf dem rebenumwachsenen Altan einen Krug Aßmannshäuser mit ihm auf sein ferneres Wohlergehen geleert.

Hildegard nahm es nicht unhold auf, daß Doktor Gustav Ambrosius sie ansprach und während der fünf Minuten, die er so plaudernd am Thor verblieb, das von Herrn Lotefend und mancherlei anderes erzählte. Der junge Mann, der niemals die Form verletzte und doch etwas ungewöhnlich Freies und Frisches besaß, war ihr vom ersten Tag an sympathisch gewesen. Und so stand sie ihm freundlich Rede und zierte sich nicht, obschon die rein zufällige Begegnung am Thore leicht von üblen Gevattersleuten hätte mißdeutet und verklatscht werden können.

Endlich sagte sie doch mit artigem Kopfneigen:

„Aber ich halte Euch auf. Eure Zeit ist gemessen …“

„Zu deutsch: Ihr entlaßt mich!“ scherzte der Arzt. „Ich


Das königliche Schloß in Athen und der Berg Lykabettos.
Nach einer Originalzeichnung von G. Conz.

[342] muß recht sehr um Entschuldigung bitten. Ich hätte das sehen sollen, Ihr wart im Begriff, einen Gang zu machen.“

„Anfangs, ja,“ entgegnete Hildegard. „Ich dachte ein Stücklein hinauszuwandern bis zum Grossheimer Forste. Aber wie ich den Staub sah, hab’ ich mich anders besonnen. Und wenn ich von Eurer gemessenen Zeit sprach, mein’ ich’s im Ernste. Ganz Glaustädt weiß ja, daß Ihr jetzt schier überlastet seid.“

„Freilich. Aber man gönnt sich doch auch bei Gelegenheit einen Ausspann. Nun, der heutige Tag hat allerdings noch mehrfache Anforderungen. Der Fieberfall des Herrn Lotefend ist nicht der einzige. Es liegt so was in der Luft. Darf ich Euch bitten, vielehrsame Jungfrau, mich Eurem werten Herrn Vater freundschaftlichst zu empfehlen? Und nun – ich grüße Euch!“

Er lüpfte von neuem sein dunkles Sammetbarett und bot ihr die Hand. Hildegard Leuthold schlug ohne Zimperlichkeit ein, sagte: „Vergnügten Abend!“ und drückte das schmiedeeiserne Thor langsam ins Schloß. Während Ambrosius brennenden Angesichtes stadteinwärts ging, nahm sie ihr blaues Gewand zierlich empor und schritt an der Hausthüre vorbei nach dem Garten.

Dieser Garten, zum Teil aus Nutzbeeten, zum Teil aus Parkanlagen im Stil von Versailles bestehend, umfaßte vier oder fünf Morgen Landes zwischen dem Haus und der Grossach. In seiner Mitte befand sich ein kleines Granitbecken mit zahllosen Goldfischen. Ueber die Hecke am Südrand sah man hinüber in die ähnlich hergerichteten Nachbargärten.

Dort oben auf dem rebenumrankten Altan saß noch immer der steinreiche Tuchkramer und Ratsherr Henrich Lotefend. Er grüßte herunter. Hildegard Leuthold verneigte sich. Die Leutholds hielten mit Henrich Lotefend und seiner Gattin Mechthildis freundnachbarlichen Verkehr. Hildegard fand den sechsundvierzigjährigen Mann, der so überaus launig von seinen Fahrten und Abenteuern in Frankreich, Italien und Oesterreich zu erzählen wußte, sehr unterhaltsam und fühlte sich von seiner väterlich wohlwollenden Art recht angezogen. Mehr als einmal, wenn sie den Goldfischen Futter gab oder bei ihren Beeten zu thun hatte, war der immer noch stattliche Herr langsam zur Weißdornhecke getreten, hatte ihr eine Weile nachdenklich zugeschaut und dann ein Gespräch mit ihr angeknüpft, in dessen Verlauf sie wohl ihre augenblickliche Arbeit vergaß und zutraulich näher kam. Henrich Lotefend kümmerte sich schon längst nicht mehr um sein großartig blühendes Tuchgeschäft. Er hatte nur noch den Hauptanteil am Erträgnis und lebte im übrigen ganz seinen Liebhabereien, besonders der Alchimie und der Erdkunde. Auch trieb er ausgiebige Blumenzucht, wie er denn überhaupt ein großer Freund der Natur war. Hildegard bedauerte jetzt im stillen daß der lebhafte, warmherzige Mann, der im Winter so eifrig für das Erwachen des Frühlings geschwärmt hatte, bei so herrlichem Maiwetter zur freudlosen Haft in der Krankenstube verurteilt gewesen. Eigentlich mußte sie doch den Aermsten zu seiner Wiedergenesung beglückwünschen. Jetzt eben wollte sie ihm ein artiges Wort hinaufrufen. Aber da war er bereits im Innern des Hauses verschwunden. Nun, dann morgen vielleicht!

Der halb unbewußte Entschluß, den Hildegard Leuthold vorhin schon gefaßt hatte, als sie den wirbelnden Staub der Landstraße wahrnahm, wurde jetzt ohne Verzug ausgeführt. Wenn sie hier auf der Borkenbank saß oder dort unter den Laub-Arkaden, dann konnte sie fest darauf rechnen, daß in kürzester Frist Gertrud Hegreiner mit ihrem rothbraunen Gartenspinnrad neben ihr Platz nehmen und ihr allerlei vorjammern würde über die Ungeschicklichkeit des Hausmädchens Therese oder die jüngsten Streiche des kleinen Florian. Hildegard hatte die brave Wirtschafterin ja herzlich gern, aber seit einiger Zeit war sie gegen den merkwürdigen Hauch von Kleinlichkeit und Poesielosigkeit, den Gertrud ausströmte, empfindlicher als sonst. Sie fühlte bestimmt, Gertrud Hegreiner paßte nicht recht in die Stimmung dieses wonnigen Maiabends.

Hildegard Leuthold schritt also geradeswegs auf das Ufer der Grossach zu. Die schwarzgrün gestrichene Lattenthür öffnend, stieg sie die unregelmäßigen Stufen einer bemoosten Steintreppe hinab. Hier lag an dem eisernen Ringe der Strandmauer ein zierliches Boot. Hildegard zog das Fahrzeug her, sprang elastisch hinein und löste die Kette. Dann ergriff sie die Ruder. Mit sicherer Hand trieb sie die kleine Gondel an den Landhausgärten vorüber, dem Lynndorfer Gehölz zu, wo sich die Grossach, in östlicher Richtung abbiegend, zwischen den hochragenden Stämmen uralter Eichen, Buchen und Linden verlor.

Hildegard schwelgte bei dem geruhigen Gleiten auf den hellblinkenden Flußwellen. Die Häuser da links, vom Goldglanz einer funkelnden Sonne bestrahlt, zogen dahin wie flammende Traumbilder. Hier und dort hing über die leuchtenden Strandmauern ein märchenhaft flimmernder Birkenzweig oder das üppige Blattwerk vorquellender Weinranken, die bis hinab in die Flut tauchten. Aus dem letzten der Gärten scholl fröhlicher Kinderlärm und leise Musik. Dann allmählich ward eine tiefe, heilige Stille ringsum. Es war wie die Vorahnung der nahen Waldeinsamkeit. Und nun legten sich breit die ersten Baumschatten über den Fluß. Der Forst that sich auf mit seinen hehren domartigen Wölbungen. Rechts und links wogten die Binsen oder blühten zu vielen Tausenden die Vergißmeinnichtblumen.

Durch eine Lichtung am Südufer sah man die fernen Ziegel- und Strohdächer von Lynndorf. Bläulicher Rauch kräuselte sich über den Schornsteinen. Das lag so schmuck und traulich im Sonnenschein, als gäbe es dort weder Sorge noch Elend. Hildegard dachte des unglücklichen Fronbauern, der so unerwartet sein Dörfchen am Waldesrand mit dem Kerker des Stockhauses vertauscht hatte. Tiefes Mitleid erfaßte sie und ein bängliches Weh. Dann aber schob sich das hundertjährige Eichengehölz wieder vor … mit Gewalt riß sich ihr starkes Herz von den trüben Gedanken los. Hier draußen herrschte der wahre himmlische Gottesfriede. Fort also mit aller Trübseligkeit! Der Mai war so kurz, und kurz wie der Mai war die Jugend, ja das ganze menschliche Dasein. Vita nostra brevis est – kurz ist unsre Lebenszeit – hieß es in dem schönen Studentenlied, das man dem Vater beim Abschied von Wittenberg unter den Fenstern gesungen. Sie ruderte frisch weiter, doch ohne sich anzustrengen. Das Wasser plätscherte kaum vernehmlich am Kiel, einschläfernd wie ein leise gesummtes Wiegenlied. Die Maiblumen an ihrem Busen dufteten süß, obgleich sie schon etwas die Kelche senkten. Zwei Rehe traten äsend zwischen den Hochstämmen des Ufers hervor. Beim Nahen der Gondel hoben sie langsam die feinen Köpfe und äugten wie neugierig nach dem schönen Mädchen da in dem gleitenden Fahrzeug. Aber sie flüchteten nicht.

Jetzt war Hildegard an die schönste Stelle des ganzen Flußlaufes gelangt. Die Grossach beschrieb hier abermals eine Wendung und sah daher aus wie ein stiller weltabgeschiedener Teich, vom Walde umfriedet wie eine Edelperle von ihrer Muschel. Der Platz lud unwiderstehlich zum Schwärmen und Träumen ein.

Das war heute zum erstenmal, daß Hildegard so weit ins Gehölz vordrang. Ganz hingerissen von diesem wunderherrlichen Bilde, entschloß sie sich, hier eine Weile zu rasten. Sie trieb ihren Kahn mit einem kräftigen Anprall seitwärts, so daß die Kielspitze weit am niedrigen Ufer hinanfuhr. Nachdem sie zum Ueberfluß noch die eiserne Kette um den Strunk einer abgebrochenen Weide geschlungen, streckte sie sich in der vorderen Hälfte der Gondel behaglich aus, legte die Hände unter das blaue Sammethäubchen und überließ sich im Anblick der leise bewegten Wipfel einem unsäglichen Wohlgefühl.

Zehn Minuten hatte sie so geruht, als der gedämpfte Schall heraneilender Schritte sie aus ihrer Versunkenheit aufschreckte. Sie kannte zwar keine Furcht. Wertsachen trug sie nicht bei sich. Ihr einziger Schmuck war die Handvoll Maiblumen, die ihr am Mieder dufteten. Auch galt die Umgebung Glaustädts ja seit Vernichtung der großen Räuberbande im Vogelsberg für vollständig sicher. Dennoch fuhr Hildegard Leuthold zusammen. Es kam ihr erst jetzt zum Bewußtsein, wie außerordentlich einsam es hier an den Ufern des Flüßchens war, und wie es doch immerhin möglich blieb, daß irgend ein Landstreicher diese Einsamkeit ausnutzte, um ihr mit einer trotzigen Bettelei aufdringlich zu werden. Die Verbindungsstraße der nächsten Dörfer lag weiter südwärts jenseit der Grossach, die Spaziergänger aber [343] hielten sich mehr nach der Stadt zu, im nördlichen Teil des Gehölzes, wo es gut angelegte Fußwege und ein beliebtes Wirtshaus, die sogenannte Waldschenke, gab.

Hildegard Leuthold hatte sich aufgerichtet, um nötigenfalls rasch die Kahnkette lösen und vom Ufer abstoßen zu können. Da gewahrte sie über dem Erlengebüsch den Kopf und die Brust eines vornehm gekleideten Mannes, den sie sofort als ihren Hausnachbar, den reichen Tuchkramer und Ratsherrn Henrich Lotefend erkannte. Die wohlgewachsene, breitschultrige Gestalt kam weitausschreitend daher und bekundete beim Anblick Hildegards eine freudige Ueberraschung. Lotefend trug ein kostbares violettrotes Wams vom feinsten flandrischen Tuch, mit allerlei modischen Bändern besteckt, dazu Kniehosen von dem nämlichen Stoff und blanke, schnallengeschmückte Halbschuhe. Er verbeugte sich tief, nahm den breitkrämpigen Ratsherrnhut von der Stirn und rief mit gutmütig klingendem Baß:

„Gott sei Dank, daß ich Euch endlich einhole, vielehrsames Fräulein! Von meinem Laboratorium aus gewahrte ich, wie Ihr pfeilschnell dahinfuhrt, konnte Euch aber mit Worten nicht mehr erreichen. So bin ich Euch nachgegangen. Verzeiht, aber Ihr scheint mir unvorsichtig!“

Die Art des Mannes hatte bei dieser Ansprache etwas merkwürdig Gewinnendes und Vertrauenerweckendes.

„Unvorsichtig? Weshalb?“ frug Hildegard Leuthold, ein wenig verblüfft.

„Nun, fürchtet Ihr nicht – Ihr, ein zartes und hilfloses Mägdlein – daß irgend ein Strolch und Gaudieb Euch übel zusetzen möchte, wenn Ihr so schutzlos in diese Wildnis hinausrudert? Ich weiß, Ihr liebt diese Strecke, und bisher mocht’ es auch angeh’n. Neuerdings aber zeigt sich in der Gegend von Lynndorf wieder allerlei fahrendes Volk. Zumal eine Rotte Zigeuner. Dergleichen Gesindel ist von unglaublicher Frechheit. Und Ihr, meine junge Freundin, seid nicht bewaffnet wie ich.

Er wies ihr den Griff einer schwedischen Reiterpistole, die er links in der Brusttasche trug.

Hildegard fuhr zusammen. Der Anblick der silberbeschlagenen Schußwaffe wirkte sofort auf ihre Einbildungskraft.

„Im Ernst?“ fragte sie stammelnd. „Davon wußte ich nichts.“

„Nun, der Rat macht eben kein Aufhebens davon, da die Spitzbuben noch nicht diesseit der Grossach aufgetaucht sind. Man will die Gemüter in Glaustädt nicht vor der Zeit beunruhigen. Vielleicht auch packt man sie ehestens und schiebt sie ins Dernburgsche ab. Immerhin droht Euch hier unleugbar ernste Gefahr. Bedenkt doch, wie nah’ ’s zum Gebirg ist. Wenn Euch sonst gar nichts geschähe, als daß man Euch fortschleppte, um von Eurem Herrn Vater ein tüchtiges Lösegeld zu erpressen …“

Henrich Lotefend übertrieb. Es hatte sich allerdings letzthin bei Lynndorf und Königslautern ein Trupp Zigeuner gezeigt, aber die Leute hatten den Bauern nur im Vorbeigehen etliche Hühner gestohlen und waren dann aus wohlbegründeter Furcht vor der Strenge der Glaustädter Hermandad weiter gezogen über die nahe Grenze. Nur ein sechzig- bis siebzigjähriger Nachzügler war gestern ertappt worden, wie er den Inhaber eines Gehöfts unweit von Koßwig um einen Trunk anging. Hildegard Leuthold indessen war ängstlich geworden. Seltsame Abenteuer fielen ihr bei, die Gertrud Hegreiner in der Kinderstube zu Wittenberg ihr erzählt hatte, und die lebhafte Phantasie des jungen Mädchens spann sich mit einem Male die buntesten Möglichkeiten zurecht. Es war doch ehrlich und wacker von diesem Herrn Lotefend, daß er sich ihrer Unklugheit so freundschaftlich annahm.

„Wenn ich Euch raten soll,“ fuhr der Tuchkramer nach einer Pause fort, „so bedient Ihr Euch jetzt meiner Begleitung.“

„Ja? Wollt Ihr zu mir in den Kahn?“

„Dergleichen darf ich nun leider Gottes nicht wagen. Der Arzt verbietet’s. Doktor Ambrosius hat Euch ja wohl gesagt was ich mir letzthin zugezogen. Ein bösartiges Fieber. Und abends steigen vom Wasser hier allerlei Dünste empor. Denen setzt sich ein eben Geheilter nicht so ungestraft aus. Aber Ihr könntet ja Euern Kahn getrost hier an dem Baum lassen und mit mir zu Fuß gehen. Heimlich entwendet wird Euch das Boot nicht. Das wäre doch keinem zu Nutz’. Der Dieb, der es dann führe, wäre gar leicht gegriffen.“

Der Zufall wollte, daß jetzt ein geller Pfiff durch die Luft scholl, wie wenn aus der Ferne ein Thunichtgut seinem lauernden Spießgefährten ein Zeichen giebt. Es war vielleicht ein harmloser Fuhrknecht unweit der Waldschenke, oder ein Fischer drunten am Einfluß des Glaubaches. Für Hildegard aber entschied dieser Pfiff, der ihr seltsam beängstigend auf die erregten Nerven fiel. Sie nagte ein wenig die Lippe, faßte den Weidenstumpf bei dem obersten Knorren und sprang kurz entschlossen ans Ufer.

„Ich dank’ Euch, Herr Lotefend!“ sagte sie atemholend. „Ihr mögt ja schon recht haben; wenn das Schicksal es wollte, wär’ ich da auf dem schmalen Fluß, der nicht einmal tief ist, kaum vor Angriffen sicher. Morgen schick’ ich den Gärtner und lasse das Boot heimholen. Bis dahin ruht’s ja wohl sicher. Aber das ist doch bedauerlich, daß man dies üble Vagantenvolk nicht besser im Zaume hält. Ich rudre so gern!“

„Ist auch ein wundervolles Vergnügen, zumal in der Sommerszeit. Hätt’ ich nicht mein verwünschtes Fieber gehabt …“

„Das nächste Mal fahr’ ich der alten Haardt zu. Da ist man im freien Feld, zwischen den Aeckern und Wiesen.“

„Ihr werdet wohl daran thun. Freilich, so schön wie im Lynndorfer Hochwald ist’s ja da draußen nicht. Aber das Sprichwort hat recht: Besser bewahrt als beklagt.

Hildegard schlang die Kette noch fester und schob dann die Maiblumen zurecht, die sich bei ihrem Bücken ein wenig gelöst hatten. Nun glättete sie ihr lichtblaues Gewand, hob es ein wenig und schickte sich an, dem freundlich dreinschauenden Ratsherrn zu folgen.

3.

Eine Minute lang gingen die Zwei auf dem grasüberwachsenen Uferweg nebeneinander her, ohne zu reden. Hildegard Leuthold schwieg, weil sie ernsthaft darüber nachsann, wie rasch doch in menschlichen Dingen der Umschwung eintrete. Kaum erst die schöne, vertrauensselige Ausfahrt und dann plötzlich das schnöde Gefühl der Unsicherheit und das Bewußtsein, leichtsinnig und thöricht gehandelt zu haben. Henrich Lotefend schwieg, weil ihn die Nähe des herrlichen jungen Mädchens hier in der stillen Waldeinsamkeit unwiderstehlich berauschte. Wenn Hildegard ihn besser beobachtet hätte, sie würde bemerkt haben, wie seine Faust die den langen goldknöpfigen Stock hielten, leise erbebte und nur allmählich fester und sicherer ward.

Nach einer Weile begann Herr Lotefend mit warmer, tieftöniger Stimme:

„Es ist lange schon her, vielehrsame Jungfrau, daß wir beide uns nicht gesehen haben. Ich preise es hoch, daß mich der erste Ausgang alsbald mit Euch, meiner liebwerten Freundin, zusammenführt.“

„Bin ich das wirklich?“ fragte das junge Mädchen aufblickend. „Habt Ihr Freundschaft für mich?“

„Aus tiefstem Herzen!“ beteuerte Lotefend. „Irgend ein Wesen muß doch der werbliche Mensch haben, dem er in echten selbstloser Teilnahme anhängt.“

„Wie gütig von Euch, daß Ihr mir so verschwenderisch Eure Gunst schenkt! Ich weiß gar nicht, womit ich das alles verdient habe. Indes – auch ich darf Euch bekennen, Ihr seid mir ein werter Freund und Nachbar, dem ich von Grund aus wohl will. Ja, wie soll ich nur sagen …? Ihr habt so eine kurzweilige, frische Art. Nicht so schwer und geschraubt wie andere Männer von Eurer Stellung und Eurem Lebensalter. Ich glaube, das kommt daher, weil Ihr so klug seid und so manches geschaut habt.“

„Ihr schmeichelt mir,“ sagte der Ratsherr. „Ich dünke Euch frischer und kraftvoller als andere – nicht, weil ich klüger oder erfahrener bin, sondern weil ich mir allzeit ein warmes, empfängliches Herz bewahrt habe. Die Jugendlichkeit hängt nicht von den Jahren ab. In mir lebt etwas, teure Hildegard, was mit Eurem Wesen verwandt ist. Wenn ich Euch sehe und höre, fühl’ ich mich ganz und gar wie ein junggrüner fünfundzwanzigjähriger Fant. Und – ehrlich gesagt – ich glaube jetzt fast, ich habe mich deshalb so jung erhalten, weil ich doch eigentlich niemals recht jung gewesen bin.“

Hildegard schaute verwundert in sein aufglühendes Antlitz.

[344]

Auf der Themse.
Nach einem Gemälde von F. Gueldry.

[345] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [346] Er schien ihr seltsam verwandelt. Die schwarzbraunen, langbewimperten Augen sprühten und funkelten.

„Ich verstehe Euch nicht“, sagte sie treuherzig.

Der Ratsherr ließ den Kopf schwer auf die Brust sinken. Bei all seiner echten und tiefen Erregung lag etwas Schauspielerisches in dieser Gebärde, eine Absichtlichkeit, die selbst der ahnungslosen Hildegard fremdartig bedünkte.

„Ja, ja“, sagte er trübselig, „Ihr kennt mich noch nicht. Weder mich, noch mein Schicksal. Ach, was gäb’ ich darum, Euch endlich einmal dies Schicksal erzählen zu dürfen! Wahrheitsgetreu, nicht so wie es die Bosheit der Neidlinge und Verleumder entstellt“.

Der Weg hatte sich einige Ellen weit von dem Flußlauf entfernt. Rechts im Dickicht lag ein gefällter Eichenstamm.

„Ich bin doch etwas ermüdet,“ fuhr der Tuchkrämer fort. „So es Euch recht ist, ruh’n wir uns hier ein paar Minuten lang aus. Wir kommen ja immer noch reichlich vor Dunkel heim.

„Wenn Ihr meint …“

„Ich wär’ Euch zu Dank verpflichtet. Das böse Fieber nimmt auch den Rüstigsten mit. Und heut’ ist mein erster Ausgang.“

Sie setzten sich.

„Ja, vielteure Freundin,“ hub Lotefend an, „ich muß Euch von neuem betonen, wie es mir wohlthut, endlich einmal wieder Euch nahe zu sein. Ihr habt mich ja schier versterben lassen, ohne Euch um den Siechen zu kümmern.“

„Da irrt Ihr Euch nun. Mehrfach hat man zu Euch hinübergeschickt und sich erkundigt. Auch hörten wir ja von Doktor Ambrosius, daß Ihr nach kurzer Frist außer Gefahr kamt. Uebrigens hätt’ ich Eurer liebwerten Gemahlin gern einmal selbst aufgewartet, aber mein Vater verbot es. Ihm bangte vor der Möglichkeit einer Ansteckung. Ihr wißt ja, wie zärtlich er für sein Kind sorgt!“

„Das bedachte ich nicht. Euer verehrungswürdiger Vater hat recht, wenn er ein solches Kleinod hütet wie seinen Augapfel. Hätt’ ich das Glück, eine Tochter wie Euch zu besitzen oder gar solch’ ein Eheweib, ich wäre genau so.

Schweigend blickte er eine Zeit lang zu Boden, während die staunende Hildegard mit dem halbdürren Laub eines heruntergebrochenen Astes spielte. Dann plötzlich fuhr er mit unheimlich raunender Stimme fort.

„Wie Ihr mich seht, Hildegard, bin ich der trostloseste Mensch unter der Sonne.“

„Sprecht Ihr im Ernste?“

„Wie sonst? Warum fragt Ihr?“

„Nun, bis jetzt hatte ich just den entgegengesetzten Eindruck. Ich sagt’ Euch ja schon vorhin, allezeit fand ich Euch fröhlich und aufgeräumt.“

„Ja, bei Euch, im Haus Eures Herrn Vaters oder sonst in Gesellschaft. Das hindert nicht, daß ich daheim in meinen vier Pfählen tiefunglücklich bin. Teure Hildegard! Ihr seid jung wie ein Maitag, und die Welt steht Euch offen. Ihr ahnt nicht, was das heißen will, ein ödes, verfehltes Leben.“

„Aber ich bitte Euch! Ihr, Ihr hättet Euer Leben verfehlt? Der reichste und angesehenste Kramer von Glaustädt, dem alles auf Erden vollauf nach Wunsch gediehen, der einflußreiche, geachtete Ratsherr …“

„Das Aeußere thut’s nicht allein. Ich gleiche dem Vogel im vergoldeten Käfig. Die innere Qual übersteigt jede Beschreibung.“

Hildegard fühlte sich merkwürdig beklommen. Der Ton, in dem dieser Mann sprach, schien mit voller Naturgewalt aus der Tiefe eines todwunden Herzens zu quellen. Und dennoch, wenn sie erwog, wie daseinsfreudig und kernhaft er sonst gewesen ….

„Aber was fehlt Euch denn?“ platzte sie endlich heraus.

„Selbstverschuldetes Elend!“ sagte er leise. „Habt Ihr das nie gemerkt, trotz aller Mühe, die ich mir gab, es geheim zu halten? Freilich, Ihr seid erst neunzehnjährig und ahnt noch nichts vom Jammer der Menschheit. Glaubt mir, es ist die Hölle auf Erden, einem Weib anzugehören das man nicht liebt!“

„Ich begreife Euch nicht. Eure Ehe mit Frau Mechthildis wäre nicht glücklich? Aber bis jetzt hörte ich immer das Gegenteil. Und weshalb, ich bitt’ Euch, erzählt Ihr das alles mir, einer Jungfrau, die noch so wenig erfahren ist?“

„Weil ich zu Euch ein unbegrenztes Vertrauen habe. Weil ich … Aber nun laßt mich zuvor erklären, wie es denn möglich war, daß ich mich dieser Frau anvermählte …“

„Muß ich das hören?“

„Ja, teuerste Hildegard! Gönnt mir’s – das wird mir das Herz erleichtern. Und ich hoffe, Ihr werdet mich nicht verurteilen.“

„Nun denn, sprecht! Aber ich weiß wirklich nicht..“

„Laßt nur – und hört! Es ist ja mit zwei Worten gesagt. Die Sache kam so. Ich war ein blutjunger und blutarmer Bursche, der ganz allein in der Welt stand und gar nicht wußte, was Liebe ist – weder Kindes- und Elternliebe, noch gar die andere, höhere … Aber ehrgeizig bin ich gewesen bis zur Verrücktheit und von wahnwitziger Gier nach Reichtum und Macht erfüllt. Als Knabe hatt’ ich gedarbt und gehungert und war von abscheulichen Menschen grausam geknechtet worden. Da entsteht so was! Nun kam ich ins Haus des reichen Tuchkramers Löhnert als ein schlecht besoldeter Buchhalter. Mechthildis war seine einzige Tochter – etwas älter als ich, aber nicht unangenehm, auch nicht häßlich von Antlitz. Nach kurzer Frist merkte ich, was sich da anspann. Und das hab’ ich dann aufgegriffen und rüstig zu Ende geführt. Mechthildis that einen heiligen Schwur, lieber zu sterben als von mir abzulassen. Da sagte der Vater denn Ja. Geliebt aber hab’ ich sie keine Sekunde! Mich lockte die Freiheit, die Selbständigkeit, die Aussicht, emporzukommen. Ich wußte noch nicht, daß der Mensch nicht vom Brote allein lebt. Und wenn mir’s dann später zuweilen öde und leer war, da hab’ ich die Pein gewaltsam zurückgedrängt, mir’s eingeschärft, daß ich zur Klage kein Recht hätte. Gold und Güter hab’ ich gesammelt, der reichste Großhändler auf weit hinaus bin ich geworden und Ratsherr dazu mit Wissenschaften hab’ ich mich abgegeben, den Erdball studiert und im qualmenden Laboratorium den Stein der Weisen gesucht – alles umsonst! Mein glänzendes Heim, die Pracht meiner Blumen, der Duft meiner Edelweine blieb ebenso wirkungslos wie der Reiz einer bunten Geselligkeit. Es mangelt eben das Eine, was erst das Leben zum Leben macht!“

„Armer Freund!“ sprach Hildegard mitleidig, als er geendet hatte. „Es mag ja sein, daß niemand zur Liebe sich zwingen kann. Aber schrecklich ist’s für die arme Frau, wenn sie nun einsieht, daß ihr das Höchste versagt blieb. Und sie muß es doch fühlen …

„Zweifellos. Mechthildis weiß seit geraumer Zeit, daß zwischen ihr und mir keinerlei innere Gemeinschaft ist. Wir leben so schlecht und recht nebeneinander her wie zwei wohlwollende Hausgenossen, die aufeinander höfliche Rücksicht nehmen. Und Mechthildis entbehrt nichts. Die Liebe, die einst so stark in ihr war, ist rasch verflogen an ihre Stelle trat eine brünstige Frömmigkeit. Mechthildis betet zu allen Tagesstunden, sie versäumt keine Predigt, sie übt sich in guten Werken bei jeder Gelegenheit. Nun gründet sie gar ein Spital für Kinder und eine Heimstätte für einsame alternde Jungfrauen. Ich aber, ich verschmachte, Hildegard! Je älter ich werde, um so freudloser grinst mich der Widersinn dieser unlieben Existenz an. Und ich will nun ein Ende machen!“

„Wie das?“ frug Hildegard.

„Der richtige Weg wird sich schon finden. Unsere Landgrafschaft kennt nicht die Gesetze des Katholicismus. Auch eine langjährige Ehe kann hier gelöst werden. Man muß die Sache nur klug anfangen.

„Um Himmels willen, was denkt Ihr? Sofern mir recht ist, Herr Lotefend, steht Ihr doch fast vor der Silbernen Hochzeit?“

„In drittehalb Jahren wäre das fällig, ja! Aber ich schwör’ Euch, daß ich der traurigen Feier noch rechtzeitig aus dem Weg gehe. So oder anders, Hildegard! Endlich einmal will ich mein Glück suchen.“

„Wenn Ihr Euch nur nicht täuscht! Die lange Gewohnheit ist ja wohl auch ein Band, das zwei Menschen zusammenschmiedet. Dergleichen zerreißt man nicht straflos. Ihr würdet Euch einsam fühlen, unsäglich einsam.

„Mit Gottes Hilfe könnt’ ich schon finden, was mich der Einsamkeit überhöbe. Ein Weib, das ich wirklich gluterfüllt in mein Herz schlösse. Ein junges, wonniges, warmfühlendes Wesen. Ein Weib wie Ihr, teuerste Hildegard!“

Im Drang seiner Verliebtheit nahm er sie sehnsuchtsvoll [347] bei der Hand. Erschreckt fuhr sie auf und wollte sich losmachen. Aber er hielt sie trotz ihres Widerstrebens gefangen.

„Hildegard,“ raunte er, hochrot vor Leidenschaft, „ahnt Ihr denn nicht, daß Ihr es selber seid, für die ich entbrannt bin? Ich liebe Euch maßlos! O, und ich weiß, auch Ihr seid mir nicht abhold! Euer teilnehmender Blick, Euer freundliches Lächeln hat nur so oft Balsam auf diese Wunden geträuft! Mit Leib und Seele gehört Ihr zu mir, trotz allem und allem, was uns zu trennen scheint. Wehrt Euch nicht, vergötterte Hildegard! Ich verlange nichts Unziemliches von Euch, noch Strafbares. Ihr sollt mir nur einen Funken von Hoffnung geben! Ein einziges Wort! Ein kurzes, flüchtiges Kopfnicken!“

„Laßt mich!“ versetzte sie streng. „Nein, ich dulde das nicht!“

Sie warf ihm einen geringschätzigen Blick zu und riß sich dann endlich frei.

„Was kommt Euch bei,“ fuhr sie mit wachsendem Unwillen fort, „mir so gewaltsam die Finger hier festzuschrauben? Im übrigen was Ihr da alles gesagt habt, ist ja der reinste Wahnwitz. Meint Ihr denn wirklich, jemals im Leben würde ich einen Mann heiraten, der einer andern so schmachvoll sein Wort bricht? Nie! Selbst dann nicht, wenn ich Euch lieb hätte, was ja doch, Gott sei Dank, nicht der Fall ist! Und niemals der Fall sein wird! Das merkt Euch, Herr Lotefend!“

Auch der Tuchkramer war jetzt aufgestanden. Er senkte das Haupt wie ein Schuldbewußter.

„Verzeiht, wenn ich zu ungestüm war! Ihr wißt nicht, mein teures Fräulein, wie einem Halbverstörten zu Sinne ist. An Mechthildis thu’ ich kein Unrecht, wenn ich sie aufgebe. Von ihr aber war es ein Unrecht, daß sie nicht gleich gemerkt hat, wie’s um mich stand, und wie ich im Grund meines Herzens –“

„Nur an ihr Geld dachte“, ergänzte Hildegard spöttisch. „Wahrlich, Ihr treibt es weit! Nun macht Ihr der armen Frau noch Eure Habgier zum Vorwurf!“

Lotefend sah ihr verzweiflungsvoll in die Augen.

„Hildegard! Ach, wie wenig habt Ihr mein Schicksal verstanden! Dieser grausame Hohn! Und so etwas muß ich von Euch hören, von Euch, für die ich mit Freuden stracks in den Tod ginge!“

„Beruhigt Euch, Herr Lotefend!“ sagte sie, fast erschreckt über den Ausdruck von Seelenqual, der um seinen zuckenden Mund spielte. „Es scheint, das Fieber hat Euch wirklich die Nerven geschwächt, so daß Ihr alle Vernunft und Selbstbeherrschung verliert. Ihr müßt doch einsehen, das alles übersteigt das Erlaubte! Gott, mein Gott, warum nur seid Ihr auf diesen schrecklichen Einfall geraten, der die ganze Harmlosigkeit unseres Verkehrs über den Haufen wirft? Es war doch manchmal so hübsch und behaglich am Herdfeuer oder am Rand unserer Weißdornhecke!“

Der Tuchkramer begriff, daß seine Rolle als Liebhaber hier vorläufig ausgespielt war. Um nicht für immer alle Beziehungen zu dem Gegenstand seiner Leidenschaft einzubüßen, mußte er klüglich einlenken. Noch gab er die Hoffnung nicht auf, daß eine fortgesetzte stille Umwerbung nach und nach das störrische Eis schmelzen würde.

Einstweilen wollte er sich in Geduld fassen und die Erschreckte so rasch als möglich wieder in Sicherheit wiegen.

„Kommt!“ sagte er plötzlich und schritt voraus. „Ihr habt recht, vielehrsame Jungfrau, mein Verlangen ist Wahnsinn. Ach, vergeßt, was ich in seliger Trunkenheit so dahin geredet! Ich will den Versuch machen, auch ohne das Glück, das ich so himmlisch mir ausgemalt, ruhig weiter zu leben. Nur eins müßt Ihr mir jetzt gewähren, falls Ihr nicht wünscht, daß ich mir augenblicklich ein Leids anthue! Grollt mir nicht, Hildegard, und versprecht mir, daß Ihr auch ferner mit mir verkehren wollt! Es ist ja so einfach! Ihr thut, als sei nicht das Geringste vorgefallen! Auch ich will dann mit keinem Wort mehr darauf zurückkommen. Weigert Ihr Euch …“

Er zog mit der Linken die schwedische Reiterpistole und setzte den blauschimmernden Lauf an die Stirn.

„Es kostet Euch nur ein Wort, Hildegard, und die Bleikugel zerschmettert mir das Gehirn.

„Frevelt nicht!“ bat sie erbleichend. „Ich bin ja nicht böse.“

„Ich will ganz gewiß … Nein, nein, es soll alles so zwischen uns bleiben, wie’s war! Thut nur um Gottes willen die furchtbare Waffe weg!

Gebt mir die Hand darauf! Bei Eurer Ehre und Seligkeit.“

Er ließ die Pistole sinken und hielt ihr die Rechte hin.

Mit einem bänglichen Seufzer legte Hildegard ihre Hand in die seine und murmelte halblaut:

„Ja, ich versprech’ es Euch. Bei meiner Ehre und Seligkeit.“

„Ich danke Euch! Ihr macht mich froher und trostvoller als ich verdiene. Und es versteht sich von selbst, Ihr schweigt – gegen jedermann! Vor allem auch laßt Euren wackern Herrn Vater nichts merken. Das wäre mir schrecklich! Obgleich ja im Grunde –“

„Seid unbesorgt! Wie brächte ich das wohl je über die Lippen!“

Nun gingen die Zwei rasch, und ohne mehr als ein paar gleichgültige Reden zu wechseln, über den Wolfsbühl zur Grossachstraße.

Am Hause des Tuchkramers trennten sie sich. Es war von seiten Hildegards ein kühl höflicher, von seiten Lotefends ein fast demütiger Abschied. Das junge Mädchen beschloß, von dem Zurücklassen des Kahns und dem Heimweg mit Lotefend vorläufig überhaupt nichts zu erzählen. Ihr Vater hätte das doch vielleicht seltsam gefunden. Kam es dann später trotzdem zur Sprache, so würde sie schon irgend was auftreiben, um dies Schweigen zu rechtfertigen. Sie konnte ja sagen, sie habe ihm nichts von der Unsicherheit im Lynndorfer Wald mitteilen wollen, um ihn nicht zwecklos zu ängstigen.

Hildegard traf den Magister noch bei der Arbeit. Es dämmerte schon. Gertrud Hegreiner war außer sich. Die schöne Sauerampfersuppe, sein Lieblingsgericht, drohte schier einzukochen, denn Gertrud meinte, das ewige Wasserzugießen verderbe den Wohlgeschmack und das feine Aroma.

„Wo wart Ihr nur?“ fragte sie vorwurfsvoll, da Hildegard nach dem Studierzimmer schritt. „Ihr, sein Liebling, hättet ihn stören dürfen. Mich aber weist er natürlich hinaus wie ein Bettelweib. Es ist ein Kreuz mit den Gelehrten!“

„Seid nicht unwirsch, allzu gestrenge Hegreinerin! Ich wußte ja schon, heute dauert’s ein bißchen lang’, deshalb komm’ ich so spät. Ich war draußen im Grünen. Uebrigens muß er jetzt unbedingt aufhören. Der liebe Mann überarbeitet sich. Letzthin hat er auch unruhig geschlafen.“

So trat sie ein.

„Waffenstillstand!“ rief sie mit heller Stimme. „Der Abend sinkt und Ihr verderbt Euch die Augen. Kommt, Vater!“

Er schob den Quartband zurück, da er jetzt wirklich kaum noch sehen konnte.

„Bring’ mir die Lampe, Kind!“ sagte er freundlich. „Nur noch ein halbes Stündchen …“

„Eh’ Ihr gegessen habt? Wahrlich, da müßt’ ich eine recht unkluge Tochter sein und herzlos wie die schandbare Tullia. Nein, liebster Herr Vater! Erst wird gespeist und gerastet. Gertrud lauert auf Euch wie ein Luchs. Wenn Ihr dann wirklich noch weiterstudieren wollt – obgleich Ihr Euch schon den ganzen Tag über den Schreibtisch beugt …“

Lächelnd erhob er sich.

„Ich war just mitten im Buch der Saturnaliengeschenke. Das hätt’ ich noch gern ausgelesen. Weißt du, ich kam zuletzt auf den Standpunkt, alle Kritik aufzustecken und mich nur an den Stoff zu halten. Diese Einzelheiten aus dem altrömischen Leben haben für mich immer wieder unendlichen Reiz. Man spürt hier mehr als etwa bei Tacitus oder bei Cicero, daß die Menschheit sich im Lauf der Jahrhunderte wenig verändert hat … Und so war diese letzte Stunde auch nicht sonderlich anstrengend für mich.“

„Um so besser! Nun wird Euch das Mahl schmecken! Und danach gehn wir noch ein paar Schritte im Garten. Ihr müßt heraus, Vater! Es ist meine Pflicht, über Eurer Gesundheit zu wachem Der alte Valerius Martialis läuft Euch nicht fort. Nicht wahr, Ihr versprecht mir’s?“

„Ich muß ja wohl! Dir kleinen Despotin widerstrebe ein anderer!

(Fortsetzung folgt.)
[348]

Das Burgfest auf Runkelstein.

Von Karl Wolf–Meran. Mit Abbildungen von Fritz Bergen.

Es ist ein eigener Zauber, welcher die Bewohner des nördlichen Abhanges der tirolischen Alpen bis hinein in die weite Ebene nach Süden lockt, nach jenem gesegneten Lande, wo auf rebenumsponnenen Hügeln, dicht in Epheu gehüllt, die alten Ritterburgen stehen und wo die Ebene aussieht wie ein Zaubergarten voller Blüten, wenn im Norden noch die kalten Winde über die Heide fegen.

Wer einmal den Frühling im südlichen Tirol geschaut, den packt es wie Heimweh, wenn der launische April sein Regiment antritt. Wie ein Apostel verkündet er die Herrlichkeit des Tiroler Landes, und so kam es, daß von Jahr zu Jahr die lieben Gäste aus dem Deutschen Reiche immer in größeren Massen die Umgebung von Bozen und Meran bis hinab nach Riva im Frühling durchschwärmen.

„A, da schaugt’s her, dös ist ja d’ Vorstadt von Münka,“ rief einmal ein gemütlicher Bayer, als er eines Tages bei der Abendmusik auf dem Johannisplatz in Bozen überall die heimatlichen Laute von den an Tischen sitzenden Gästen. Die Südbayern sind auch die eifrigsten Tiroler Pilger zur Osterzeit. Sie kennen jeden Weg und Steg, jeden schönen Aussichtspunkt, jeden Weinschank und jeden Bauern, der einen guten Tropfen in seinem Keller lagern hat, und ihr Hauptquartier schlagen sie in Bozen in der Weinschenke „Batzenhäusl“ auf.

Burg Runkelstein.

     Einzug der Festgäste in den Burghof.

Die Verwaltung des sich prächtig entwickelnden Kurortes Gries bei Bozen hat nun heuer die Gelegenheit ergriffen und ein großes Fest arrangiert, dessen Entwurf und Durchführung von den vielen im Frühjahr in Bozen weilenden deutschen und österreichischen Künstlern thatkräftig gefördert wurde. Der Reinertrag sollte der herrlichen Erzherzog-Heinrich-Promenade in Gries zufließen.

Durch die Freigebigkeit des Kaisers von Oesterreich gelangte die Stadt Bozen neuerdings in Besitz der prächtigen, restaurierten Burg Runkelstein ob der Talfer, auf welcher die edeln Herren „Vintler ze Botzen“ einst hausten und dort, nebst der Gastfreundschaft, auch der Kunst und dem Minnegesang huldigten.

Der dem Feste zu Grunde liegende Gedanke war nun folgender: Oswald von Wolkenstein, der ritterliche Tiroler Minnesänger, hat im Jahre 1417 Margarethe von Schwangau geheiratet und zieht mit seiner jungen Gemahlin, den Verwandten und Freunden und einem wehrhaften Troß, der Einladung des Burgherrn Franz des Vintlers folgend, aus dem Bayerlande zum Besuche nach Runkelstein bei Bozen.

Nun wollte „der Burgermeister der ehrenfesten Statt Botzen, Niklas Hochgeschoren“, die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen und zeigen, wie die „wohlersambe Burgerschaft der Statt“ mit den edlen Herren auf Runkelstein „in gueter Eimbvernehmniß“ lebe, und er ladet die aus Bayern gekommenen Gäste und Edlen, den gewaltigen Elefantenbund der Ritterschaft des Etschgaues sowie „den Burger“, so auch das gemaine Volk zu einem großen Ritter- und Volksfeste auf dem Talfergelände ein. Das bildete die Vorfeier des eigentlichen Festes und – jeder Festunternehmer oder Arrangeur kennt die Bedeutung des Wortes – den Hauptkassapunkt. Die Schlußzeilen des Ladespruches sind so recht ein hoffnungsvoller Seufzer aus beklemmter Komiteebrust. Der Obmann des Finanzkomitees, vermeine ich, hat sie gedichtet

„– – wir thaten alles, was wir schuldig waren,
und sind noch alles schuldig, was wir thaten!“

Als am Ostermontag aber die Züge von Norden und Süden immer neue Menschenmassen herbeischleppten und kein Kämmerchen mehr in der Stadt und Umgebung zu haben war, da mußte das Wirtschaftskomitee, fast erschrocken ob solchen Andranges, rasch noch um Proviant in die Stadt schicken und als sich der mächtige Festplatz mit seinem schönen Burgportal, den originell erbauten Restaurationen und Buden, den großen Tribünen mit Tausenden von Gästen füllte, da fiel den Arrangeuren ein Stein vom Herzen.

In den ersten Nachmittagstunden begann vom Platze vor den Stadtsälen aus der Aufzug der „fürnemben Gäste zum Festplatz“ durch die Hauptstraßen der Stadt.

Voran kam die Gruppe der Stadt Bozen mit Fanfarenbläsern und Reisigen, mit Ratsherren und Bürgern ihr folgte die Gruppe der Bayern, deren Mittelpunkt Oswald von Wolkenstein und seine jugendliche Gemahlin bildeten, dann erschienen die Minnesänger und zuletzt die Runkelsteiner mit ihrem Herrn Franz dem Vintler und dessen Schwester Katharina. Eine Jagdgruppe und berittene Bauern bildeten den Schluß des festlichen Aufzugs.

Die Kostüme waren durchweg schön und dem Zeitalter angemessen. Besonders die Frauen und Mädchen zeigten viel Geschmack in der Farbenwahl und, was ich ganz besonders hervorheben möchte, Unterordnung unter die künstlerische, sachverständige Anleitung. Am originellsten war die Gruppe der Jagdknechte und sehr herzig jene der Schulkinder mit dem Schulmeister, welche, von den Spielleuten begleitet, den Festplatz ungemein belebten, da sie herumzogen und mit ihren hellen, frischen Stimmen alte Volkslieder sangen.

[349] Durch allerlei Volksbelustigungen wurde der Festplatz an der Talfer belebt. Man sah allerlei Spiele des „Gesindes“, den Fünfkampf, das Hahnenstoßen, Gerwerfen und dergleichen.

Das Ringelstechen der Bauern erregte ein allgemeines Hallo, denn die wackeren Ackergäule waren mit dieser Programmnummer durchaus nicht einverstanden – zum Glück für gar manchen Reiter.

Das fröhliche Treiben auf dem Festplatze währte bis zum späten Abend und die Buden, in welchen liebliche Frauen und Mädchen allerlei Leckerbissen verkauften und den Durstigen beisprangen mit Champagner, feurigem Tiroler oder Bier, waren bis in die Nacht hinein förmlich belagert. Die fremden Festteilnehmer verzogen sich mit Einbruch der Dunkelheit, um den Abend so recht nach Bozner Weise zu beschließen – im „Batzenhäusl“ oder im neu erbauten „Torggelhaus“, wo die edlen Tropfen alle in den Gläsern wie Rubine funkeln, oder auf dem weltberühmten Johannisplatz, wo die Leute vor den Restaurationen auf der Straße sitzen und Walther von der Vogelweide auf seinem Postamente sinnend herunterschaut ins welsche Land.

Der Osterdienstag gehörte dem Feste auf der Burg Runkelstein selbst.

Wie der Weg zu den Meraner Volksschauspielen hinaus zum Vintschgauer Thor und dann mitten durch herrliche Obstanger vor sich die prächtige Hochgebirgsgruppe der zackigen „Ziel“ und „Röthel“, den Wanderer in die richtige Stimmung versetzt, so wird der Besucher von Runkelstein – „Runglstuan“ im Volksmunde – in gleicher Weise angeregt, wenn er den Zugang über die sogenannte Wassermauer wählt. Dieser Schutzbann wurde schon vor mehreren hundert Jahren errichtet, und der nach Hochgewittern oder Herbstregentagen im Sarnthale so wilden Talfer den Einbruch ins sogenannte Dorf und in die Stadt zu wehren. Die Talfer baute sich eine mächtige Stein- und Schutthalde auf, welche die Aufhöhung der Mauer mehrfach nötig machte, und so schaut der Wanderer tief hernieder zur Rechten auf die üppigen Wein- und Ziergärten, welche die alten Herrensitze „Stillendorf“, „Gess’lburg“, Schloß „Naretsch“ mit dem großen viereckigen Wehrturm und den originellen Rundtürmen usw. umgeben.

Gerwerfen der Knappen. 
 Ringelstechen der Bauern.

Auch mancher „Zuacherg’lossner“, wie der fremde Ansässige von den Leuten genannt wird, hat sich hier niedergelassen, darunter auch Meister Defregger.

Hinten am Bergabhang bemerkt man die ausgebauten erzherzoglichen Gärten sowie den Magnolienhain der Gebrüder Streiter. Den Abschluß bildet St. Anton, eigentlich der Ansitz Klebenstein mit den ausgedehnten, daneben stehenden Gebäuden der Aktien-Baumwollspinnerei.

Vom nördlichen Bergabhang herüber grüßt die Ruine Rasenstein, ’s Sarner Gschloß, wie die Bauern sagen, und zur Rechten blickt der Turm des St. Peterskirchleins aus den Rebenranken. Den Wanderer nimmt ein schöner Kastanienhain auf und bald steht man am Aufgange zur wiedererstandenen Burg Runkelstein. Ein schöner kühner Bau auf steilem Felsen, so recht gemahnend an die Zeit, wo der Schloßherr auf der Hut sein mußte vor Fehde führenden Nachbarn. Und mit Recht! Schon der Erbauer Friedrich von Wanga mußte dies (1237) erfahren, denn in dem Streite zwischen dem Bischof von Orient und den Grafen Meinhard von Tirol wurde die Burg zerstört.

Nach mannigfachen Zwischenfällen kam sie endlich an die Vintler von Bozen (1685), welche sie wieder mit Gräben, Türmen und Vorwerken herstellen ließen. Aus dieser Zeit stammen auch die hochberühmten Fresken, welche die Sage von Tristan und Isolde, Scenen aus dem Sagenkreis von König Artus’ Tafelrunde darstellen. Ein großer Teil dieser Fresken ist heute noch gut erhalten. In dieser Glanzzeit des „Geschlosses auf dem Rungelstein pei Botzen“ spielte das heutige Fest, für welches man große Zurüstungen getroffen hatte.

Am äußeren Burgthore standen die ersten gewappneten Posten und nach der Legitimierung zog man den Vorplatz hinauf gegen das zweite Burgthor. Unvergleichlich schön ist von hier aus der Blick in das Etschthal, auf die gewaltigen Massen der Mendel mit den dunkelblauen Hochwaldungen die ausgedehnten Weingärten von Ueberetsch bis herein zu den Boznerböden. Blühende Obstbäume allenthalben, Schlösser, Edelsitze, Bauerngehöfte und Dörfer, und darüber wölbt sich der dunkelblaue Himmel – kurz der Herrlichkeit kein Ende.

Aus meiner Träumerei wecken mich helle Fanfaren der am zweiten Thor aufgestellten Spielleute. Der edle Herr von Vintler steigt mit dem Gefolge hernieder zum Empfang seiner Gäste, des ritterlichen Sängers Oswald von Wolkenstein mit seiner jungen Gemahlin, der schönen Schwangauerin aus Bayerland, und deren Troß. Nach Etschländer Sitte wurde erst ein kräftiger Willkommentrunk genommen von Herr und Knecht, gastfreundliche Red’ und Gegenrede wurde gehalten, und dann zog man ein in die festlich geschmückte Burg, von der Scheffel singt.

„Noch heute freut’s mich, o Rungelstein,
Daß einstmals zur guten Stunden,
In der Talfer felsenges Thal hinein
Zu dir den Weg ich gefunden.“

Von den Fenstern und Söllern schwebten Kränze herab und wehten Wimpel, gastlich waren die Thore zum mächtigen Keller geöffnet und holde Jungfrawlein kredenzten schäumendes Bier, weißen und roten Wein. Auch allerlei „Imbiß“ reichten sie, der freilich nicht der Zeit des Festes entsprach, ebenso wenig wie das moderne Programm der aufgestellten Regimentskapellen von welcher sogar ein Teil in voller Uniform den Sang Walthers von der Vogelweide begleitete, der aus den Gefilden der Seligen mit anderen Minnesängern einer älteren Zeit herbeigekommen war, um den [350] Lorbeer zu kämpfen. Die holde Schloßfrau aber war gnädig und bekränzte die Sänger alle, die sich zum Wettkampf gemeldet, und das Volk jubelte dazu.

Ritter vom Elefantenbunde.

Die Jagdknechte, in einer Ecke um den Humpen gelagert, logen das Blaue vom Himmel herunter, die Schuljungen sangen, die Fanfaristen bliesen sich die Kehlen trocken, und immer lustiger, immer fideler wurde es im Burghof.

Ich durchzog die mit herrlichen Fresken geschmückten Räume des alten Schlosses und fand einen stillen Erker mit Bank. Das kleine Fensterchen mit den Butzenscheiben zog ich in die Höhe und schaute bewundernd hinein in das wilde Sarnthal. Tief im Abgrunde rauschte die Talfer, wie die Ameisen zogen unten auf der weißen Straße die Menschen nach dem nahen Schloß Ried und zum Sarner Zoll, denn sie fanden nicht mehr Einlaß auf Runkelstein. Auf allen Hängen blühte und duftete der Frühling, die Vöglein sangen und – wahrhaftig, ich täusche mich nicht! Das ist nicht der Pfiff der Amsel, eine Nachtigall singt im Gebüsche der Wildrosen ihr erstes Lied –

„Unter der Linden
An der Heide,
Wo ich mit meiner Trauten saß,
Da mögt ihr finden,
Wie wir Beide
Blumen brachen und das Gras.
Vor dem Wald mit süßem Schall
      Tandaradei! –
Sang im Thal die Nachtigall.

Walthers von der Vogelweide tiefsinniges Liebeslied zog mir mit seinem jubelnden Klang durch den Sinn …

Es war dunkel geworden, so hatte ich die Zeit verträumt und der größte Teil der Gäste war schon nach Bozen abgezogen.

Und was hatten diese Voreiligen nicht für einen schönen Anblick versäumt!

Die Menschen unten im Schloßhofe waren fast alle im Kostüm. Die Jagdknechte, die Thor- und Turmwächter, die Schildknechte und Wehrmänner waren noch da und die Hauptsache: die Kellerwärtel in voller Zahl. Auch Schenkmädchen huschten hin und her und die ganze Scene wurde von Pechpfannen und Fackeln beleuchtet.

Ein gewaltiges Zechen hatte begonnen, die Spielleute bliesen, die Querpfeife gellte in die Nacht hinaus und dumpf wirbelte die lange Trommel dazu. Dort in der Ecke schnarchte ein bezechter Ritter, seine getreuen Knechte waren in das Würfelspiel vertieft, und dort der alte Bärtige knurrte, wenn einer der Spieler gar zu lange zögerte mit dem Wurfe. War doch der Humpen schon eine Weile leer!

Da und dort sprang einer der Mannen auf den Tisch zu kräftiger Rede oder klingendem Lied, und beides wurde ehrlich begossen mit St. Magdalener oder dem tückischen Riesling, der dem Zecher zu Kopfe steigt und in die Beine sinkt zu gleicher Zeit. Der Rauch aus den Pfannen und Fackeln wirbelte empor zu den Fenstern, Söllern und Zinnen der Burg.

Vorn am Brunnen saß ein gewappneter Mann, lehnte sich schwer auf seine Hellebarde und rückte den Schild mit des Vintlers Wappen auf seinem Rücken zurecht.

„Ein schönes Wappen hast, Herr Vintler,“ brummte er in den Bart. „Lieber wär’s mir, du könntest mit den drei Bärenpratzen jetztern kräftig zulangen, daß ich Menschenkind gesund den verwünschten Schloßberg herunter finde und hinaus gen Bozen.“

Ja, der Riesling auf Runkelstein ist ein tückischer Geselle!


Kriminalistische Gesichtsstudien.

Von C. Richter.
I.

Man nennt das Auge den Spiegel der Seele, und in der That drückt es die inneren Gemütsbewegungen mit überraschender Deutlichkeit aus. Milde und Zorn, Liebe und Haß strahlen und funkeln uns aus Menschenaugen entgegen; Trauer und Freude, rasches Denken und träges Sinnen werden uns durch den Blick verraten. Und wer kennt nicht den freien offenen Blick eines Menschen, der ein reines Gewissen hat, und den scheuen verstohlenen eines Schuldbewußten, der seinem Ankläger nicht fest ins Angesicht zu schauen vermag! Die Augen führen eine beredte Sprache, durch den Austausch der Blicke sagen sich die Menschen in kürzester Zeit oft mehr, als sie es durch Worte vermöchten.

Diese Fähigkeit der Augen, selbst die leisesten Regungen der Seele wiederzuspiegeln, hat auch den Anlaß zu der Behauptung gegeben, daß man von den Augen eines Menschen dessen Charakter abzulesen vermöge. Wir blicken einem ins Auge und glauben dann, sagen zu können: dieser ist mutig und jener ist ein Feigling, dieser ist ein gerader, offener Mensch und jener ein Heuchler und Schwindler. Von jeher hat man behauptet, daß gute und böse Menschen anders blicken, und so ist auch die Lehre entstanden, daß Verbrecher schon an dem Ausdruck ihrer Augen zu erkennen sind. Es giebt hervorragende Forscher, die dieser Meinung beipflichten. Lombroso, Garofalo, Vidocq und Ferri, die eingehende Studien über die Verbrecher gemacht haben, halten den Blick derselben für besonders charakteristisch. Der erstere von ihnen sagt: „Wenn der Verbrecher auch alle seine Gesichtszüge in Gewalt hat, so gelingt es doch dem größten Heuchler nicht, den Blick, der sein Innerstes verrät, zu verstecken. Ich finde eine große Aehnlichkeit zwischen dem Blick des Mörders und dem der Katze, wenn sie im Hinterhalt lauert oder zum Sprunge bereit ist, und ich erkläre mir das aus der beständigen Wiederholung der bösen Streiche. Ferner behauptet er, daß das Auge der Diebe klein, unruhig, oft schielend sei, während Fälscher und Schwindler kleine Augen, die sie niederschlagen, haben sollen. Andere gehen sogar so weit, daß sie sich zutrauen, aus der Art des Blickes verschiedene Arten von Verbrechern zu erkennen, Diebe von Raubmördern, Fälscher von Brandstiftern zu unterscheiden.

Noch leichter als am Blicke allein, soll man den Verbrecher am Gesichtsausdruck erkennen. Man hat darum von einer Verbrecherphysiognomie und einem „Galgengesicht“ gesprochen, das die Verworfenen von guten Menschen unterscheiden sollte. Gegen diese landläufige Anschauung haben wiederholt angesehene Männer Einspruch erhoben. Lavater, der doch ein begeisterter Physiognost war, warnte eindringlich vor der Anmaßung, „den Heiligen vom Spitzbuben schlechtweg am bloßen

[351] Schädel zu unterscheiden.“ Wenn dennoch in der neuesten Zeit eine Anzahl von Forschern an Gesicht der Verbrecher besondere charakteristische Merkmale entdeckt zu haben glaubte, so geriet sie in einen Irrtum. Derselbe wurde zweifellos dadurch hervorgerufen daß diese Forscher die Verbrecher weniger in der Freiheit, sondern zumeist in Gefängnissen studiert haben. Nun ist es bekannt, daß das Leben in der Gefangenschaft den Gesichtsausdruck verändert. An Stelle der Eindrücke, die uns die Freiheit bringt, tritt hier eine einförmige, freudlose Lebensweise, die zuletzt jeden Menschen stumpf macht. Dabei tragen die Gefangenen denselben Haarschnitt, dieselbe Kleidung, im Laufe der Zeit magern sie ab, so daß Unschönheit und Fehler in der Knochenbildung schärfer hervortreten, alle haben eine mehr oder weniger blasse und fahle Gesichtsfärbung. Wenn man unter solchen Gefangenen sich bewegt, so glaubt man, immer denselben Gesichtszügen, immer demselben unheimlichen Gesichtsausdruck zu begegnen, und wähnt zuletzt, eine Galerie abnorm gestalteter Menschen vor sich zu haben.

Wie anders ist aber das Aussehen dieser Verbrecher, wenn wir ihnen in der Freiheit begegnen! Dr. A. Baer, Oberarzt an dem Strafgefängnis Plötzensee, bemerkt dazu. „Die Physiognomie des Verbrechers ändert sich auffallend und überraschend mit dem Austritt aus der Gefangenenanstalt und dem Eintritt in andere Umgebung und Verhältnisse. Wie unendlich oft habe ich irrtümlicherweise geglaubt, in dem Gewühl der Großstadt hier und dort einen entlassenen Gefangenen zu sehen, und wie oft bin ich von Personen angeredet worden, die sich mir als frühere Gefangene zu erkennen gaben und in denen ich eher alles andere vermutet hätte!“ In der That, blättert man in den Verbrecheralbums, die von Polizeiämtern angelegt worden, so findet man in ihnen nicht wenige häßliche unheimliche Gesichter, aber auch solche, denen der erfahrenste Menschenkenner ihr Verbrechertum nicht ablesen könnte, obgleich sich deren Träger schon eine große Zahl von Vergehen und Verbrechen zu schulden kommen ließen. Die Physiognomie giebt keinen Anhalt und keine Gewähr für die sichere Beurteilung des moralischen Wertes eines Menschen, und Dr. Baer bemerkt treffend in seinem Werke „Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung“ (G. Thieme, Leipzig): „Wir finden bei den Verbrechern nicht selten häßliche und abstoßende Bildungsformen mit widrigem, unangenehmem Gesichtsausdruck: aber denselben Gesichtsbildungen begegnet man in allen Gesellschaftsschichten. Man findet sie nicht selten bei Personen, deren Ehrenhaftigkeit und Gesittung über allen Zweifel erhaben ist, die aber, in Sträflingskleider und mitten unter die Insassen einer Strafanstalt gesteckt, sich in nichts von den abgefeimtesten Schurken und gemeinsten Verbrechern ihrer Umgebung unterscheiden würden.“

Auf den Gesichtsausdruck und den Blick des Beschuldigten kann darum der Richter kein Gewicht legen, er muß bei der Beurteilung eines Menschen des Ausspruches eingedenk sein, den der berühmte Kriminalarzt J. L. Casper gethan hat: „Nicht das Galgengesicht eines Angeschuldigten sei der Maßstab des Urteils über ihn, nicht sei eine unscheinbare, ja eine gewinnende Physiognomie ein Freipaß für den, der auf der Anklagebank sitzt“.

Nichtsdestoweniger müssen sich Kriminalbeamte mit den Gesichtern der Verbrecher viel befassen. In jedem Steckbrief bildet die Beschreibung des Gesichtes geradezu das wichtigste Erkennungswerkmal. Wir haben schon in unserm Artikel „Moderne Steckbriefe“ (Jahrgang 1896, S. 268) hervorgehoben, daß gegenwärtig das Signalement vielfach nach neuen von aufgestellte Prinzipien aufgenommen werden. Die „Bertillonage“ ist inzwischen in Preußen eingeführt worden und wird auch voraussichtlich von anderen deutschen Staaten angenommen werden. Zur Vervollständigung unserer früheren Mitteilungen wollen wir noch einiges über die Personbeschreibung nach jenem System mitteilen und beginnen mit Angaben über die Beschreibung der Farbe des Auges.

Kein Körperteil besitzt beim einzelnen Menschen eine solche Unveränderlichkeit und gleichzeitig eine größere Mannigfaltigkeit bei den verschiedenen Individuen als das Auge. Seine Beschreibung eignet sich darum vortrefflich als Wiedererkennungszeichen das noch dadurch einen besonderen Wert erhält, daß kein Mensch imstande ist, am Aussehen seines Auges auch nur das geringste zu ändern. Bis jetzt konnte aber dieses Kennzeichen im öffentlichen Sicherheitsdienste darum nicht genügend verwertet werden, weil es an einer einheitlichen und gründlichen Einteilung der verschiedenen Abarten des Auges gefehlt hat. Dazu kam noch der erschwerende Umstand, daß viele im gewöhnlichen Leben gebräuchliche Bezeichnungen für die Farbe der Augen der Wirklichkeit nicht entsprechen So reden wir z. B. oft von grauen Augen, obwohl wirklich graue Augen bei Menschen fast niemals vorkommen was wir so nennen, das sind zumeist blaue, etwas mehr oder weniger mit gelblichen Tönen durchsetzte Augen, die im Schatten der Augenbrauen und Wimpern grau erscheinen. Sehr häufig werden auch Augen als schwarz geschildert, aber die Regenbogenhaut des Auges ist niemals schwarz gefärbt. Die gewöhnlich als schwarz bezeichneten Augen sind zumeist schwarzbraun manchmal auch dunkel schieferblau.

Um nun eine brauchbare Einteilung der so verschiedenfarbigen Augen zu schaffen, hat Bertillon dieselben je nach der Beschaffenheit und Menge des orangegelben Farbstoffes oder Pigments in der Regenbogenhaut in Gruppen geordnet. Von diesem Gesichtspunkte aus müssen wir zunächst zwei Grundtypen von Augen unterscheiden: nicht pigmentierte und schwarzbraune Augen, alle übrigen Färbungen sind Zwischenstufen, die zwischen diesen beiden äußersten Grenzen liegen. Zu der ersten Gruppe zählen die azurblauen, schieferblauen und mittelblauen Augen, wie sie bei den Völkern des nördlichen Europas am häufigsten vorkommen, zu der zweiten die im gewöhnlichen Leben als schwarz oder braun bezeichneten Augen, die für Südländer charakteristisch sind.

Die Klassifikation der Augen nach ihrer Farbe wird aber noch dadurch erleichtert, daß man bei der Regenbogenhaut zwei Zonen unterscheidet: zunächst die Aureole, welche die Pupille umgrenzt und etwa ein Drittel der Breite der Regenbogenhaut einnimmt und die Peripherie oder äußere Zone, d. h. denjenigen Teil der Regenbogenhaut, der an das Weiße des Auges stößt. Auf diese Weise kann noch die örtliche Verteilung des Farbstoffes in der Regenbogenhaut näher bestimmt werden.

Nach der Methode von Bertillon werden die Färbungen des menschlichen Auges in sieben Klassen eingeteilt: 1. Nicht pigmentierte, 2. gelbe, 3. orange, 4. kastanienbraune, 5.kreisförmig-schwarzbraune, 6. schwarzbraun-grünliche und 7. schwarzbraune Augen. Eine Tafel, auf der vierundfünfzig farbige Augenbilder dargestellt sind, ermöglicht dem Beamten die Bestimmung zu erlernen und das beobachtete Auge in die betreffende Hauptklasse und ihre Unterabteilung einzureihen.

Natürlich werden Anomalien, die an dem Auge vorkommen sollten, als „besondere Kennzeichen“ eingetragen. An manchen Augen befinden sich manchmal rote, Forellenflecken ähnliche Punkte, die man „Forellentupfen“ nennt, vielfach zeigt die Regenbogenhaut eine besonders starke Anhaftung des Farbstoffs nur an einer Seite in Form eines Kreisausschnittes, alsdann bemerkt der Beamte z.B. „kastanienbrauner Kreisausschnitt rechts oder links“, endlich hat die Peripherie der Regenbogenhaut älterer Leute öfter ein perlmutterartiges Aussehen; diese Färbung wird mit den Namen Alterskreise oder Greisenbogen bezeichnet.

Nach diesem System wird das Auge sehr genau beschrieben und zwar in abgekürzten Zeichen. Während in alten Signalements die Bezeichnung „Augen blau“ stand, lesen wir z. B. in der Bertillonage

2
kz.-st.g.m.
mbl.

In diesem Signalement bedeutet die Zahl 2 in der oberen Linie, daß die Färbung der Regenbogenhaut der zweite Klasse, also den „gelben“ Augen zuzuzählen ist. Die zweite Linie giebt die Gestalt, Farbe und Schattierung der Aureole an, die Abkürzungen bedeuten kz.-st= konzentrisch bis sternförmig, d. h. der orangegelbe Farbstoff ist in der Aureole konzentrisch bis sternförmig verteilt, g.=gelb und m.= mittel, d. h. die Grundfarbe der Aureole ist gelb, ihre Schattierung mittelgelb. Die Bemerkungen der dritten Linie beziehen sich auf die Peripherie der Regenbogenhaut und die Abkürzung mbl. bedeutet, daß ihre Farbe mittelblau ist.

Dieses Beispiel genügt, um zu zeigen, wie scharf das neue Signalement im Vergleich zu dem früher üblichen ist.

In welcher Weise einige andere Teile des Gesichtes zu denselben Zwecken beobachtet und beschrieben werden, wollen wir im nächsten Artikel berichten.

[352]

Aus Mitleid.

Novelle von Emma Merk.

Regierungsrat Forstner ging an diesem Nachmittage einen ganz ungewöhnlichen Weg nach der Vorstadt im Nordosten Münchens. Es war ein seltenes Ereignis, wenn er einmal seine gleichmäßige Stundeneinteilung änderte. Sonst begab er sich mit solcher Pünktlichkeit ins Bureau, machte so genau zur selben Zeit seinen Nachtisch-Spaziergang durch den Hofgarten und die Maximilianstraße, daß man nach seinem täglichen Erscheinen die Uhr hätte richten können. Er war etwa vierzigjährig, ein mittelgroßer, etwas zur Körperfülle neigender Mann, mit einem gutmütigen Ausdruck des vollen brünetten Gesichtes und einem kindlich treuherzigen Blick aus braunen frischglänzenden Augen.

Sein Vorgesetzter, der Justizminister, hielt große Stücke auf den Regierungsrat und nannte ihn seine rechte Hand. Forstner besaß auch einen Arbeitseifer und eine Pflichttreue, in denen es ihm nicht leicht ein anderer gleich that. Sein Amt bedeutete für ihn den Inhalt seines Daseins; es mußte ihm Weib und Kind und Gesellschaft ersetzen, er kannte nichts anderes als seinen Beruf.

Früher hatte er mit seiner Mutter zusammengewohnt, einer jener gefährlichen Egoistinnen, die mit sanfter, weinerlicher Stimme und scheinbarer Bescheidenheit und Unterwürfigkeit weichherzige Männer vollständig zu beherrschen wissen. Sie war so zart, sie konnte mit so thränenreichen, schmerzerfüllten Augen über die leiseste Vernachlässigung klagen, daß Franz, in der Sorge, ihr weh zu thun oder sie irgendwie aufzuregen, früh verzichten lernte, seine Jugendfreiheit zu genießen, und sich ganz in das mütterliche Heim einspinnen ließ. Von der jüngeren Schwester verhätschelt und in Anspruch genommen, war er wenig mit Fremden zusammengekommen und in Gesellschaft schüchtern und ungewandt geblieben.

Als die Mutter gestorben war, hatte seine Schwester zwar hoch und heilig versichert, sie würde immer bei ihrem Bruder bleiben, sich aber bald danach verheiratet. Er war sogar gezwungen gewesen, ihr sein eigenes kleines Kapital vorzustrecken, damit die Ehe mit dem Gutsbesitzer Bergmann, der um sie warb, zu stande kommen konnte. Aber die Freiheit kam für ihn zu spät. Nun hielt ihn die Macht der Gewohnheit schon fest gefangen. Er kannte auch niemand. Er fühlte sich ungewandt im Verkehr mit Damen und wies alle Bemühungen, die von seiten kluger Mütter gemacht wurden, ihn in ihren Familienkreis zu ziehen, mit ängstlicher Scheu zurück.

Auf Wunsch des Ministers war er heute von seinem gewohnten Spazierweg abgewichen.

„Bitte, lieber Regierungsrat, möchten Sie sich nicht gelegentlich nach unserem Sekretär Rautenbach erkundigen,“ hatte Excellenz gesagt. „Der Mann ist seit Wochen krank. Er wird es Ihnen gewiß hoch anrechnen, wenn Sie, auch in meinem Namen, nach seinem Befinden fragen würden. Ich weiß auch nicht, – er ist vielleicht in schlechten Verhältnissen, man könnte doch etwas für ihn thun!“

Der Wunsch des Ministers war für Forstner ein Befehl. Er wollte schon am selben Nachmittage Bescheid bringen.

Das Haus, in dem Sekretär Rautenbach wohnte, lag weit draußen, in fast ländlicher Umgebung. Ringsum Gärten mit Gemüsebeeten, ein paar Oekonomiegebäude; davor eine ungepflasterte Straße, auf der Kinder hin und her tollten; gegenüber eine Wiese mit aufgehangener Wäsche.

Durch ein Zaunthürchen trat man in den Hof, in dem ein Apfelbaum blühte.

Erst geraume Zeit, nachdem Forstner. geklingelt, wurde ihm geöffnet. Ein junges Mädchen stand ihm sehr verlegen, mit erschrockenen Augen gegenüber. Als er seinen Namen und Titel nannte, machte sie einen altmodischen Knix und öffnete, mit allen Zeichen der Aufregung, die Thür zu einem kühlen, ziemlich leeren Zimmer, in dem aber ein paar gute Kupferstiche hingen und eine große Bibliothek ihren Platz hatte!

Während sie sehr verwirrt und schüchtern auf einen Stuhl deutete und den Regierungsrat mit ängstlicher, sanfter Stimme bat, etwas warten zu wollen, bemerkte dieser, daß das junge Mädchen, welches wohl Rautenbachs Tochter war, einen ganz merkwürdig altmodischen Anzug trug. Forstner war ja durchaus kein Kenner in Damentoiletten, aber die glatten engen Aermel, der unkleidsame runde Ausschnitt, der den langen Hals frei ließ, und die harte blaue Farbe des Kleides fielen ihm doch auf. Das ohne alle Wellen und Löckchen, glänzend glatt über die Ohren gestrichene, hellbraune Haar gab ihr dabei etwas Nonnenhaftes und ließ ihr Gesicht sehr schmal und lang erscheinen.

Nach einer Weile wurde er in ein recht freundliches sonniges Zimmer geführt, in dem der kranke Sekretär sein Lager hatte. Forstner war immer freundlich gegen seine Untergebenen, aber er hatte sich um den Mann, der nur Schreiberdienste auf dem Bureau versah, nicht viel gekümmert. Rautenbach schien ein wunderlicher, verschlossener Kauz, der im Dienst nie eine Silbe mehr sprach, als er unbedingt mußte.

Als der Regierungsrat nun auf das Lager zuschritt, von dem sich der kranke Mann aufzurichten suchte, sagte er sich sofort, daß ihm sein Minister hier eine sehr traurige Aufgabe übertragen habe. Der arme Teufel trug den Stempel des Todes auf der scharf vortretenden wachsgelben Stirne.

Mitleidig bat Forstner ihn, liegen zu bleiben, und gab sich Mühe, einige möglichst überzeugende Trostesworte zu finden, die den hoffnungslosen Eindruck verschleierten, den ihm der Kranke machte. Auf dem hageren Gesichte Rautenbachs lag ein Ausdruck seelischer Qual, unruhig, ängstlich blickte er sich nach seiner Tochter um.

„Bitte, Hedwig,“ sagte er dann heiser, „geh’ du ein wenig in den Garten.“

„Ja, Vater, wie du willst!“ Sie rückte ihm noch die Kissen zurecht, damit er sich etwas aufsetzen konnte, brachte ein Glas Wasser und Tropfen für einen etwaige Hustenanfall, stellte die Klingel neben das Bett, strich dann mit rührender Zärtlichkeit dem armen Kranken das ergraute Haar aus der Stirne und huschte mit einer linkischen Verbeugung gegen den Fremden aus der Thür.

Sie verstand es, lautlos wie ein guter Geist, durch das Krankenzimmer zu gleiten.

Forstner war es recht peinlich zu Mute, als nun die bleichen Hände des Sekretärs nach seiner Hand griffen und die fieberhaften Augen ihn anblickten in verzweifelter Herzensangst.

„Herr Regierungsrat! Sie sind der einzige Mensch, der, seit ich krank bin, nach mir fragt! Ich habe keine Verwandten, keinen Freund! Sie müssen es mir vergeben, wenn ich mit Ihnen von meinem schwersten Kummer rede,“ stieß er in Hast hervor, als fürchtete er, es möchte ihm nicht Zeit vergönnt bleiben, zu Ende zu sprechen.

„Gewiß, lieber Rautenbach. – Wenn ich etwas für Sie thun kann! – Regen Sie sich nur nicht auf! Ich bleibe hier und höre Ihnen zu. Reden Sie nur ganz leise, ganz langsam!“

Dem Regierungsrat that das gute Herz sehr weh vor diesem Menschenelend, dem gegenüber er sich so ratlos fühlte.

„Es handelt sich um meine arme Hedwig. Was soll aus ihr werden, wenn ich die Augen schließe? Sie hat keine Ahnung, was für eine untergeordnete Stellung ich im Ministerium habe, sie meint, ein Sekretär, das wäre ein hoher Beamter. Sie weiß so wenig vom wirklichen Leben wie ein kleines Kind.“

„Aber warum diese Täuschung? Ich begreife nicht –“ warf Forstner ein.

„Ach sehen Sie, Herr Regierungsrat, wer mich in meiner Jugend kannte, hätte es sich nicht träumen lassen, daß ich einmal so enden würde. Schon in der Schule erwarteten die Kameraden Besonderes von mir. Zu allem verriet ich Talent, zum Musiker, Maler, Dichter! Alles das bin ich gewesen. Dabei hohe Ideen, das Größte, das Idealste im Sinne! Immer ein Schwärmer – ein Narr! Viel Größenwahn, viel Selbstüberschätzung und wenig Energie. Daran bin ich zu Grunde gegangen!

Das sagt sich so in ein paar Worten. Aber wie viel Jahre voll bitterer Erfahrung vergingen, bis der schöne große Glaube

[353]

Das Burgfest auf Runkelstein: Die Begrüßung Oswalds von Wolkenstein und seiner jungen Gemahlin.
Nach dem Leben gezeichnet von Fritz Bergen.

[354] zertreten war, welch zermalmende Enttäuschung mußte ich erleben, bis ich als gebrochener Mann eine Schreiberstelle suchte! Du lieber Gott!“ Er fiel erschöpft in die Kissen zurück … Ein Menschenwrack! Ein Gestrandeter, Verlorener!

„Ruhen Sie ein wenig! Ich warte schon, lieber Rautenbach,“ sagte der Regierungsrat erschüttert und schaute traurig hinaus zum schönen blauen Himmel, der in das Zimmer dieses Unglücklichen hereinleuchtete.

„Nein, nein!“ rief der Sekretär, sich gewaltsam zusammenraffend. „Wer weiß, wie lange ich noch Atem habe. Ich bin ja froh, wenn es zu Ende ist. Aber das Kind! Sehen Sie, eine Seele will der Mensch doch haben, die an ihn glaubt. Meine arme Frau, sie hatte mich für ein Genie gehalten – bis zuletzt, obwohl meine Bilder zurückkamen und meine Opern und Schauspiele nicht aufgeführt wurden, und obwohl sie viel Armut mit mir zu tragen hatte. ‚Der Ruhm kommt noch, Adalbert,’ sagte sie tröstend, noch auf ihrem Sterbebette. Als sie mich verlassen hatte, blieb die sechzehnjährige Tochter mein Einziges. Die Mutter hatte ihr ihre Begeisterung und Verehrung für mich vererbt. Diesen letzten Abglanz meiner alten Träume wollte ich mir nicht entschwinden lassen. Ich hütete ihn wie meinen größten Schatz. Ich behielt Hedwig immer bei mir, ließ sie mit niemand verkehren, der ihr hätte sagen können, welch armseliges Ende alle meine hohen Pläne gefunden. Wenn ich mich einschloß, um abzuschreiben – für fünfzig Pfennig den Bogen – dann meinte sie, ich arbeitete als Geheimschreiber des Königs an wichtigen Staatspapieren – und ich, ich ließ sie in dem Glauben! – Nun aber, nun muß alles für sie zusammenbrechen!“

Der Regierungsrat seufzte und schüttelte den Kopf. Er war im Grunde entsetzt über die Selbstsucht, die das Verhalten des Mannes geleitet. Damit die Tochter nicht aufhörte, ihn zu bewundern, hatte er ihr jeden Verkehr abgeschnitten, ihr jede Möglichkeit geraubt, sich im Leben zurechtzufinden. Seine Eitelkeit hatte dieses Menschenopfer gefordert.

Aber wie sollte er einen Vorwurf über die Lippen bringen vor diesem schwer Atmenden, vor diesem Bejammernswerten, den wohl nun längst bittere Reuequalen folterten!

„Ich werde mit dem Minister sprechen, Rautenbach, und ich selbst, so weit ich kann, will dafür sorgen, daß das arme Mädchen nicht zu rauh vom Leben angefaßt wird. Aber noch müssen Sie die Hoffnung auf Genesung nicht aufgeben.“

Der Kranke umklammerte die Hand des Regierungsrates. Seine großen Augen dankten. Er lag nun so bleich und müde in den Kissen, daß es Forstner bange wurde und er die Klingel zog. Gleich darauf schlüpfte die schlanke, wunderliche Mädchengestalt wieder leise herein.

Es war rührend zu sehen, wie dieses sanfte Kind, das bei seinem Empfang so ungeschickt und zaghaft gewesen, an dem Krankenbette mit vollendeter Sicherheit und Ruhe zu walten wußte.

Als der Regierungsrat sich empfahl, hatte der unglückliche Mensch sich wieder etwas erholt. Er lächelte ihm zu, mit einem bittenden, ergreifenden Blick, der sich in Forstners weiches Herz eingrub.

Acht Tage später stand in der Zeitung die Todesanzeige – „Sanft und schmerzlos verschieden.“

Diesmal machte Forstner aus eigenem Antrieb den weiten Weg in die Vorstadt. Er hatte es dem armen Toten so versprochen, sich der Tochter anzunehmen.

Das schien freilich keine leichte Aufgabe. Das verlassene unerfahrene Kind sah ja recht ärmlich und bescheiden aus in dem altmodischen schwarzen Kleid, das nach Kampfer roch, als hätte es lange im Koffer gelegen. Aber er brachte es doch nicht über die Lippen, sie geradezu zu fragen, wie sie ihr Leben einrichten wolle, und ihr eine Unterstützung anzubieten. Er hatte ein dunkles Gefühl, als wäre sie zu einem verzweifelten Entschlusse imstande, wenn ihr durch sein Anerbieten mit einem Mal ihre ganze traurige Lage enthüllt würde. Mit ihren verstörtem thränenlosen Augen, in ihrer verlegenen Hilflosigkeit erinnerte sie ihn unwillkürlich an eine Schwalbe, die sich in den letzten Tagen einmal in sein Bureau verirrt hatte. Das arme Tierchen that ihm so leid in seiner scheuen Angst, und er wußte doch nicht, wie er es retten sollte, da es so furchtsam vor ihm floh und sich die Flügel an den Wänden wund stieß, wenn er es haschen wollte.

Ratlos verließ er das trauernde Mädchen. Aber in seiner Gutmütigkeit verfiel er auf einen Ausweg. Wenn Fräulein Rautenberg sich für die Tochter eines höheren Beamten hielt, dann mußte sie erwarten, vom Staat eine Pension zu bekommen. Er konnte bei seinen einfachen Lebensgewohnheiten recht wohl allmonatlich eine Summe entbehren, die für den Lebensunterhalt des bescheidenen Mädchens hinreichen würde. Diese schickte er ihr durch den Amtsdiener, den er vorher unterrichtet, in der Form einer ihr gebührenden Pension. Auf diese Weise brauchte er den Minister, der die Beerdigungskosten bezahlt hatte und an dessen Mildthätigkeit ohnehin die vielfältigsten Ansprüche gemacht wurden, nicht weiter mit der Sache zu behelligen.

Hedwig erriet bei ihrer völligen Unerfahrenheit denn auch nicht, daß sie von dem Regierungsrat ein Almosen empfing. Sie dankte ihm nur in einer schönen kindlichen Handschrift für die Blumen, die er zum Begräbnis geschickt, für seine Teilnahme, und bat ihn, als Andenken an den Vater ein Bild, das dieser gemalt, entgegenzunehmen. Es war eine altmodische, farblose, aber fein empfundene Frühlingslandschaft, die Forstner in seinem Wohnzimmer aufhing. So oft sein Blick darauffiel, dachte er an das einsame Mädchen mit dem schmalen Nonnengesicht und frug sich mitleidig, wie sie wohl ihre Tage hinbringe und wie lange es dauern werde, bis die Welt ihr grausam ihre Illusionen zerstörte.

Seine Scheu vor Frauen hielt ihn ab, das schüchterne, verlegene Ding noch einmal aufzusuchen. Von dem Amtsdiener hörte er, sie ginge jeden Tag auf den Kirchhof, pflege das Grab des Vaters und schreibe seine Musikstücke ab. Der redselige Mann sagte kopfschüttelnd. „Die hat nun einmal keinen Menschen! Nur für einen Toten leben, das ist doch was Trauriges!“


Es war Herbst geworden. Der Regierungsrat arbeitete eines Abends zu später Stunde noch auf seinem Bureau, während die übrigen Beamten schon zu ihren Familien heimgekehrt waren oder an ihrem Stammtisch in der Kneipe beim Bier saßen. Plötzlich hörte er in den stillen Räumen des Ministeriums Rufen, Lärmen, hastiges Durcheinanderlaufen. Als er den Vorhang in die Höhe zog, sah er auf dem andern Flügel des Gebäudes eine Flammensäule emporschlagen. Rauch füllte den Hofraum, Funken wirbelten hernieder. Schon rasselten die Spritzen der Feuerwehr heran, eine neugierige Menschenmenge sammelte sich. Ohne einen Augenblick die Geistesgegenwart zu verlieren, traf er seine Anordnungen, lief selbst in die am meisten bedrohten Bureaus, schleppte große Stöße von Akten in das Zimmer des Ministers, das abseits von dem Flammenherd lag, verhandelte mit den Feuerwehrmännern und rannte treppauf, treppab im eifrigen Bestreben, zu helfen. Es war ihm dabei glühend heiß geworden, durch die offenen Thüren und Fenster aber blies ein eiskalter Wind. Ohne sich Zeit zu nehmen, in seinen Ueberzieher zu schlüpfen, rannte er in den Hof, stand hier in dem nassen Herbstwetter, um sich zu überzeugen daß dem Feuer Einhalt gethan werde, sprach mit dem Minister, der angefahren kam, mit den Beamten, die alarmiert herbeistürzten. Als er dann heimkam, fuhr ihm ein Schauder über den Rücken und er fühlte einen stechenden Schmerz in der Brust. Der Glühwein, den seine Haushälterin ihm bereitet, erhitzte ihm nur den Kopf, wärmte ihm nicht die von Frost geschüttelten Glieder.

Am andern Morgen war er so krank, daß er sofort den Arzt holen ließ, der eine Lungenentzündung konstatierte und bald nach seinem Weggang eine Pflegerin schickte.

So lange er im Fieber lag, während der schlimmsten Zeit der Krankheit, wurde er gut versorgt. Aber als es ihm besser ging und die Diakonissin fort mußte, um schwerer Leidenden beizustehen, blieb ihm nur seine Haushälterin zur Wartung. Die alte Frau meinte es gut, doch konnte sie es nicht lassen, wie eine Bombe durch die Thüre hereinzuplatzen wenn er klingelte, wenn sie bei ihm war, mit lauter Stimme zu schwatzen und mit jeder ihrer geräuschvollen Bewegungen seine reizbaren, empfindlichen Nerven zu verletzen. Er mußte zuweilen an das Mädchen denken, das lautlos wie ein guter Geist durch das Krankenzimmer des [355] Vaters geglitten war. Ueberhaupt dieses Krankenzimmer, dieser letzte düstere Eindruck des Sterbens drängte sich immer wieder in seine Erinnerung. So oft er seine eigenen schmalen blassen Hände betrachtete oder sein mager gewordenes, verändertes Gesicht im Spiegel sah, mußte er an den Sekretär Rautenbach denken. Die Schmerzen in der Brust, die Atemnot wollten nicht weichen. Er sah wohl, welch bedenkliches Gesicht der Arzt machte, der täglich kam, der ihn immer wieder abhorchte. Auf die Frage: „Nicht wahr, lieber Doktor, ich habe einen schlimmen Treff gekriegt, von dem ich mich schwerlich erholen werde?“ antwortete der Arzt allerdings mit einem Lachen, das aber nicht ungezwungen klang. „Was fällt Ihnen ein? Setzen Sie sich doch keine Grillen in den Kopf!“

Forstner glaubte ihm nicht. Er besaß von seinem Vater, der selbst Arzt gewesen war, verschiedene medizinische Bücher, in denen er nun über Lungenentzündung, über Schwindsucht, die sich sehr häufig aus der akuten Erkrankung entwickelt, nachlas. Kraft war daraus freilich nicht zu schöpfen. Er fühlte ja selbst am besten, daß seine Lunge krank war, und daß es dagegen kein Mittel und kein Heilkräutlein gab, davon war er überzeugt. Er war ein verlorener Mann wie der arme Rautenbach, nur daß er sich wenigstens nicht um unversorgte Angehörige zu beunruhigen brauchte. Freilich, was sollte aus der armen Sekretärstochter werden, wenn er ihr nicht mehr die kleine Summe für ihren Unterhalt schickte?

Der Gedanke an diese Verpflichtung quälte ihn bei seinem vielen einsamen Grübeln, wenn er nun stundenlang in seinem Lehnstuhl saß und nur das leise Summen der Lampe, das dumpfe Wagenrollen auf der hartgefrorenen Straße hörte.

Er wollte die Sache für alle Fälle geordnet haben. Wer konnte denn wissen, ob nicht ein plötzlicher Blutsturz seinem Leben ein Ende machte? So schrieb er denn an seinen Schwager, den Gutsbesitzer Bergmann, und bat ihn, nach München zu kommen, diesen Besuch jedoch, wenn irgend möglich, seiner Frau zu verschweigen. Forstner wollte seine Schwester nicht erschrecken und beunruhigen. Sie sollte nicht erfahren, wie schlimm es mit ihm stand, die arme Julie hatte ihn einst so lieb gehabt! Sein Schwager kam denn auch, erschrak sichtlich, als er den Regierungsrat so verändert, so gänzlich abgemagert und eingefallen wiedersah, suchte aber nach einigen tröstlichen Redensarten, als Franz van seinen ernsten Besorgnissen zu reden begann.

Der Regierungsrat hatte seiner Zeit sein Kapital als Hypothek auf das Bergmannsche Gut gegeben, er bekam auch regelmäßig seine Zinsen. Da seine Schwester ihn nach dem Gesetz beerbte, war es ihm überflüssig erschienen, ein Testament zu machen, er meinte, eine persönliche Wunschäußerung würde genügen, um seine Verwandten zu veranlassen, die kleine Unterstützung an Fräulein Rautenbach auch nach seinem Tode auszuzahlen.

Aber sein Schwager verhielt sich auffällig zögernd, nachdem er ihm mit den nötigsten Auseinandersetzungen sein Anliegen vorgetragen. Der Gutsbesitzer hüstelte verlegen, fing an über die schlechten Zeiten für die Landwirtschaft zu klagen und ließ sich endlich von seiner Abgeneigtheit gegen jedwede Verpflichtung zu der Bemerkung hinreißen, es würde ihn sehr erleichtern, das Kapital nicht mehr verzinsen zu müssen er könnte dann bauliche Veränderungen vornehmen, seinen Stall besser einrichten usw. Warum einer Fremden eine im Laufe der Jahre doch beträchtlich anwachsende Summe zuwenden, welche die nächsten Verwandten so notwendig brauchten?

Kranke haben feine Empfindungsnerven und hören mit scharfem Ohr was oft einem gesunden Menschen entgeht. Forstner war nach dieser Erklärung fest überzeugt, daß Bergmann die Möglichkeit, ihn bald zu beerben, bereits ins Auge gefaßt, ja gewiß auch mit seiner Frau erwogen und besprochen habe. Julie tröstete sich wohl rasch über den Tod des Bruders, weil ihrem Gatten die ersparten Zinsen so trefflich zu statten kamen!

An seinem Grabe würden sie heimlich überlegen, wie sie das willkommene Geld am besten verwenden möchten, und hinter ihren Trauermienen ein Lächeln der Befriedigung verbergen! Und das waren die Menschen, die ihm am nächsten standen!

Eine unsägliche Bitterkeit, ein trostloses Gefühl der Verlassenheit bemächtigte sich des einsamen, in seine stille Krankenstube gebannten Mannes. Er schrieb an seinen Minister eine flehende Bitte, ihm Arbeit ins Haus zu schicken. Die langweiligsten Akten waren eine Erlösung von seinen trübseligen Gedanken. Nur wieder ins Bureau können! nur nicht in dieser Unthätigkeit beharren müssen, das war sein heißester, ungeduldigster Wunsch.

Eines Tages, als er ein paar Stunden gearbeitet hatte und sich infolgedessen in etwas besserer Stimmung befand, kam seine Haushälterin mit neugierigem Gesicht herein und sagte in einem Tone, der Verwunderung und Mißbilligung ausdrückte: ein Fräulein sei draußen – sie wolle ihn sprechen – ob sie die hereinlassen müsse?

Er vertauschte rasch seinen Hausrock mit einem schwarzen, der ihm viel zu weit geworden war, und wartete mit dem Unbehagen, das ein Kranker bei jeder Störung empfindet auf den Besuch.

Hedwig trat herein mit ihrem altmodischen tiefen Knix, in einem engen Krägelchen, das wohl auch schon ihrer Mutter gehört hatte. Sie sah gealtert und blaß aus in ihrem schwarzen Capothut, mit dem schlaff herabhängenden Kreppschleier.

Verlegen nahm sie auf der äußersten Ecke des Stuhles Platz, den er ihr anbot, und brachte kein Wort hervor. Er las aus ihrem Gesichte, aus ihrem bittenden, ängstlichen Augenaufschlag, daß sie ein Anliegen an ihn habe. Aber er selbst war auch ein wenig verlegen über dieses Zusammensein; jede Kleinigkeit konnte ihn jetzt in eine krankhafte Unruhe versetzen.

Nach der üblichen Frage. „Wie geht es Ihnen?“, die sie mit einem Kopfschütteln, mit einem leisen Seufzer beantwortete, wußte er nicht viel zu sagen.

„Kann ich Ihnen mit etwas dienen?“ frug er dann endlich, da ihr stummes Vorsichhinstarren ihm peinlich wurde.

Sie nickte, zögerte noch immer und faltete endlich die Hände wie ein bittendes Kind.

„Ich möchte ja gerne – ich wollte Sie bitten – es ist ja sehr unbescheiden, mich an Sie zu wenden, aber ich kenne ja niemand – wenn Sie mir nur einen Rat geben wollten!“

„Gerne, wenn ich kann,“ sagte er ermutigend.

„Ich habe gedacht, ich könnte doch irgend eine Stelle finden, bei Kindern oder als Krankenpflegerin. In die Zeitung habe ich eine Annonce geschickt, aber es kam niemand. Ich habe ja auch keine Zeugnisse, und wenn ich auch mehrere Sprachen verstehe und Papa mich in vielem unterrichtet hat, so ist das doch alles nicht gründlich genug für eine Lehrerin.“

Er sah sie forschend an. Hatte sie erfahren, welche Bewandtnis es mit der Pension eigentlich hatte, und war sie zu diesem Entschlusse gekommen, um seine Unterstützung künftig zurückweisen zu können? Jede Frage schien ihm peinlich. Glücklicherweise fuhr sie selbst fort

„Ich bekomme ja eine Pension, mit der ich ganz gut reiche. Ich kann sogar noch so viel sparen, daß ich bald das Geld zu einem schönen Grabsteine für meinen armen Vater beisammen habe.“

Er machte unwillkürlich eine überraschte Bewegung und wendete das Gesicht ab. Wie einfach sie leben mußte, um noch etwas zu erübrigen! Er wußte das ja am genauesten. Das arme Ding! Er fand das wirklich rührend.

„Aber es ist so schrecklich, ganz allein zu sein, gar nichts zu thun zu haben! O, Herr Regierungsrat, wenn Sie mir nur raten möchten, wie ich mich ein bißchen nützlich machen kann!“

Sie sagte es ganz leise, aber mit einer zitternden Stimme, aus der eine dumpfe Verzweiflung herausklang.

„Ich will mich besinnen,“ versprach er freundlich. „Allerdings – ich komme, seit ich krank bin, ja nicht unter Menschen. Aber es wird sich dennoch etwas finden lassen, wenn Sie ein wenig Geduld haben.“

Sie stand auf, streckte ihm schüchtern die Hand hin und wehrte sich so ängstlich gegen seine Begleitung, daß sie schon zur Thüre hinausgeschlüpft war, ehe er nach seinem Shawl gegriffen hatte, um sich auf dem kühleren Flur einzuhüllen.

(Fortsetzung folgt.)

[356] 0


Blätter und Blüten.

Das Königliche Schloß in Athen. (Zu dem Bilde S. 341) Die Haine und Wälder die einst die Hänge von Athen mit ihrem grünen Gewande schmückten, sind längst verschwunden; die Umgebung der heutigen Hauptstadt Griechenlands entbehrt darum nur zu sehr des frischen Grüns, das unser Auge erfreut. Eine Ausnahme bildet nur die Gegend um das Königliche Schloß. Hier hat die Königin Amalie, die Gemahlin des Königs Otto und von Geburt eine oldenburgische Prinzessin durch einen deutschen Gärtner einen weiten Park anlegen lassen. Derselbe umgiebt das Schloß in bedeutender Ausdehnung auf den beiden der Stadt abgekehrten Seiten und reicht mit seinem südostlichen Teile bis nahe an das im Sommer meist trockene Bett des Ilissos. Eine breite Straße trennt die Anlagen von dem Flusse, und trotz des Staubes, der auf ihr emporwirbelt, ist sie namentlich abends von zahlreichen Spaziergängern belebt. Dank der herrlichen Baumgruppen, die hier gedeihen, macht, von dieser Stelle aus gesehen, das sonst einförmige und einfache Königliche Schloß, das für König Otto in den Jahren 1834 bis 1838 erbaut wurde, einen überaus malerischen Eindruck. Erhöht wird die Wirkung durch den prächtigen Ausblick auf den Lykabettos, der 277 m hoch, die Umgebung von Athen überragt und dessen Gipfel von einer Kapelle des heiligen Georg gekrönt wird.*      

Der Palmendieb. (Mit Abbildung.), Ein eigenartiger Geselle fürwahr ist der Krebs, den unsre Abbildung den Lesern vorführt. Er ist mit den Einsiedlerkrebsen verwandt und auf verschiedenen Inseln des Indischen Oceans heimisch. Die Eingeborenen haben ihm den Namen Palmendieb beigelegt, denn er nährt sich mit Vorliebe von Kokosnüssen. Das Tier erreicht die Größe und Schwere eines mittelgroßen Hummers, verbirgt sich bei Tage in Erdlöchern und „wandelt“ des Nachts „unter Palmen“, um abgefallene Kokosnüsse aufzuspüren. Findet er eine solche, so zieht er zunächst von dem breiteren Ende der Frucht die faserige Hülle ab, bis er an die in der harten Schale befindlichen drei Keimlöcher oder „Augen“ kommt. Nun hämmert er mit seinen schweren Scheren los, bis er die Schale gesprengt hat und das weiße, gallertartige Fleisch herausziehen kann. Eingeborene behaupten, daß der Palmendieb auch auf die Kokospalmen klettere und die noch am Baum befindlichen Früchte abkneipe; bis jetzt konnte jedoch dieser Bericht durch einwandfreie Zeugen nicht bestätigt werden. Prof. Richard Semon in Jena hat den Krebs auf der Insel Ambon im Molukkischen Archipel beobachtet. Dem trefflichen, an hochinteressanten Beobachtungen des Tierlebens überaus reichen Werke des genannten Gelehrten, das unter dem Titel „Im australischen Busch“ im Verlage von Wilhelm Engelmann in Leipzig erschienen ist, haben wir die obenstehende Abbildung des Palmendiebes entnommen. Das Fleisch des Krebses ist sehr wohlschmeckend und die Chinesen sind dessen leidenschaftliche Liebhaber, sie halten die Palmendiebe vielfach in Gefangenschaft und mästen sie förmlich mit Kokosnüssen. *      

Der Palmendieb.

Auf der Themse. (Zu dem Bilde S. 344 und 345.) Dem Ausländer, der dem Britenlande einen Besuch abstattet und in die besonders charakteristischen und anziehenden Zustände dieses Inselreiches einen Einblick zu gewinnen trachtet, kann es nicht dringend genug empfohlen werden, auch das rege Treiben zu beobachten, das sich auf der Themse entfaltet. Dasselbe ist ungemein interessant, und zwar nicht nur unterhalb Londons, wo die Themse Weltstrom ist und die gewaltigsten Seefahrzeuge auf ihrem Rücken trägt, sondern auch vornehmlich oberhalb der Reichshauptstadt, wo alsbald der Einfluß von Ebbe und Flut aufhört, die Ufer näher zusammentreten und eine idyllische Lieblichkeit haben. Da wechseln wohlgepflegte Parkanlagen und kurz geschorene glatte Rasenflächen mit blumigen Auen und malerischen Hügelketten, mit altertümlichen Städtchen und Dörfern ab. Da erhalten wir aber auch eine treffliche Anschauung von der wunderbaren Entwicklung des Flußlebens. Hunderte, ja Tausende von Fahrzeugen aller Art – von den Dampfjachten und den mit elektrischer Kraft getriebenen Booten sowie den stolzen Segelbooten bis zu den leichtesten und elegantesten Ruderbötchen und Canoes – gleiten an uns vorüber während an besonders malerisch gelegenen Inselbuchten und schattigen Gestaden oft lange Reihen von „House-Boats“, jenen schwimmenden Palästen, vor Anker liegen, aus denen ganze Familien den Sommer hindurch in erbaulicher Wasserdorfgemeinschaft bei einander leben. Alles das macht einen äußerst fesselnden Eindruck, der bei besonderen Gelegenheiten noch einen erhöhten Reiz gewinnt, bei Regatten und sonstigen Flußfestlichkeiten, die auf der ganzen etwa 160 Kilometer langen Strecke von Oxford bis London heute hier, morgen da abgehalten werden. Eine dreitägige Ruderpartie von Oxford bis London ist von mir bereits in der [[Eine Ruderfahrt auf der Themse|„Gartenlaube“, Jahrgang 1885, S. 538, geschildert worden.

Auf dieser Strecke sind etwa vierzig Schleusen angelegt, wodurch das Gefälle des Flusses wesentlich verringert wird. Obschon nun diese ihre Wasserthore an manchen Tagen immerfort öffnen und schließen müssen und, sobald das erforderliche Wasser eingelassen oder abgelassen ist – also alle paar Minuten –, Dutzende von Booten auf einmal fassen können, so ist der Andrang derselben zu Zeiten doch so groß, daß nicht alle in der Schleuse Raum zu finden vermögen. Wohl bereiten diese Bauten dem Ruderer neben dem Vorteil der Wasserregulierung auch eine störende Unterbrechung in seinem Kurse, aber sie bringen auch wieder mancherlei Kurzweil mit sich.

Eine solche Einfahrt flußabwärts steuernder Boote in eine Schleuse hat der Künstler unsres Bildes erfaßt und getreu wiedergegeben. Die flußaufwärts führenden Thore sind eben geöffnet und in wirrem Knäuel drängt sich nun die Masse der Boote durch die enge Oeffnung ein. Da kann natürlich von einer Handhabung der Ruder nicht mehr die Rede sein. Sie sind alle längst eingezogen. Mit Stangen und Bootshaken und mit den Händen schiebt man sich weiter. Das führt dann auch wohl zu gewissen „Anrempeleien“, und zwar nicht nur seitens der Boote, die immerfort gegeneinander stoßen und daher in solchem Gewoge auch leicht beschädigt werden, sondern auch von seiten der Insassen, wenn jemand zu rücksichtslos sich vordrängt. Aber es herrscht im allgemeinen hinreichender Takt und guter Humor, so daß gelegentlich auch ein etwas derberer Spaß ohne besondere Beanstandung verübt werden kann. Es mag uns schmerzlich sein, von dem spitzigen Schnabel plötzlich einen Stoß in den Rücken zu bekommen, schmerzlicher noch, unser Boot – ein ganz neues – immerwährend solchen Stößen ausgesetzt zu sehen, die stets solche abscheuliche Merkmale auf der vor kurzem noch tadellosen Lackierung hinterlassen, indessen, die Stöße können doch auch niemals wirklich fest kommen, da man sich in dem Gewirr ja immer nur langsam von der Stelle bewegen kann.

Noch durch diese eine Schleuse! Dann wird an der ersten schattigen Inselbucht Halt gemacht. Die Teppiche werden aus den Booten geholt und auf dem Rasen ausgebreitet; die Decken und die Regenmäntel und die großen Eßkörbe werden herbeigetragen, und nach des Vormittages Anstrengungen wird dann ein regelrechtes Picknick abgehalten. Es ist ein herrliches Leben auf der Themse und auf ihren Ufern. Wilh. F. Brand.

Schwitzt der Hund durch die Zunge! Fast allgemein ist die Meinung verbreitet, daß der Hund durch die Zunge schwitzt. Zutreffend ist sie jedoch nicht. So wie der Mensch oder das Pferd kann der Hund nicht schwitzen, denn in seiner Haut fehlen die Schweißdrüsen. Er muß somit die Abkühlung, die uns der Schweiß bringt, auf eine andere Weise erlangen. In normalem Zustande atmet der Hund 20 bis 30 Mal in der Minute, rennt er aber in der Hitze, so steigt die Zahl seiner Atembewegungen um das zehnfache und beträgt 300 bis 350 in der Minute. Diese beschleunigte Atmung entzieht nun der Lunge große Mengen Wasserdampf. Der Physiologe Richet hat berechnet, daß ein etwa 10 kg schwerer Hund in einer Stunde auf diese Weise 130 g Wasser ausscheiden würde. Zur Verdampfung dieser Wassermenge ist aber eine Wärmemenge nötig, mit der man 60 Liter Wasser um einen Grad Celsius erwärmen kann. Die beschleunigte Atmung kühlt also den Hundekörper bedeutend ab. Im Vergleich hierzu ist die Wassermenge, die an den Oberfläche der heraushängenden Hundezunge verdampft, sehr geringfügig. Der Hund schwitzt somit nicht durch die Zunge, sondern vielmehr durch die Lunge. *      


Inhalt: Die Hexe von Glaustädt. Roman von Ernst Eckstein (1. Fortsetzung). S. 341. – Das Königliche Schloß in Athen und der Berg Lykabettos. Bild. S. 341. – Auf der Themse. Bild. S. 344 und 345. – Das Burgfest auf Runkelstein. Von Karl Wolf-Meran. S. 348. Mit Abbildungen S.348, 349, 350 und 353. – Kriminalistische Gesichtsstudien. Von C. Richter. I. S. 350. – Aus Mitleid. Novelle von Emma Merk. S. 352. – Blätter und Blüten: Das Königliche Schloß in Athen. S. 356. (Zu dem Bilde S. 341.) – Der Palmendieb. Mit Abbildung. S. 356. – Auf der Themse. Von Wilh. F. Brand. S. 356. (Zu dem Bilde S. 344 u. 345.) – Schwitzt der Hund durch die Zunge? S. 356.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.