Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[241]

Nr. 120.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.


Trotzige Herzen.
Roman von W. Heimburg.

  (14. Fortsetzung.)
Hede Kerkow pochte den folgenden Morgen an das Zimmer des Oberförsters. Auf sein „Herein!“ kam sie über die Schwelle mit blassem verstörten Gesicht. „Herr Oberförster, ich habe eine Bitte,“ begann sie, „dieselbe ist eigentlich unbescheiden, aber verzeihen Sie mir angesichts der großen Verlegenheit, die mich zwingt, sie auszusprechen!“

Der große Mann hatte sich vom Schreibtisch erhoben und schaute betroffen seine Hausdame an, deren feines Gesicht weiß wie eine Kalkwand war und deren Augen tief eingesunken schienen. „Sie haben doch nicht eine Trauernachricht bekommen?“ fragte er, an die Schwester im Irrenhause denkend. „Aber bitte, setzen Sie sich doch, Fräulein Hedwig!“

„Danke!“ sagte sue, „Eine Trauernachricht, ja! Sie wissen, Herr Oberförster, wie gern ich in Ihrem Hause allezeit gewesen bin und daß es mir sehr schwer wird, die Kinder verlassen zu müssen, aber ich muß Sie bitten, mir zu erlauben, daß ich sobald als möglich meine Stellung hier aufgebe – ich muß zu Heinz.“

Der Oberförster, der am vorhergehenden Tage in aller Herrgottsfrühe ausgewandert und erst nach zehn Uhr abends zurückgekehrt war, hatte thatsächlich keine Ahnung von irgend welcher

Der neue Justizpalast in München.
Nach einer Aufnahme von Römmler u. Jonas in Dresden.

[242] Katastrophe, von der erst im Laufe des gestrigen Abends unbestimmte Gerüchte die Luft zu durchschwirren begannen und die wahrscheinlich erst beim heutigen Frühschoppen genauer den erregten Gemütern in Breitenfels bekannt werden würde. „Fräulein Hedwig, Sie sehen mich außer stande, etwas zu erwidern,“ stotterte er, „was ist denn geschehen?“

Ueber Hede Kerkows Gesicht flackerte die dunkle Röte verletzten Stolzes. Sie setzte ein paarmal zum Sprechen an, dann schwieg sie, und endlich brachte sie kaum hörbar die Worte hervor: „Tante Gruber schreibt mir soeben, daß meinen Bruder ein neues Unglück betroffen hat – seine Frau hat ihn verlassen.“

Er antwortete nicht. Nach einem Weilchen sagte er ruhig: „Die Pflicht gegen den Bruder und sein krankes Kind geht allem vor; bitte, verfügen Sie ganz frei über sich, Fräulein von Kerkow!“

Sie hob den Blick und sah ihn an. Es lag etwas Wunderliches in ihren Augen, aus denen das klare Schmerzenswasser sich Tropfen um Tropfen drängte, etwas Vorwurfsvolles, als thäte ihr die rasche Gewährung der Bitte weh. Er sah es nicht; er hatte den Kopf halb abgewendet und blickte durch die Scheiben auf die Straße.

„Ich danke Ihnen,“ stammelte sie.

„Machen Sie sich keine Sorgen um uns,“ sprach er weiter, „Karoline hat viel gelernt von Ihnen, Agnes ist fast erwachsen, und –“

„Sie werden ja leicht einen Ersatz finden,“ ergänzte sie.

Er antwortete wieder nicht.

„Ich will dem Mädchen die nötigen Anweisungen geben,“ fügte sie mit fester Stimme hinzu, „dann mache ich von Ihrer Erlaubnis Gebrauch und gehe hinauf zu meinem Bruder.“

Sie neigte ernsthaft den Kopf, und schon nach wenigen Minuten stieg sie den Schloßberg empor. Ohne sich bei Frau von Gruber des näheren zu erkundigen, ging sie stracks in die Wohnung ihres Bruders.

Es war Regenwetter hereingebrochen, und er befand sich infolgedessen mit Heini in seinem Erkerzimmer. Das Kind lag auf dem Ruhebett in Decken und Tücher gewickelt, war nervös und ungeduldig; es hatte erfahren, daß die Mutter nie wiederkomme und daß der Vater darum traurig sei. Das genügte, das Gleichgewicht des armen kleinen Kopfes völlig zu zerstören. Das kranke Kerlchen weinte bald plötzlich laut heraus, bald war es unartig, um gleich hinterher mit rührender Stimme um Verzeihung zu bitten, und das trübe Wetter fiel ihm vollends auf die zarten Nerven.

Hedes Anklopfen war überhört worden; Heini schluchzte gerade so laut. Heinz kniete vor dem Lager seines Kindes und redete ihm zu, als plötzlich Hede vor ihnen stand.

„Da bin ich, Heinz,“ sagte sie einfach, „und wenn du mich gebrauchen kannst, bleibe ich gleich hier.“ Sie hielt ihm die Hand hin, er legte die seine hinein, und Heini hörte auf zu weinen. Sprechen thaten die Geschwister kein Wort. Nach einer langen Pause, während welcher sie dem Kleinen immer wieder die herunterfallenden Bausteine aufhob und Heinz im Zimmer auf und ab schritt, fragte er stehen bleibend:

„Kannst du denn gleich so ohne weiteres fort, Hede?“

„Ja!“ sagte sie dumpf.

„Aber es wird dir gewiß schwer?“

„Du bist doch mein Bruder, mein Einziger auf der Welt!“ Sie sah ihn nicht an dabei, erhob sich nach einem Weilchen und ging in die Küche, um Anordnungen zu treffen, und von da zu der kranken Tante Gruber, die sie seit langer Zeit nicht besucht hatte.

Die alte Dame empfing sie seufzend und stöhnend. „Du bleibst jetzt natürlich bei ihm, Hede?“ endete ihr langer Klagenerguß.

„Ja, Tante!“

„Kannst du denn gleich? Du bist doch in einer Art Mietsverhältnis, und solche Leute nützen ihre Macht gern aus –“

„Solche Leute? Welche Leute?“

„Der Oberförster, der Parvenu! Wenn sie weiter nichts Gutes hat, diese fatale Durchbrenngeschichte, das wenigstens hat sie, daß du aus dieser untergeordneten Stellung kommst. Also – er erlaubt in Gnaden, daß du sofort zu Heinz gehst? Alles mögliche!“

In Hedes Augen erstarrte der feuchte Schimmer, aber sie erwiderte kein Wort. „Hast du noch irgend welche Wünsche, Tante?“ fragte sie kühl.

„Nein,“ jammerte die alte Frau aus den weißen Kissen heraus, „nur Heinz sollte vernünftig sein, sollte wenigstens so thun, als ob er rasend wäre über diesen Menschen, diesen Grellert, sollte so thun, als ob seine Forderung ihn nicht mehr erreicht hätte, oder von ihm ignoriert würde. Er blamiert sich ja mit seinem resignierten Stillhalten.“

„Weil er sich nicht geschossen hat mit dem ehrlosen Menschen – dieser Frau wegen?“ fragte das Mädchen mit zuckenden Lippen. „Na, gottlob, Tante, dazu ist er zu vernünftig – er denkt an seinen hilflosen Sohn.“

„Sie hätten ja in die Luft schießen können!“ rief die alte Dame.

Hedwig zuckte die Achseln. „Was kann Heinz dafür, wenn Grellert durchbrennt, ehe noch die Forderung gestellt werden konnte? Mein, Bruder hätte sicher das Seinige gethan, um dieser leider noch immer festgehaltenen Sitte zu genügen, die ich für ein Verbrechen, für ein Gottversuchen ansehe.“

Frau von Gruber warf ihr einen bösen Blick zu. „Das kommt davon, wenn man jahrelang mit Plebejern verkehrt,“ sagte sie, den Kopf zur Seite wendend.

Hedwig ging. Ihr war das Herz sehr schwer, und während sie Anordnungen für ihre Uebersiedlung traf, weinte sie eine stille Thräne um die andere. Sie fand nicht den Mut, noch einmal unten in die Augen der Kinder zu sehen, um Abschied von ihnen zu nehmen, die sie so eilig verließ und die sie so lieb gewonnen hatte. Daß ihr auf so ruhige, sachgemäße Weise das Scheiden erlaubt werden würde, hatte sie nicht gedacht; sie hatte gemeint, wenigstens ein Wort des Bedauerns zu hören. Hinterließ denn ihr Gehen keine Lücke? Galt denn ihr treues Walten als so wesenlos? Sie warf plötzlich den Kopf empor; ein harter, stolzer Zug erschien um ihren Mund – sie hatte wieder einmal die bitterste Erfahrung gemacht, hatte an ein wenig Dankbarkeit geglaubt und – – –

„Gieb mir mein altes Zimmer, in dem ich damals wohnte,“ bat sie Heinz, der eben eintrat. „Und das Kind nehme ich selbstverständlich mit herüber zu mir; dich stört es, du mußt Schlaf haben, Heinz,“

„Das Kind? Nein!“ sagte er ruhig, „Heini bleibt bei mir.“

Sie sah ihn groß an, schluchzte ein paarmal, aber sie schwieg.

„Hede, nimm’s nicht übel,“ bat er.

„Ich bin traurig, daß ich dir nichts nützen kann, Heinz!“

„Du kannst’s, und du sollst jedenfalls hier bleiben, Hede. Du hättest schon immer hier bleiben müssen, es war ja aber leider so – na, du weißt es.“

„Hier sein müssen? Als Müßiggängerin! Das sehe ich nicht ein,“ antwortete sie bitter. Sie kämpfte noch mit sich; Heinz, sah, sie wollte etwas sagen, aber dann wandte sie sich rasch ab und ging hinaus.

Am liebsten wäre sie sofort wieder in die Oberförsterei geflüchtet, allein das litt ihr Stolz nicht. Man würde sie ja gar nicht vermissen! – Die Karoline habe viel von ihr gelernt – die Aelteste sei fast erwachsen – so sagte er ja, der große gelassene Mann. Sie war am Ende schon seit langer Zeit ein überflüssiges Ding gewesen, man hatte sie nur aus Gewohnheit behalten?

Sie ging in die leere, schlecht gelüftete Stube, in der noch nichts daran gemahnte, daß sie wieder hier wohnen sollte, schloß die Thür hinter sich ab und grübelte über ihr armes, inhaltsleeres Dasein, das in seiner ganzen Nacktheit und Oede wieder vor ihr stand, nachdem es ihr ein paar Jahre lang ganz freundlich erschienen war. Alles erborgter Schimmer, den sie für echt genommen! Sie konnte sich nicht erinnern, daß ihr je bitterer zu Mute gewesen – –

Und während die Beteiligten still in dem alten Schloße ihrem Kummer nachhingen, war ganz Breitenfels in Aufregung über das Geschehnis. Die widersprechendsten Gerüchte tauchten auf. Die einen sagten, der Schloßhauptmann habe seine Frau schon seit Jahren schlecht behandelt; die andern, sie sei mit seiner Erlaubnis davongegangen; nur wenige entschuldigten ihn und klagten die Entflohene an, aber sie drangen nicht durch. Die Wohnstube der Frau Medizinalrat war vielleicht die einzige, in der nicht davon gesprochen wurde, obgleich dort auch mehrere Damen beim Nachmittagskaffee saßen. Aenne sah bleich aus und war sehr still, trotz ihres vorgestrigen neuen Triumphes, den sie im Rathaussaal zu Brendenburg errungen hatte. Dafür war Papa May aber noch ganz selig über seinen Liebling. Auch hatte Mama May ihr Herz höher schlagen gefühlt, als sie die schöne Tochter auf dem Podium stehen sah, von nicht enden wollendem [243] Beifall umrauscht. Beinahe so, hatte sie sich vorgestellt, müsse ihr zu Mute sein, wenn Aenne in der bis auf den letzten Platz besetzten Schloßkirche im Atlaskleid und Schleier vor dem Altar stehe. Und heute, ach, da war Mama Mays augenblickliche Begeisterung schon bedeutend herabgestimmt; es war alles so ganz anders gekommen, und nur eine ganz leise Hoffnung blieb noch immer – vielleicht fand sich doch einer, der, leichtsinnig genug, eine Sängerin zur Frau nahm!

Sehr schwach war diese Hoffnung allerdings, denn wenn einer ihrer Söhne mit einer Künstlerin käme – o, sie würde ihn jagen, sie würde ihm den Standpunkt klarmachen! Lieber gleich hängen! Ein Glück würde es ja doch nie. Ach, es ist eine elende Welt! Und die alte Frau sah, während sie in ihrer Kaffeetasse rührte, zu einer üppigen hübschen Dame hinüber, die neben Aenne saß, sehr elegant in marineblauen Foulard mit weißen Tüpfelchen gekleidet, und die so beglückt lächelte, als sei Aennes herrliches Talent ihr, eigenes Verdienst.

„So kommt doch alles einmal an die Sonne,“ sagte Frau May noch zwischen Scherz und Ernst. „Ich hatte bis vorgestern keine Ahnung davon, daß Sie, Fräulein Hochleitner, mit Aenne hinter unserem Rücken verkehrt haben, und ich dachte, ich sähe nicht recht, als Sie beide nach dem Konzert auf einmal sich in den Armen lagen. Was wird man nur noch alles erfahren!“ klagte sie seufzend.

Und Fräulein Hochleitner lachte die ganze Tonleiter hinauf und herab. „Ach, meine beste Frau Rat, es hat mir ja kan’ Ruh’ ’lassen, bis i das Kinderl auf dem Podium g’sehn hab’. Der Direktor von unserm Theater hat g’flucht und g’wettert schon nit mehr schön, aber i hab’ halt auf dem Urlaub b’standen. – Gelt, Annerl, ’s is halt ein altes Versprechen? Ach, und meine beste Frau Rat,“ fuhr sie fort, als die alte Dame nicht aufhörte, sauer dreinzuschauen, „und jetzt, wann i nur dürft’, i erzählet Ihnen gern noch ’was, damit Sie an anders G’sicht kriegeten, zum Beispiel wie i amal so heiser ’word’n bin, so ganz plötzli, daß i kan’ anzigen-Ton rausbracht hab’.’ Dös war a Remasuri, heilige Muttergottes – grad’ am Hochzeitstag vom Kerkow is’ g’wesen.“

Aenne nickte ihr zu und lächelte wieder.

„Und wo’s jetzt so gut ’gangen is, kann i’s ja eing’steh’n, daß i’s war, die Ihr Töchterl g’hetzt und g’stoß’n hat auf die Kunstcarrier’! No, i denk’, da hab’ i da ’was ordentlich’s z’stand ’bracht!“

„Ich sollt’s meinen,“ gab Tante Emilie stolz zu, „denken Sie nur, über acht Tage singen wir in Leipzig im Gewandhaus.“

Fräulein Hochleitner lachte, daß ihre prächtigen Zahnreihen blitzten. „Singen wir im Gewandhaus! I könnt mi totlachen – gelt, das Tanterl meint, wenn sie net dabei is, geht’s nimmer – g’rad’ wie mein Mutterl!“

„Ohne Tante könnte sie freilich nicht reisen,“ brummte Frau Rat, „das Umhervagabondieren gefällt mir überhaupt am wenigsten dabei. Eigentlich kann’s dir doch auch nicht behagen,“ wandte sie sich an ihre Tochter, „bist gar nicht so auferzogen, hast doch wahrhaftig kein Zigeunerblut in dir.“

Aenne stand plötzlich auf und breitete die Arme aus, als wollte sie davonfliegen, aber sie sagte nichts, sie sah nur mit langem Blick über den völlig leeren Schloßplatz, auf den endlos öde der Hegen niederprasselte.

„Ja, zu sehen ist hier freilich nichts,“ seufzte die Rätin, „aber wenn man sein Hauswesen hat und seine Familie, dann ist’s doch schön, überall schön, und wer das mißachtet – na, ich sag’ nur, ich hoffe, sie kriegt noch ihre Strafe.“

Aenne sah betroffen die Mutter an.

„Sie meint die Toni Kerkow,“ erklärte Tante Emilie.

„Ah so!“ sagte Fräulein Hochleitner, „dös soll man wiss’n! Na, meine Meinung is, wenn sich zwei schon nimmer vertrag’n, dann is’s besser, das Weltmeer wimmert zwischen ihnen – frei nach Schiller –“

„Es kommt von der Unzufriedenheit,“ redete Frau Rat weiter, „keiner will mehr die Schranken anerkennen, die ihm gezogen worden sind, und das ist der Geist der heutigen Jugend. Ihr zwei seid auch nicht besser, Sie nicht und meine Aenne nicht – das ist meine Meinung!“

„Na, dös laß i m’r g’fallen,“ lachte Fräulein Hochleitner. „Was fallt Ihnen denn ein, Frau Rat, daß mit so scharfe Fidschipfeil’ auf uns schießen? Wenn i Ihnen auf die verehrten Zecherln ’tret’n sein sollt’, thut’s mir leid, mich können S’ bald los werden; das Annerl aber hat Ihnen doch kein Steinderl in den Weg g’worfen, sollt’ i denken – im Gegenteil–“

„Nehmen Sie’s nicht für ungut, “ murmelte Frau Rat, „Sie haben recht.“ Dann setzte sie die Tassen ineinander und ging hinaus.

„Was hat denn die Mutter nur?“ fragte Aenne die Tante.

„Ach, die alte Geschichte,“ antwortete diese. „Vorhin ist die kleine Agnes von Oberförsters dagewesen, heulend und schreiend. Fräulein von Kerkow ist natürlich stehenden Fußes zum Bruder hinaufgeeilt, und die Kinder drüben sitzen wie die Vögel im Nest, denen die Alte weggefangen ist. Der Papa habe seine Büchse genommen und sei trotz des bösen Wetters in den Wald gegangen, gleich nachdem das Fräulein fort war, und der Junge klage über Halsschmerzen – der Herr Rat soll kommen!“

„Lieber Gott,“ sagte Aenne, „das ist ja alles sehr traurig, aber dafür kann ich doch nicht!“

„Freilich können S’ dafür,“’ bemerkte Fräulein Hochleitner ärgerlich. „Wenn S’ den Wittiber damals g’nommen hätt’n, alsdann wär’ ihm jetzt die Seinige net davon g’laufen. Jessas, kann denn die Frau Rat dös noch net vergess’n? Sieht s’ denn immer noch net ein, daß dös Kind zu ’was Höherem b’stimmt ist?“

„Seien sie nur gut, Liebste,“ beschwichtigte Aenne die Erzürnte. „Die Trennung von mir liegt meiner alten Mutter schon wieder im Sinn und macht sie unwirsch. Ich werd’ einmal mit ihr reden!“ Sie ging die alte Frau suchen und fand sie endlich weinend am Fenster sitzen.

„Mama,“ bat das Mädchen „sei doch gut, laß doch die alten Geschichten; ich möchte so gern noch ein paar friedliche Stunden im Hause verleben! Sieh ’mal, ich kann gar nicht so froh herdenken von draußen, wenn ich dich hier so hab’ weinen sehen.“

„Ja, ja,“ sagte die Mutter, „es hilft ja auch nichts – hast recht. Aber ich –“ und wieder schüttelte sie der Schmerz, „ich verwind’ ’s nicht, ich kann mich nicht hineinfinden in die neumodischen Ansichten, mir ist’s, als müßte sich ’s Herz umdrehen, wenn dich tausend Augen so angaffen. Du bist mir zu gut dazu, und ich schäme mich für dich und bin froh, daß ich’s nicht mit anzusehen brauche, das Bänkelsängerleben.“

„Du bist ungerecht,“ sagte Aenne verletzt.

„Nein, nein’ – ich habe dich nur lieb, ich möchte dich vor allen Enttäuschungen behüten und bewahren, und ich sag’, daß es ein Unglück ist, daß du damals den Günther nicht nahmst, für dich und für ihn! Da sitzen nun die Würmer allein, und er läuft aus Verzweiflung im Wald umher.“

„Sei ’mal vernünftig, Mutter,“ bat Aenne, vor ihr niederknieend. „Ich gebe dir das Versprechen, wenn ich einmal einen Mann lieb haben werde, dann nehme ich ihn – aber nur dann. Und den Günther hatte ich nicht lieb, verstehst du?“

„Doch! Doch! Hast’s nur selbst nicht gewußt. Und die Schlange im Paradiese ist die Hochleitner gewesen, die hat dir dummes Zeug eingeblasen – wahrhaftig, ich könnte ihr dafür etwas anthun!“

„Du armes, kleines, rabiates Mutterl,“ sagte Aenne und streichelte sie. „Ach du! Ich möchte dich so gern beruhigen, aber wie soll ich’s denn beginnen? Ich vermag’s nicht, mir ist das Herz selbst so schwer. Komm, sei gut; wir können auf dieser Welt nicht alle desselben Glückes teilhaftig werden, und wir wollen recht dankbar sein, daß ich solch ein großes, ungewöhnliches habe. Siehst du, ich freue mich so, daß Papa nun wieder ein Glas Wein wird trinken können, seinen geliebten griechischen Wein, den er bisher immer von der Frau Herzogin zu Weihnachten bekam, wie heißt er doch gleich? Richtig – Mavrodaphne! Daß du ferner nicht mehr so zu rechnen brauchst mit der Wirtschaftskasse, daß ich den Brüdern ein wenig helfen kann, das alles wäre mir unmöglich, wenn ich als Frau Günther da nebenan säße, Mutter – nicht wahr?“

„Ja, an andere denkst du!“

„Das ist auch ein Glück.“

„Aber nicht deines!“ rief die alte Frau, von neuem aufschluchzend, und preßte den Kopf des Mädchens in ihren Schoß. „Nicht deines! Und du wirst immer Sehnsucht haben und – und –“ ihre Stimme erstickte in Thränen.

Ach, Aenne verstand die Mutter so gut! „Macht mir’s doch nicht so schwer!“ murmelte sie und drückte sich fester an die Weinende.


[244] Nun war der Sommer vorübergezogen und der Herbst gekommen; ein öder, regennasser, früher Herbst. Verlassener denn je schaute Schloß Breitenfels auf das stille Städtchen herab; wäre nicht das einsame Licht hoch droben im Erkerzimmer so regelmäßig aufgesprüht jeden Abend, nichts hätte mehr daran erinnert, daß es bewohnt sei. Der Herzog hatte in diesem Jahre auch die Jagden abbestellt; er weilte in Cannes mit seinem brustkranken Sohn, und die Patrioten des Herzogtums Breitenfels saßen abends an ihrem Stammtische und redeten von der Zeit, wo sie preußisch werden würden. Sonst war alles beim alten, nur die bejahrte Hofdame war gestorben, an einem der letzten heißen Augusttage hatte sie der Tod ereilt. Nach der üblichen Frist war sie dann mit allem von ihr gewünschten Pomp begraben worden drunten auf dem Kirchhof. Aber nicht da, wo alle bunt durcheinander lagen, wie sie gerade starben, nein, Frau von Gruber hatte ihre letzten Sparpfennige dazu bestimmt, an der Mauer beerdigt zu werden, in welche eine wappengeschmückte Sandsteintafel über dem Hügel eingelassen wurde. Ganz „deplaciert“ wollte sie auch im Tode nicht sein, wenn ihr gleich einst die Familiengruft verkauft worden war mitsamt dem Stammschloß!

Bei dem Begräbnis hatten die Breitenfelser den Schloßhauptmann zum letztenmal gesehen; daß er überhaupt noch lebte, das merkte man nur noch daran, daß seine Lampe dort oben über ihnen brannte. – Auch der Oberförster sah Abend für Abend das Licht. Er saß länger denn je in seiner Stube und ging nicht mehr in der Dämmerung zu seinen Kindern, um sie singen zu hören; sie sangen auch nicht mehr, es war ja niemand da, der ihnen dazu spielte! Mitunter überkam den großen starken Mann eine wahnsinnige Angst und Unruhe, eine Ungeduld, ein Zorn, der ihn ungerecht machte gegen seine Umgebung; gegen sich selbst, so daß er die Mütze von der Wand riß und hinauslief, stundenlang wie sonst auch, nur daß er nicht mit Frieden im Herzen heimkehrte; der Wald hatte seine beruhigende Sprache für ihn verloren.

Mitten aus dem Rauschen, aus dem feierlichen Flüstern glaubte er dann plötzlich eine ruhige, klare Frauenstimme zu hören, wie er sie tausendmal gehört während der letzten Jahre. Und er stierte auf die Wege, als könnte er dort den Abdruck eines schmalen Frauenfußes entdecken, wie er ihn vor seiner Hausthür gefunden an jenem Abend, da sie zu ihm kam, um sein verwaistes Hauswesen zu übernehmen. Und wenn er heimkehrte, müde und abgespannt, dann öffnete er rein mechanisch die Thür der Wohnstube und schaute nach dem Fenstertritt, auf dem eine feine Gestalt sonst gesessen, die Jüngste neben sich – da aber stand der leere Stuhl. Und die Uhr an der Wand tickte auch nicht, und die Blumen am Fenster hingen die Köpfe. In den Ecken oder am Tisch lümmelten müßig die Kinder umher oder balgten sich im Garten, und die Hunde hatten es sich wieder bequem gemacht auf dem Sofa und fuhren scheu mit eingezogener Rute an ihm vorüber, obgleich er nicht daran dachte, sie zu strafen.

Er seufzte nur und nahm der Aeltesten das Buch fort, an dem sie sich einen roten Kopf geschmökert hatte, und hieß sie mit barschen Worten, sich um die Geschwister kümmern. Dann ging er in seine Stube, wo er sich vor seinen Arbeitstisch setzte, aber nichts arbeitete. Er hatte hier so gern geweilt, namentlich zu der Zeit, als er sein Hauswesen in Zucht und Ordnung wußte, und nie hatte er daran gedacht, daß es anders werden könnte, so ein thörichter alter Patron war er gewesen!

Nun war es anders geworden, und der Doktor May hatte zu ihm gesagt, er müsse wieder eine Dame haben; ob seine Frau ihm eine engagieren solle? Die Kinder verkämen ja reinweg!

Nein, nein, er wollte es nicht, er könnte keine andere da sitzen sehen auf dem Platz am Fenster! Es müßte so gehen, es müßte! Ostern würde die Agnes konfirmiert, dann komme ihr auch wohl der Verstand mit dem Amte. –

Merkwürdig, daß Hede Kerkow nie wieder heruntergekommen war! Die Kinder ließ sie sich zwar zuweilen hinaufholen, und dann kamen sie ordentlich gekämmt und ausgeflickt wieder. Er selbst hätte es nicht gemerkt, aber die Karoline sagte es, und die Karoline schickte dann auch höchst ungeniert die zerrissenen Höschen, Röckchen und Strümpfe der wilden Rangen durch Agnes zu Fräulein Kerkow, denn dazu habe sie keine Zeit, behauptete sie: und seit ein paar Tagen stieg das Jüngste jeden Morgen um zehn Uhr hinauf und wurde von Tante Kerkow in der Kunst des Lesens und Rechnens weiter unterrichtet, das heißt, es machte seine Schulaufgaben droben unter ihrer Aufsicht, wie bisher in der Kinderstube unten, nur besser.

Heute war des Oberförsters Geburtstag. Er selbst hatte nicht daran gedacht, aber der Strauß Astern und bunter Waldblätter, der auf dem Kaffeetisch stand, erinnerte ihn daran, und ebenso die feierlichen erwartungsvollen Gesichter der Kinder, deren jedes sein Verschen sagte; Tante Kerkow hatte sie dieselben gelehrt.

Es ward ihm sonderbar zu Mut, und der Dank wollte nicht recht aus der Kehle. Er mußte an die Geschichte mit Aenne denken. – – Einmal in seinem Leben war ein Sturmwind über ihn gebraust, hatte ihn in heißer Leidenschaft geschüttelt und gebeugt, und da – – nein, das würde er nie verwinden, das würde ein wunder Fleck bleiben zeitlebens! Und neben diesen Erinnerungen her lief ein anderes Gefühl, etwa als kühle ein linder Hauch diesen wunden Fleck, daß er ihn zuweilen doch vergessen konnte, und der Hauch ging aus von dem Walten, dem bescheidenen, fast unsichtbaren Walten eines gebildeten, verständnisvollen Wesens, das ein Zufall ihm ins Haus geführt, das wie der gute Geist selber in seinen vier Pfählen geherrscht hatte!

Es war ihm der Gedanke nie gekommen, sie zu fesseln für immer, kam ihm auch heute nicht, er hätte nicht den Mut gehabt, die Hand nach der Edeldame auszustrecken – er verehrte sie andächtig, aus der Ferne, als guten Engel seines Hauses. Und nun, seit sie ihn verlassen, wuchs ihm ein sonderbares, starkes Verlangen in die Seele hinein, daß er nichts denken konnte als das eine: ohne sie geht es gar nicht, ist es kein Leben! Und er sah sie beständig da drüben wieder sitzen am Fenster, die Kinder um sich – es war zum Verzweifeln, rein zum Verzweifeln!

Er lachte über sich und schüttelte den Kopf, daß die Kinder verwundert aufhorchten und sich Mit den Ellbogen stießen ob des Vaters sonderbaren Wesens. Und dann fuhr er aus seinem Brüten empor und strich dem stämmigen Buben über den Kopf. „Nun, was kann ich euch denn heute Gutes thun, damit ihr merkt, daß mich eure Gedichte erfreut haben?“

Sie sahen sich untereinander an und schwiegen.

„Wollt ihr Chokolade und Brezeln? Die Karoline soll sie euch nachmittags bringen.“

Sie schüttelten die Köpfe, und die beiden Jüngsten drängten sich an die Aelteste und der Junge wisperte ihr etwas zu.

„Tante Hede soll wiederkommen, wir haben solche Sehnsucht nach ihr!“ platzte der langaufgeschossene Backfisch endlich los und die Thränen schossen ihm in die blauen Augen. „Wir haben Sehnsucht!“ echoten die beiden anderen, und der Junge erklärte altklug: „’s ist ja gar kein Leben mehr, das hat Karline auch gesagt!“

Der Oberförster stand auf und trat von seinem Häuflein fort, er mochte sie nicht sehen in ihrem kindlichen Jammer. „Tante Hede muß den kleinen Heini jetzt pflegen, der hat keine Mutter mehr,“ sagte er gepreßt.

„Wir haben auch keine Mama,“ rief die Jüngste schmollend.

„Aber ihr seid nicht die Verwandten der ,Tante’; der Heini ist ihr Neffe und ist krank, das müßt ihr bedenken.“

„Wenn sie nicht wieder kommt, werde ich aber auch krank!“ trotzte der Junge.

„Vielleicht schenkt uns die Tante einen Nachmittag und trinkt Kaffee mit uns! Geht alle Drei hinauf und bittet sie darum,“ schlug er vor. Und die Eile, mit der sein Vorschlag ausgeführt wurde, ließ ihn trübe lächeln. Er verfolgte die Kinder, am Fenster stehend, mit seinen Blicken; sie sprangen den Schloßberg hinauf, wie losgelassene Füllen, und er stand da noch, als sie wiederkamen mit hängenden Köpfen. Und er, der Vierzigjährige, hatte Herzklopfen wie ein Gymnasiast.

Sie fingen alle Drei zugleich an zu reden: „Sie kommt nicht, Vater, Tante kann nicht – hier ist ein Brief, Vater!“

„Sie will nicht!“ dachte er niedergeschlagen – aber warum? Er nahm das Schreiben und ging hinüber in seine Stube. Ihre Visitenkarte fiel ihm entgegen, unter zierlich gestochenem Wappen der Name: Hedwig von Kerkow, und dazu geschrieben: „wünscht herzlich Glück zum heutigen Tage!“

Hätte sie doch lieber gar nicht gratuliert! dachte er und das Blut schoß ihm in die Stirn. Er legte das Blättchen auf die Spiegelkonsole und rückte näher zu seinen Büchern und Papieren, um sich in die Arbeit zu vertiefen. Die Aelteste trat

[245]

Johanna I., Königin von Neapel.
Nach dem Gemälde von Laura Le Roux.

[246] nach einer ganzen Weile herein und schlich zu ihm. „Tante Hede sagt, sie wäre selbst gekommen, aber sie kann leider nicht fort; sie hat gerad’ den Diener schicken wollen mit der Karte.“

„So, so!“ nickte er. „Ich kann euch nun nicht helfen, ihr müßt eure Chokolade ohne Tante trinken.“

„Vater, ich glaube, Heini muß sterben,“ begann das Kind von neuem, „Tante Hede sah so blaß aus und war so traurig!“

„Erzählte sie euch das?“

„Nein – ich denke nur so. Und sie hat uns alle geküßt und gesagt, wir sollten sehr artig sein heute.“

„Dann seid es nur auch,“ mahnte der Oberförster. „Zur Chokolade komme ich hinüber, heute nachmittag.“

Das Kind ging. Der Vater warf die Feder fort und starrte vor sich hin. Hatte er ihr eigentlich etwas zuleide gethan? Er grübelte und grübelte, aber er fand nichts. – Sie hatte fort gewollt, und er hatte als ehrlicher bescheidener Mensch seine Wünsche den ihrigen nachgesetzt. Nicht einmal zu sagen hatte er gewagt. „Das geschieht mir zu großem Leid!“ Er hatte einfach gesprochen: „Wenn das so liegt, darf ich Sie nicht zurückhalten.“ Er kam gar nicht darauf, der gute einfache Mensch, daß seine Bescheidenheit mißverstanden werden konnte.

Also er fand nichts, er glaubte nur, sie habe ihren alten Stolz hervorgesucht; nun, da es ihr möglich war, wieder standesgemäß zu leben, und – – na ja die Pflege des kranken Würmchens. – Den Nachmittag vergaß er die festliche Chokolade und mußte erst geholt werden. Und die Kinder mochten das Getränk nicht, denn Karoline hatte es anbrennen lassen, Mariechen warf ihre Tasse um und begoß sich von allen Seiten; es war kalt und ungemütlich im Zimmer und der Junge heulte über Zahnschmerzen. Der Oberförster verlangte Karoline zum Heizen. Die Aelteste ging in die Küche, um diesen Wunsch des Vaters zu melden, die vielgeplagte Karoline aber war schlechter Laune und schimpfte entsetzlich, daß sie vom Aufwaschfaß fort sollte, es sei eine heillose Wirtschaft jetzt im Hause, und sie könne das bald nicht mehr aushalten, und wenn einer Witwer sei und habe Gelegenheit zum Heiraten und er thue es dann nicht, so sei das man – „dumm!“ Und der droben könne ja eine Pflegerin halten für sein krankes Kind. Wenn seine Schwester die Frau Oberförsterin nun schon wäre, dann hätte er sie ja auch nicht können so ganz einfach hier wegholen und hätte sich eine andere suchen müssen. So ’ne Wirtschaft, wie die Wirtschaft jetzt hier sei, das wär’ ja, um auf die Bäume zu klettern!

Der Backfisch kam ganz blaß wieder ins Wohnzimmer. Sie stand zuerst hüstelnd umher, setzte sich dann auf den verlassenen Fensterplatz und betrachtete ihren Vater, der, die eine Hand auf dem Rücken, mit der andern den leise weinenden Jungen führend, auf und ab schritt, als sähe sie ihn in ihrem Leben zum erstenmal.

„Vater,“ sagte sie endlich, „Karoline ist böse auf dich.“

„So? Warum denn?“

„Sie sagt, du hättest Tante Kerkow man heiraten sollen, dann wäre die ganze Ravage nicht.“

Er stand plötzlich still und starrte das Kind an; eine jähe Röte war in sein Gesicht geschossen und er hatte eine heftige Antwort auf der Zunge. Aber er beherrschte sich, ließ den Jungen los und ging mit wuchtigen Schritten aus dem Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)




Jägerfrühling.

Föhnwetter im Februar, schmelzender Schnee und brausender Regen – das nennen sie in der Stadt eine „greuliche Zeit“, bei der man sich nasse Füße und rote Nasen holt. Aber draußen auf dem Lande, im Herdwinkel des Hegerhäuschens und in der Försterstube schmunzelt so manch’ ein alter Graubart vergnügt und träumend vor sich hin, wenn er mit dampfendem Pfeiflein bei der trübe brennenden Lampe sitzt, während es draußen saust und klatscht um alle Mauern und an jedem Fenster die Läden rasseln. Und bevor sich der Alte, wenn der Krug geleert ist, zum schnarchenden Bärenschlafe niederlegt aufs Ohr, tritt er wohl noch für einige Minuten vor den Gewehrrechen, holt die alte Schrotspritze vom Nagel, öffnet die Läufe und beginnt mit dem Wischer ein Fegen und Scheuern, daß ihm die Schweißperlen von der Stirn über die buschigen Brauen tropfen. Der langhaarige Vorstehhund, den der Winter dick und faul gemacht, ist hinter dem Ofen hervorgekrochen; er schüttelt das verstaubte Fell, zuckt in Neugier mit den Ohrlappen, und unter sachtem Schweifwedeln studiert er die Miene seines Herrn, der ihm lächelnd zublinzelt.

„Ja, Mannderl, jetzt geht’s bald los!“

Bald! Es stehen ja schon die „lateinischen Sonntage“ vor der im Frühlingssturm rasselnden Thür – nur acht Tage noch bis zum wichtigsten, der sich „Oculi“ nennt! Und dann kommen sie, die heiß Erwarteten, die Langgeschnäbelten, die dem Weidmann die Erstlingsfreude des neuen Jägerjahres bescheren.

In diesen Tagen sammeln sich trotz Sturm und Regengüssen allabendlich die Jäger von weiten Dörfern her in einer Wirtsstube zum „Schnepfen-Tratsch“, Und während die Krüge fleißig zwischen Tisch und Keller wandern, setzt es um den Langschnabel ein Reden ohne Ende, mit Geschichten, deutsch und „lateinisch“, mit heißen Debatten. Da wird immer wieder von neuem die alte Streitfrage aufgeworfen: über den großen „Eulenkopf“ und die kleine „Dornschnepfe“, Das wären zwei verschiedene Arten, behaupten die einen; und die anderen sagen: Nein, es giebt nur eine Art; die kleine Dornschnepfe ist nur ein Nestling vom letzten Jahr und wächst sich erst mit dem zweiten Sommer zum „Eulenkopf“ aus, denn … Und da werden mit der Pfeifenspitze alle Gründe für diese Meinung an den Fingern hergezählt. Ist man des Streites müde geworden, so beginnt das unvermeidliche Lob der „guten, alten, schnepfenreichen Zeit“ und die trauernde Klage über die jährlich fühlbare Abnahme der Schnepfen. Die Pessimisten prophezeien mit trübseliger Meine, daß „die schnepfenlose, die schreckliche Zeit“ nicht mehr allzufern sei – die Optimisten aber trösten sich mit der Erfahrung, daß jedes magere Schnepfenjahr noch immer ein gutes im Gefolge hatte. Und jene Mitglieder der Tafelrunde, die sich das Abonnement einer Jagdzeitung vergönnen, kramen breit die aus dem Blättchen gesammelte Weisheit aus: die Verminderung des langschnäbligen Wildes wäre statistisch festgestellt und durchaus kein Wunder; denn mit den veränderten Kulturverhältnissen, die der Schnepfe allmählich den Boden entziehen, den sie liebt, verbände sich feindlich die Ausbildung der Feuerwaffen; dazu käme noch der bequeme Weltverkehr, der es passionierten Sportsleuten ermögliche, die besten Strichgegenden in Kroatien und Slavonien, auf den Inseln des Quarnero und in Griechenland aufzusuchen, um den Massenmord der Schnepfe als amüsantes „Schießtraining“ zu betreiben; so hätten einmal in der peloponnesischen Ebene drei englische Sportsmen während weniger Tage über tausend Schnepfen erlegt; aber das könnte man noch verschmerzen – denn schließlich waren das doch Jäger mit der Flinte in der Hand – wäre nur nicht das alljährliche Massacre des armen Langschnabels in seinen Winterquartieren, in Sardinien und Sizilien, in Algier und Tunis, in Aegypten und Kleinasien! So wären eines Winters in der Umgebung von Smyrna in drei Tagen über 20 000 Schnepfen gefangen und erschlagen worden.[1]

Bei solcher Hiobspost geht in der Tafelrunde ein verzeihliches Stöhnen und Seufzen von Herz zu Herz. Was bleibt da noch für den braven deutschen Jäger übrig!

Wer an solch melancholische Stimmung schließt sich gleich wieder das Erwachen fröhlicher Hoffnungen an. Noch giebt es ja Schnepfen, Gott sei Dank – nur ein paar Tage noch, und sie kommen! Lachend hebt man die frisch gefüllten Krüge und trinkt die Gesundheit des noch unbekannten Glücklichen, der von Hubertus’ Gnaden zum Schnepfenkönig dieses Frühlings geboren ist. Und man witzelt auch schon über den Pechvogel, der sich den „Heringskopf“ verdienen wird – wer beim Schnepfenstriche leer ausgeht, hat zum Schaden noch den Spott zu leiden, denn in zierlicher Verpackung erhält er durch die Post einen Heringskopf mit leeren Gräten zugesandt, „unbekannt von wem“! Und wer wohl der Beneidete sein wird, der die „Erste“ nach Hause bringt?

Sie wird nicht leicht verdient, diese „Erste“, sondern muß [247] in Mühsal und Strapazen errungen werden, und die Huld der grünen Göttin beschert sie immer nur dem eifrigsten Jäger. Beginnend mit den letzten Tagen des Februar, muß er an jedem Morgen und Abend seinen Auszug halten, muß der Kälte und aller Unbill des Wetters trotzen, muß sich vom Regen baden und von den Graupen auf der Nase trommeln lassen, um mit unverwüstlicher Geduld den Augenblick zu erharren, in dem die „Erste“ endlich heranzieht mit ihrem Falzgesang, der, so unmusikalisch er sich anhört, für Jägerohren so süß und verlockend tönt.

Doch sie erscheint nicht unvermutet, diese Erste! Unser Langschnabel ist ein Wild von Geblüt und meldet sich durch geschwätzige Lakaien an, gleich einem vornehmen Herrn. Wenn die ersten Märztage milden Himmel brachten und aus dem Gestrüpp der schüchtern knospenden Hecken der Duft eines verfrühten Veilchens quillt, dann verkündet das Getriller der heimgekehrten Feldlerche über den kahlen Fluren, das Gurren der Hohltaube im Wald, der Schrei des Kiebitz und das heimliche Geplauder des Stars: „Sie kommt! Sie, kommt!“ Und erklingt nun gar im Birkendickicht der schmelzende Schlag der Drossel, so ist das dem Jäger sichere Botschaft, daß die erste Schnepfe nicht lange mehr auf sich warten läßt.

Warmer Südwind wehte bei leichtem Regen die letzte Nacht hindurch. Zu solchen Nächten kommen sie gerne! Und jetzt ein Morgen, frisch und ackerduftig, ein Tag, wie ihn der Frühling schöner dem Jäger nicht schenken kann! In brennender Ungeduld will sich der Abend kaum erleben lassen. Alles ist schon parat, der spiegelblanke Lancaster, die Patronentasche, sogar „Mylord“, der schwarze Setter, ist schon an die Leine gelegt, damit er nicht etwa ausreißt und recht zur Unzeit eine Feldpirsche auf eigene Faust unternimmt.

Vier Uhr erst! Wie träge doch der Zeiger schleicht! Fünf Uhr … endlich! Zwei Stunden noch bis zum Einbruch der Dämmerung – aber es duldet den Jäger nicht länger mehr unter Dach! Begleitet von Mylord, welcher unruhig und in Vorahnung eines großen Ereignisses neben seinem Herrn einhertrippelt, steuert er mit eilfertigen Schritten einem gemischten Jungholz zu, das sich, von Schluchten und Wassergräben durchrissen, mit mannshohem Buschwerk über einen sanft geneigten Hügel emporzieht. Der Stand wird eingenommen, der sich seit Jahren beim Schnepfenstrich als der günstigste bewährte; dann brennt sich der Jäger sein Pfeiflein an, und von der schlimmsten Ungeduld erlöst, läßt er sich zur Ruhe auf einen halbvermoderten Baumstock nieder, um die Dämmerung heranzuwarten.

Noch ist der Himmel blau und Tageshelle liegt über dem tiefen Grün der jungen Fichten und über dem wirren Netzwerk der kahlen Buchen- und Birkenzweige. Wie dunkle, blaugrüne Bänder ziehen sich die Nadelwälder ferner Hügelketten am Horizont entlang, leicht verschleiert von dem zarten Nebel, der aus unsichtbaren Wiesengründen aufdampft. Rings um den Jäger her ist der Jungwald einsam und still. Nur eine Ringeltaube kichert im nahen Hochwald, und in Zwischenräumen lockt und flötet eine Drossel, der die Einsamkeit nicht gefallen will.

Tiefer mit jeder Minute sinkt die Sonne den fernen Hügeln zu, und ihr Glanz verändert sich. Ein breiter Glutstreif überfließt den westlichen Horizont, draußen in der Ebene leuchten ein Bachlauf und der Spiegel eines Weihers gleich feuerflüssigem Erz, goldiger Schimmer gießt sich in alle Lüfte aus und umflimmert jeden kahlen Zweig und Wipfel; die silberweißen Rinden der Birken strahlen wie in metallischem Glanz, und auf der Höhe des Hügels glimmen die Stämme der Föhren, als wäre ihr Holz in rote Glut verwandelt. So glüht und leuchtet dieses Wunder des schönen Abends eine Weile – dann schwindet es langsam, und an Erde und Himmel dämpfen sich alle Farben.

Aufatmend erhebt sich der Jäger und winkt dem Hunde noch einmal zu mit einem mahnenden Schweigezeichen. Dann spannt er die Flinte und steht bewegungslos. Drunten im Waldthal, auf einer nahen Straße, poltert ein Leiterwagen vorüber, und dazu pfeifen die Schleifbäume eines heimkehrenden Pfluges. Verschwommene Stimmen lassen sich hören, sie kommen näher und entfernen sich wieder. Noch ein leiser Drosselschlag, ein letztes Pispern der kleineren Vögel, dann lautlose Stille im weiten Wald. Nur eine Quelle murmelt, so leise, daß sie kaum noch zu hören ist.

Jetzt muß sie kommen, die erste – oder es heißt wieder, Geduld haben einen neuen, langen Tag! In gespannter Erwartung klopft dem Jäger das Herz so laut, daß er, von dem pochenden Hall in der eigenen Brust getäuscht, sich unwillig ein paarmal umblickt, als fürchte er, einen Störenfried durch das Dickicht einhertappen zu sehen. Aber der Wald ist still, wie ausgestorben. Die Täuschung erkennend und über die grundlose Sorge lächelnd, späht der Jäger zum Himmel auf, ob wohl „sein Stern“ schon leuchtet? Lange sucht sein Blick in dem matt getönten Blau – und endlich sieht er’s aufblitzen, gleich der funkelnden Spitze einer Goldnadel. Mit jeder Sekunde wächst dieser Glanz, und ehe die Helle des Himmels noch ganz geschwunden ist, erstrahlt der Sirius in voller Pracht, der „Schnepfenstern“, dessen Aufleuchten den Anbruch der „besten Zeit“ verkündet.

Fester schließen sich die Hände des Jägers um die Waffe und unter geschärftem Lauschen späht er über die vom ersten Schleier der Dämmerung umflossenen Wipfel der Schonung hinweg gegen Osten und Süden. Dort beginnt schon der Himmel zu dunkeln, ein zweites und drittes Sternlein funkelt auf – rings um den weiten Wald her, von allen Dörfern erklingt mit sanft verschwommenem Hall das Geläut der Abendglocken, eine Weile währt dieses träumerische Klingen und Singen in den dunkelnden Lüften – dann wieder lautlose Stille. Auf den spärlichen Blößen der Schonung verliert sich alle Zeichnung in trübes Grau, immer schwärzer färben sich die jungen Fichten, während die zarten Spitzen der kahlen Buchen- und Birkenzweige in der Dämmerung zerfließen; im Westen schwindet der letzte Nachglanz der gesunkenen Sonne, und die Nacht will kommen. Da tönt von fernher ein seltsam leises Gezwitscher durch die Stille – zwei schnarchende Laute folgen, „quohg, quohg“, als hätte sich eine windschiefe Thür in den losen Angeln sacht bewegt – nun wieder klingt dieses sonderbarste aller Frühlingslieder, es nähert sich, ein kleiner Schatten flattert im Grau, und gaukelnden Fluges, wie im Spiel auf dem lauen Winde sich wiegend, kommt die falzende Schnepfe herangeschwommen durch die Abendlust.

Ein Blitz in der Dämmerung, und während der Wiederhall des Schusses noch hinrollt über die dunklen Wälder, tänzelt Mylord schon eifrig und stolz aus dem Dickicht hervor und legt seinem Herrn die „Erste“ zu Füßen.

Das geht nun freilich nicht immer so schön und glatt von statten. Denn für manch einen heißblütigen Schnepfenjäger scheint die „Erste“ gepanzert und unverwundbar zu sein – und da giebt es dann unter Flüchen und Stolpern einen verdrießlichen Heimgang in der finsteren Nacht, besonders verdrießlich, wenn der unglückliche Schütze noch zur Mehrung seiner Bitternis den Schuß und Jauchzer seines glücklicheren Nachbars hören mußte! Da bleibt ihm kein anderer Trost als die Hoffnung auf den nächsten Abend. Aber auch diese Hoffnung erfüllt sich nicht immer. Wenn die Erste kam, läßt oft die Zweite noch lange Tage auf sich warten. Häufig auch, wenn der Strich schon im besten Gange war, fallen kalte nördliche Winde ein, welche klatschenden Regen oder gar einen neuen Schneefall bringen. Dann stockt der Wandertrieb der Schnepfen entweder völlig, oder die vereinzelt streichenden Langschnäbel treiben, vom Sturm getragen, hoch in den Lüften, unerreichbar für den Schuß. Fällt solch ein Umschlag des Wetters in die letzten Märzwochen, so ist der ganze Strich für dieses Frühjahr verdorben. Bringen aber die letzten Märztage klaren Himmel und feuchtwarme Föhnluft, so entwickelt sich der Strich so günstig, daß der Jäger oft an einem Abend ein halbdutzendmal und darüber zu Schuß kommt, daß er auf allen umliegenden Waldhöhen der Nachbarreviere die Flinten lustig krachen hört und selbst zwischen Schuß und Schuß kaum die Zeit findet, um einer erlegten Schnepfe die kleinen lanzettförmigen Schmuckfederchen, die „Granen“, auszuziehen und sie als Trophäe hinter sein Hutband zu stecken. An solch’ günstigen Abenden kommen die Schnepfen oft zu dreien und fünfen herangestrichen – entweder spielende Männchen, die mit ihren langen Schnäbeln ein Turnier in den Lüften halten und mit drolligem Eifer aufeinander „stechen“, oder mehrere Männchen, die in Eifersucht einem Weibchen folgen und sich gegenseitig heiß bekämpfen. Da gelingt dem glücklichen Schützen häufig eine Dublette, und manch ein besonders Glücklicher hat schon mit einem Doppelschuß drei Schnepfen aus der Luft heruntergeholt. Die Liebessehnsucht und Kampflust der Langschnäbel wird von erfahrenen Jägern auch benutzt, um eine außer [248] Schußbereich vorüberziehende Schnepfe heranzulocken – sie werfen den Hut oder einen Handschuh in die Luft, und wenn der getäuschte Langschnabel in heißem Eifer herbeischwenkt, bekommt erstatt süßer Minne eine Ladung Schrot zu kosten. Aber auch der Jäger selbst ist auf dem Schnepfenstrich vor Täuschungen nicht sicher – er sieht im Feuer die „Schnepfe“ fallen, Mylord aber bringt ihm einen Sperber apportiert oder hebt im Dickicht ein greuliches Gewinsel und Heulen an, und wenn der Jäger in Verblüffung hinzuspringt, findet er statt der Schnepfe eine große Fledermaus, die sich Mylord verzeihlicherweise zu apportieren, weigert.

Die beste Strichzeit dauert immer nur wenige Tage. Aber die Jagd auf Einzelne Nachzügler hält den eifrigen Jäger noch bis in die Mitte April auf den Beinen. Ueberhauchen sich aber die Birkenwipfel mit lichtem Grün, singt in den knospenden Buchenbüschen das kleine Schwarzplättchen seine stille, zierliche Weise, blühen auf den smaragdenen Wiesen die goldgelben Butterblumen und zwitschert die nestbauende Schwalbe auf den Dächern des Dorfes, so hat’s ein Ende mit der Schnepfenfreude. Dann heißt es: „Hahn in Ruh’!“ und Schonung für die brütenden Langschnäbel – und der Jäger, der sich nicht den gefürchteten „Heringskopf“ verdiente, mag ohne Kümmernis das alte Liedlein summen:

 „Palmarum,
 Tralarum!“

Ludwig Ganghofer.     

Im goldenen Antipodenlande.

Bearbeitet nach Vorträgen des Oberbergrats Schmeißer.
Mit Illustrationen von Albert Richter nach photographischen Aufnahmen.

Wer als Tourist an den Küsten Australiens landet, der wird nach langer Meerfahrt mit Entzücken die Städte des jüngsten Kontinents in prächtigen Panoramen sich entfalten sehen. Das liebliche Adelaide, dessen Landhäuser an den waldigen Hängen des Mount Lofty emporsteigen bis zum sanft sich rundenden Gipfel, den ein im normannischen Stil erbauter Sommerpalast des Gouverneurs krönt, das reiche Melbourne mit seinen prachtvollen öffentlichen Bauten und dem reizvollen Villenkranz im Grün und Duft exotischer Gewächse, und die Krone aller, das unvergleichliche Sydney mit seinem wundervollen Hafen, besät mit Inseln, zerspalten in Baien und Buchten und überragt von den steil aus dem schmalen Küstensaum emporragenden Blauen Bergen, sie alle bieten in ihren landschaftlichen Schönheiten Bilder, denen sich wenige vergleichen lassen. Wer nicht über diese Metropolen und deren nächstes Hinterland hinausdringt, verläßt den fünften Weltteil wohl in dem Gefühl, eins der lieblichsten Länder unseres Erdballs geschaut zu haben.

Aber wie hinter dem fruchtbaren Nordrande Afrikas die öde Sahara sich breitet, wie in das üppige Nilthal die furchtbare Libysche Wüste hineinstarrt, so treten wir auch in Australien, sobald wir über den schönen Küstensaum hinausgehen, sehr bald in weites, reizloses Präriegebiet, das, je weiter wir westwärts vordringen, desto mehr in trostlose Wüste übergeht. Nahezu die Hälfte dieses Kontinentes gehört dieser traurigen Landgestaltung an. Endlos breiten sich Flächen aus, bedeckt mit widerwärtigem Stachelgras oder mit bald lichtem, bald undurchdringlichem Buschwald, aus dem nackt und öde mächtige Granitkuppen aufragen. Weither schimmern riesige Salzsümpfe und zaubern durch die Fata morgana das Trugbild eines schönen Sees vor, dessen unter den Schwingungen der überhitzten Luft in Wellen sich kräuselnde Fluten dem verschmachtenden Wanderer ersehnte Labung verheißen. Inseln steigen im See empor, an dessen gegenüberliegendem Ufer schwanke Bäume im Wasser sich spiegeln. Aber ach! Das Trugbild weicht, sobald man sich ihm naht. Verbleichende Gebeine mahnen den Irrenden wohl an das Ende, das ein ebenso Getäuschter hier gefunden und das auch ihm erbarmungslos droht.

Doch hat es die Vorsehung so gefügt, daß gerade in solchen Einöden oft die reichsten Schätze schlummern. Welche ungeheuren Werte an Gold und Silber hat nicht das wüste Innere Nordamerikas, welche Reichtümer an Salpeter und Guano nicht die pazifische Küste Südamerikas dem alten Europa zugeführt! Und diese Zufuhr dauert fort bis auf den heutigen Tag. Der Salzvorrat gewisser Punkte der Sahara ist eine seit Jahrhunderten fließende Quelle des Wohlstandes für die dortige Bevölkerung. Mit seinen jüngst erschlossenen Goldschätzen reiht sich das bis vor kurzem bei uns kaum genannte Westaustralien diesen reichen Wüstengebieten würdig an.

Gold wird im fünften Weltteil ja bereits seit nahezu fünfzig Jahren gefunden. Kaum hatte der goldene Strom Kaliforniens begonnen, durch die Felsengebirge in breitem Bett über das erschöpfte Europa sich zu ergießen, da wurden schon bei unseren kaum beachteten Antipoden nicht minder reiche Quellen erschlossen. Ja, so reich und so weit verbreitet waren die Funde, daß eine wahre Völkerwanderung dem gelobten Lande zuströmte. Die Mühsale einer Reise, die unter vielen Fährlichkeiten und Entbehrungen meist vier Monate dauerte, konnte die auf schnellen Reichtum Hoffenden nicht zurückschrecken. Ueberall bekannt war ja die Kunde, von den an das Märchenhafte grenzenden Funden massiger Goldklumpen, deren größter für nahezu 200 000 Mark verkauft wurde – eine Nachbildung dieses sehr passend „Willkommener Fremdling“ getauften „Nuggets“ ist im Verein mit mehreren gleichartigen Genossen im Britischen Museum zu London zu sehen, und auch die im regelmäßigen Betriebe leicht gewonnenen Erträge waren so gewaltig, daß sie in dem ersten Jahre allein in der Kolonie Victoria einen Wert von 252 Millionen Mark erheblich überstiegen! Zu gleicher Zeit wurden bedeutende Funde in dem benachbarten Neusüdwales gemacht, die später von dem nördlicheren Queensland weit überholt wurden. Dann reihten Tasmanien und Neuseeland mit reichen Erträgen sich an, während die Ergebnisse der Nachforschungen in Südaustralien unbedeutend und in dem armen Westaustralien ganz erfolglos blieben.

Ein Wassertransport.

Mit dem Versagen der Goldgräbereien in den weicheren Schichten der oberen Erdkrume, mit der Notwendigkeit, durch hartes Gestein in große Tiefen hinabzusteigen und an die Stelle der primitiven Schüssel und „Wiege“ zum Waschen der goldhaltigen Erde kostspielige Quarzmühlen und Scheideappatate treten zu lassen, begann für die australische Goldgewinnung die Periode [249] des kapitalistischen Großbetriebs. Der geschulte Bergmann ersetzte den waghalsigen Glücksjäger. Der wandte sich nun neuen Feldern zu. In Trupps von zwei bis vier, ausgerüstet mit Picke, Schaufel und Zinnschüssel, einem blechernen Kochgeschirr und etwas Proviant, wollenen Decken und einem bescheidenen Vorrat an Kleidern, durchzogen die alten Digger das noch unerforschte Land, in der so oft getäuschte Hoffnung, daß auch ihnen endlich einmal das große Los beschert werde. Welche Teile der Welt haben diese unternehmenden Männer nicht erprobt! Sie sind von Australien nach Neuguinea hinübergewandert, sie haben Südafrika durchforscht, mit glänzendem Erfolg, wie man weiß, sie haben auch unsre dortige Kolonie besucht, allerdings ohne ihre Erwartungen erfüllt zu sehen, ja sie haben sich endlich auch dem bisher gemiedenen Westaustralien zugewandt und sind furchtlos in seine entsetzlichen Wüstenlandschaften eingedrungen, um dort reichen Lohn für ihren Wagemut zu finden. Jetzt weiß man, daß Gold in Westaustralien in einem Gebiet sich findet, das von der Süd- bis Nordküste des Kontinents reicht und das 1½ mal so groß ist als das Deutsche Reich. Den vielen schon jetzt bloßgelegten Fundstätten wird eine weit längere Reihe mit der Zeit sich gewiß zugesellen.

Briefe aus der Heimat.

Man kann den Australkontinent einem Teller vergleichen, dessen Rand im Westen erheblich niedriger ist als im Osten, Dafür ist er aber im Westen desto breiter. Auf diesem Westrand, dem Gebiet der Goldfunde, zeigt die Karte dichtgesät eine Menge von Seen in allen Größen und Gestalten. Sie lassen dem unkundigen Auge das breite Tafelland als ein reich und schön bewässertes Gefilde erscheinen. Diese Seen sind aber nur nach seltenen, heftigen Regengüssen gestillt und dann nur auf kürzeste Zeit. Danach sinkt das Wasser unter die sandige Oberfläche hinab, leicht durch Nachgraben erreichbar, immer aber ist es salzig. Da muß denn dem Wasser in umfangreichen Destillationsapparaten sein Salzgehalt entzogen werden, um für Menschen und Vieh genießbar zu sein. Aber so „kondensiertes“ Wasser schmeckt fade und will selbst Pferden nicht munden. Dabei kosten vier Liter zu guten Zeiten 25 bis 50 Pfennig, in Zeiten der Trockenheit muß aber wohl auch eine Mark dafür gezahlt werden; denn Quellen trinkbaren Wassers sind äußerst selten, und Versuche, durch Brunnen oder Tiefbohrungen Trinkwasser zu erschließen, sind fast immer fehlgeschlagen. Besseren Erfolg hat man dadurch gehabt, daß man die atmosphärischen Niederschläge von den oft recht umfangreichen Graniterhebungen durch Gräben zu Sammelbecken führte. Auf diese Weise gewinnt man während der Regenzeit einen für mehrere Monate ausreichenden Vorrat von Süßwasser, der von eigens dazu angestellten Wärtern an die Fuhrleute verkauft wird.

Auch das Kamel, das bereits vor mehr als dreißig Jahren durch den um die Erschließung Australiens hochverdienten Großkaufmann und Squatter Sir Thomas Elder eingeführt wurde, findet hier gute Verwendung. Bis zu 80 Stück ziehen diese „Schiffe per Wüste“ in langer Reihe hintereinander schwerbeladen dahin, geleitet von afghanischen Führern, die mit ihnen aus der gemeinsamen Heimat herüberkamen.

Die Entfernungen zwischen den einzelnen Wasserplätzen sind meist ganz gewaltig. Daher führt ein jeder der mächtigen Lastwagen, der hier „mit müder Qual schleicht durch die sandige Heide“, einen großen eisernen Wasserbehälter mit. Und auch der Oberbergrat Schmeißer, der nach seinen Untersuchungen der Goldfelder Transvaals ersucht wurde, die westaustralischen Goldfelder zu bereisen und über deren Wert zu berichten, führte in seinem eigens für eine solche Reise gebauten Wagen einen 20 Liter fassenden Filterbehälter mit sich. Um das jeden Morgen frisch eingefüllte, wenn möglich abgekochte Wasser zu kühlen, wurde dasselbe in einen aus dichtem Drell gefertigten Wassersack gefüllt. Durch die Poren des Stoffes dringt etwas Wasser an die Oberfläche und indem es dort an der trockenen Luft rasch verdunstet, kühlt es den Inhalt des Behälters ab. Ein derartiger Sack fehlt in keinem australischen Haushalte.

Ein solches Reisen im eigenen Gefährt ist in den kaum angesiedelten Teilen Australiens bei weitem das bequemste, denn das Fahren in den australischen Postwagen, wie sie im Innern verkehren, erfordert nicht wenig Mut. Mit ihrem kaum der Weide entnommenen wilden Gespann jagen diese [250] rohen starkgebauten „Marterkasten“ rücksichtslos über gefallene Stämme und Steine, und es gehört eine nicht geringe Unempfindlichkeit gegen Stöße und Püffe dazu, um die tolle Fahrt glücklich zu bestehen, zumal wenn man auf dem vielbegehrten Bock thront, wo es gilt, sich mit aller Kraft anzuklammern, um nicht herabgeschleudert zu werden.

Allerdings führt die Eisenbahn schon ziemlich tief ins Land hinein, doch erreicht sie erst wenige der älteren, südlicheren Goldfelder. Die neueren aber und die weit nach Norden hinausreichenden „Diggings“ liegen sämtlich recht mitten in der Wüste, nicht in kahler, sandiger oder steiniger Ebene, vielmehr inmitten jenes einförmigen und eintönigen Buschwaldes, der aus vereinzelten, meist niedrigen und immergrünen Baumbeständen sich zusammensetzt und mit seinen schmalen Blättern, die stets ihren Rand der Sonne zuwenden, den Charakter fast absoluter Schattenlosigkeit trägt. Dabei wechseln die Bäume statt der Blätter die Rinde, die in langen bandartigen Fetzen von Stamm und Aesten herabhängt. Dazwischen stehen überall abgestorbene Baumleichen, die nackten Totenarme zu dem erbarmungslos glühenden Himmel emporreckend, bis auch sie zu den Gefährten niedersteigen, die in allen Stadien der Verwesung den ausgedörrten Boden bedecken!

Und ringsum in trauriger Harmonie mit dem öden Gesamtbild tiefes, bedrückendes Schweigen! Hier erfreuen keine Laute gefiederter Sänger das lauschende Ohr; das tierische Leben erscheint völlig ausgestorben, selten einmal erfaßt unser Auge ein Känguruh, wie es mit weiten Sprüngen vor uns durch den Buschwald eilt.

Doch ein Tier fehlt nirgends, das ist die Fliege. Entsetzlich ist die australische Fliegenplage!

Da hilft kein Schleier, kein Netz, die zudringlichen Quälgeister finden auch durch sie ihren Weg, um in Augen, Nase, Mund und Ohren hineinzukriechen. Setzt man sich zum bescheidenen Mahle nieder, so versuchen sie in zudringlichster Weise, daran teilzunehmen, und verleiden uns durch ihre rücksichtslose Art, die eigene Existenz daran zu setzen, den einfachsten Genuß. Sie machen Schwimmversuche in den Getränken, in und aus den Speisen krabbeln sie bald zu Hunderten.

Und dabei eine Hitze, die in den Nachmittagsstunden zuweilen bis zu 46° C steigt! Wo aber kann man unter den schattenlosen Bäumen, in den heißen Zelten oder gar in den glühenden Wellblechhäusern – die meisten Unterkunftsplätze sind solcher Art – während der Mittagsstunden irgendwelche Ruhe finden! Denn in der Zeit von 10 Uhr vormittags bis 4 Uhr nachmittags ist bei derartigen Hitzegraden an ein Reisen nicht zu denken.

Erst der Untergang der Sonne bringt Erlösung. Gott sei Dank fehlt es in diesen Wüsteneien an den noch schlimmeren Plagegeistern Australiens, den blutdürstigen Moskitos. In jenem Himmelsstrich bricht die Nacht schnell herein, erquickende Kühle tritt an Stelle erschlaffender Hitze. Das unter den Horizont herabsinkende Tagesgestirn hüllt den Himmel in wundervolle, zart sich abtönende Farbenpracht, und bald spannt sich über die stille, düstere Waldlandschaft, aus der zahlreiche Lagerfeuer emporleuchten, der wundervolle Sternenhimmel, an welchem Mond, Milchstraße und Südliches Kreuz mit überraschendem Glanze leuchten, dem entzückten Wanderer ein Bild ergreifender Pracht und Ruhe.

Wer vermöchte je einen solchen Abend zu vergessen! Zumal wenn mit dem Nahen des Frühlings die Wolken ihren wenn auch kargen Segen gespendet haben und das bislang grau in grau gefärbte Erdreich mit einem reizenden grünen Teppich von erquickender Frische sich bedeckt, in den überall zartduftende Blümchen, rote, weiße, blaue, gelbe, wie eingewirkt erscheinen. Leider hält das liebliche Bild vor der brennenden Sonne nicht stand; schon nach wenigen Wochen liegt die ausgedörrte Landschaft öde und farblos da wie zuvor.

Das ist die Natur des Dorado Westaustraliens, an die sich die Zukunft der Kolonie klammert. Weithin zerstreut über das weite öde Gebiet sind die vielen Niederlassungen der Goldgräber, einige schon zu achtunggebietender Größe emporgewachsen, die meisten nur aus Wellblech- und Kanevashäusern bestehend, aber doch, selbst wenn sie nur wenige zerfetzte Zelte zählen, stolzen Namen Stadt führend.

Reges Leben herrscht überall in diesen „goldenen Städten“. Am lautesten läßt sich dasselbe vernehmen am Sonnabendabend, wenn der Digger nach saurer Woche ein frohes Fest nach seinem Geschmack in den hellerleuchteten Schenken bei Gin und Brandy feiert. Das ist ja fast die einzige Zeit, um im Austausch gegensseitiger Erfahrungen sich auszusprechen, denn der stille Sonntag ist der gründlichen Reinigung des äußeren Menschen und seiner ihn umgebenden Hüllen sowie der Ausbesserung derselben gewidmet. Glücklich der, dem dann die selten sich einstellende Post eine Botschaft aus der Heimat gebracht hat. Sie versetzt den das frugale Mahl bereitenden Digger für kurze Augenblicke aus der öden Umgebung in den trauten Kreis seiner Lieben!

Der Mittelpunkt aller „Goldstädte“ ist Coolgardie, 589 Kilometer östlich von Perth, der Hauptstadt Westaustraliens. Noch vor drei Jahren suchte man es vergeblich auf der Landkarte; aber als hier ein unternehmender Digger in kürzester Zeit gegen 20 kg Gold zusammenraffte, strömte von allen Seiten golddurstiges Volk herbei, und heute zählt die Stadt bereits 10 000 Einwohner. Die Eisenbahn ist von der Küste bis hierher, ja schön erheblich weiter geführt. Natürlich ist auch diesem Diggingscentrum das Charakteristische des australischen Stadtemporkömmlings aufgeprägt. Die zahlreichen Kirchen wie die noch viel zahlreicheren Wirtshäuser und Schenken sind meist aus Wellblech erbaut, Steinbauten sieht man selten, das Krankenhaus, die an den kleinen Seitenstraßen liegenden Geschäftshäuser, wie die in der Umgebung verstreuten „Villen“ sind einfache Zelte oder mit Kanevas bedeckte Holzgerüste. Angehörige der verschiedensten Nationen, Vertreter aller möglichen Berufsstände haben sich hier zusammengefunden, teils um in harter Arbeit an der Hebung der goldenen Schätze sich zu beteiligen, teils um in müheloser Spekulation mit Bergwerkswerten ein Vermögen zu erwerben. Denn wie überall, wo Gold entdeckt wurde, ist auch hier die Spekulation und mit ihr Betrug und Schwindel thätig. Auch in Westaustralien [251] werden, wie Schmeißer schreibt, „Angehörige aller Berufsarten, ehemalige Seeleute, Offiziere, Aerzte, Apotheker, Kaufleute, Buchhalter, mit überraschender Geschwindigkeit Bergbausachverständige, sobald sie die Luft der Goldfelder atmen und das gelbe Metall auf natürlicher Lagerstätte zu Gesicht bekommen.“ Ja, selbst wenn ihnen nur ausgesuchte Fundstücke vorgelegt werden, vermögen sie ohne weiteres über den Wert des betreffenden Unternehmens ein empfehlendes Urteil abzugeben. Die Aktien steigen und sie selbst fahren nicht schlecht dabei, wohl aber die Käufer, die hängen bleiben! Schon jetzt hat die Reklame der australischen „Sachverständigen“ sehr zweifelhafter Befähigung und Vertrauenswürdigkeit nicht wenig Unheil, auch bei uns, angerichtet und wird sicher noch mehr anstiften. Aber bei der Neigung der Welt, um das goldene Kalb zu tanzen, ist das leider nur zu erklärlich.

Das Gold Westaustraliens findet sich sowohl im Alluvium, im angeschwemmten Lande, als in Quarzgängen. Das leicht zu bearbeitende Alluvium ist so recht das Arbeitsfeld des armen Mannes.

Mit den einfachsten Werkzeugen ausgerüstet, können die Digger hier in Gesellschaft zu drei und vier die leicht mit Picke und Schaufel zu bearbeitende goldhaltige Erde zu Tage fördern. Und gerade hier finden sich die bedeutendsten Klumpen, der schwerste, bis jetzt geförderte wog 10 Kilogramm. Auch viele der goldhaltigen Quarzgänge sind sehr reich, aber hier sind Sprengungen durch Pulver oder Dynamit geboten und Pochwerke, um das harte Gestein zu zerkleinern. Aus diesem wird dann durch Auswaschen und chemische Prozesse das Gold gewonnen. Näheres darüber haben wir bereits in einem Aufsatz über die südafrikanischen Goldfelder (vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1895, S. 42) mitgeteilt. Die meisten derartigen Anstalten in Australien sind freilich noch recht primitiver Art, wie unsere Abbildung des Goldbergwerkes Londonderry zeigt. Diese Grube bietet ein besonders schroffes Beispiel für das Trügerische der Golderzlagerstätten. Unweit des Schachtes fand man ein Nest von erstaunlichem Reichtum, so daß das Bergwerk rasch zum Werte von mehr als 15 Millionen Mark gegründet wurde. Die Blockhütte der Grube barg zeitweilig Schätze, wie sie selten auf einem Bergwerke lagern. Als aber die neugebildete Gesellschaft daran ging, die wunderbare Lagerstätte in umfangreichen Abbau zu nehmen, da gewahrte man mit Bestürzung, daß das Nest nur geringe Ausdehnung besaß. Noch dreimal fand man ähnliche reiche Nester; die übrigen Gangteile sind arm.

Alluvium wie Quarz sind beide häufig sehr goldreich, und wo gute Verkehrsmittel sich bieten, ist der Abbau reichlich lohnend. Ein Uebelstand ist es aber, daß bei den wenigsten der Goldlagerstätten ausreichendes Wasser für größere Pochwerke sich wird beschaffen lassen. Allerdings kennt die heutige Wissenschaft auch Methoden, durch die eine Scheidung des Goldes aus dem Gestein auf trockenem Wege bewirkt wird. Daß aber auf alle Fälle viele der jetzt bearbeiteten Felder keinen lohnenden Ertrag geben werden, damit wird man ganz sicher zu rechnen haben. Und nach den Untersuchungen unseres genannten fachkundigen Landsmannes wird auch bei mancher jetzt reichen Grube der Gewinn baldigst abnehmen, vielleicht ganz aufhören. Freilich dürften auf dem ausgedehnten Feld auch viele neue wertvolle Fundstätten aufgedeckt werden. Noch ist die Goldausbeute Westaustraliens in beständigem Wachsen begriffen und die stets von sechs berittenen Polizisten geleitete Goldeskorte bringt wöchentlich steigende Mengen des edlen Metalls in die Hauptstadt der Kolonie. So mag auch in diesem trostlosen Wüstengebiet das Glück über gar manchen das Füllhorn seiner Gaben ausschütten, die ihm ermöglichen, unter besseren wirtschaftlichen Verhältnissen in seine Heimat zurückzukehren, denn in diese Oede auf lange Zeit gebannt zu sein, erscheint ein entsetzliches Los. E. J.     

Datei:Die Gartenlaube (1897) b 251 2.jpg

Das Goldbergwerk Londonderry.

[252]

Deutsche Originalcharaktere des achtzehnten Jahrhunderts.

Der Hamburger Kaufmannssohn Bielfeld.

Friedrich der Große war, trotz seiner Freigeisterei, nicht so bürgerlich gesinnt wie sein Vater; er bevorzugte den Adel in jeder Hinsicht und verlieh ihm ausschließlich die Offiziersstellen, außer in der Artillerie. Auf den Maskeraden des Opernhauses, die er gab, verwies er die Bürgerlichen hinter gezogene Schranken, und wenn er ihnen sonst alle Masken erlaubte, so waren doch die Rosadominos ausschließlich dem Adel vorbehalten. Hatte doch schon sein Vater von ihm, als er sechzehnjähriger Prinz war, gesagt, „daß er hoffärtig und recht bauernstolz sei … und nit popular und affabel war“.

Um so auffälliger ist es jedenfalls, daß er einen Bürgerlichen, der nicht einmal durch hervorragende geniale Leistungen sich auszeichnete, längere Zeit in seine nächsten Kreise zog und daß dieser selbst unter seinen Hofstaaten, besonders in Rheinsberg, eine dem Anschein nach gleichberechtigte Stellung einnahm. Bielfeld war kein Genie; aber er war so gewandt wie irgend ein Hofmann, ein feiner und geistreicher Kopf voll scharfer Beobachtungsgabe – und seinen Aufzeichnungen in den „freundschaftlichen Briefen“, welche zuerst in französischer Sprache 1763 erschienen, verdanken wir eine sehr willkommene Kenntnis vieler Vorgänge aus dem Leben des jungen Friedrich, welche, von den Geschichtsforschern nach dieser Quelle geschildert zu werden pflegen.

Bielfeld war in Hamburg geboren als Sohn eines reichen Siegellackfabrikanten; er hatte seine Bildung auf Schulen und Hochschulen unter der Leitung von Hofmeistern und Tanzmeistern erhalten; es war eine durchaus weltmännische Bildung. Als ein begeisterter Jünger Voltaires zeigte er in der Unterhaltung französischen Witz und Geist, der sich auch in seinen Briefen ausspricht. Darum gehört er zu den originellen Charakteren des vorigem Jahrhunderts, weil er beweist, daß auch das Bürgertum ausnahmsweise jenen französischen Geist in sich ausgenommen hatte und sich damit eine glänzende Laufbahn zu eröffnen verstand. Bielfeld war auch Freimaurer und hat in Hamburg jedenfalls in den Orden eine hervorragende Stelle eingenommen; gerade dadurch kam er mit dem jungen Prinzen Friedrich zuerst in nähere Berührung.

König Friedrich Wilhelm I. machte eine Reise nach Holland, um dort auf Schloß Loo seine Bekannten zu besuchen. Hier, wie Bielfeld berichtet, oder unterwegs auf einem Schlosse im Vlämischen, wie man nach Friedrichs eigenen Mitteilungen annehmen muß, kam das Gespräch beim Diner auf die Freimaurerei. Dieses war nicht nach dem Geschmacke des alten Königs, der sich sehr wegwerfend über sie aussprach. Da brach der Graf von der Lippe-Bückeburg, der selbst ein Freimaurer war, eine Lanze für den Orden mit einer warmen Beredsamkeit, die natürlich den König nicht zu bekehren vermochte, dafür aber beim Kronprinzen den lebhaften Wunsch erweckte, die Freimaurerei näher kennenzulernen und sich in den Orden aufnehmen zu lassen; man kam dahin überein, daß die Aufnahme in Braunschweig bei der Rückreise vor sich gehen solle, und zwar zur Zeit der Messe, wo bei dem Andrang zahlreicher Fremden die Ankunft von Freimaurern am besten verborgen bleiben könne. Graf Lippe lud sechs Mitglieder der Hamburger Loge ein, um den feierlichen Akt zu vollziehen; unter diesen befand sich auch Bielfeld. Mit Freuden ergriff er diesen Anlaß, dem jungen Prinzen näher zu treten; ihm schien’s, als könnte er durch diese Bekanntschaft den Grund zu seinem Glücke legen. „Sie wissen,“ schreibt er an einen Freund, „daß mir mein gegenwärtiger Zustand mißfällt und daß mir fast vor meiner Vaterstadt ekelt. Ich bin den Pflanzen gleich, welche zu Nichts taugen, wenn sie nicht versetzt werden. In Hamburg, wenn es hoch käme, würde ich nur in Samen schießen und dann verwelken.“

Bei der Ankunft in Braunschweig drohte die erste Gefahr von der Accise. Die Reisenden hatten alle zur Loge gehörigen Gerätschaften und Instrumente bei sich. Wenn der Beamte sich hartnäckig gezeigt und auf Eröffnung des großen Koffers bestanden hätte, so wäre ihnen nichts übrig geblieben, als sich für Goldmacher oder Marktschreier auszugeben. Doch der Beamte ließ sich durch einen Dukaten zu der Einsicht bringen, daß er es mit Standespersonen zu thun habe, welche unmöglich den Zoll unterschlagen könnten. Friedrich Wilhelm aber hätte leicht von der Aufnahme des Prinzen, seines Sohnes, in den Orden Nachricht erhalten und in einer bösen Stunde gewiß die Achtung vor den verehrungswürdigen Brüdern beiseite setzen können. Es galt also die größte Vorsicht. Der Prinz bestimmte die Nacht zwischen dem 14. und 15. August (1738) für die Feierlichkeit; sie sollte in dem Kronschen Gasthofe stattfinden, in welchem die Freimaurer alle abgestiegen waren; sie hatten dort einen großen Saal zur Verfügung, der sich vortrefflich zu diesem Zweck eignete. – Er hatte nur eine Unbequemlichkeit; an der Seite desselben beim Eingang befand sich ein nur durch eine Bretterwand geschiedenes Zimmer, und dies Zimmer hatte ein hannoverscher Edelmann inne, der alles anhören und ausplaudern konnte. Er war indes einigen der Herren bekannt und sie wußten, daß er dem Trunke sehr ergeben war. Diese Schwäche machten sie sich zu nutze. Nach der Mahlzeit drang einer nach dem andern in sein Zimmer und trank ihm so tapfer zu, daß er in tiefen Schlaf verfiel und nicht aufgewacht sein würde, wenn nebenan eine Kanone abgebrannt worden wäre. Das Gepäck war inzwischen ausgepackt worden; ein dienender Bruder, der Bediente des einen Edelmannes, hielt Wache mit gezücktem Schwert. Bald nach Mitternacht schlich sich Prinz Friedrich ein, in Begleitung des Hauptmanns von Wartensleben, der ebenfalls aufgenommen zu werden wünschte. Der Prinz verlangte, daß bei seiner Aufnahme auch nicht eine einzige der üblichen strengen Ceremonien ihm erlassen, daß er bloß als eine Privatperson angesehen werden solle. Und so geschah’s – er wurde nach allen Regeln aufgenommen. Bielfeld hielt eine Anrede, über welche der Prinz ihm seine Zufriedenheit bezeigte; seit dieser Zeit gehörte der Hamburger zu seinen Lieblingen. Aber auch Bielfeld konnte das Benehmen des Prinzen, seine Unerschrockenheit, sein gesetztes Wesen, das artige Betragen, welches er auch in den bedenklichsten Augenblicken zeigte, nicht genug bewundern. „Er ist nicht groß von Statur,“ schreibt er, „und Gott würde ihn statt des Königs Saul nicht leicht zur Regierung erwählt haben. Aber was die Schönheit und Größe seines Genies betrifft, verdient er zum Heil der Völker den preußischen Thron zu besteigen. Sein Wesen ist einnehmend, seine Miene geistreich, seine Haltung edel. Ein süßes Herrchen aus Paris würde zwar seine Frisur nicht ganz nach der Ordnung finden; doch seine Haare haben ein schönes Braun, passen sehr gut zu seiner Gesichtsbildung und sind ganz ungezwungen in Locken gelegt. Seine großen blauen Augen haben zugleich etwas Ernsthaftes, aber Angenehmes und Gütiges. Jedes seiner Worte zeigt unendlich vielen Verstand und große Güte.“

Es war vorauszusehen, daß es bei dieser ersten Begegnung zwischen dem Prinzen und dem jungen Hamburger Kaufmann nicht bleiben würde. Schon im nächsten Jahr erschien im Auftrage des Prinzen, der Graf von Truchseß-Waldburg bei Bielfeld, um sich zu erkundigen, ob er Lust hätte, in die Dienste desselben zu treten. Bielfeld, auf den dieser Antrag einen großen Eindruck machte, benahm sich als echter Diplomat: er kenne das Hofleben und dessen verführerische Reize nicht aus eigener Anschauung; er würde sich glücklich preisen, wenn ihm zunächst Gelegenheit geboten würde, es kennenzulernen, und zwar an dem Hofe, wo er einst sein Glück zu machen gedenke. So kam man überein, daß er nach Rheinsberg kommen solle, um sich dort dem Prinzen zur Verfilzung zu stellen. Inzwischen fragte er seinen früheren Lehrer, einen schlesischen Edelmann, der jetzt Erzieher eines mecklenburgischen Prinzen geworden war, ob derselbe meine, daß sein Schüler sich für das Hofleben eigne und ob er in der Lage sein werde, sich einem solchen Prinzen, der alle Fähigkeiten eines Cäsars besitze, nützlich zu machen. Bielfeld befürchtete, er würde möglicherweise auf diesem Schauplatze sich schlecht ausnehmen und unter dem Zischen der Zuschauer wieder von ihm abtreten müssen. Doch scheint die Antwort beruhigend gelautet zu haben, sehen wir ihn doch bald danach auf dem Wege nach Rheinsberg.

Hier trat Bielfeld in einen Kreis, in welchem die Musen und Grazien herrschten. Trotz seiner nach damaligen Begriffen

[253]

Der Kaskadenfall in der Kuhflucht bei Partenkirchen.
Nach dem Gemälde von F. Feldhütter.

[254] untergeordneten gesellschaftlichen Stellung und obschon er sich bisher in keiner Weise durchs schriftstellerische oder künstlerische Leistungen als ein Genie bewährt hatte, fand er sich in diesem Kreise fast gleich einem ebenbürtigen Genossen aufgenommen. Er besaß seinerseits die größte gesellschaftliche Gewandtheit und den behenden Witz der Voltairianer – und so stellte sich das geistige Gleichgewicht mit den Rheinsberger Hofmännern von selbst her. Jedenfalls war es ihm vorbehalten, die Chronik dieses Musensitzes zu schreiben, wo sich Kronprinz Friedrich, später der hervorragendste Herrscher des vorigen Jahrhunderts, auf seinen hohen Beruf vorbereitete und wo neben dem mit Vorliebe angeschlagenen leichtfertigen Ton des Versailler Hofes auch die mächtigen Accorde jener geistigen Bewegung nachzitterten, welche, von den großen Denkern und Dichtern hervorgerufen, zuletzt diesen Versailler Hof in alle Lüfte fegen sollte. Die Charakterschilderungen Bielfelds, die auf scharfer Beobachtung beruhen, sind für die spätere Geschichtschreibung von Wichtigkeit geblieben. Zwar der englische Biograph des großen Königs, Thomas Carlyle, hat geringe Sympathien für Bielfeld, von dem er sagt, er schwadroniere mit französischem Esprit im Munde und Spitzenmanschetten an den Aermeln, blendend und gerieben genug, und meint, daß seine Mitteilungen nur mit Vorsicht zu benutzen seien; er räumt ihm nur einen Scharfblick oberflächlicher Art ein. Doch Carlyle ist oft launenhaft in seinen Urteilen, während ein gediegener deutscher Geschichtschreiber, Preuß, der mehrere mit Recht hochangesehene Werke über das Leben des Großen Friedrich, seine Jugend und seine Freunde verfaßt hat, sagt: „Bielfeld, der zuletzt nach Rheinsberg kam, hat in seinen Briefen treue Schilderungen von diesem seltenen Vereine glücklicher Zurückgezogenheit gegeben, dessen er durch Studien, durch Reisen, durch Talent wie Einer würdig war.“

Bielseld selbst schrieb begeistert über seinen Rheinsberger Aufenthalt: „Ich verlebe hier wahrhaft entzückende Tage. Eine königliche Tafel, ein Götterwein, eine himmlische Musik, köstliche Spaziergänge, sowohl im Garten als auch im Walde, Wasserfahrten, Zauber der Künste und Wissenschaften, angenehme Unterhaltung: alles vereinigt sich in diesem feenhaften Palaste, um das Leben zu verschönern.“ Die Charakterköpfe der Genossen des Rheinsberger Kreises sind von Bielfeld mit schriftstellerischem Talent gezeichnet und ausgeführt: nichts anschaulicher als das Bild des Barons Keyserling. „Er trat in den Saal mit einem Geräusch und Getöse, wie der Nordwind im Rosenballett. Er kam von der Jagd und zu meinem Erstaunen erblickte ich ihn im Schlafrock, mit der Flinte über der Schulter. Er redete mich heiter an, wie man einen alten Freund anredet, und trug mich beinahe in sein Zimmer. Während er sich ankleidete, sagte er mir einige Verse aus der ,Henriade’ her, führte Stellen aus deutschen Dichtern an, machte einige Kapriolen und Pas, kam auf gelehrte Gegenstände und unterhielt mich von Politik, Mathematik, Malerei, Baukunst, von den schönen Wissenschaften und von der Kriegskunst. Ich stand wie betäubt, hörte schweigend zu und bewunderte alles an ihm, sogar die glücklichen Sprünge von einem Gegenstand zum andern; doch schien mir diese große Lebhaftigkeit nicht ganz ungekünstelt und keineswegs hervorgehend aus einem übersprudelnden Geiste. Obgleich ich bei näherer Bekanntschaft meine Meinung nicht geändert habe, finde ich doch, daß Keyserling ein sehr lieber Mann ist, der mancherlei weiß, gut spricht und schreibt und sogar Verse macht und neben dem aufgewecktesten Kopf das beste Herz besitzt. Sein Aeußeres ist kurz und gedrängt; er hat kleine Augen, eine breite Nase, keinen angenehmen Mund und eine gelbe Hautfarbe. Sein Wesen ist offen und ungezwungen, seine Haltung gut; er hat ganz die Sprache und Manieren eines Weltmannes.“

Am wohlthuendsten berührt die liebevolle Charakteristik der Kronprinzessin, der Gemahlin Friedrichs, welche sowohl von seiner Schwester als auch von seiner Mutter sehr ungünstig beurteilt wurde; die letztere sagte von ihr, „sie sei dumm wie ein Bündel Stroh“.

Bielfeld rühmt ihre regelmäßige Gestalt: „Ihre Brust, ihre Hände, ihre Füße könnten einem Maler zum Muster dienen. Ihre Haare haben das schönste Aschgrau von der Welt; sie fallen ein wenig ins Blonde und schimmern wie die Perlen, wenn sie gepudert sind. Sie hat eine sehr zarte Haut und große blaue Augen, in denen Lebhaftigkeit und Sanftmut sich um den Vorrang streiten. Ihr Blick ist feurig, sie hat eine offene Stirn, wohlgesetzte Augenbrauen, eine kleine, etwas spitzige, aber wohlgebildete Nase, einen angenehmen Mund, rote Lippen und ihr Kinn ist wie ihr Hals reizend. Güte spricht aus ihren Zügen und man kann wohl sagen, daß ihre ganze Gestalt von den Händen der Grazien geschaffen scheint; sie spricht wenig, am wenigsten bei Tisch; doch alles, was sie sagt, ist witzig. Sie scheint ein großes Genie zu haben, das sie durch beständiges Lesen der besten französischen Schriftsteller noch mehr ausgebildet hat.“ Vergleicht man mit dieser Schilderung der braunschweigischen Prinzessin, die später vom König Friedrich II. ganz beiseite geschoben wurde, das Bild, das die Schwester desselben, die Markgräfin von Bayreuth, eine etwas böswilliges Memoirenschreiberin, von ihr entwirft, so findet man, daß bei dieser sehr viel Schatten erscheint, wo jener nur Licht gesehen hat; sie meint, daß die Prinzessin zwar groß, aber von schlechtem Wuchs und schlechter Haltung, daß ihre Augen von einem blassen Blau seien und wenig Geist verrieten, daß sie wenig Anstand habe, im Sprechen sehr unbehilflich sei und sich schwer verständlich machen könne. Doch Bielfeld war kein Schmeichler und man wird ihm größere Unbefangenheit und Unparteilichkeit zutrauen dürfen als den Damen des königlichen Hauses, welche offenbar gegen die Braunschweigerin eingenommen waren.

Hin und wieder wurde der ruhige Verlauf der schönen Tage von Rheinsberg, welche der Pflege der Künste und Wissenschaften und heiterem Lebensgenuß gewidmet waren, durch ein etwas lärmendes Vergnügen unterbrochen. Ueber eines derselben berichtet Bielfeld, der selbst für längere Zeit einen unangenehmen Denkzettel davongetragen, in ganz ergötzlicher Weise: „Eines Tages hatte der Kronprinz einen ganz ungewöhnlich guten Humor bei der Mittagstafel. Seine Heiterkeit belebte diejenige der ganzen Gesellschaft. Einige Gläser Champagner versetzten uns in eine zu den lustigsten Späßen aufgelegte Laune. Der Prinz fand, daß dieser leichte Rausch uns nicht übel stehe, und erklärte uns beim Aufstehen von der Tafel, daß er entschlossen sei, das kleine Bacchusfest beim Souper da wieder anzufangen, wo wir es beim Diner gelassen hatten. Gegen Abend ließ mich der Prinz zum Konzert einladen, und als dasselbe zu Ende war, sagte er zu mir: ,Gehen Sie jetzt zur Prinzessin; sobald sie mit ihrem Spiel zu Ende ist, wollen wir uns zu Tisch setzen und nicht eher wieder aufstehen, als bis die Wachslichter verlöschen und der Champagner unseren Kopf ein wenig erleuchtet hat.’ Ich hielt diese Drohung für einen Scherz; aber die Prinzessin sagte mir, es sei voller Ernst damit und ich würde der List des Prinzen nicht entgehen können. In der That, kaum hatten wir uns zu Tisch gesetzt, so fing er an, eine interessante Gesundheit nach der andern auszubringen, auf welche Bescheid gethan werden mußte. Auf diesen ersten Angriff folgte ein ganzer Strom von Witzworten und jovialen Ausfällen von seiten des Prinzen und seiner Umgebung; die ernsthaftesten Stirnen entwölkten sich; die Heiterkeit wurde allgemein; auch die Damen nahmen daran teil. Ich hielt mich längere Zeit ziemlich wacker; dann aber bemerkte ich, daß eine kleine Wolke von Dünsten mein Bewußtsein zu umnebeln anfing. Ich hatte vor mir ein großes Glas Wasser. Die Prinzessin, der ich gegenüber saß, ließ aus einer liebenswürdigen kleinen Bosheit das Wasser weggießen und das Glas statt dessen mit Sillerychampagner füllen, so klar wie Felsenwasser, und man blies dazu auch noch den Schaum und die Perlchen hinweg. Ich hatte schon die Feinheit des Geschmacks verloren und mischte nun meinen Wein, ohne es zu wollen, mit Wein. Statt mich nüchtern zu machen, berauschte ich mich aber mit einem Räuschchen, das fast zur Trunkenheit stieg. Um mich vollkommen zu verderben, befahl mir der Prinz, mich an seine Seite zu setzen, sagte mir höchst verbindliche Dinge, ließ mich, soweit als meine schwachen Augen damals trugen, in die Zukunft hineinblicken und dabei ein volles Glas nach dem andern von seinem Lunel (– ein Muskatwein –) trinken. Endlich, mochte es nun aus Zufall oder Absicht geschehen, zerbrach die Kronprinzessin ein Glas. Das war ein Signal für unsere ungestüme Heiterkeit, ein großes Beispiel, das uns der Nachahmung wert erschien. In einem Augenblick flogen die Gläser in alle Ecken des Saals; sämtliches Glaswerk, Porzellan, Spiegel, Kronleuchter, Gefäße und Geschirre, alles wurde in tausend Stücke zerschlagen. Inmitten dieser gänzlichen Zerstörung stand der Prinz wie der tapfere Mann des Horaz, [255] welcher, Zeuge der Zertrümmerung des Weltalls, dessen Ruinen mit ruhigem heiteren Auge betrachtet. Als aber endlich aus der Heiterkeit ein Tumult wurde, flüchtete er sich aus dem Gedränge und zog sich mit Hilfe seiner Pagen zurück. Gleichzeitig war auch die Kronprinzessin verschwunden. Ich war unglücklich genug, nicht einen Bedienten zu finden, der sich meiner Hilflosigkeit erbarmt hätte. Ich kam so tappend der großen Treppe zu nah und stürzte von oben hinab. Am Morgen sprach man von Trepanieren, indes mußte ich doch vierzehn Tage das Bett hüten. Das ganze Schloß war zum Sterben krank. Weder der Prinz, noch einer der Kavaliere konnte sichtbar werden und die Prinzessin befand sich beim Diner ohne Herren. Man wird in Rheinsberg noch lange an diesen Tag denken, der glücklicherweise wenig Brüder zählt, da der Prinz durchaus kein Trinker ist.“

Bielfeld hatte längere Zeit die Gastfreundschaft des Rheinsberger Hofes genossen, war dann nach Hamburg zurückgereist, bald aber vom Kronprinzen wieder nach Rheinsberg gerufen worden. Der König in Berlin lag schwer krank danieder; der Prinz wurde an sein Krankenlager beschieden – nicht lange währte es, so kam die Todesnachricht nach Rheinsberg: Prinz Friedrich König! Großer Jubel herrschte bei seinen Genossen; man huldigte begeistert der noch in Rheinsberg anwesenden Königin. Die Stimmung war eine ähnliche wie bei den Genossen des Prinzen Heinz, bei Falstaff und den anderen, als dieser König von England geworden; man träumte von goldenen Bergen.

Herr von Knobelsdorf kam zu Bielfeld, der sich eben zu Bett gelegt, ins Zimmer gestürzt mit der Freudenbotschaft; dabei rannte er im Finstern wider einen Tisch, warf ihn um und das ganze kleine Silbergeld, das Bielfeld dort aufgezählt hatte, um seine Spielschulden zu bezahlen, flog mit großem Getöse im ganzen Zimmer herum. „Das Licht kam,“ erzählt Bielfeld weiter, „ich sprang aus dem Bette und machte Anstalt, die zerstreuten Münzen aufzulesen; er aber ließ es nicht zu und sagte: ,Ist es wohl in einem Augenblick wie der jetzige erlaubt, an dergleichen unnütze Kleinigkeiten zu denken, Dreier aufzulesen, da es bald Dukaten auf uns regnen wird?’“ In einer noch gehobeneren Stimmung als Knobelsdorf befand sich Keyserling, der auf einmal, als die Rheinsberger sich zu den Trauerfeierlichkeiten nach Charlottenburg begaben, sich hier als einen bevorzugten Günstling von zahlreichen Bittstellern umlagert sah. In Rheinsberg hatte ihm der Prinz den Namen „Cäsarion“ gegeben; mit diesem Namen hatte er alle seine Thüren bezeichnet. „Täglich erhielt er gegen fünfzig Glückwünsch- und Bittschreiben und gab einer großen Menge von Sekretären bloß mit dem Antwortschreiben vollauf zu thun. Bei ihm scheint die Hippokrene überzulaufen und von seiner Feder fließen die Verse stromweise; allein sie sind nicht immer gerade von dem besten Schlage. Er empfängt alle Tage von dem Könige kleine Geschenke, die in seiner Seele ebensolche Wirkung hervorbringen, wie sonst große Wohlthaten der andern zu haben pflegen. Er springt mit einem kleinen Bernsteinpfeifchen, das an einem Knopfloche hängt, im Garten und im ganzen Schlosse herum, spielt auf seiner Baßgeige, singt, lacht, scherzt und macht tausend Späße. In der That gab der gute Obrist das Bild eines von Größenwahn Ergriffenen und verfiel auch bald in ein hitziges Fieber. Er spielte künftig keine große Rolle mehr.“ Eine größere war Bielfeld beschieden; er wurde im Sommer 1740 nach Hannover mit dem Grafen Truchseß geschickt, dann nach London, um sich für den diplomatischen Dienst auszubilden; er benutzte seinen dortigen Aufenthalt, um die englischen Sitten zu studieren, von denen er in seinen Briefen eine ergötzliche Schilderung giebt. Zurückgekehrt, wurde er zum Legationsrat ernannt und dann von dem Könige nach Schlesien berufen, wo er 1741 der Belagerung von Neisse beiwohnte und bei einem Spazierritt, den er während eingeleiteter Verhandlungen unternahm, in der Nähe der Festung zwischen zwei Feuer geriet, indem die Feindseligkeiten plötzlich wieder eröffnet wurden.

Von den Breslauerinnen weiß er sehr viel Liebenswürdiges zu erzählen, sowohl von den vornehmeren Damen als von den Frauen aus dem Volke; er rühmt ihre Galanterie. Die preußische Garnison in Breslau hatte anfangs nur aus vier Bataillonen Füselieren bestanden, den unansehnlichsten Leuten der Armee. Als aber die Garde, „lauter sechs Fuß hohe, wohlgebildete, gleichsam gedrechselte Leute, mit Blau und Silber bekleidet und wie Adonis frisiert und gepudert, in die Stadt einrückte“, da herrschte, wie Bielfeld sagt, ein großer Aufruhr im Reiche der Galanterie. Er sah eine artige junge Frau, welche die bittersten Thränen weinte, vorüberrennen. Auf Befragen erklärte sie seufzend, daß sie sich mit einem Füselier aus dem Regiment von Münchow verheiratet habe, jetzt aber ihre Uebereilung beklage, weil sie einen Soldaten von der Garde, sechs Fuß zwei Zoll hoch, heiraten könnte, wenn sie ihre Hochzeit nur um acht Tage länger aufgeschoben hätte.

In Berlin glänzte Bielfeld als eine Art von Hofpoet; bei der Hochzeit des Prinzen von Preußen hielt er die Strohkranzrede und sattelte seinen Pegasus auch bei anderen festlichen Gelegenheiten.

Im Jahre 1745 wurde er zum Hofmeister des Prinzen Ferdinand ernannt, welcher nicht befürchten durfte, mit zu viel Gelehrsamkeit gequält zu werden. Mit diesem jüngsten Bruder des Königs siedelte er dann in das Schloß zu Potsdam über und befand sich so in Friedrichs nächster Nähe, den er auch damals auf seinen Reisen nach Schlesien und Pommern begleitete. In diese Zeit fällt ein Schloßbrand in Potsdam, der recht lustige Scenen zur Folge hatte. Er war im Zimmer der Königin-Mutter ausgebrochen; die hohe Frau wurde über den Schloßhof in einem Tragsessel von zwei Soldaten der Leibwache getragen und auf der einen Seite durch den Gardeoffizier von Pattnewitz, der völlig angekleidet, gestiefelt und gespornt und im Oberrock war, auf der andern von Baron von Pöllnitz im Schlafrock, Pantoffeln und mit einer Nachtmütze begleitet: daneben stürzten, beim traurigen Ton der Trompeten, Hofdamen im Unterrock und barfuß; Hofkavaliere im Hemde oder im bloßen Schlafrock auf den Schloßhof; ja man sah eine Dame, welche zwei Strümpfe übereinandergezogen hatte und den andern Fuß nackend zeigte. Doch hatte der Unfall weiter keine Folgen; drei bis fünf Zimmer im Schlosse brannten aus.

Das wichtigste Ereignis in Bielfelds Leben war jedenfalls, daß ihn per König bei einer Reise in Pommern 1747 zum Oberaufseher über alle seine Universitäten ernannte: Halle, Frankfurt an der Oder, Königsberg, Duisburg und Bingen. Dies erinnert doch etwas an das Stockregiment des Königs Friedrich Wilhelm I., der seine Gelehrten zu Hofnarren machte. Der große Friedrich stellte sie alle unter die Aufsicht eines Hofmannes, der nie gelehrte Studien gemacht hatte und in seinen Briefen sich über den alten Homer in sehr ketzerischer Weise ausspricht. Gleichzeitig wurde Bielfesd Direktor des Berliner Hospitals und stellvertretender Intendant des Hoftheaters. Auch einige Lustspiele, natürlich nach französischen Vorbilden, hatte er verfaßt; der Schauspieldirektor Schönemann, der sie zur Aufführung brachte, erwähnt dieselben in seinen „Denkwürdigkeiten“. Als ein Mann von so vielen Würden hielt er es für angemessen, jetzt in den Stand der Ehe zu treten. Schon vor fünf Jahren hatte er sich um eine reiche junge Dame in Halle beworben, doch ohne Erfolg. Da sie noch unverheiratet war, erneuerte er jetzt seine Bewerbung, als ihn eine Amtsreise in die Universitätsstadt an der Saale führte. Einige philosophische Betrachtungen über die Ehe, die er bei dieser Gelegenheit machte, sichern ihn vor dem Verdacht, ein besonders schwärmerischer Liebhaber gewesen zu sein.

„Die Braut,“ sagt er, „malt man niemals anders als mit den schmeichelhaftesten Farben. Allein die Heirat ist sehr geschickt, den falschen Glanz derselben auszulöschen. Die Larve fällt ab, die Frau bleibt da und die Schönheit vergeht. Eine Braut muß viele Verwandlungen durchmachen. Sie ist in den Augen des neuen Gemahls eine schöne Raupe, welche die Natur mit den lebhaftesten Farben geziert hat; einen Monat nach der Hochzeit wird sie eine solche Raupe, die man eine Puppe nennt und die für ihn schon ganz leblos und tot zu sein scheint, und nicht lange darauf sieht man sie in einen wirklichen Schmetterling verwandelt. Damit ich das letzte Unglück vermeide, habe ich mich auf doppelte Art vorgesehen. Einmal habe ich den Charakter ins Auge gefaßt, der bei Madmoiselle von Reich, soweit man ihn bei einem Frauenzimmer beurteilen kann, vortrefflich zu sein scheint, und dann das sehr ansehnliche Vermögen, das mich auf alle Fälle schadlos halten könnte.“ Die Heirat fand 1748 statt. Der König verlieh ihm bei diesem Anlaß den Baronstitel. Bielfeld kaufte den neuen Palast des Grafen von Keyserling in der Wilhelmsstraße in Berlin; doch [256] der Hoflustbarkeiten und seiner mit geringem Gehalt verbundenen Ehrenstellungen müde, zog er sich 1755 auf sein Schloß Treben bei Altenburg zurück, wo er ganz den Musen und landwirtschaftlicher Thätigkeit lebte und im Jahre 1770 starb.

Bielfelds vertraute Briefe sind jedenfalls mit die interessantesten Erinnerungsblätter der Friedericianischen Epoche und atmen durchweg den Geist derselben, die Freigeisterei der Jünger Voltaires und ihren schlagenden Witz. Rudolf von Gottschall.     


Das Tagebuch.

Eine Backfischgeschichte von Hans Arnold.

      (Schluß.)

Den Tag der Abreise des bösen Dickus zu seinen Jagdfreunden hatte Lotte für den Abschluß des alten und die Eröffnungsfeierlichkeit des neuen Tagebuchs bestimmt. Sie traf dazu besonders festliche und umfassende Vorbereitungen, umstellte den Tisch mit ihren sämtlichen vierzehn Geburtstagslichtern vom neusten Wiegenfeste, setzte einen Blumenstrauß in die Mitte und wollte nun dem alten Tagebuch mit Schwung und Empfindung Lebewohl sagen und das neue anfangen.

Aber o Entsetzen! nur das neue – glänzend, leer und inhaltlos wie eine kalte Schönheit – lag da, das alte war fort!

Bei Lottes angeborenem Ordnungssinn regte sich zunächst noch eine leise Hoffnung, es könnte „irgendwo“ sein, sie riß alle Bücherschränke im Hause auf, verstreute deren Inhalt mit zitternden Händen über die ganze Stube, durchwühlte die Kommodenschübe und verirrte sich sogar in die Speisekammer, wo sie aber von der entrüsteten Köchin mit Energie hinausgewiesen und verdächtigt wurde, nicht Tagebücher, sondern Sultanrosinen zu suchen – was also allem Anschein nach auch schon vorgekommen war.

Das Tagebuch war fort – spurlos! – „verschwunden wie ein Benzinfleck“, wie jemand von schönen vergangenen Tagen gesagt hat – und die Eigentümerin, fast bewußtlos vor Verzweiflung, konnte am Abend nur mit Gewalt zum Schlafengehen gebrachtwerden.

„Suche nur morgen in Ruhe, vielleicht findet es sich!“ tröstete die Mutter und fügte allerdings bei: „Siehst du, das kommt von der Unordnung – warum läßt du immer alles herumliegen!“

Diese Schlußwendung, die von den Kindern etwas pietätlos mit dem Ausdruck gekennzeichnet wurde: „Muttchen knüpft eine Moral an!“ fiel als beißendes Pfefferkorn in den Honig des Trostbechers, und Lotte schluchzte sich mit Energie in den Schlaf, währenddessen sie noch ein paarmal unter das Kopfkissen griff, als erwartete sie, daß ein guter Geist ihr das verschwundene Tagebuch zur Ueberraschung darunterschieben würde.

Mit einem flüchtigen Hoffnungsschimmer wanderte Lotte am nächsten Morgen zur Schule – beim Aufräumen des Zimmers fand sich wohl schließlich das Tagebuch wieder! Sie beschwor noch in Hut und Mantel die Zofen des Hauses, „tüchtig zu suchen“, und war in der Schule so still, blaß und gesetzt, daß der Lehrer teilnehmend frug: „Lottchen, Sie befinden sich wohl nicht gut?“ was der Backfisch wahrheitsgetreu durch ein schwermütiges Kopfnicken zu bejahen in der Lage war.

Sie wurde demzufolge auch von der Singstunde befreit, da sie mit ihrer heiser gewordenen Stimme dem gerade geübten und nach einer munteren Polkamelodie gesungenen Liede von der „Wanderlust“ doch schwerlich hätte einewirksame Stütze sein können.

Dem Verfasser des Schulgesetzes, demzufolge die jungen Damen aus der ersten Klasse zu sittigem Nachhausewandeln verpflichtet sind, hätten sich heute aber die Haare einzeln zu Berge gesträubt, wenn er unsere Lotte hätte auf dem Heimwege beobachten können. Etwas dem „Wandeln“ Unähnlicheres wie die rasenden Hechtsätze, mit denen sie durch wie Straßen jagte, kann man sich allerdings kaum vorstellen.

Zu Hause angelangt, riß sie an der Klingel, als wenn es brennte, und stieß mit dem letzten Rest ihres Atems eben noch hervor: „Ist es da?“ Auf das betrübte Kopfschütteln der Mutter aber brach sie in ein erneutes stümisches Weinen aus, ein Geschäft, das sie mit ungeschwächten Kräften bis zum Mittagsessen fortsetzte. Zu dieser Feierlichkeit mußte sie erst mit Brausepulver und Baldriantropfen gekräftigt werden – ein noch nie dagewesenes Ereignis, das von den jüngeren Geschwistern mit namenlosem Interesse beobachtet wurde. Sie verschmähte bei Tisch sogar mit stummem Kopfschütteln eine äußerst wohlgeratene Mehlspeise, was als ernstes Symptom schwerer Seelenleiden angesehen und beurteilt wurde.

Der Vater, dem sein schlanker Backfisch mit dem sonst stets von Munterkeit und Frohsinn funkelnden Gesichtchen besonders ans Herz gewachsen war, hatte Lotte neben sich genommen und redete ihr tröstend zu, sich zu fassen und zu essen.

„Na, Lotte, Kopf hoch!“ sagte er und strich ihr die Haare aus der Stirn, „wer wird sich so zum Scheusal weinen! Du sollst sehen, dein Tagebuch kommt bald wieder – ich habe so meine leisen Ahnungen!“ Lotte sah ihn zweifelnd an – plötzlich schien ihr ein Gedanke zu kommen.

„Papa!“ rief sie überlaut und sprang auf, daß der Stuhl ein ganzes Stück zurückflog, „ich sehe dir’s an – du weißt, wo es ist – und jetzt weiß ich’s auch! Der Dickus hat es mir gestohlen – nein, diese Gemeinheit!“ Und die Thränenflut stürzte aufs neue mit der Gewalt eines Platzregens hervor. Der Vater lächelte mitleidig.

„Ruhig Blut!“, sagte er dann, „ich weiß, es ja nicht – und man muß die Menschen nicht leichtsinnig verdächtigen – besonders, wo es sich um solche schwarze Unthaten handelt. Aber der Ludwig sah mir gestern abend so heillos fidel aus und drückte sich mit so unheimlicher Geschwindigkeit. Da ist mir der Gedanke gekommen, daß er sich am Ende mal an dir rächen will, weil du ihm immer mit so auserlesener Ungezogenheit begegnest!“

„Und das wäre dir in mancher Weise ganz dienlich!“ knüpfte die Mutter an, „wenn ich es auch von Ludwig stark finde – das muß ich sagen – stark!“

„Er hat wohl nicht gedacht, daß sie es sich so bitterlich zu Herzen nehmen würde,“ begütigte der Vater, der mehr Verständnis für den Humor eines derartigen Diebstahls zu haben schien, „aber das Unglück ist doch in keinem Fall so groß, mein Mädel. Er kann es nicht lesen! Du hast ja doch den Schlüssel um den Hals, nicht wahr?“ Lotte nickte etwas getröstet.

„Wenn der gemeine Peter nur nicht etwa Nachschlüssel hat!“ meinte sie bedrückt und wehmütig und nahm die allgemeine Heiterkeit, die ihr Bedenken verursachte, sehr ungnädig auf.

Der Gedanke, der Dickus könnte seinen Jagdurlaub benutzen, einen Schlosser holen zu lassen, um das Tagebuch wie eine Thür zu erbrechen, verfolgte den Backfisch noch den ganzen Tag.

Wenn er es las! Wenn er alle die Gedanken, Reueergüsse, Bekenntnisse und Gedichte – die guten Vorsätze und gar den „Schwarm“ las! Lotten wurde es bei dem Gedanken siedendheiß. Ihr blieb dann nichts übrig, als bei der nächsten passenden Gelegenheit nach Afrika auszuwandern – auf dem Boden europäischer Kultur fühlte sie sich unmöglich geworden, seitdem da ein Referendar herumwandelte, der ihr Tagebuch gelesen hatte!

Daß der Vetter dabei ungezählte Kosenamen für sich selbst mit hinunterzuschlucken gezwungen war, unter denen „widerlicher Gummiball“ noch der mildeste war, das wäre ja ein kleiner Trost gewesen – aber ein sehr kleiner! Das sichere Gefühl: „Das Tagebuch ist da!“ trug schon mehr zur Fassung bei – und im Grunde glaubte sie nicht, daß der Dickus die Schändlichkeit so weit treiben könnte, es zu lesen – ein Rest menschlichen Anstands- und Rechtsgefühles lebte am Ende noch in seiner entartetere Seele!

Auf Eins aber freute sich der Backfisch – ein Umstand leuchtete als Stern durch die Nacht der Trostlosigkeit: wenn der Dickus wiederkehrte, müßte er sich doch vor seiner Cousine schämen, bis zur Bewußtlosigkeit bis zur vernichtendsten Vernichtung! Er, der sonst so überlegen zu lächeln, so von eben herab sie zu „uzen“ pflegte, mußte als ertappter Verbrecher klein – ach, so klein dastehen und konnte nie wieder auf seinen alten Standpunkt emporklimmen!

[257]

Ohne Schatz.
Nach dem Gemälde von Th. Dengler.

[258] In dieser frohen Voraussicht und zugleich in der Hoffnung auf Wiedererlangung des Tagebuches konnte Lotte die Stunde kaum erwarten, wo der Vetter Ludwig wiederkam. Sie hatte sich schon geistig Und moralisch in Positur gesetzt, um seine flehentlichen Bitten um Verzeihung mit möglichst majestätischer Manier zunächst gänzlich von der Hand zu weisen und erst viel später unter von ihr gestellten Bedingungen vielleicht zu gewähren.

Der wohlbekannte Schritt des Dickus ließ sich denn auch zur programmmäßigen Zeit vernehmen, fröhlich und unbefangen wie ein Mensch mit einem Gewissen erster Qualität, kam er ins Zimmer.

Er hatte sogar noch die Unbescheidenheit, Lotte am Zopf zu ziehen und sich bei ihr zu erkundigen, wie sie denn die Trennung von ihm überlebt hätte.

Lotte riß ihm mit Ungestüm ihren Zopf aus der Hand und würdigte die Frage keiner Antwort.

„Thu nur nicht so!“ sagte sie mit unverhohlenem Abscheu, „die Eltern wissen alles – und ich auch: du hast es!“

Der Dickus sah aus wie die Unschuld in Person, wenn man sich diese 200 Pfund schwer vorstellen kann.

„Ich habe es?“ frug er mit hochgezogenen Augenbrauen, „Was hab’ ich denn? Dein Wohlwollen? Daran habe ich zu meinem Glück noch nie einen Augenblick gezweifelt!“ Lotte stampfte mit dem Fuß.

„Papa, sag’ du ihm, daß er mir’s wiedergiebt!“ rief sie ungeduldig, „vor mir hat er doch keine Angst!“

Der Vater, der sich schon zum Ausgehen gerüstet hatte, lachte.

„Na ja, Ludwig,“ sagte er dann, „der Scherz hat lange genug gedauert; gieb ihr’ jetzt ihr Tagebuch wieder – sie hat eine Heidenangst darum ausgestanden!“

„Ihr Tagebuch?“ wiederholte der Dickus, noch immer ganz Erstaunen und Seelenreinheit, „aber, lieber Onkel, ich habe doch das Tagebuch nicht!“

Er machte ein so ehrliches, treuherziges Gesicht zu dieser Versicherung, daß der Vater und Lotte eine Weile ganz betroffen waren und nicht recht wußten, was sie davon zu halten hatten. Lottes Antlitz verzog sich schon wieder aufs schmerzlichste.

„Wenn er’s auch nicht hat!“ sagte sie dann mit brechender Stimme, „wo ist es denn dann aber?“

„Wißt ihr was?“ sagte der Vater, dem der Dickus inzwischen mit diabolischer Fröhlichkeit zugezwinkert hatte, „macht die Sache unter euch ab! Ich muß aufs Amt. – Hoffentlich geht’s ohne Mord und Totschlag ab, Ludwig – ich gestehe dir offen, daß ich jetzt nicht in deiner Haut stecken möchte!“

Und er verließ lachend das Zimmer.

Der Dickus schlug die Augen zur Zimmerdecke empor.

„Ich Lamm!“ sagte er, „ich soll Tagebücher haben!“

Lotte war inzwischen auf einen Stuhl am Fenster gesunken und trocknete sich die Thrätten – heimlich – denn den Triumph wollte sie ihm nicht gönnen.

Der Dickus betrachtete sie eine Minute lang mit Schadenfreude.

„Na“, sagte er dann phlegmatisch, „wenn du die Schleusen ziehst, da will ich nur nicht so sein! Also – haben habe ich’s nicht – aber ich weiß, wo es ist, und wenn du sehr schön bittest – so mit Pfotchen, wie der Ami“ –

Lotte ließ ihn nicht ausreden – sie sprang mitten im Satz auf ihn zu, als wenn sie ihn schütteln wollte.

„Du sagst es!“ rief sie leidenschaftlich, „sofort sagst du es, oder ich reiße dich am Schnurrbart! Papa hat gesagt, das thäte maßlos weh! Also nun weißt du, was ich thue! Wo hast du mein Tagebuch?“

„Suche!“ erwiderte der Dickus, setzte sich aus Fenster und nahm eine Zeitung zur Hand.

Lotte stürzte auf ihn zu, riß ihm das Zeitungsblatt aus der Hand und warf es zerknüllt in die Ecke.

„Nicht einen Buchstaben liest du, ehe ich’s wiederhabe,“ rief sie mit vor Zorn erstickter Stimme, „ich habe schon überall gesucht – hörst du’s? Zwei Tage habe ich mir wegen dir verdorben – jetzt ist’s genug!“

„Potztausend!“ sagte der Vetter ganz wohlwollend, „du bist ja ein sanftes Engelchen! Aber siehst du, so geht’s manchmal! Ich habe dir neulich in der freundlichsten Weise Friedensvorschläge gemacht – du hast sie mit kühler Ueberlegenheit abgewiesen – ich habe dir in aller Form Rechtens den Krieg erklärt und jetzt das erste Treffen gewonnen. Du bist jetzt die Besiegte und mußt um Gnade bitten! Denke, was ich hätte thun können!“ fuhr der Dickus fort, als Lotte trotzig zur Erde sah und sich auf die Lippe biß, „ich hätte das Tagebuch lesen können – mitnehmen – ganze Seiten daraus abschreiben – ich hätte es deiner Schulmadame schicken können – ich habe nichts dergleichen gethan. Ich habe jeder Versuchung mit wahrhaft übermenschlicher Selbstbeherrschung widerstanden und es an eine Stelle gelegt, die du meiner Berechnung nach, jeden Tag sehen mußtest! Leichter konnte ich dir’s nicht machen!“

Lotte sah ihn hilflos an.

„Dickus!“ begann sie dann in sanfterem Ton.

„So ist’s schon besser!“ sagte der Vetter behaglich.

„Sag’ mir’s!“ flehte Lotte.

„Erst hole mir einen Aschenbecher!“ sagte der Dickus roh. Lotte kämpfte einen schweren Kampf.

„Na?“ frug der Dickus, „sei froh, daß du ihn bloß holen sollst, ich könnte ja auch verlangen, daß du damit vor mir auf die Kniee fällst – ich mache es noch billig genug!“

Der Backfisch ging schweigend nach dem nächsten Zimmer und kam mit einem Aschenbecher zurück, den sie mit sichtlichem Abscheu vor den Vetter hinstellte.

„Siehst du,“ sagte der Dickus, „als ich dich neulich ’mal um einen Aschenbecher bat, sagtest du: ,Fällt mir gar nicht ein, ich muß jetzt üben!’ Weißt du es noch?“

„Und ich mußte auch üben!“ gab Lotte scharf zurück, „denkst du, jeder kann so faulenzen wie ein Referendar?“

„Ein kühnes Wort!“ meinte der Dickus, „aber bleiben wir einmal bei der Sache! Uebst du wirklich jeden Tag? Jeden Tag?“ wiederholt er mit großem Nachdruck.

„Jeden!“ versicherte der Backfisch mit eherner Stirn.

„Hübsch von dir!“ meinte der Vetter anerkennend. „Und nun will ich dir ’mal was sagen! Die erste Bedingung hast du erfüllt – wenn auch nicht freudig –– die zweite ist: gieb mir einen Kuß – und du kriegst dein Tagebuch wieder!“

Lotte sprang einen Fuß weit zurück „Dir einen Kuß?“ rief sie überlaut, „du Greuel! Lieber esse ich mein neues Tagebuch samt dem Deckel auf!“

„Schön!“ sagte der Dickus mit männlicher Fassung, „ich werde auch das überleben. Also diese Bedingung ist bedingungslos abgeschlagen? Dann mußt du eine andere erfüllen.“

„Und die wäre?“ frug Lotte mißtrauisch.

„Du schreibst, was ich dir vorsage – hier – in mein Notizbuch – drei orthographische Fehler sind in fünf Zeilen gestattet.“

Lotte überhörte diese neue Niedertracht und nahm zögernd den Bleistift zur Hand.

„Also!“ begann der Dickus, „schreibe: ‚Lieber guter, reizender Vetter Ludwig‘ –“

„Nein!“ rief Lotte und warf den Stift weg, „solchen Unsinn schreibe ich nicht!“

„Dann werde ich schreiben!“ sagte der Dickus kaltblütig, „und du unterzeichnest, zum Beweis des vollen Einverständnisses. Sowie ich deine Unterschrift habe, führe ich dich dahin, wo dein Tagebuch liegt, – sonst nehme ich es heute abend mit, schneide es auf und lese es von Anfang bis zu Ende! Na – wie ist’s?“

Da keine Antwort kam, schrieb er einige Zeilen in sein Taschenbuch, während Lotte vor Grimm, Ungeduld und Neugier von einem Fuß auf den andern trappelte.

„Hier!“ sagte der Vetter und schob den Stift an seine Stelle, „jetzt werde ich dir vorlesen. Also: ‚Lieber, guter, reizender Vetter Ludwig! Ich verpflichte mich, Dich von heute an wie den liebenswürdigsten, nettesten und schlanksten Vetter zu behandeln, Dich nie mehr – auch nicht ’mal in Gedanken – Dickus zu nennen, nie mehr naseweis zu sein. Dafür bist Du so überaus liebenswürdig, mir mein Tagebuch wiederzugeben und es mir erst dann wieder wegzunehmen, wenn ich Dir selbst die Erlaubnis gebe, es zu lesen.“

„Da kannst du lange warten!“ warf Lotte ein.

Der Vetter schlug die Arme übereinander und sah sie mit eisig festem Ausdruck an.

„Unterschreibe!“ sagte er dann, „du kennst mich jetzt!“

Lotte schwankte zwischen Zorn und Lachen.

[259] „Her mit dem Blech!“ sagte sie dann endlich trotzig und warf ihren Namenszug möglichst unleserlich unter das Dokumente.

„Und nun komm!“ sagte der Dickus, „darf ich dir meinen Arm anbieten?“

„Auch noch!“ erwiderte sie unwillig.

„Nun, dann geh’ so hinter mir her!“ erwiderte der Vetter unbeirrt, „wir haben keinen weiten Weg!“

Und er führte den erstaunten Backfisch zum Klavier. „Hier – klapp’ ’mal auf!“ sagte er trocken.

Und da lag das Tagebuch – unversehrt – unentweiht auf dem Notenpult.

„Siehst du,“ bemerkte der Dickus und weidete sich an dem tödlich verlegenen Gesicht seiner kleinen Feindin, „wenn man jeden Tag übt, da findet man solche verlorene Schätze sehr rasch wieder!“

Lotte hatte inzwischen ihr Tagebuch ergriffen und fest – fest an sich gedrückt.

„Schön!“ sagte sie mit zuckenden Lippen, „du hast mich diesmal besiegt! Aber eins sage ich dir – leiden kann ich dich doch, nicht – jetzt nicht und niemals, und wenn ich achtzig Jahre alt werde! Ich finde dich gräßlich, daß du ’s weißt!“

„Na,“ sagte der Vetter und schmunzelte, „da gieb mir nur das neue Tagebuch wieder! Das habe ich dir nämlich geschenkt und von einem so schändlichen Menschen wirst du ja doch nichts annehmen wollen.“

Lotte stand einen Augenblick starr.

„Das hast du mir geschenkt?“ brachte, sie dann mühsam hervor, „das himmlische Tagebuch? Und das hast du gar nicht gesagt? Dickus, du bist entzückend – und ich danke dir tausendmal! Jetzt bin ich dir aber wirklich riesig gut, denn das war famos anständig von dir!“

„So?“ erwiderte der Dickus, „nun, das ist mir ja eine wahre Beruhigung, daß du mit dem Gutsein nicht warten willst, bis du achtzig Jahre alt bist. Da kriege ich am Ende auch das Tagebuch noch ’mal zu lesen – man muß nichts verreden.“

Und als Lotte lachend und kopfschüttelnd mit ihrem Kleinod aus dem Zimmer gesprungen war, sah ihr der Dickus mit unverkennbarem Wohlgefallen nach. „Ein niedliches Ding!“ murmelte er vor sich hin, und wenn diese Kritik nicht salonfähig war, so kam sie wenigstens von Herzen, und das ist auch was wert.

Lotte schrieb an diesem Abend zum erstenmal in ihr neues Tagebuch: „Mein Götterbuch, ich habe dich vom Dickus! wer hätte das gedacht! Der Dickus kann, am Ende noch ’mal ganz menschlich werden – heut’ war er wirklich nett!“

Wir wollen dem Leser aber nicht zu viel aus dem Tagebuch verraten – der Dickus kam mit der Zeit immer öfter darin vor. Und was noch mehr sagen will, er hat es später selber zu lesen bekommen – allerdings erst, als er mit Lotte verlobt war – da durfte sie doch keine Geheimnisse mehr vor ihm haben! Ja, wie das manchmal so anders kommt – es ist merkwürdig!


Blätter und Blüten.

Ein guter Rat für Leute, welche viel zu schreiben haben. Der Dichter der „Nibelunge“ Wilhelm Jordan berichtet in seinen „Episteln und Vorträgen“ sehr interessant über die Erfahrungen, welche er mit der Linksschrift machte. Als ihm nämlich eines Tages die übermüdete rechte Hand beim Schreiben den Dienst versagte, fing er an, sich mit der linken Hand im Schreiben zu üben. Hat man beim Rechtsschreiben die Gewohnheit, das Papier entweder so zu legen, daß sein oberer oder unterer Rand mit der Schreibtischkante gleichläuft, oder für das Auge noch bequemer so, daß die Zeilen in einem Winkel von etwa 30 Grad bergan laufen, so empfiehlt es sich nach Jordans Angabe, für die Linksschrift das Papier stets schräg und ebenfalls in einem Winkel von ungefähr 30 Grad, aber an der entgegengesetzten Seite hin aufzulegen, so daß es nach rechts geneigt erscheint und die Linksschrift von links oben nach rechts unten bergab geht.

Beim Linksschreiben würde nämlich – wenn man nicht etwa Spiegelschrift schreibt, wovon hier nicht die Rede ist – die schreibende Hand das entstehende Wort verdecken, falls man die Zeilen in gleicher Linie mit der Tischkante oder bergan laufen ließe, und dies Verdecken erschwert die Aufsicht, welche das Auge über die schreibende Hand beständig übt und üben muß. Dadurch, daß man die linkshändigen Zeilen bergab gehen läßt, wird das Verdecken des entstehenden Wortes einigermaßen vermieden. Fast ganz vermieden aber wird es durch eine zweite Maßregel. Während man bei der Rechtsschrift die Buchstaben meist etwas nach rechts geneigt sein läßt, empfiehlt es sich für die Linksschrift, sie vielmehr nach links zu neigen; die Feder giebt in diesem Falle die entstehenden Buchstaben fast so vollständig frei wie bei der Rechtsschrift.

Jordan widmete der Linksschrift täglich eine halbe Stunde, und schon nach vierzehn Tagen hatte er eine brauchbare zweite Schreibhand. Da die Linksschrift natürlich langsamer ging als die Rechtsschrift, so eignete sich diese besser zum Abschreiben, jene aber besser zur Niederschrift eines ersten Entwurfes. Jordan bekennt, daß die Rücksicht, die er auf die langsamer schreibende Linke nehmen muß, ihm zugleich ermöglicht, der Versuchung zum Ueberhasten des Satzbaues und der sprachlichen Wendungen zu widerstehen, welche durch das schnelle rechtshändige Schreiben leicht gegeben ist. Nach einigen Monaten zeigte sich, daß die linke Hand überhaupt an Geschicklichkeit zunahm. Sie drängte sich förmlich vor, um der rechten gleichsam zuvorzukommen, so beim Knöpfen der Kleidung, beim Aufziehen der Uhr, und das Ausführen gewisser schwieriger Stöße beim Billardspiel wurde erst durch die geübte Linke möglich. Jordan konnte bemerken, daß die Muskeln des linken Armes, der linken Brusthälfte, ja der ganzen linken Körperseite stärker wurden.

Noch merkwürdiger aber ist eine andere Beobachtung. Die ausgebildete Fertigkeit des Gehirnes, die Rechte schreiben zu lassen, erleichtert das linkshändige Schreiben ungemein, überträgt sich aber nicht unmittelbar auf die entsprechenden Bewegungsnerven; für die linke Hand muß eine andere Abteilung des Gehirnes in Thätigkeit treten, und so wird das Spiel der Nerven überhaupt reicher, behender und kraftvoller; Jordan hatte sogar die Empfindung, daß seine Gedankenwerkstatt um einen bisher unbenutzten Raum erweitert sei. „Eigenartig erfindsame Vorstellorgane von jungfräulicher Frische,“ schreibt er, „schienen fortan arbeitsfroh mitzuwirken.“ Eine Probe wird den Leser bald überzeugen, daß das nach Jordans Anweisungen betriebene Linksschreiben nicht schwer zu lernen ist.

Vogelschutzgehölze. Es ist eine bedauerliche Thatsache, daß unsere Singvögel an Zahl abnehmen. Zu den Ursachen, welche diese Verödung der heimischen Flur herbeiführen, zählt vor allem die Ausrottung der Feldgehölze und Hecken, die früher auf den Aeckern häufig vorkamen und den Vögeln willkommene Nistplätze und Schutzwinkel boten. Schon vor zwanzig Jahren hat Dr. Dieck in der „Monatsschrift des Sächsisch-Thüringischen Vereins für Vogelkunde und Vogelschutz“ auf diesen Uebelstand hingewiesen und die Anlage von Vogelschutzgehölzen warm empfohlen. Neuerdings hat der „Leipziger Tierschutz-Verein“ eine Flugschrift unter dem Titel „Vogelschutz durch Anpflanzungen“ vonDr. Carl R. Hennicke herausgegeben, in welcher diese Ratschläge weiter ausgebaut werden. Zur Anlage solcher Gehölze werden Bäume und Büsche, sowie Schlingpflanzen empfohlen, die durch dichte Belaubung oder dichtrankenden und struppigen Wuchs den Vögeln Schutz gewähren, oder auch durch ihre Früchte den gefiederten Sängern Nahrung bieten. Eine lange Liste dieser Gewächse ist in der betreffenden Schrift zusammengestellt.

Vogelschutzgehölze können an verschiedenen Orten angelegt werden. Zunächst eignen sich dazu Parkanlagen bei Privatgärten; ferner sollte man auf Feldern sogenannte Remisen oder Feldgehölze pflanzen. Man kann dazu recht wohl Stellen wählen, die sonst als Acker- oder Wiesenland nicht zu verwerten sind. Bei richtiger Wahl der Pflanzen können die Gehölze im Winter auch dem darbenden Haarwild Nutzen bringen. Es ist ja bekannt, daß z. B. Hasen im Winter Zweige und Rinde verschiedener Büsche viel lieber fressen als Heu und Kohlblätter, die man ihnen mit denselben ausgelegt hat. In ähnlicher Weise lassen sich auch Uferböschungen und Bahndämme zu Zwecken des Vogelschutzes ausnutzen. Schließlich läßt sich auch der Vogelschutz in dieser Hinsicht mit den Arbeiten der Verschönerungsvereine verbinden. Baumgruppen mit Heckengebüsch verleihen der Landschaft einen besonderen Reiz, und wenn sie dem Publikum nicht zugängig gemacht werden, können sie wahre Asyle für die gefiederten Sänger, wirkliche Vogelhaine bilden. Vogelfreunde finden in der erwähnten Schrift, die von dem Schriftführer des „Leipziger Tierschutz-Vereins“ Max Rabe, Leipzig, Hospitalstraße 21, zu beziehen ist, die nötigen Anweisungen. Wenn diese befolgt werden, wird der Erfolg nicht ausbleiben. „Pflanzt nur, die Vögel werden sich schon einstellen!“ *      

Ein hartnäckiger Emporkömmling. Zu den Inseln, welche aus dem Meeresschoße einmal ganz unvermutet emporgestiegen sind, um die trockene Erdoberfläche um ein winziges Stück zu vermehren, gehört auch das kleine Eiland Falcon im Tonga-Archipel. Im Jahre 1881 tauchte es aus den Wellen auf, wuchs sich schnell zu einem Inselchen mit schwacher Vegetation und hügliger, bis zu 50 m ansteigender Oberfläche aus und wurde von den Engländern für britischen Besitz erklärt. Aber dieser Zuwachs der britischen Krone war von kurzer Dauer, 1890 sank die Insel rasch, und bald zeigte nur noch ein kaum sichtbares Riff ihre Stelle an. Man gab sie auf, – zu früh, wie sich bald herausstellte, denn zwei Jahre später fand ein französisches Kriegsschiff Falcon als ein 10 bis 15 m hohes Felseneiland wieder und pflanzte seine Flagge dort auf. Auch wieder zu früh – schon 1894 war die ganze Herrlichkeit wieder verschwunden, und über den ehemaligen Besitz zweier Großmächte glitt der Kiel des Schiffes dahin, ohne Widerstand zu finden. Aber die Natur hat ihre Launen und bewährte sie auch hier: noch einmal ist Falcon vor kurzem aus dem Schoße der Wellen aufgetaucht, hat bereits eine Höhe von 15 m erreicht und ist nunmehr zur Herrschaft von Tonga geschlagen. Welche Revolutionen müssen sich hier unten am Boden der Tiefsee vollziehen, wenn dies ihre letzten Pulsschläge sind! Bw.     
[260] Der neue Justizpalast in München. (Zu dem Bilde S. 241.) Lange hat die an Kunstdenkmälern so reiche bayrische Residenz den eigentlichen Großstadtcharakter entbehrt; sie gewinnt ihn neuerdings durch eine Reihe monumentaler Prachtbauten, unter welchen der Justizpalast des Architekten Professor Friedrich Thiersch eine hervorragende Stelle einnimmt. Die reichgegliederte Renaissancefassade des aus grünlichem Donausandstein erbauten Gebäudes am Karlsthor macht in ihrem guten Verhältnis der Länge zur Höhe, den stattlichen Vorsprüngen und der schön geführten Haupttreppe, mit den großen Fensteröffnungen zwischen den Wandsäulen, den Eindruck der Würde und künstlerischen Schönheit. Ueber ihren figurengeschmückten Giebeln erhebt sich die Kuppel des Mittelbaues. Sie überdacht die große Marmorwandelhalle und das Treppenhaus, dessen Amorettengruppen von dem Bildhauer Professor Eberle herrühren; die Wandmalereien im Repräsentations- und Schwurgerichtssaal hat Professor Thiersch in Verbindung mit jungen Künstlern geschaffen. Die Stückarbeiten des ornamentalen und figürlichen Schmuckes machte Bildhauer Pfeifer. Der nun so prächtig vollendete Palast hat seinem Erbauer nicht wenig Sorgen gemacht wegen der Schwierigkeiten, mit der vom Landtag verwilligten Summe von nur 6½ Millionen (ziemlich der gleiche Preis wie der des Reichsgerichtes in Leipzig, das um die Hälfte kleiner ist) den äußeren Schmuck des Gebäudes noch herauszubringen. Seiner Energie und Sparsamkeit ist das Werk trotzdem gelungen und so steht nun der stolze Bau, den weiten Karlsplatz mit seinen Anlagen und schönen Architekturbilderu überragend, der Münchener Kunst zur Ehre als eine neue große Zierde der so mächtig aufblühenden Isarstadt. Bn.     

In Gedanken.
Nach einer Originalzeichnung von V. Thomas.

Johanna I., Königin von Neapel. (Zu dem Bilde S. 245.) Das 14. Jahrhundert brachte schlimme Zeiten über das herrliche Neapel. Das Haus Anjou war durch innere Zwistigkeiten zerrissen, und während Erbfolgekriege das Land verwüsteten, herrschte an dem Hofe maßlose Sittenlosigkeit. In dieser unruhigen Zeit erblickte Johanna im Jahre 1326 als Tochter des Herzogs von Kalabrien das Licht der Welt; mit regem Geiste begabt, war sie eine Schülerin Petrarcas und zeichnete sich durch Sinn für Künste und Wissenschaften aus. Ihre äußere Erscheinung war von liebreizender Anmut und so kam es, daß die Fürstin viele Herzen bestrickte und von so manchem Dichter und Geschichtschreiber mit warmem Lob gepriesen wurde. Leider war sie nur zu sehr das Kind eines verdorbenen Zeitalters und hinter ihrem Engelsangesicht lauerten die düsteren Dämonen des Verbrechens! Schon als sechsjähriges Kind wurde Johanna dem siebenjährigen Prinzen Andreas von Ungarn vermählt – ein Werk der Politik, denn dieser Prinz hatte Ansprüche auf die Krone von Neapel. Als ihr Großvater Robert gestorben war, bestieg Johanna 1343 den Thron von Neapel; ihr Gatte Andreas wollte sich ebenfalls krönen lassen; er hatte die einflußreiche ungarische Partei hinter sich, den Papst für sich; aber die siebzehnjährige Königin wollte ihre Herrschaft nicht teilen und faßte den Plan, ihn zu ermorden. Es wird berichtet, ihr Gatte habe sie einmal angetroffen, wie sie mit einer seidenen mit Gold durchwirkten Schnur spielte; er habe sie gefragt, wozu sie dieselbe brauche. Da soll Johanna erwidert hohen: „Dich zu erdrosseln, mein Freund“, und in der That soll sie diese ruchlose That wenige Augenblicke darauf vollbracht haben. Diese Ueberlieferung benutzte Laura Le Roux zum Vorwurf des Bildes, das unser Holzschnitt wiedergiebt. Nach einer anderen Lesart ließ Johanna ihren Gatten durch ihre Helfershelfer im Kloster Aversa erdrosseln. Da erhoben sich die Großen des Reichs, an ihrer Spitze Karl von Durazzo; sie aber, die inzwischen ihren Geliebten, Ludwig von Tarent, geheiratet hatte, suchte sich von der Schuld des Gattenmordes zu entlasten, indem sie ihre früheren Genossen grausam hinrichten ließ. Die Strafe für dieses Verbrechen blieb nicht aus. Johanna konnte sich zwar lange auf dem Throne behaupten. Da aber Ehrgeiz, Herrschsucht und Liebesleidenschaft die wechselnden Entschlüsse der schönen Königin bestimmten, wurde sie in ein Wirrsal von Intriguen und Erbansprüchen verwickelt, die das Land verheerten und ihren Untergang herbeiführten. Im Jahre 1382 wurde sie endgültig von ihren Gegnern besiegt und Karl von Durazzo ließ die Königin auf dem Schloß Muro in Basilicata erdrosseln. So starb sie desselben Todes, den sie ihrem ersten Gemahl meuchelmörderisch bereitet hatte.

In der Kuhflucht. (Zu dem Bilde S. 253.) Partenkirchen und Garmisch am Fuße der Zugspitz sind seit Jahren beliebte und vielbesuchte Standorte der Touristen. Das grüne breite Loisachthal, umrahmt von gewaltigen Bergmassen, bildet den Ausgangspunkt zu den lohnendsten Ausflügen; denn der massige Kalkalpenstock birgt in seinen Thälern und Schluchten Schaustücke von großartiger Wirkung. Das Höllenthal und die Partnachklamm, der Bader- und der Eibsee gewähren neben der Zugspitz, dem höchsten deutschen Berge, selbst dem verwöhnten Alpenwanderer volle Befriedigung. Reich an landschaftlichen Schönheiten ist auch der Fricken, ein wild zerklüfteter mit dichtem Wald bewachsener Berg, der bei den Jägern in gutem Rufe steht, da er schwere Berghirsche beherbergt und einen sehr regen Gemswechsel bildet. Eine Sehenswürdigkeit dieser Gegend ist vor allem die „Kuhflucht“, eine wildromantische Schlucht, die vom Hohen Fricken sich in das Loisachthal hinabzieht. In ihr entspringt aus einem großen höhlenartigen Loch in einer gewaltigen nackten Felswand ein Bach, der in sieben schäumenden Wasserfällen zu Thal stürzt. Unsere Abbildung zeigt uns den dritten Wasserfall, der auch Kaskadenfall genannt wird. Der Maler des Bildes, Ferdinand Feldhütter, hat in meisterhafter Weise die wildromantische, durch ihren schönen Pflanzenwuchs ausgezeichnete Kuhflucht wiedergegeben. Zu dem Kaskadenfall gelangt man von Farchant aus über Mühldörfl in dreiviertel Stunden auf einem bequemen und malerischen Wege, der bei klarem Wetter wundervolle Ausblicke bietet.*      

Ohne Schatz. (Zu dem Bilde S. 257.) Sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich, das Liesle und das Gretle, sind beides brave frische Mädeln, fleißig bei der Arbeit und flink beim Tanzen – warum hat jetzt also das Gretle einen Schatz und das Liesle keinen? Ist sie zu ernsthaft mit den jungen Burschen oder denkt sie vielleicht im stillen an Einen, der nicht an sie denkt? … Jedenfalls, mag dies sich verhalten, wie es will; ihre augenblickliche Lage rechtfertigt durchaus die tragische Haltung, mit der sie sich dem interessanten Geschäft des Bohnenschnitzelns hingiebt und nicht aufsehen mag nach den beiden dort am Fenster, die sich auch noch einbilden, wunder wie zurückhaltend zu sein, und doch so vieles thun und sagen, was dem armen Liesle wie ein feuriger Pfeil durchs Herz geht! Hoffen wir, daß dieser traurige Sachverhalt sich in Bälde zum Bessern wendet! Vom Bohnenherbst bis zur Kirchweih’ ist’s nicht mehr lange hin, und vermutlich wird ein paar Wochen nach dieser die zweite Bank hier am Tisch bedeutend weniger leeren Platz haben, als ihr heute der Maler des hübschen Bildchens vorsorglich gelassen hat! Bn.     


Inhalt:



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Mitgeteilt in Dr. J. Hoffmanns trefflicher Monographie „Die Waldschnepfe“.