Die Gartenlaube (1895)/Heft 50
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Nr. 50. | 1895. | |
Die Lampe der Psyche.
(10. Fortsetzung.)
Hortense beschloß, unter dem Eindruck dieser Klatschereien noch heute um eine Unterredung mit der Herzogin zu bitten, und sie war sicher, ihre hohe Gönnerin für die gekränkte Unschuld zu rühren.
„Meine Ahnung, meine Ahnung,“ dachte sie und entsann sich der geringen Freude, mit welcher sie von Renés und Magdas Verlobung gehört. Ihre Gedanken schweiften immer wieder von der Zeitung ab, in der sie beim Frühstück las. Endlich legte sie sie gelangweilt beiseite. Die Welthändel ließen sie kalt, und es war ihr in diesem Augenblicke viel wichtiger, daß Magda zum nächsten Theeabend eine Einladung erhalten müsse, als daß Helgoland gegen ein Stück Afrika eingetauscht werde.
Der Diener kam und räumte ab.
„Der Kunsthändler Werle hat hergeschickt,“ meldete er dabei, „ob gnädige Frau das Bild von dem Maler Nicolai hergeben wollten.“
„Den ‚Sturm‘,“ fragte Hortense erstaunt, „was will er damit?“
Der „Sturm“ war eines von den „menschlichsten“ Bildern Nicolais und stellte einen schönen, nackten Jüngling dar, der mit nach vorn fliegenden Haaren und lachendem Mund auf einem Falben dahin jagte, indes Strauch und Pflanzenwerk auf dem Bild alles vom Wind in derselben Richtung, die der Reiter nahm, niedergestrichen war.
„Wegen der Ausstellung. Es steht doch in der Zeitung.“
Hortense griff nach der Leopoldsburger Zeitung. Sie sah unter „Lokalem“ nach und ihr Herz erschrak.
„Heute mittag ist der Maler Nicolai durch einen sanften Tod von seinem Leiden, das er bekanntlich mit bewundernswertem Humor ertrug, erlöst. In dem Verstorbenen besaßen wir ein eigenartiges Talent, das sich seine besonderen Wege suchte. Doch kann man sagen, daß seine Richtung bezeichnend war für die Abkehr von dem Naturalismus, die man neuerdings, besonders auch in Frankreich, beobachtet. Wir werden auf seine Art zurückkommen gelegentlich der Ausstellung, mit welcher die Kunsthandlung von Werle den verstorbenen Künstler zu ehren gedenkt. Alle hiesigen Kunstfreunde – es dürften nicht viele sein – die im Besitz von Nicolaischen Werken sind, werden gebeten, solche Herrn Werle zur Verfügung zu stellen.“
Hortense schüttelte mit herbem Lächeln den Kopf als sie diese Notiz las.
„Mit Humor! Da
[842] sieht man, wie ein Mensch den andern kennt! Blöde und dumm staunen sie einander an – das ist alles. Nicolai und Humor! Er war ein Jenseits-Mensch, über den Humor hinaus, wie über Thränen und Lächeln.“
Der Diener stand und wartete.
„Und die arme, arme Magda! Die verliert wieder ein Stückchen Wärme aus ihrem Leben. Um Gotteswillen – ja – weshalb ist sie denn nicht gleich gekommen – wie elend und gramvoll muß sie sein!“
Der Diener erlaubte sich, ein wenig zu husten. Hortense merkte auf.
„Sie sind noch da? Gut. Lassen Sie anspannen! Ich fahre in einer halben Stunde aus.“
„Und was darf ich Herrn Werle sagen lassen?“
„Er kann das Bild haben.“
Hortense ging an ihren Schreibtisch und bestellte einen Kranz von Lorbeeren und weißen Kamelien für den armen Nicolai. Gerade schloß sie das an den Blumenhändler adressierte Couvert, als sie jemand durch den Saal laufen hörte.
Sie kam aus ihrer Ecke hinter der spanischen Wand hervor und prallte fast zurück vor der Gewalt, mit welcher Magda sich in ihre Arme warf.
„Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr,“ rief Magda und brach in Schluchzen aus.
„Ist das wegen Nicolai? Hast Du so schwere Stunden mit ihm gehabt? Warum riefest Du mich nicht? Oder kamst nicht gestern?“ sagte Hortense und hielt das arme Kind zärtlich an sich.
„Zu viel – o Gott, – ich konnte nicht – ich kann nicht,“ jammerte Magda, riß sich los und sank in den nächsten Stuhl. Sie drückte ihr Gesicht in die Polster. Ihr Hut fiel ihr vom Kopfe.
Hortense hob ihn bedächtig auf und legte ihn auf das nächste Tischchen. Dann ging sie auf Magda zu und streichelte ihr sacht das Haar.
„Er duelliert sich – jetzt – er ist vielleicht schon tot!“ rief Magda und warf den Kopf herum.
Sie sah aus wie eine Unzurechnungsfähige. Hortense erschrak, aber nicht so sehr deshalb, weil sie an das Duell glaubte, als wegen des Eindrucks, den sie von Magda empfing. Dieselbe schien von Sinnen – und überhaupt – wie konnte sie dergleichen wissen?
Etwas hart, als habe sie es mit einer Hysterischen zu thun, sagte sie: „Mir scheint, Du weißt nicht, was Du sprichst, Du bist offenbar in der Stimmung, Dich in Schrecken hinein zu rasen.“
Aber der strenge Ton ernüchterte Magda nicht. Sie wußte nur zu wohl, was sie sagte. Sie suchte sich aber ein wenig zu fassen.
„Was für ein Tag gestern! Erst war Sibylle bei mir – Sibylle ist Wallwitzens Braut – sie hat in seinem Haus eine Scene zwischen ihm und Lilly erlauscht – nur halb. Aber was sie hörte, war genug. Er verschwor sich, von René Rechenschaft zu fordern. Dann riefen sie mich zu Nicolai. Und da kam er! O, hättest Du ihn gesehen – und wie er erschrak und wie er rauh zu mir ward, als ich es ihm ins Gesicht schrie: ‚Du willst Dich schlagen!‘“
„Wie konntest Du ihm das sagen?“ rief Hortense. „Er wird es geleugnet haben!“
Magda nickte.
„So schroff – so böse! Ich ward zweifelhaft. Aber hier drinnen war eine Stimme, die sagte mir, es ist doch wahr!“
Sie sah vor sich hin, mit großen leeren Blicken.
„Nicolai starb. Gott, ich beneidete ihn! Es war der Friede und die Erlösung.“
Sie weinte schmerzlich.
Hortense knieete neben ihr nieder und umarmte sie. Ihr waren jetzt auch die Augen naß.
„Armes Kind,“ sagte sie, „Du durchlebst harte Zeiten. Aber warum kamst Du nicht zu mir? Quältest Dich den ganzen langen Tag allein!“ schalt sie liebevoll.
„Ich konnte nicht. Ich wartete. Sibylle hatte mir versprochen, wiederzukommen und mir alles zu erzählen, was sich begab. Sie wollte aufpassen. So wartete ich. Abends kam Sibylle. Sie hatte Wallwitz nicht gesehen – er hatte sich bei ihr, die seit drei Tagen erst seine Braut ist, entschuldigt! Mit Dienst! Und Sibylle hatte irgend einen seiner Kameraden getroffen und angeredet. Wallwitz hatte gar keinen Dienst. Mehr wußte Sibylle auch nicht. War es nicht genug?“
„Nein,“ sagte Hortense und versuchte, einen leichten Ton anzunehmen, „es war nicht genug. Männer können Verpflichtungen haben –“ ihr fiel der Brief ein, den René ihr für Magda gesandt hatte und den sie ihr geben sollte, wenn bis diesen Mittag keine andere Bestimmung kam. Es überlief sie kalt.
„Diese Nacht war schrecklich! Der Tote unter unserem Dach – erst heute morgen haben sie ihn nach der Kapelle auf dem Friedhof gebracht – ich war um 6 Uhr aufgestanden. Er sollte nicht so würdelos fortgetragen werden. Er hatte das Feierliche und Schöne so sehr geliebt. So hab’ ich mit Frau Böhmer das Zimmer voll Lichter gestellt und wir legten Blumen in seine Hände. Wir beteten für ihn. Es sah aus, als lächle er.“
„Dies alles, mein Kind, hat Dich nervös gemacht und Deine Phantasie erhitzt. Du wirst nun bei mir bleiben, wir werden spazieren fahren und von lauter gleichgültigen Dingen reden.“
„Nein,“ rief Magda aufspringend, „es ist keine Phantasie, es ist Wahrheit, Wahrheit!“
Sie klammerte sich an Hortensens Arm und sagte halblaut, das Gesicht nahe zu ihr neigend:
„Ich war wie gehetzt. Ich lauerte am Fenster und dachte, wenn sie hinausführen, müßte ich sie sehen. Denn, wenn es ist, ist es heute. Das schieben Männer nicht auf. Zuletzt sah ich gar nichts mehr – es war auch so lange noch Nacht. Dann war ich fast ohnmächtig vom Warten. Und dann fiel mir ein, daß sie ja nach allen Richtungen aus der Stadt heraus konnten und daß ich verrückt gewesen war, zu denken, sie müßten bei mir vorbei kommen. Und da …“
Sie stockte und sah Hortense durchdringend an.
„Und da?“ fragte diese, kaum ihr Zittern bemeisternd; Magda steckte sie an mit ihrer Aufregung.
„Da lief ich fort – aus dem Haus – in sein Haus! Ich klingelte. Die alte Frau, die öffnete, kennt mich ja nicht, aber warum sollte sie lügen? Ich fragte nach ihm, ich müsse ihn sprechen. Er sei schon um sieben Uhr auf die Jagd gefahren – auf die Jagd – die Jagd!“ schrie Magda, bei der Wiederholung des Wortes ihre Stimme steigernd.
Hortense war bleich geworden. Dies und der Brief – die Beweise schienen auch ihr vollgültig.
„Und um diese! Um sie, die er heut’ schon verachtet! Wie darf er, wie kann er! War er nicht zu gut dafür? Darf er sein Leben aufs Spiel setzen um ein Abenteuer? Sein Leben! Und ich, vielleicht hab’ auch ich Schuld, vielleicht gab ich ihm erst die rechte Laune dazu! O, ich hab’ ihm einen häßlichen Brief geschrieben, daß ich ihm nicht vertrauen könne, weil er keine Willenskraft habe.“
„Nun ist es genug,“ sagte Hortense mit starker Stimme. „Du weißt nicht mehr, was Du sprichst.“
Sie nahm Magda am Arm und zwang sie, sich hinzusetzen.
„Wenn er der Geforderte war, konnte er die Genugthuung nicht weigern – und wenn er, wie Du sagst, zehnmal schon die verachtet, um die er sich schlägt. Das sind Unerbittlichkeiten – eines erwächst aus dem andern. Möchtest Du, daß er Wallwitz geantwortet hätte: ich schlage mich nicht?“
„Nein,“ murmelte Wagda, „o Gott, nein – aber es geht doch über mich hinweg – über mein Herz – mein Leben.“
„Männerthaten und Männerschritte gehen immer über uns hinweg,“ sagte Hortense ruhig. „Ich will Dir zugeben, daß ich nach allem auch an ein Duell glaube – gleich werden wir der Wahrheit noch näher kommen – vergiß aber nicht, daß wir es nie ganz gewiß erfahren werden. Das sind ehrenwörtliche Sachen. Sie werden alle schweigen wie das Grab. Deshalb warne ich Dich, wenn Du René wiedersiehst, ihn zu fragen.“
„Werde ich ihn wiedersehen?“ fragte Magda bebend. „Lebt er noch? Und wenn er lebt, bin ich geliebt oder bin ich es nicht? Wo finde ich Ruhe und Gewißheit? Weiß er selbst, wen er liebt? Er, der nicht treu sein kann!“
Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht.
Hortense ging an ihren Schreibtisch. Sie hatte mit voller Ueberlegung den Entschluß gefaßt, Renés Befehlen entgegen zu handeln und Magda den Brief schon jetzt zu geben. Was auch darin stand, es mußte eine Wahrheit sein und als solche auf Magda wirken.
[843] Vielleicht stand das Bekenntnis darin, daß er sie nicht geliebt habe. Mochte Magda dann auf einmal den ganzen fürchterlichen Schlag ertragen.
Vielleicht stand darin, daß er seine Untreue beklage und sie allein nur geliebt habe – so oder so, die Zweifel mußten ein Ende haben, wenn sie Magda nicht zerrütten sollten.
Und mochte René nachher zürnen, Hortense mußte so handeln.
„Hier,“ sagte sie, „ein Schreiben von ihm an Dich.“
„Und das giebst Du mir jetzt erst?“ rief Magda und riß ihr den Brief aus der Hand. Sie zerrte den Umschlag in Stücken von den Briefblättern.
Diese waren zufällig so gefaltet, daß die erste, eng beschriebene Seite nach außen umgebogen lag.
Magda nahm die Blätter so, wie sie ihr entgegensprangen.
Sie las: „Geliebte Thörichte! Dir entsagen, das wäre ja, als sollte ich nicht mehr dirigieren oder komponieren …“
Sie las und las und in ihrem Gesicht ging heller Sonnenschein auf.
So übermütig, siegessicher, so voll liebender, herrischer Freude schreibt kein Mann, der zum Zweikampf geht.
Sie las die holden Worte am Ende der sechsten Seite und sah daneben die leere siebente.
Strahlend schaute sie zu Hortense auf.
Diese aber, vor Magda stehend, hatte längst die quer geschriebenen Zeilen auf der letzten Seite bemerkt.
„Da hinten steht noch etwas,“ sagte sie.
Magda wandte das Blatt um.
„Magda, ich liebe Dich! Meine Seele ist Dir nicht untreu gewesen. Du darfst Dich ihr vermählt fühlen, als wärest Du mein Weib geworden. Lebe wohl und sei mein starkes Weib.Sie schrie auf. Hortensen ging der Ton durch und durch.
„Es ist wahr!“ stammelte Magda und fiel Hortensen in die Arme.
Diese glaubte eine Ohnmächtige zu halten und versuchte die Verzweifelte dem nächsten Sitz zuzuführen.
Aber da fuhr Magda schon wieder auf, und die Hände faltend, rief sie: „Komm zu ihm! Zu ihm! Laß mich sehen, ob er da ist, ob er lebt!“
„Mein Kind …“
„Kein Nein. Um Gotteswillen, kein Nein! Sonst geh’ ich selbst – allein – ich muß – ich will!“
Sie war wie rasend.
Hortense besann sich nicht mehr. Trieb doch ihr eigenes Herz sie zu irgend einer That. Konnte sie selbst es doch nicht ertragen, hier zu sitzen und zu warten, bis ein Zufall ihnen Klarheit brächte.
„Wir gehen!“ sagte sie entschlossen.
Mit ihrer gewohnten, festen, stolzen Haltung ging sie durch den Raum. Sie klingelte.
„Der Wagen?“ fragte sie den eintretenden Diener.
„Ist vorgefahren.“
„Komm,“ sagte sie kurz. Magda, plötzlich gefaßter und von Hortensens Art beeinflußt, folgte ihr.
Hortense ließ sich im Flur ihren Pelz umhängen.
„Zu Herrn Hofkapellmeister Flemming,“ befahl sie dem Kutscher mit dem gewöhnlichen freundlichen Gesicht, das sie ihren Leuten zeigte.
Im Wagen faßte sie kräftig nach Magdas Hand.
„Haltung, mein Kind!“ sagte sie, „Haltung!“
Magda küßte ihr in heißer Dankbarkeit die Hand.
Der Wagen brauchte keine zehn Minuten, um in die Ringstraße vor René Flemmings Wohnung zu kommen. Hortense sah unterwegs einmal nach der Uhr, die sich in die Rückwand ihres Coupés eingelassen befand. Es war bald halb Zehn.
Vor Flemmings Haus stieg sie mit der größten Gemächlichkeit aus, stand noch auf dem Trottoir und sprach zu ihrem Kutscher hinauf, dem sie befahl, langsam die Ringstraße auf und ab zu fahren. Sie bemerkte drüben am Fenster Fräulein von Deggenburg im türkischen Morgenrock und grüßte verbindlich lächelnd hinauf. Dann legte sie ihren Arm in den Magdas und schritt langsam durch den kleinen Vorgarten dem Eingang zu.
Sie wußte, daß Fräulein von Deggenburg sich nun den Kopf zermartere, was sie, Frau Hortense von Eschen, schon morgens halb zehn Uhr mit einer anderen Dame – Magda hatte sich nicht umgewandt und konnte nicht erkannt sein – in jenem Haus zu thun habe. Und dieser kleine boshafte Gedanke wirkte beinahe zerstreuend. Hortense klingelte an der Thür und die öffnende Alte erstarb vor Demut und Erstaunen. Sie huschte wie eine aufgescheuchte Eule im Korridor hin und her und wußte nicht, welche Thür sie den Damen öffnen sollte.
„Ist Herr Flemming schon von der Jagd zurück?“ fragte Hortenie gleichmütig. „Nein? Gut, so warten wir ein wenig.“
„Im Salon ist noch nicht Staub gewischt,“ klagte die Alte.
„So gehen wir ins Musikzimmer.“
Die Thür ward aufgerissen und die Alte hatte noch ein Dutzend Entschuldigungen über die herrschende Unordnung, aber der Herr Hofkapellmeister erlaube eben nie, daß sie zwischen den Noten und Papieren krame.
Magda stand auf der Schwelle und traute sich nicht näher. Ihr Herz klopfte und ihre Augen strahlten. In diesen Minuten hatte sie vergessen, was sie ängstigte – sie war bei ihm, in seinem Heim – sie schien ihm näher und der ungestörte Friede, der hier herrschte, ließ es als undenkbar erscheinen, daß sich etwas Gräßliches zugetragen haben sollte.
Die Morgensonne schien in die Fenster. Auf dem Schreibtisch lag es voll von Papieren, noch stand der Stuhl davor ein wenig schräg gerückt, als sei René eben erst von ihm aufgestanden. Hinter dem Flügel erhob sich eine schöne Fächerpalme. Unter ihr stand auf einer Säule die Büste des Herzogs. An der Wand hingen Bilder von Beethoven und Wagner und einige wertvolle Radierungen. Es war so traulich, so wohnlich und es kam Magda vor, als habe sie hier selbst schon seit langem Heimatsrecht.
Hortense hatte sich auf der Ottomane niedergelassen, die zwischen Schreibtisch und Flügel mitten im Zimmer stand. Daneben befand sich ein Tischchen mit allerlei Rauchgeräten.
„Siehst Du,“ sagte sie, „hier mag er oft genug liegen, seine zahllosen Cigaretten rauchen und nachdenken.“
Magda kauerte sich neben ihr nieder. „Mir ist viel besser geworden, seit ich hier bin,“ versicherte sie. „Ich denke daran, wie er mir an unserem Verlobungstage sagte, daß er an seinen glücklichen Stern glaube. Gewiß, er kehrt lebend heim, mir ist, als sage es eine innere Stimme. Vergieb mir meine Aufregung von vorhin.“
„Kind – das Auf und Nieder ist beinahe Dein Recht! Gebe Gott, daß Du recht behältst. Aber gebe Gott auch, daß der andere gleichfalls lebend wiederkehrt.“
„Du fürchtest …?“
„Ich denke so: eine Verwundung Renés wäre noch nicht der schlimmste Ausgang.“
Magda erblaßte. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Auf einmal klang ihr Sibyllens jämmerliche Stimme in den Ohren: „er soll ihn mir nicht totschießen!“
„O,“ murmelte sie und faltete die Hände; draußen fuhr ein Wagen vor. Man sah durch die Fenster des Hochparterres das schwarzlederne Droschkendach.
Mit einem Schlag war Magdas Mut verflogen, mit einem bangen Laut versteckte sie ihr Gesicht in Hortensens Kleiderfalten. Auch diese wagte nicht, sich zu rühren.
Die Sekunden wurden zu bleiern schleichender Zeitdauer.
Draußen schrillte die Glocke.
Dann Schritte – der Ton einer Männerstimme – seiner Stimme und dann ging die Thür auf.
Magda fuhr taumelnd empor. Sie sah ihn. Da stand er, leichenblaß, hoch, und sah die Frauen mit erschreckten Augen an.
Sie flog auf ihn zu, ihre Arme umschlangen ihn. Kein Laut kam von ihren Lippen, in stummer Seligkeit umklammerte sie ihn, fest, fest.
Und er schlang seine Arme um sie und hielt ihr Haupt an seiner Brust. Seine Augen schlossen sich. So standen sie lange.
Und Magda hörte sein Herz klopfen, dumpf und schnell, und sie fühlte, daß ein Zittern durch seine Gestalt ging.
Sie drängte ihr Gesicht enger an ihn, sie wollte nicht aufsehen, nichts in seinen Augen lesen, nichts wissen, nichts fragen, nur die Wonne fühlen, daß er da sei, daß er lebe.
Er aber fühlte nur das eine: das kalte Entsetzen, das über ihn gekommen, als er den anderen fallen sah. – –
Wie ein kurzer Jubel war es durch seine Seele gezuckt, die erste, fraglose Empfindung eines Menschen, der den Tod nahe sah und sich gerettet fühlt. Dann war die warme Welle der Lebensfreudigkeit zurückgewichen und hatte dem Entsetzen Platz gemacht. –
Und wie er Magda in seinen Armen hielt, sah er das Bild vor sich: auf dem braunen Erdboden die Gestalt des Getroffenen,
[844][845] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [846] und daneben knieend die Aerzte, indes ihn selbst der Freund fortzog. Er hatte das Haupt umgewandt und im stolpernden Vorwärtsschreiten zurückgesehen auf das, was nun immer, immer vor seinen Augen stehen würde.
Ein Zucken ging durch seine Glieder. Magda fuhr zurück.
Sie sah ihn an. Ihre Blicke bohrten sich ineinander.
Und sie begriff, daß irgend etwas Furchtbares geschehen war. Ihre Arme wollten ihn wieder umfassen, aber, indem sie niedersank, glitten auch ihre Hände an seiner Gestalt herab. Sie umschlang seine Kniee.
Erschüttert und gequält beugte er sich herab und hob sie auf.
„Was ist geschehen, was ist geschehen!?“ stammelte sie.
Hortense erhob sich. Sie hatte keine von Renés Mienen verloren.
„Magda!“ sagte sie leise mahnend.
„O Gott,“ flüsterte Magda, sich an ihn drängend, „ich soll nichts fragen – ich soll thun, als wisse ich nicht – wie kann ich!“
„Liebe Magda,“ sprach René mühsam, seine Stimme klang heiser, „ich danke Dir aus tiefster Seele, daß ich Dich hier fand. Ich fühle, Du liebst mich noch. Aber nun laß mir meine Einsamkeit, deren ich so sehr bedarf.“
„Ich soll Dich verlassen?“ rief sie mit schmerzlichem Schreck. „Ich sehe, daß Du leidest, ich soll nicht bei Dir bleiben? Soll Dich nicht trösten dürfen?“
„Mich kann niemand und nichts trösten,“ sagte er fest, „ich muß mit mir allein fertig werden.“
„Du hast ihn erschossen!“ schrie sie auf und es war, als wollte sie in erwachendem Grauen vor ihm zurückweichen.
Renés fahles Gesicht verzerrte sich schmerzlich. Welche Qual! Welche Marter! Das eigene Leid verschärfte sich ihm zehnfach, weil er sah, wie Magda litt.
Er sah flehend auf Hortense.
„Liebes Kind,“ sagte Hortense sanft, „Du thust ihm weh.“
„Sage mir, was ist mit Wallwitz!“ flehte Magda, die nichts anderes denken und hören konnte.
Renés Mienen wurden fremd und verschlossen.
„Ich weiß nichts von Herrn von Wallwitz,“ sagte er kalt.
„Komm, Magda,“ bat Hortense, „wir wollen ihn lassen. Du hast ihn gesehen – das war Dein Wunsch. Du wolltest ihm zeigen, daß Du ihn liebst, Du hast es gethan. Nun komm!“
Und zu René gewandt, setzte sie hinzu:
„Ich bin eigenmächtig gewesen, lieber Freund, ich habe Magda vorhin Ihren Brief gegeben. Es muß viel Gutes und Schönes darin gestanden haben, denn ihr Gesicht strahlte. An das wird sie sich nun erinnern und vernünftig sein.“
Er nahm zärtlich Magdas Hand.
„Ich bat Dich auch, stark zu sein,“ sagte er in inniger Bitte.
„Das will ich, indem ich Dir helfe, Dein Leid zu tragen!“ rief sie. „Es ist mein Recht! Mein Platz ist bei Dir, wenn Du leidest!“ sagte sie noch einmal. Es klang beinahe wie eine Warnung oder Drohung.
„Ich muß allein sein,“ sprach er entgegen.
Sie schwieg. Aber er sah es wohl in ihrem Gesicht, daß sie tödlichen Schmerz litt.
Er umfing sie noch einmal und küßte sie. Sie ließ es geschehen.
„So komm, Hortense,“ sprach sie dann. Ihr Ton war kalt.
Ihr Gebahren zerriß ihm das Herz! Er verstand vollkommen, daß sie litt, weil er sie von sich wies, daß ihre Seele sich in Trotz und Bitterkeit aufbäumte, daß der Rückschlag für sie zu jäh war.
Nach Stunden der Todesangst sollte sie nicht den Jubel auskosten, ihn wieder zu haben!
Aber er konnte nicht anders.
„Magda, liebe Magda,“ flehte er, „vergib mir!“
„Ich soll immer nur vergeben und wieder vergeben,“ dachte sie erbittert.
Ihr schien, als ob alles, was sie gelitten hatte durch ihn, nichts sei gegen den demütigenden Schmerz, daß er sie in dieser Stunde von sich wies, wo sie es als ihr heiliges Amt betrachtete, ihn zu trösten, mit ihm zu leiden und alles mit ihm zu tragen, selbst das Bewußtsein, einen Menschen getötet zu haben. Sie war bereit gewesen, alles mit auf sich zu nehmen. Und er bedurfte ihrer gar nicht!
„Lebe wohl,“ sagte sie und vermied seinen Blick.
Hortense drückte ihm fest die Hand und sah ihm warm und tröstlich in die Augen.
Draußen im Wagen schwieg Magda mit zusammengepreßten Lippen.
„Du bist feindlich – auch gegen mich?“ fragte die mütterliche Freundin leise.
Nun brach Magda aus: „Wenn so seine Liebe ist, was ist sie mir dann? Wenn er mich wirklich liebte, hätte er mich nicht von sich gelassen! Und nicht einmal Vertrauen will er mir geben.“
„Wie kann er Dir Vertrauen geben in einer Angelegenheit, über die er wahrscheinlich sein Ehrenwort gab, zu schweigen? Nur ein Zugeständnis heißt schon, es brechen.“
„Auch ohne Aussprache, in schweigendem Verstehen, hätte meine Liebe ihm Wohlthat sein müssen,“ entgegnete Magda trotzig.
„Er ist eben ein Mann, der keine Wohlthaten erträgt. Er ist einer von denen, die aus eigener Kraft alles erreichen müssen, auch die Ueberwindung einer großen Erschütterung.“
„Dann braucht er auch keine Gefährtin für sein Leben,“ rief sie aus.
Ihre Wunden brannten zu schmerzhaft, als daß sie sich nicht hätte aufbäumen sollen. Hortense sah wohl, daß heute keine Einsicht, keine Gerechtigkeit mehr bei Magda zu finden sei.
„Da ist mein Haus. Laß mich aussteigen. Ich danke Dir, Hortense. Sei mir auch nicht böse.“
Magda stieß das alles kurz heraus und selbst die Schlußbitte klang unfreundlich. Sie sah in diesem Augenblick in Hortense nur Renés Verteidigerin und das beleidigte sie, die sich in ihren edelsten, selbstlosesten Empfindungen, in ihrer aufopfernden Liebe verletzt sah.
Hortense verabredete kein Wiedersehen für diesen Tag. Sie hoffte, daß Magda in der ungestörten Einsamkeit am ehesten ihr Gleichgewicht wiederfinden würde und daß dies nur in dem wiedergewonnenen Vertrauen und der Liebe zu René wurzeln könne.
Aber Magda dachte nicht daran, sich in thatenloser Stille zu verhalten. Das Schicksal des jungen Wallwitz ließ ihr keine Ruhe. Sie mußte wissen, was mit ihm war, ob er lebe oder tot sei. Sie mußte erfahren, ob ein Gerücht über das Duell umlief, ob demnach für René noch die Gefahr einer späteren Festungsstrafe zu fürchten war.
Indem sie sich mit verbitterten und trotzigen Gedanken einredete, sie wolle sich ganz und für immer von René loslösen, bebte sie doch davor, daß ihn zu all den Seelenqualen, die er duldete, noch die äußeren, peinlichen Folgen treffen könnten. Eine lange Festungsstrafe mußte ihn so störend aus seinem Beruf reißen, daß sie auf seine ganze Laufbahn, wenigstens als Dirigent, hindernd wirken konnte. Und hier in Leopoldsburg war seines Bleibens keine Stunde mehr, wenn der Herzog davon erfuhr. Mochte der Herzog innerlich dem von ihm so geschätzten Mann hundert Milderungsgründe zugestehen, vor der Welt durfte er keine andere, als eine unerbittliche Haltung einnehmen.
Sie besorgte alle ihre häuslichen Geschäfte mit einer gewissen abweisenden Hast, als wollte sie mit jeder Bewegung den Dingen zeigen, daß sie ihr Störung und Last seien. Und es gab heute so unendlich viel zu thun. Der gestrige Tag hatte sie ja schon von allen Pflichten fern gehalten.
Es wurde Nachmittag, ehe sie zu Sibylle gehen konnte. Sie lief fast, und die Bekannten, die ihr begegneten, dachten: „wie sieht denn Magda Ruhland aus!“
In Sibyllens Wohnung fragte Magda nach der kleinen Freundin und Schülerin.
Das Dienstmädchen, welches Magda hier oft ein- und ausgehen gesehen, meldete ihr mit einem vertraulichen und geheimnisvollen Ton, daß Fräulein Sibylle nicht daheim sei.
„Melden Sie mich bei der gnädigen Frau,“ bat Magda, die in diesem Augenblicke sich gar nicht mehr der feindlichen Stimmung der Frau von Lenzow gegen sie erinnerte.
„Ich darf heute niemand melden,“ sagte das Mädchen. Ihre Miene war wieder so herausfordernd bedeutungsvoll, daß Magda sah, sie wolle gefragt sein. Und da in Magda die verzehrendste Ungeduld brannte, fragte sie denn auch:
„Es ist doch nichts vorgefallen?“
„Ach, ich glaube doch, gnädiges Fräulein! Ich bin schon fünf Jahr im Haus. Da kennt man seine Herrschaft, nicht? Zu andern würd’ ich nichts sagen, aber da unser Fräulein Sibylle so sehr viel von Ihnen hält … ich glaube, unser Fräulein sollte sich verloben, den Namen will ich lieber nicht sagen. Aber er kam diese letzten Tage so viel her, da merkt man ’was. Na und nun ist ’was mit ihm passiert – ich glaube, ’was Schlimmes. Sonntag wollten wir großes Dinner haben und ich hab’ alles abbestellen müssen.“
Magda stand stumm.
[847] „Ich bitte Sie,“ fuhr das geschwätzige Mädchen fort, „ich will nichts gesagt haben. Aber man hat doch seine Augen und Ohren. Und ich hörte unsere Gnädige zum Herrn sagen: „beim Reinigen der Pistole, die er ungeladen glaubte, durch die Lunge …“ und der Herr seufzte und sagte „unser armes Kind“.
„Grüßen Sie Fräulein Sibylle, wenn sie heimkommt,“ brachte Magda hervor.
Sie stand dann lange noch allein auf dem Flur. Durch das offene Hausthor wehte die herbe Winterluft herein. Draußen ging der Verkehr der Straße vorüber. Magda sah Wagen und Menschen im Rahmen der Thürpfosten an sich vorbeiziehen. Es fehlte ihr an Mut, hinauszutreten, und doch dachte sie immer: „ich kann hier nicht stehen bleiben!“
Ihr war es, als wisse sie nicht wohin, als habe sie kein Heim. Sie müßte bei René sein – sie durfte nicht; sie müßte mit Sibylle an Wallwitz’ Lager wachen – sie konnte nicht!
Ueberall sonst in der Welt war ihr Sein zwecklos, ihre Umgebung eine Qual für sie!
Da erschien eine Frauengestalt im Hausthor, die das Gesicht tief geneigt und gegen einen vorgehaltenen Muff gepreßt hatte.
„Sibylle!“ rief Magda.
Sie fielen sich um den Hals.
Sibylle sah bleich und verweint aus.
„Ich war bei Dir.“
„Weißt Du …?“
„Dein Mädchen erzählte allerlei –“
„Er ist tödlich verwundet!“
„Wissen Deine Eltern …?“
„Nicht einmal die – niemand. Es heißt, er habe sich beim Reinigen einer Pistole verwundet,“ flüsterte Sibylle. „Es ist keine Hoffnung, glaube ich. Verlaß mich nicht, komm mit mir!“
Magda stieg hinter ihr drein wieder die Treppe hinauf.
Oben ging Sibylle ihr voran in das Wohnzimmer. Etwas befremdet erhob sich Frau von Lenzow, als sie Magda in ihrer Tochter Gesellschaft sah. Die Dame war eine noch jugendliche und schöne Frau, zierlich und dunkel wie die Tochter und von einer heiteren Liebenswürdigkeit, die aber jetzt hinter Verlegenheit und Unbehagen zurücktrat.
„Magda weiß alles,“ erklärte Sibylle. „Sie darf bei mir bleiben, nicht wahr, Mama? Sie thut mir so gut.“
Dabei erfaßte sie Magdas Hand.
Frau von Lenzow sagte hastig:
„Aber gewiß – wenn Fräulein Ruhland Dir ein Stündchen opfern will – wie geht es Wallwitz?“
„Ich habe ihn gesehen. Er lag mit geschlossenen Augen, aber nicht bewußtlos. Großmama war bei ihm. Sie sagen, er sei jung und kräftig und werde es überstehen. Das sagen sie aus Mitleid mit mir! Großmama hat mich geküßt und gesagt, ich solle vor der Nacht noch wiederkommen, so oft ich wolle.“
Frau von Lenzow umarmte ihre Tochter. „Wir wollen hoffen!“ sprach sie innig.
Die beiden Mädchen gingen in Sibyllens Stube. Es war ein bescheidener Raum, mit billigen Sächelchen zierlich herausgeputzt, so daß man kaum bemerkte, wie alt und hinfällig die Möbel waren. Sibylle hatte sie sich vom Boden geholt und so lange gebettelt, bis die Mama sie etwas herrichten ließ. Ihr eigenes kleines Reich zu haben, war schon lange ihr Wunsch gewesen. (Fortsetzung folgt.)
Lorenzo Magnifico.
Tausende von Pilgern besuchen jährlich die berühmte Grablege der Mediceer in der Kirche San Lorenzo zu Florenz, wo alle Glieder dieser an Ruhm und Größe einzigen Familie ihre letzte Ruhestatt gefunden haben. Man staunt Michelangelos unsterbliche Marmorgruppen in der „Neuen Sakristei“ („Sagrestia nuova“) an, die zwei wenig bedeutenden Epigonen des großen Geschlechtes gewidmet sind, man durchwandert nebenan die Fürstengruft mit ihrem höfisch leeren Prunk, wo die Großherzöge aus dem Hause Medici unter Porphyr und Lapis Lazuli den Schlaf der Vergessenheit schlafen, aber auf die Frage: Wo liegt der Mann, der seinem Zeitalter den Namen gab, wo ist Lorenzo Magnifico begraben? – auf diese Frage gab es bis vor wenig Wochen keine Antwort. Aus den Geschichtskunden des 15. und 16. Jahrhunderts wußte man nur, daß der Größte der Familie Medici wie alle seine Vorfahren in der Basilika von San Lorenzo bestattet worden sei, aber kein Mal, keine Inschrift bezeichnete die Stelle.
Zwar nahm man gemeinhin an, daß der porphyrne Sarkophag des alten Cosimo, des „Pater patriae“, in der „Alten Sakristei“ unter dem Boden der Kirche auch die Gebeine seiner beiden Enkel, des großen Lorenzo und des ritterlichen, bei der Verschwörung der Pazzi ermordeten Giuliano, umschließe, und noch Lorenzos jüngster Biograph, der hochverdiente A. von Reumont, trat dieser Annahme unbedenklich bei. Neuere Forscher dagegen wollten aus aufgefundenen Briefstellen auf eine andere Oertlichkeit schließen.
In der „Neuen Sakristei“ nämlich, gegenüber dem Altar, befindet sich eine langgestreckte Nische, die durch drei sitzende Marmorfiguren ausgefüllt ist: rechts und links die Heiligen Cosmus und Damianus, die Schutzpatrone des Hauses Medici, von den Bildhauern Montorsoli und Rafaello da Montelupo, und in der Mitte Michelangelos herrliche Madonna mit dem Kinde. Wie sie dastehen, auf einem langen formlosen Unterbau eine neben die andere geschoben, hat ihre Aufstellung etwas Gleichgültiges oder Provisorisches, das zu der wohldurchdachten Anordnung der Kapelle nicht passen will. Doch war gewiß noch keinem der Besucher eingefallen, hinter dem Postament, das nach dem Innern der Kapelle zu mit einer platten Marmortafel abgeschlossen ist, etwas Besonderes zu suchen. Dieser schmucklose Aufbau, hieß es nun mit einmal, umschließe die sterblichen Reste Giulianos und des großen Lorenzo, den die Geschichte den Prächtigen nennt.
Um dem Zweifel ein Ende zu machen, erteilte das Ministerium kürzlich den Befehl, an dieser Stelle nach den Gebeinen der Brüder Medici zu forschen.
Zu diesem Zwecke begab sich eine Kommission von Archäologen und Magistratspersonen am Morgen des 3. Oktober in die Gruftkapelle. Nachdem die drei Statuen entfernt waren und die deckende Steinplatte abgehoben, wurden in der ausgemauerten Höhlung zwei übereinanderstehende Särge oder, besser gesagt, zwei einfache hölzerne Laden von ungleicher Größe sichtbar. Die obere, nicht über einen Meter lange war noch in sehr gutem Zustand und trug mit Tinte geschrieben die Aufschrift: Giuliano di Piero di Cosimo dei Medici. Die untere längere war zermorscht und zerfallen, besonders der Deckel, auf dem Giulianos Sarg gestanden hatte, so daß eine Inschrift nicht mehr nachzuweisen war. Die Gebeine, die dieser Sarg enthielt, waren vermodert, aber der wohlerhaltene Schädel konnte nach den vorhandenen Bildnissen des Magnifico identifiziert werden, da die Linien völlig übereinstimmten; auch soll ein Knochenvorsprung unter der Nase, der für Lorenzos Physiognomie charakteristisch gewesen, an dem Schädel wahrgenommen worden sein.
Ueber die Gebeine Giulianos konnte kein Zweifel herrschen. Sie lagen, die Schenkelknochen über dem Brustkorb gekreuzt, in dem kleinen Behälter, in den sie offenbar bei Lorenzos Begräbnis gesammelt wurden, nachdem sie schon vierzehn Jahre im Grabe geruht hatten. Ihr Anblick mag auch damals dem Beschauer ein mitleidiges Entsetzen eingeflößt haben: bis heute zeigen sie deutlich die Spuren der Dolchstöße, unter denen der unglückliche Jüngling [848] am 26. April des Jahres 1478 in der Domkirche zu Florenz sein Leben verhauchte. Zwei breite und tiefe Einschnitte im Schädeldach, der eine seitlich, der andere über der Stirn, scharf abgegrenzt wie von der Schneide eines Rasiermessers, ein eben solches Loch in einem Schienbein lassen noch die Form der Mordwaffe erkennen und geben Zeugnis von der Gewalt, womit sie geführt wurde. Man weiß, mit welch rasender Wut die Verschworenen ihr Opfer anfielen: nachdem Bernardo Bandini ihm mit einem kurzen Schwert die Brust durchrannt hatte, warf sich Francesco de’ Pazzi, sein Anverwandter, über den Gestürzten und besäte den schon entseelten Leib solange mit Wunden, bis er sich selbft einen tiefen Stich in den Schenkel beibrachte.
Auch Giulianos Schädel war im übrigen trefflich erhalten und hatte bei der Ausgrabung noch alle Zähne. Doch war ein Gipsguß bei beiden nicht mehr ausführbar, man mußte sich beguügen, mehrere genaue photogrmphische Aufnahmen der einzelnen Schädel und der gesammelten Knochen zu machen, bevor man die edlen Reste in neue Holzsärge verschloß und sie der Gruft zurückgab, die sie namenlos durch vier Jahrhunderte geborgen hatte. In einem Glasbehälter wurde das Protokoll über die Gruftöffnung mit Namensunterschrift aller Anwesenden in Lorenzos Sarg gelegt und die Gruft wieder zugemauert. Die leeren Särge sind vorerst in einem Seitengelaß der Kapelle stehen geblieben, Giulianos Sargdeckel mit der Inschrift soll dem Museum von San Marco einverleibt werden.
Wie es geschehen konnte, daß der Schleier der Vergessenheit sich so dicht über das Grab eines Herrschers spann, dessen Ruhm in vier Jahrhunderten nichts von seinem blendenden Glanze verloren hat, ist ein schwer zu lösendes Rätsel. Man wird annehmen dürfen, daß die Leiche Lorenzos nur provisorisch beigesetzt und die Ausführung eines Grabmals auf ruhigere Zeiten verschoben war. In dem Ungewitter, das gleich nach Lorenzos Tode die Familie Mediei in alle Winde zerstreute, hielten wohl die Ueberlebenden diese teuren Reste durch das Geheimnis am sichersten vor der Zerstörungswut der „Piagnonen“[1] geborgen, und die Gleichgültigkeit nachwachsender Geschlechter mag bald nicht mehr nach den Denkmalen einer schon sagenhaft werdenden Vergangenheit gefragt haben. Unerklärlich aber bleibt es, daß auch von Papst Leo X., dem Sohne Lorenzos, und später von Clemens VII., Giulianos illegitimem Sprößling, die den Bau der Gruftkapelle durch Michelangelo mit so großem Feuer betrieben, nicht vor allem die Gräber ihrer Väter der Verschollenheit entrissen worden sind.
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Bisweilen gefällt es der Natur, ihre eigenen Grenzen zu erweitern und eine einzelne Persönlichkeit mit so überschwenglichen Gaben auszustatten, daß alle Kräfte ihres Zeitalters in ihr versammelt erscheinen. Einer dieser Hochbegünstigten war Lorenzo Magnifico. Beiläufig sei hier bemerkt, daß dieser Zuname erst von der Nachwelt auf Lorenzos Hochsinn, Prachtliebe und königliche Freigebigkeit bezogen wurde, ursprünglich war Magnificenz die Anrede an das nicht gefürstete Staatsoberhaupt, die schon den Vorgängern Lorenzos zukam.
Es ist bekannt, aus welch bescheidenen Anfängen die Familie Medici zu ihrer beispiellosen Größe emporgestiegen ist. Sie waren bürgerlicher Abstammung, ursprünglich Aerzte und Apotheker, wie der Name besagt, die goldenen Kugeln (Palle) ihres Wappens werden als Arzneipillen gedeutet. Im Handel reich geworden, traten sie bei dem Emporkommen der unteren Klassen mit wachsendem Ansehen und mit immer bedeutenderen persönlichen Zügen in den Vordergrund.
Goethes tiefer Ausspruch, daß eine Familie nicht gleich das Vollkommene im Guten oder Bösen hervorbringt, sondern erst durch eine Reihe gesteigerter Persönlichkeiten hindurchgehen muß, um endlich die „Wonne“ oder „das Entsetzen der Welt“ zu erzeugen, bewährt sich nirgends so augenfällig wie an dem Geschlechte der Medici.
Der Stammvater des Hauses, Giovanni di Averardo dei Medici, gemeinhin Giovanni di Bicci genannt, war noch völlig Privatmann, ein reicher Großhändler und Bankier, durch dessen Hände alle Geldgeschäfte Italiens gingen, vom größten Einfluß im Staate, ohne sich vorzudrängen, ein Freund des Volks, ein Vermittler und Wohlthäter. Im großen Gang der Uffizien zu Florenz ist sein Bildnis aufgehängt: ein ernstes eckiges Bauerngesicht mit dem Ausdruck von Klugheit uud zugleich von Redlichkeit. Hätte er in Bankos Zauberspiegel die Reihe seiner glorreichen Nachkommen vorüberziehen sehen, er würde die Fundamente, auf denen die künftige Größe des Hauses sich erheben sollte, nicht umsichtiger haben ausmauern können. So sammelt die Arbeitsbiene aus Naturtrieb das Wachs und baut die Zelle für die königliche Puppe, deren Ausschlüpfen sie selbst nicht mehr erleben wird. In dem warmen Interesse für die Fortschritte der Kunst, die er durch seine reichen Mittel unterstützte, tritt schon der Familienzug hervor, der den unsterblichen Ruhm der Mediceer begründet hat.
In seinem Sohne Cosimo wiederholen sich die Eigenschaften des Vaters, aber ins Großartige gesteigert und schon von dem bürgerlichen Hintergrunde abgelöst. Er spann ein Netz von Banken über die ganze abendländische Welt, die er von Florenz aus mit der Sicherheit eines heutigen Börsenkönigs, dem der elektrische Funke dienstbar ist, leitete. Durch Vorschüsse, die er nie zurückverlangte, machte er einen großen Teil seiner Mitbürger zu heimlichen Klienten der Medici. Die florentinischen Zustände waren derart, daß ein Mann von Cosimos Bedeutung seiner Existenz nicht sicher war, wenn er nicht die Hand am Steuer hatt. Cosimo brachte seine Anhänger in den Regierungspalast und ließ durch sie Gesetze geben. Nach Sturz und Verbannung kehrte er noch mächtiger zurück, denn Florenz hatte eingesehen, daß es seiner nicht mehr entraten konnte. Er wurde öffentlich mit dem Ehrentitel eines Pater patriae begrüßt und übte bis zu seinem Tod eine fast unumschränkte Gewalt.
Doch wahrte er sein Leben lang ängstlich den Schein des Privatmannes und vermied in seinem Auftreten alles, was das
[849][850] Gleichheitsgefühl seiner Mitbürger verletzen konnte. Von seinem ungeheuern Vermögen macht man sich einen Begriff, wenn man hört, daß Cosimo, als Venedig und Neapel gegen Florenz rüsteten, die feindlichen Staaten lahmlegte, indem er seine dort umlaufenden Gelder zurückzog und so durch eine einfache merkantilische Maßregel den Frieden erzwang.
Obgleich durch und durch Kaufmann und ganz in weitblickenden Unternehmungen lebend, hatte er doch die geistigen Güter als die höchsten erkannt und legte den Grund zu der berühmten mediceischen Kunst- und Büchersammlung. Selber ungelehrt, fand er im Umgang mit Gelehrten und Künstlern seine glücklichsten Stunden. Durch Gründung der Platonischen Akademie gab er kräftigen Anstoß zur Belebung der klassischen Studien, die, Hand in Hand mit den Künsten gehend, dem ganzen Jahrhundert seine wundersame Doppelphysiognomie von Gelehrtentum und jugendfrischer Schöpferkraft aufgeprägt haben.
Cosimo stärkte jedes Talent und förderte jede Kunst, doch entsprach seiner gebietenden Persönlichkeit am meisten die Architektur, die Lieblingskunst der Herrscher, die sich vor allen andern im Raume behauptet und den Triumph des Willens und Geistes über die Masse darstellt. Mit Brunellesco und Michelozzo, den beiden großen Baumeistern seiner Tage, lebte er in naher persönlicher Freundschaft und ein großer Teil der herrlichsten Bauten in und außerhalb Florenz ist eine Schöpfung Cosimos; auch ins Ausland, bis Paris, ja bis Jerusalem erstreckte sich seine Baulust. Der kolossale Aufwand, den er dafür machte, erregte seines noch großartigeren Enkels Lorenzo staunende Billigung.
Aber erst in Lorenzo erscheint die Absicht der Natur erreicht und die Höhe erklommen.
Haben seine Vorgänger sich mit zähen Wurzeln in dem heimischen Boden festgeklammert, so breitet Lorenzo tausend Aeste aus, auf denen die ganze Frühlingspracht der Renaissance mit ihrem berauschendsten Blütenduft und Vogelgeschmetter aufgeht. Unter ihm entfaltet sich ein Leben, das nur an der Blütezeit von Athen seinesgleichen hat.
Er wurde am 1. Januar 1449 als Sohn des tüchtigen, aber durch körperliche Gebrechen hintangehaltenen Piero de’ Medici und der geistvollen Lucrezia aus dem Hause Tornabuoni geboren. Er erhielt eine gelehrte Erziehung, die ihn zum gebildetsten unter den damals hochgebildeten Fürsten Italiens machte. Zugleich wurde er früh auf die Regentenlaufbahn vorbereitet und erwarb sich in den Geschäften des Hauses und des Staates den sichern Weltblick und die praktische Erfahrung. Die Gefährlichkeit des Lebens und die hohe Verantwortung, zu der jene außerordentlichen Menschen erzogen wurden, kürzten die Kindheit ab, und so ist es nicht auffallend, daß Lorenzo schon mit siebzehn Jahren als Abgesandter seines Vaters beim Papste und andern Souveränen die Interessen der Republik vertrat.
Zu den geistigen Vorzügen gesellten sich körperliche; er war über Mittelgröße, geschmeidig und kräftig, geübt in den Waffen, ein ausgezeichneter Reiter, auch Rossekenner und Jäger. Was ihm fehlte, war Regelmäßigkeit und Anmut der Gesichtsbildung, aber das geistige Leben seiner Züge machte alles gut: der rasche Witz, das tiefe Denken, der scharfe Blick über Menschen und Dinge hin. Durch die damalige Erziehung, die der äußeren Erscheinung so vorteilhaft war, wurde jeder Vorzug gehoben, jeder Mangel ausgeglichen. Von den Malern scheint keiner ihm völlig gerecht geworden zu sein, nur eine Maske in Marmor, von unbekannter Herkunft, die sich aber durch Einfachheit und Großheit als von Michelangelo stammend ausweist, giebt den ganzen Zauber wieder, den die unmittelbare Gegenwart ausgeströmt haben muß.
Nach denn Tode Pieros trat er als Einundzwanzigjähriger die Regierung an, ohne fürstliche Auszeichnung, doch als geborener Fürst und Herrscher. Wer auf seine Jugend gerechnet hatte, um durch ihn zu regieren, sah sich in der Erwartung getäuscht, denn Lorenzo nahm die Zügel fest in eigene Hände. Schon bei Pieros Lebzeiten hatte er Proben seiner Entschlossenheit gegeben, als er einen Handstreich der Gegenpartei, der auf den Untergang seiner Familie abzielte, durch rasches Eingreifen vereitelte. Unähnlich seinem Vater und Großvater, die sich vor allem bestrebt hatten, den Neid zu entwaffnen, entfaltete er die Pracht einer fürstlichen Haushaltung, und während er dem Namen nach nur der erste Bürger von Florenz war, verkehrte er auf gleichem Fuße mit den Potentaten Europas. Die fremden Fürstlichkeiten, die er als seine Gäste empfing, staunten über den Luxus edelster Art, über die unermeßlichen Schätze an Statuen, Gemälden, Vasen, Gemmen, Mosaiken, Miniaturen, Manuskripten, den Resten antiker Kunst, durch viele Jahre mit ungeheueren Kosten gesammelt, und den Werken der großen zeitgenössischen Meister, mit denen der Mediceische Palast in der Via Larga (heutigen Via Cavour) angefüllt war. Daneben schmeichelte er dem Schönheits- und Prachtsinn seiner Mitbürger durch Feste, Turniere und öffentliche Schaustellungen, deren Schilderungen jetzt wie die Märchen aus Tausend und einer Nacht anmuten.
Neben ihm stand Giuliano, sein um fünf Jahre jüngerer Bruder, mit dem ihn eine herzliche Neigung verband und der, wenn er sich an Vielseitigkeit der Begabung nicht mit Lorenzo messen konnte, ihn dagegen an Glanz der Erscheinung und an körperlichen Fertigkeiten weit übertraf. Was in Florenz durch Bildung und Geist, was durch Rang und Reichtum hervorragte, das sammelte sich um das mediceische Brüderpaar als den natürlichen Mittelpunkt. Ohne die republikanischen Formen zu verletzen, machte Lorenzo das ganze Staatsleben von seiner Person abhängig, so daß ihm zum Herrscher nichts fehlte als der Titel, nach welchem er niemals Verlangen trug.
Solche Machtstellung, wie sie nie ein florentinischer Bürger besessen hatte, erregte Verdruß und Neid. Man beschuldigte ihn, daß er der Tyrannis zustrebe; schon seine Heirat mit der Römerin Clarice Orsini aus dem mächtigen Baronengeschlecht hatte Anstoß erregt. Lorenzo mußte sich vorsehen, und indem er sich auf die niederen Klassen stützte, drückte er die großen Geschlechter, von denen ihm Gefahr drohte, zur völligen Einflußlosigkeit herab. Denn Ehrgeiz demütigte er durch geflissentliche Zurücksetzung und steigerte so die Unzufriedenheit, die in ihrem Schoß eine furchtbare Katastrophe zeitigte.
Unter den reichen Familien, die von alters her mit den Medici an Macht und Ansehen rivalisierten, war die der Pazzi eine der hervorragendsten. Der alte Menschenkenner Cosimo hatte den drohenden Konflikt vorausgesehen und ihn zu verhüten gesucht, indem er seine Enkelin Bianca, Lorenzos Schwester, mit Guglielmo de’ Pazzi vermählte; aber dieses Band war nicht stark genug, die Interessen der beiden Familien fest zu verknüpfen. Lorenzo verkehrte zwar auf dem Fuße verwandtschaftlicher Zuneigung mit Guglielmo und dessen Brüdern, aber er gönnte ihnen keinen Anteil an den Staatsgeschäften, zu denen sich jeder vornehme Florentiner durch die Geburt berechtigt glaubte. Die Pazzi zahlten ihm mit gleicher Münze zurück uud durchkreuzten, wo sie konnten, seine politischen Pläne. Vergebens suchte Giuliano, der die mildere Gemütsart des Vaters geerbt hatte, versöhnlich zu wirken, die Gegensätze spitzten sich immer schärfer zu. Ein ungerechtes Gesetz, durch welches die Pazzi einer ungeheuren ihnen zukommenden Erbschaft verlustig gingen, soll den heimlich wühlenden Haß vor allem genährt haben.
Guglielmos Bruder, der ehrgeizige und heißblütige Francesco de’ Pazzi, hielt sich infolge dieser ihm unleidlichen Verhältnisse von der Vaterstadt fern und trat in Rom, wo er einem großen Bankhaus vorstand, in nahe Beziehungen zu dem Grafen Riario, einem Neffen des Papstes. Dieser, durch den Papst mit den Herrschaften von Imola und Forli beschenkt, hegte seit lange Grenzerweiterungsgelüste, sah sich aber durch Lorenzos politisches Gleichgewichtssystem auf allen Seiten im Schach gehalten. Deshalb sann er darauf, die Herrschaft der Medici in Florenz zu stürzen, und fand an Francesco de’ Pazzi einen willigen Helfer. Ihnen schloß sich ein anderer erbitterter Gegner Lorenzos an, Francesco Salviati, der vom Papste gegen den Willen der Florentiner zum Erzbischof von Pisa ernannt, aber von diesen drei Jahre lang an der Ausübung seines Amtes verhindert worden war. Auch er saß grollend in Rom und wartete nur auf eine Gelegenheit, um sich an Lorenzo, in dem er die Verkörperung der florentinischen Politik erblickte, zu rächen.
Zunächst galt es, sich der Zustimmung des Papstes zu dem Attentat zu versichern. Dem turbulenten Sixtus IV., der immer bemüht war, aus den kleinen schutzlosen Staaten der Romagna unabhängige Fürstentümer für seine Verwandten zurecht zu schneiden, konnte ein Nachbar wie Lorenzo nicht behagen, dessen Vorsicht ihm allenthalben Riegel vorschob. Persönliche Zerwürfnisse waren noch in den letzten Jahren hinzugetreten uud hatten den Papst, der anfangs ein Gönner der Medici gewesen, so gegen Lorenzo in Harnisch gebracht, daß Graf Riario leichtes Spiel mit ihm hatte. Augenscheinlich hoffte man vermittelst der Pazzi sich der [851] florentinischen Republik zu bemächtigen und von da aus halb Italien zu unterwerfen. König Ferrante von Neapel scheint gleichfalls um den Plan gewußt zu haben und hätte vermutlich, falls er gelang, die andere Hälfte Italiens an sich gerissen.
Der Hauptmann Giovan Battista da Montesecco, päpstlicher Condottiere[2] und dem Grafen völlig ergeben, wurde ins Vertrauen gezogen und ihm die Ausführung des Handstreichs übertragen. Dieser, ein ruhiger und anständiger Mann, erhob Bedenken, aber Graf Riario wußte ihm Lorenzo als einen gefährlichen Feind des Papsttums hinzustellen, durch dessen Ränke er selbst an Besitz und Leben bedroht sei. Francesco de’ Pazzi und der Erzbischof versicherten ihm überdies, das Regiment der Medici sei in Florenz verhaßt und ihr eigener Anhang dort so mächtig, daß die ganze Stadt mit Jubel beistimmen werde, wenn der Streich gefallen sei. Eine Audienz beim Papste, wo er dessen persönlichen Befehl empfing, mußte das Gewissen des Bedenklichen vollends beschwichtigen.
Daß Lorenzo nicht der Mann war, sich lebend das Steuer entreißen zu lassen, begriff ein jeder, und sein Tod war von Anfang an eine beschlossene Sache. Aber auch in dem jüngeren Bruder, so sehr er freiwillig hinter Lorenzo zurücktrat, lebte der starke Geist seines Hauses, außerdem war er besonders beliebt und es lag auf der Hand, daß bei Lorenzos Tode das Volk sich alsbald um Giuliano als seinen Erben und Nachfolger scharen würde. Also kamen die Verschwvrenen beim Fortgang ihrer Beratungen zu dem Schluß, daß auch Giuliano fallen müßte.
Die Brüder zu treffen, schien ihnen nicht schwer, da beide gewohnt waren, unbegleitet und arglos unter ihren Mitbürgern umher zu gehen. Aber der zu erwartende Aufruhr im Volke machte militärische Unterstützung nötig, deshalb sollte Montesecco mit zwei anderen päpstlichen Condottieren eine ansehnliche Truppenmacht an den Grenzen der Romagna zusammenziehen, um auf den ersten Wink Florenz von drei Seiten überfallen zu können.
Diese Bewegungen zu maskieren und die militärischen Dispositionen in der Stadt vorzubereiten, begab sich Montesecco im April des Jahres 1478 nach Florenz. Ein Auftrag des Grafen führte ihn in die persönliche Gegenwart Lorenzos, mit dem er über einen vorgeschützten Kriegszug in der Romagna unterhandeln sollte. Der wahre Zweck war, Ort und Persönlichkeiten in Augenschein zu nehmen. Lorenzo, der sonst so Scharfblickende, ließ sich völlig täuschen und mit einer Courtoisie, die den Abgesandten überraschte, stellte er aufs entgegenkommendste dem Grafen Riario seine Dienste zur Verfügung. Montesecco konnte in dem Manne, der ihn so wohlwollend empfing, den feindseligen Ränkeschmied, der ihm geschildert worden war, nicht erkennen und Lorenzos leutselige Umgangsformen, sein persönlicher Zauber, dem sich selten jemand entzog, machten einen so tiefen Eindruck auf den ehrlichen Kriegsmann, daß er fortan, wie es scheint, nur noch mit halbem Herzen bei der Sache war und ungern die weitere Verständigung unter den Verschworenen vermittelte.
Gleichzeitig war Francesco de’ Pazzi nach Florenz gereist, um seinen Oheim Messer Jacopo, das Haupt der Familie, für den Plan zu gewinnen. Der alte Herr hatte sich anfangs entschieden ablehnend verhalten und sträubte sich auch jetzt noch lange; erst als ihm durch Montesecco bestätigt wurde, daß der Papst selber hinter der Verschwörung stand, stieg auch ihm der Taumel zu Kopfe und er ließ sich in einen Anschlag verstricken, in dem für seine grauen Haare wenig Ehre zu holen war. Sein Beitritt zog den Rest der Familie Pazzi mit dem ganzen Anhang nach, ausgenommen Renato dei Pazzi, einen stillen Gelehrten, der das Attentat mißbilligte, und Guglielmo, Lorenzos Schwager, welcher gar nicht eingeweiht wurde.
Mittlerweile tauschte Graf Riario mit Lorenzo freundschaftliche Briefe und suchte ihn durch die Aussicht auf eine Versöhnung mit dem Papste nach Rom zu locken. Dort hätte er leichter mit ihm aufgeräumt und die Mitverschworenen hätten freie Hand bekommen, sich in Florenz Giulianos zu entledigen. Aber Lorenzo zögerte, zu kommen, und in nutzlosem Warten verstrich die Zeit. Schon wurde der Papst ungeduldig und klagte, sich mit eiteln Schwätzern eingelassen zu haben. Lange durfte nicht mehr zugesehen werden, denn die Verschwörung hatte unterdessen eine so große Ausdehnung angenommen, daß das Geheimnis nicht mehr sicher war, und ebensowenig konnte man erwarten, daß sich Lorenzo auf die Länge über die Rüstungen an der Grenze werde Sand in die Augen streuen lassen.
Endlich schien die Gelegenheit günstig. Der Papst hatte einem sechzehnjährigen Neffen des Grafen Riario, der in Pisa studierte, den Purpur verliehen. Diesen, der den Befehl hatte, sich ganz von dem Erzbischof leiten zulassen, holten die Verschworenen pomphaft nach Florenz und quartierten ihn in Messer Jacopos Landsitz auf Montughi, einem vor der Stadt gelegenen Hügel, ein. In seinem glänzenden Gefolge konnten sie ihre Leute und ihre Anstalten bergen; außerdem mußte der Gast, der als Kardinal und als Anverwandter des Papstes Anspruch auf Beachtung hatte, den Verkehr mit dem Hause Medici vermitteln.
Die Brüder luden ihn gleich zu einem festlichen Empfang auf ihre Villa bei Fiesole und dort sollte der Verabredung gemäß der Streich fallen, aber Giuliano, durch Unwohlsein verhindert, hielt sich ferne. So fiel der Anschlag ins Wasser, denn die Verschworenen wagten nicht, die Brüder gesondert anzugreifen, sie glaubten nur sicher zu gehen, wenn sie beide an einem Ort und in einer Stunde fassen konnten.
Nun wurde der 26. April als der Sonntag vor dem Himmelfahrtsfeste zur Ausführung anberaumt. Der Kardinal, ein willenloses Werkzeug, mußte den Brüdern ankündigen, daß er sie an diesem Tage in der Stadt besuchen und im Dom die Messe hören werde.
Im Palaste Medici wurde zu einem großen Festmahl gerüstet, das die glänzendste Gesellschaft von Florenz vereinigen sollte. Diesmal hofften die Verschwörer bestimmt, sich beider Brüder auf einmal zu versichern, und demgemäß wurden die Rollen ausgeteilt: Montesecco sollte den Streich gegen Lorenzo führen, der kräftigere Giuliano wurde Francesco de’ Pazzi und Bernardo Bandini, einem ruinierten Lebemann, der sich mit Leib und Seele den Pazzi verschworen hatte, zugeteilt, während der Erzbischof den Regierungspalast mit Bewaffneten überfallen und Jacopo de’ Pazzi mit den Seinigen durch die Straßen sprengen sollte, um das Volk zur Freiheit aufzurufen.
Aber es war, als ob ein Vorgefühl den arglosen Giuliano in diesen Tagen begleite. Als alles zum Schlage bereit war, ließ er sein Erscheinen bei Tafel absagen mit der Entschuldigung, daß er unpäßlich sei; in der Kirche jedoch, beim Hochamt, hoffe er nicht zu fehlen.
Die Nachricht, die Francesco am Vorabend den Verschworenen überbrachte, änderte abermals den ganzen Plan. Man saß noch tief in der Nacht beisammen und ratschlagte. Statt beim Gastmahl sollten die Brüder nun in der Kirche fallen, und der feierliche Augenblick der Wandlung wurde zum Signal gewählt. Diesen Anlaß ergriff Montesecco, um sich zurückzuziehen: er hatte als Dienstmann des Grafen den blutigen Auftrag übernehmen zu müssen geglaubt, als er aber zum Verrat die Tempelschändung [852] fügen sollte, ward ihm des Greuels zu viel und er verweigerte seinen Arm. Zwei Priester traten an seine Stelle: Antonio Maffei aus Volterra und Stefano da Bagnona, der letztere ein Hauslehrer der Pazzi. Diese waren der Kirchenluft gewohnt und deshalb, wie die alten Schriftsteller sich ausdrücken „ohne Scheu vor dem Heiligen“, aber sie hatten keine Uebung im Waffenhandwerk und der Rollenwechsel kam den Verschworenen teuer zu stehen.
Schon hatte Lorenzo den Kardinal an seinen Platz im Chor der Kirche unter der Kappel Brunellescos geleitet und das Hochamt begann, als die Mörder sich nach Giuliano umsahen. Abermals scheint den Unglücklichen sein guter Genius gewarnt zu haben: er war auch von der Messe weggeblieben. Da machten Francesco de’ Pazzi und Bermardo Bandini sich nach dem Palaste Medici auf, um ihn zu holen. Unter freundschaftlich dringlichen Bitten und Neckereien nahmen sie ihn in ihre Mitte und unterhielten ihn eifrig den ganzen Weg. Francesco, die Rechte der Verwandtschaft benutzend, umschlang ihn mit den Armen, um zu untersuchen, ob er keinen Panzer unter dem Wams trage. Giuliano, der sich noch immer unpäßlich fühlte, war gänzlich unbewehrt, selbft den Dolch, den er sonst bei sich zu tragen pflegte, hatte er zu Hause gelassen, so fern lag ihm der Gedanke an Gefahr.
Beide Brüder standen getrennt in der menschenüberfüllten, musikdurchrauschten Kirche, in dem Gedränge konnten die Mörder sich dicht an ihrer Seite halten. Das Glöcklein klingelte, der Priester erhob den Kelch, die Medici mit allem Volke beugten sich tief, da fuhr Bermardo Bandinis Schwert Giuliano in die Brust. Der Getroffene machte noch einen Schritt und stürzte dann zu Boden, nun versetzte Francesco de’ Pazzi ihm Stoß auf Stoß mit solcher Wut, daß er sich selbst mit dem Dolche tief in den Schenkel traf.
Gleichzeitig wehrte sich Lorenzo gegen die beiden Priester, die dem Blutgeschäft nicht gewachsen waren. Antonio Maffei hatte ihn mit der einen Hand an der Schulter gefaßt, um mit der andern sicherer zu treffen, als Lorenzo blitzschnell auffahrend seinen Mantel abriß, den linken Arm mit ihm umwand und die Stöße parierte, während er mit der Rechten den Dolch schwang. So schlug er sich durch seine Angreifer durch und suchte am Altar vorbei durch den Chor die Neue Sakristei zu erreichen. Da sah ihn Bandini und mit dem Schwert, das noch von dem Blut Giulianos troff, wollte er sich auf Lorenzo stürzen, aber Francesco Nori, ein Freund der Medici, sprang dazwischen und empfing statt seiner den tödlichen Streich. Unterdessen wurde Lorenzo von seinen Freunden umringt und in die Sakristei gerissen. Der Dichter Angelo Poliziano schlug die feste bronzene Thür zu, die, von Piero de’ Medici einst gestiftet, jetzt dem Sohn das Leben rettete. Lorenzo blutete aus einer leichten Halswunde, die von einem der ihn umringenden Freunde, aus Furcht, daß sie vergiftet sei, ausgesogen wurde.
Ein ungeheurer Lärm füllte das Gotteshaus, man sah Bewaffnete dahin und dorthin rennen, aber nur die Zunächststehenden wußten, was geschehen war. Draußen glaubte man, Brunellescos Riesenkuppel wanke. Innen war alles Geschrei und Verwirrung, die Verschworenen flohen, Guglielmo de’ Pazzi versicherte laut jammernd, daß er unschuldig sei. Der Kardinal Riario klammerte sich leichenfahl am Altar fest und konnte nur mit Mühe von den Priestern nach der Alten Sakristei geflüchtet werden – er soll nach jenem Schreckenstag nie wieder die natürliche Gesichtsfarbe zurückerhalten haben.
Sobald aber die Blutthat bekannt wurde, griff die ganze Stadt zu den Waffen, die Freunde der Medici drangen geschlossen in die Kirche und holten Lorenzo aus der Sakristei nach seiner Wohnung. Erst dort erfuhr er seines Bruders Los; man hatte ihn in einem weiten Bogen an dem blutüberströmten Leichnam vorbeigeführt.
Karl Thiessens Brautfahrt.
Die Herbstsonne schien warm und vergnügt in den kleinen, bunten Garten der Frau Verwalterin hinein uud schien auch warm und vergnügt auf die alte Frau selber herunter, wie sie in ihrem großen Sonnenhut mit der Rosenschere vorsichtig und behaglich zwischen den letzten blassen Monatsrosen hantierte.
Die Frau Verwalterin hatte zwei Passionen: die eine war ihr Garten – und die andere das Ehestiften! Mit der einen hatte sie viel Erfolg und Glück, denn so früh wie bei ihr und so spät wie bei ihr blühte und gedieh es nirgends in der ganzen kleinen Stadt. Sie hatte allemal die ersten jungen Schoten und die letzten Rosen aufzuweisen, ihr gefüllter Gartenmohn prangte in allen Farben des Regenbogens, und ihre rankenden Wicken waren ihr gerechter Stolz.
Mit der zweiten Passion hingegen wollte es nicht so besonders glücken! Die Menschen und namentlich die Männer zeigten sich bei weitem nicht so dankbar und gefügig wie die Pflanzen und Blumen, sie wollten sich manchmal durchans nicht anbinden lassen, auch wenn die Frau Verwalterin noch so fest davon überzeugt war, daß sie ohne Halt und Stütze nicht recht gedeihen würden. – Sie machten es lieber wie die ärgerlichen Kohlweißlinge, die in dem farbenreichen Gärtchen von einer bunten Blüte zur andern flogen, und wenn man ihnen mit dem Schmetterlingsnetze eben so recht hübsch vorsichtig nahe gekommen war – burrr – flogen sie über den Zaun, und weg waren sie. So was ist ja immer eine verdrießliche Geschichte, und die Frau Verwalterin schüttelte den Kopf bedeutend hinter den Flüchtlingen her.
Heute, an diesem sonnigen Septembertage, betrieb sie das Kopfschütteln während ihres friedlichen Gartenhandwerkes ganz besonders häufig und nachdrücklich. Sie hatte in der letzten Zeit eine bedenkliche Niederlage bei ihrer Ehestifterei erlitten, und sie fühlte das unbestimmte, aber mächtige Verlangen, diese Scharte auszuwetzen. Denn sie ahnte – freilich ahnte sie’s zum Glück nur! – daß man augenblicklich in mehr denn einer Bierstube des Städtchens kräftig über sie lachte. Und das war so gekommen.
Vor kurzem hatte sich ein junger Arzt – ein zweiter – in der Vaterstadt unserer Frau Verwalterin niedergelassen. Niemand wußte viel von ihm, er kam an, erwies sich als ein ansehnlicher Mann in den besten Heiratsjahren – so in denen, wo man anfängt, das Wirtshausessen und Wirtshaussitzen nicht mehr plaisierlich zu finden. Er nahm eine nette, geräumige Wohnung, schien also auch nicht unbemittelt zu sein und machte, wie es dem Neuling geziemt, seine Aufwartung bei allen Honoratioren des Städtchens – natürlich auch bei der Frau Verwalterin, die sich stark zu den ersten Persönlichkeiten ihres Wohnortes rechnete und allgemein dazu gerechnet und demgemäß „estimiert“ wurde. Die brave alte Dame konnte es angesichts dieses so entschiedenen Heiratskandidaten denn auch nicht lassen, ihm gleich bei der ersten Antrittsvisite einen lebhaften Vortrag darüber zu halten, wie gut und notwendig, ja, wie fast unumgänglich es sei, daß ein Arzt sich eine Frau nehme, und was für liebe, hübsche, wirtschaftlich erzogene Mädchen es in ihrem Kreise gäbe – kurz, sie winkte ihm so recht deutlich und recht anmutig mit dem Zaunspfahl.
Der Doktor hatte dazu sehr verständig und mit freundlich zustimmendem Lächeln von Zeit zu Zeit mit dem Kopfe genickt und beifällig gebrummt – kurz, sich äußerst vielversprechend gezeigt.
Da war die brave Frau Verwalterin denn die nächste Zeit hindurch vollauf beschäftigt gewesen, ihm Gelegenheit zu geben, mit ihren verschiedenen Lieblingen unter den jungen Mädchen bekannt zu werden. Sie hatte kleine Kaffeegesellschaften in ihrem behaglichen Gartenhäuschen gegeben und eigenhändig dazu die schönsten Plätzchen gebacken – die mürben, in denen ihr, wie sie wohl sagen durfte, niemand gleich kam. Sie hatte den Doktor immer wieder eingeladen und bald mit dieser, bald mit jener ihrer Auserwählten zusammengebracht. Er war auch jedesmal sehr vergnügt mit den jungen Fräulein gewesen, hatte Pfänderspiele gespielt und sich die Plätzchen und Theeschnittchen mit großem Verständnis wohlschmecken lassen, so daß die Frau Verwalterin hoffte, hier mal einen glänzenden Sieg zu feiern.
Da, am Ende der ersten vierzehn Tage, als sie die Hauptschlacht schlagen wollte, zu diesem besonderen Zwecke sogar eine kleine Tanzgesellschaft zu geben beschlossen hatte, da teilte ihr der Doktor mit, er könne leider nicht an dem beabsichtigten Feste teilnehmen, da er Besuch erwarte.
„Meine Frau und meine beiden kleinen Jungen kommen
[853][854] übermorgen!“ hatte er mit einem so ruchlos unschuldigen Gesicht gesagt und dabei doch verstohlen und pfiffig nach seiner alten Gönnerin hinüber geschielt.
Die Frau Verwalterin – was jeder begreifen wird, der sich in ihre Seele denken kann – hatte einen Augenblick starr dagesessen.
„Ja, warum haben Sie mir denn das nicht gesagt?“ brachte sie endlich mühsam hervor.
„Sie haben mich ja gar nicht gefragt!“ erwiderte der Schändliche und lachte nun so herzhaft los über den gelungenen. Spaß, an dem – zur Schande der männlichen Jugend sei es gesagt – die halbe Stadt beteiligt war, daß die Frau Verwalterin nicht anders konnte, als zunächst mitlachen – das that sie überhaupt, ihren siebenundsechzig Jahren zum Trotz, noch gar zu gern.
Als aber der Doktor dann weg war und sie in ihrem Gärtchen stand, wo wir sie vorhin beobachtet haben, da schüttelte sie doch, wie schon berichtet, mehrfach den Kopf, daß ihr so etwas hatte passieren können.
War es aber die Absicht des heimtückischen Doktors gewesen, die gute alte Frau durch seine Schlechtigkeit von ihrer Leidenschaft fürs Ehestiften zu heilen, so war die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Der Frau Verwalterin war ungefähr so zu Sinn wie einem Feldherrn nach einer verlorenen Schlacht – sie spähte blutdürstig nach einer neuen Gelegenheit umher, wo sie’s besser machen und den Leuten beweisen würde, daß sie es denn doch verstehe, jemand unter die Haube – oder unter den Pantoffel zu bringen.
Und der Zufall schien es wirklich diesmal für seine ernsteste Pflicht zu halten, das Talent der guten alten Dame nicht einrosten zu lassen! Er hatte, wie das so seine Art ist, in zwei ganz verschiedenen Orten der Welt sachte an den Fädchen gezupft, an denen er die Menschen tanzen läßt, und, seine Marionetten bewegten sich eben ganz vergnüglich auf den Ort zu, wo sie ihre Rolle weiter spielen sollten.
Wir wollen die Frau Verwalterin aber nun einmal für eine kurze Zeit in ihrem hübschen Garten allein lassen, was sie uns um so weniger übelnehmen kann, als sie sich da immer sehr gut mit ihren Blumen unterhält, und wollen einen kleinen Sprung rückwärts thun – nur um ein paar Tage zurück und um ein paar Meilen weiter, in den Wartesaal einer kleinen Bahnstation hinein, auf dem sich ein paar Hauptlinien der Eisenbahn kreuzen und treffen.
In diesem Wartesaal saß bei einem Glase Bier ein junger Mann, der vor wenig Minuten mit dem Zuge von Hamburg her angekommen war. Auf den ersten Blick hätte man ihn, trotzdem er einfache, aber feine bürgerliche Kleidung trug, für einen Seemann halten können. Das tief gebräunte offene Gesicht mit der weißen Stirn und den weißen Zähnen, die stramme Haltung und ein gewisser, sorglos lustiger Ausdruck stimmten ganz gut zu dem Bilde eines Steuermanns, wie es sich die Einbildungskraft auszumalen pflegt.
Er saß im den Stuhl zurückgelehnt und pfiff leise vor sich hin – ein altes deutsches Lied, das sich ihm, er wußte selbst nicht wie, angesichts der lange entbehrten deutschen Heimat auf die Lippen gedrängt hatte.
Dabei sah er mit dem gleichgültig achtlosen Blick des Fremden, der kein bekanntes Gesicht hier erwarten oder vermuten kann, über die Reisenden hin, die mit den ankommenden Zügen ab und zu strömten – eben war der große Berliner Kurierzug angelangt, und eine Anzahl Leute aus aller Herren Ländern schien hier ihr Mittagsmahl einnehmen zu wollen.
Unter diesen schob sich – oder besser wurde geschoben – eine schlanke Mädchengestalt ins Zimmer, deren stilles Gesicht mit den klar blickenden grauen Augen man sich gut unter einer Diakonissenhaube hätte denken können.
Als sie jetzt den Strohhut abnahm, sah man, daß dem Gesichtchen ohne jede Frage ein großer Liebreiz zu eigen war – weniger in den Zügen als in Schnitt und Glanz der Augen, in der zart gefärbten Haut und dem kleinen ernsthaften Munde; man hatte ihr gegenüber nur zunächst die Empfindung, als wenn sie immer im Schatten gestanden hätte, und als wenn ein paar Sonnentage genügen würden, um ihr Leben und Farbe und damit große Anziehungskraft zu geben.
Sie selbst schien sich dessen in keiner Weise bewußt; es lag etwas Abgeschlossenes in der ganzen Erscheinung, das ihrer Jugend – sie mochte die Mitte der Zwanzig noch nicht überschritten haben – seltsam zu Gesicht stand. Sie war einfach, sehr einfach gekleidet und trug ein schmales Lederkofferchen in der Hand, das auch nicht zu viel Schätze zu bergen schien.
Mit einem leisen Seufzer der Ermüdung stellte sie ihre Last zu Boden und nahm an einem Tischchen Platz, gerade dem sonnenverbrannten Fremden gegenüber, bei dessen Anblick erst ein nachsinnend überraschter Ausdruck – dann ein plötzliches Erschrecken und lebhaft tiefes Erröten über das sanfte Gesicht flog. Der, welcher diese Empfindungen hervorzurufen schien, ahnte augenscheinlich gar nichts davon, er schenkte der bescheidenen Mädchengestalt nach einem flüchtig streifenden Blick keine Gedanken weiter, sondern vertiefte sich in seine Zeitung.
Das kleine Fräulein kämpfte ersichtlich mit einer großen Schüchternheit und einem noch größeren Entschlusse. Sie stand auf, setzte sich zaghaft wieder hin, errötete ein übers andere Mal vor unentschlossener Befangenheit, dann plötzlich faßte sie sich ein Herz, trat an den Tisch, wo der Fremde saß, und sagte mit etwas zitternder, leiser Stimme: „Karl Thiessen – kennen Sie mich denn wirklich gar nicht mehr?“
Der so Angerufene fuhr in die Höhe; er legte das Zeitungsblatt zusammen und stand artig auf.
„Liebes Fräulein,“ sagte er dann mit einiger Verlegenheit, „es thut mir schrecklich leid – aber wenn Sie mich fragen, ob ich Sie kenne, bleibt mir nichts anderes übrig, als ehrlich und offen zu erwidern: ,nein!‘ Ich schäme mich sehr, denn Sie haben mich bei meinem richtigen Namen angeredet, aber – ich kann mir beim besten Willen nicht helfen! Seien Sie mir nicht böse!“
Und er sah ihr mit einer unwiderstehlich schelmischen Offenheit ins Gesicht.
Sie blickte betrübt vor sich nieder.
„Also wirklich nicht!“ sagte sie dann leise und tief beschämt, „also wirklich gar nicht mehr! Und wir sind doch Nachbarskinder gewesen! … Anna Braun,“ fügte sie mit sinkender Stimme hinzu, als er sie noch immer wie ratlos anstarrte.
Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
„Anna Braun!“ rief er so lebhaft, daß sich mehrere Köpfe im Saal überrascht nach ihnen hinwandten, „wie konnte ich denn daran nicht denken! Anna Braun!“ wiederholte er noch einmal in herzlichem Ton, als dämmerte ihm eine freundliche Erinnerung klar und klarer herauf, „nein, das ist eine schöne Geschichte, daß ich Sie nicht gleich erkannte – natürlich – Anna Braun!“ und er schüttelte ihr mit derber Freundschaftlichkeit die Hand.
„Und nun setzen Sie sich mal zu mir her,“ fuhr er gemütlich fort, „und erzählen Sie mir von alten Zeiten, Fräulein Anna! Ja, nun merke ich freilich, daß ich zehn Jahre lang nicht zu Hause war,“ setzte er lächelnd hinzu, „nun ich sehe, daß aus dem kleinen Schulmädchen, das ich damals an den langen Zöpfen zog, ein junges Fräulein geworden ist!“
„Sagen Sie ruhig: ,ein altes Fräulein!‘“ meinte sie einfach, „oder doch auf dem besten Wege dazu – damals war ich sechzehn Jahre, Herr Thiessen – das Exempel ist leicht ausgerechnet!“
Er wurde der Verlegenheit einer Erwiderung überhoben, denn der Ruf „Einsteigen!“ schreckte alle Insassen des Wartesaals aus ihrer Beschaulichkeit empor. Ein Gepäckträger, mit einem stattlichen Handkoffer beladen, erschien in der Thür und winkte dem Eigentümer des fraglichen Gepäckstückes – unserem Karl Thiessen.
„Hier nehmen Sie das auch mal!“ sagte dieser Herr und wies auf Annas Lederkofferchen, „wir fahren doch zusammen, Fräulein Anna? Ich denke, Sie sind auch auf dem Heimwege?“
„Das bin ich!“ sagte sie zögernd, „und ich führe herzlich gern mit Ihnen – aber –“ hier kämpfte sie tapfer eine aufsteigende Verlegenheit nieder, „ich fahre dritter Klasse, Herr Thiessen – und das ist nichts für Sie!“
Er stutzte einen Augenblick.
„Nun, freilich ist das ,was für mich!‘“ sagte er dann lustig. „Ich bin hier zu Lande noch nie – oder kaum anders gefahren als dritter Klasse. Natürlich fahren wir zusammen!“
Und nach wenig Minuten saßen die Jugendbekannten einander gegenüber im Coupé und fingen, in Rücksicht auf die Mitreisenden, mit halblauter Stimme die alten, für lange in der Fremde Gewesene immer so lieben Gespräche an über das, was aus dem geworden – und was jener angefangen habe – ob das alte Schulhaus noch steht, und wer jetzt den großen Garten vor dem Thore hat.
[855] Nach einer Weile wurde der junge Mann schweigsamer – seine Gefährtin war auch nicht zu unterhaltend gewesen, sondern hatte, wie unter dem Druck einer unsicheren Befangenheit, meist nur einfach auf seine Fragen geantwortet. Nachdem er ihr seinerseits erzählt, wie er draußen in China sein Glück gemacht und vom Lehrling des großen Handelshauses in Peking sich zum ersten Beamten desselben aufgeschwungen habe, begann er plötzlich mit dem ihm eignen Freimut: „Fräulein Anna, nun seien Sie mir nicht böse, wenn ich zehn Minuten lang ein bißchen schlafe! Ich bin die ganze Nacht hindurch gereist und möchte nicht gar zu verschlafen in meiner Vaterstadt ankommen, sondern die Augen weit offen haben fürs Wiedersehen!“
Und er nickte ihr freundlich zu, zog sich dann den Hut tief in die Stirn und schlief ohne weitere Komplimente ein, während das Mädchen ihm gegenüber saß und ihn still betrachtete.
Ihre Gedanken flogen dabei weit in die Vergangenheit zurück – in die Kindheit und erste Jugend – die weit – sie glaubte erst seit den letzten Stunden zu fühlen, wie weit! – hinter ihr lag.
Dieser Karl Thiessen, der jetzt so unbefangen während ihrer Unterhaltung nach dem ersten Wiedersehen einschlief – er war ja das Ideal ihrer Mädchenjahre gewesen, schon, da er noch als Schüler mit der bunten Mütze umherlief! Und sie allein wußte, was für bittere Thränen sie ihm nachgeweint hatte, als das Schiff in der Ferne verschwand, das ihn einer neuen – ach so fernen Heimat entgegcnführte!
Sie allein wußte, mit was für goldenen Träumen sie die grauen Jahre inzwischen ausgeschmückt hatte! Aus kleinen, unbefangenen Huldigungen, wie ein achtzehnjähriger Junge sie einem sechzehnjährigen Nachbarskind wohl darbringt, hatte sie sich ein herrliches Luftschloß erbaut. Und heut’ und diesen Tag, jetzt im Augenblick sogar, trug sie das kleine blaue Notizbuch mit der sinnigen Aufschrift Notes und einem Goldschnörkcl noch bei sich, das er ihr einmal auf einem Jahrmarkt gekauft hatte.
Uud als sie dann – die arme, kleine Waise, von der geschlossenen Thür des Elternhauses fort in die Fremde ging, um ein schweres Brot bei anderen Leuten zu verdienen – als Lehrerin – da hatte sie unentwegt, wie ein reines Mädchenherz das thun kann, an ihrem Luftschloß weiter gebaut und den lieben Gott alle Abende gebeten, er möge diesem Luftschloß Wirklichkeit und Boden verleihen. Und durch alle diese Jahre, durch das langsame, langsame Hinschwinden der ersten Jugend und der ersten Hoffnungen, ohne ein Zeichen von außen her, ohne Grund und Ursache, wenn man es so will, hatte ihr einfacher, frommer Sinn an dem Wort festgehalten: „Wenn es der liebe Gott will, kriegst du ihn doch noch!“
Und nun hatte sie ihn wieder gesehen! Das Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf, als sie in den Wartesaal kam. Wie hübsch, wie stattlich, wie freundlich war er geworden! Und er hatte sie nicht wieder erkannt und schlief in der ersten halben Stunde ein, nachdem er mit ihr zusammen gewesen war!
Die Fahrt nach der Heimat, die Karl Thiessen so tief, so traumlos und unbefangen verschlief, war für das arme Mädchen ein rechtes Grabgeleit für alle Jugendträume, für alle thörichten Hoffnungen; aber sie blieb tapfer und getrost, und eine fast erstickte, aber immer wieder hörbare Stimme in ihrem Herzen sagte trotz alledem und alledem: „Wenn es der liebe Gott will, kriegst du ihn doch noch!“
Der Zug fuhr in die Bahnhofshalle des Städtchens ein, wo die beiden Jugendgespielen zu Hause waren.
Karl Thiessen wachte auf, streckte sich und nickte seinem Gegenüber gemütlich zu. „Da wären wir! Und Eisenbahn ist ja jetzt auch hier!“
Sie standen sich nun gegenüber auf dem Perron, und Anna Braun streckte ihm die Hand hin.
„Adieu auch, Herr Thiessen – bleiben Sie lange hier?“
„Ein halbes Jahr gilt mein Retourbillet und mein Urlaub,“ sagte er, „und Sie, Fräulein Anna?“
„Ich weiß es noch nicht gewiß!“ antwortete sie stockend, „ich will mich nach einer Stelle als Erzieherin umsehen – das kann rasch und kann auch langsam gehen!“
„O, aber wir sehen uns noch,“ sagte er gemütlich und nahm den Hut ab, „gehen Sie nicht auch noch oft zur alten Tante Verwalterin? Das wird mein erster Besuch sein! Wie hübsch, daß die alte, gute Seele noch lebt!“
Damit nickte er ihr nochmals freundlich zu und ging nach der Stadt, ohne den Kopf zu wenden, während sie stand und ihm nachsah. „Also so ist das Wiedersehen geworden!“ sagte sie leise vor sich hin – und dann trat auch sie den Heimweg an.
Wenige Tage nach diesem Reiseerlebnis war es, da wir die alte Frau Verwalterin in ihrem Gärtchen belauscht haben, und dort wollen wir sie jetzt wieder aufsuchen, um zu erleben, wie ihr Neffe und Liebling Karl Thiessen nach alter Jungensmanier mit einem großen Satz über den niedrigen Zaun springt, die alte Tante herzhaft umarmt und dreimal mit sich im Kreise herumdreht, ehe er sie zu Worte kommen läßt.
„Du alte Gute – Du gute Alte – siehst Du, da bin ich! Ein schlechter Schilling kommt immer wieder nach Hause!“
„Aber Du bist kein schlechter Schilling und warst auch nie einer!“ sagte die Tante Verwalterin mit nicht allzu verhohlenem Stolz auf den stattlichen Neffen, „wenn Du auch noch gerade so ein Wildfang bist wie vor zehn Jahren, wie es scheint. Aber nun komm mal gleich hinein und iß und trink etwas bei der alten Tante,“ setzte sie eifrig hinzu und zog ihn mit sich nach dem kleinen Gartenpavillon, wo in dem ihm noch wohl erinnerlichen Eckschränkchen mit den Glasscheiben und den grünen Vorhängen immer, wie seit alter Zeit, für eine Flasche Malaga und ein paar erlesene Kuchenstückchen auf schönen geschliffenen Glastellerchen für unvorhergesehene Fälle gesorgt war.
„Und nun,“ sagte der junge Mann, nachdem er sein Glas geleert hatte, in dessen Inhalt er mit dem herb feurigen Weingeschmack sich ein ganzes Stück Vergangenheit in die Erinnerung trank – „nun, Tante, will ich auch Dir noch etwas sagen! Ich komme mit einer ganz besonderen Angelegenheit zu Dir und will, wie das immer meine Mode war, gleich mit der Thür ins Haus fallen! Also Tante – ich will etwas von Dir!“
Die Verwalterin rückte sich behaglich zum Zuhören zurecht und zog ihre Filetarbeit aus dem seidenen Ridicule.
„Und das wäre?“ frug sie.
„Siehst Du,“ fuhr Karl Thiessen fort, nahm sein Billet aus der Tasche und hielt es ihr vor die Augen, „dies hier ist mein Retourbillet nach China! Es gilt gerade sechs Monate – und dann kaufe ich mir noch ein einfaches Billet dazu!“
Die Tante sah ihn verständnislos an.
„Noch eins!“ wiederholte er, „denn ich will auf keinen Fall wieder allein nach China zurückgehen.“
Die Frau Verwalterin spitzte die Ohren wie ein altes Schlachtroß beim Klange der Drommeten.
„Ich will heiraten!“ schloß Karl Thiessen mit großer Energie, während die Tante wie ein in Schwung gebrachter Pagode zu seinen Worten nickte, „ich will mir eine deutsche Hausfrau mit in die Fremde nehmen! Und alles, was um eine solche Sache drum und dran hängt – Freierei, Verlobung, Aussteuer, Hochzeit – alles das muß in der Zeit besorgt werden, ehe mein Retourbillet abläuft. Und Du, Tante, Du sollst mir helfen, die Richtige zu suchen und zu finden! Du kennst alle jungen Mädchen hier in der Stadt von der Wiege an –“
„Das thue ich!“ sagte die alte Dame mit vor Unternehmungslust zitternder Stimme – sie sattelte und zäumte ihr Steckenpferdchen schon in Gedanken frisch auf.
„Und Du sollst wissen, was für eine Sorte Frau ich haben will,“ schloß Karl Thiessen seinen Vortrag. „Sie muß jung sein, sie muß hübsch sein – sie muß gut und freundlich und lustig sein – reich braucht sie nicht zu sein, aber ein Hinderungsgrund wäre es auch nicht – und sie muß sehr gut kochen können. – Und jetzt, Tante – jetzt zeig’ mal, was Du kannst!“
Und als die Frau Verwalterin an diesem Abend ihre Nachtmütze mit dem breiten getollten Strich vor dem Spiegel aufsetzte, um sich in ihrem großen geblümten Gardinenbett zur Ruhe zu legen, da sagte sie vor sich hin: „Sechs Monate! Nun, in der halben Zeit könnte ich ihm drei Frauen verschaffen – geschweige denn eine!“ Und sie schlief ein, während ein ganzer Kranz von hübschen, lustigen, reichen jungen Fräulein vor ihren Augen herumtanzte und sich drehte.
Aber daß ganz in der Ferne ein blasses, stilles, kleines Mädchen stand und leise sagte: „Wenn es der liebe Gott will, kriege ich ihn doch noch!“ – das hörte die Frau Verwalterin nicht mehr, denn da schlief sie schon ganz fest. (Fortsetzung folgt.)
[856]
Blätter und Blüten.
Ein deutscher Patriarch im amerikanischen Westen. Ein seltenes Familienfest wurde mn 3. September d. J. in einer entlegenen Farm in Delaware County, Iowa, gefeiert. Der Urgroßvater beging seinen 115. Geburtstag und an der Familientafel vereinte sich ein blühender Kreis von Angehörigen, die ihm Glückwünsche darbrachten. Da war zunächst die achtzigjährige Mathilde, die zweite Frau des hochbetagten Geburtstagskindes, die vor 62 Jahren ihrem Gatten angetraut wurde; und um das Ehepaar scharten sich 11 Kinder im Alter von 35 bis 58 Jahren, 11 Enkel und 34 Urenkel. Christian Conrad heißt der glückliche Patriarch. Seine Vorfahren hatten vor alten Zeiten Deutschland verlassen und sich in Pennsylvanien angesiedelt. Von dort kam Christian vor 60 Jahren nach Iowa; er bedient sich noch heute mit Vorliebe der deutsch-pennsylvanischen Mundart, da Hochdeutsch ihm nur wenig geläufig ist. Wir bringen nebenstehend ein Bildnis des ehrwürdigen Familienhauptes nach einer vor kurzem aufgenommenen Photographie. Der alte Conrad ist trotz der schweren Bürde von mehr als einem Jahrhundert, die auf ihm lastet, noch ein rüstiger Mann, wenn er auch beim Lesen eine Brille gebrauchen muß. Hoffentlich wird ihm vom Schicksal noch ein langer friedlicher Lebensabend beschieden werden; von Herzen wünschen wir dem Manne aus dem achtzehnten Jahrhundert, daß er noch den Anbruch des zwanzigsten erleben möge!
Gerda. (Zu dem Bilde S. 841.)
„Ein Kind mit Frauenaugen, drin verborgen
Ein Rätsel schlummert –“
so schaut uns dieses Mädchenantlitz entgegen, dessen ernste Stimmung für so viele Bilder von Gabriel Max bezeichnend ist, welche der Darstellung weiblicher Schönheit und weiblichen Seelenlebens gewidmet sind. Ein gemeinsamer Zug verbindet sie alle, so verschieden sie unter sich sein mögen; ein Hauch von schwermütiger Sehnsucht bei aller Weichheit und Anmut der Formen. Eine bestimmte historische Erinnerung knüpft sich an dies Mädchenbildnis nicht, aber der nordische Namen beschwört in unserem Gedächtnis so manche Gestalt der nordischen Sage und Dichtung, in welcher sich weibliche Jugend auch mit dem hellseherischen Ernste vereint, der diese Züge beseelt.
Ueberfall im Walde. (Zu dem Bilde S. 844 und 845.) In unseren deutschen Wäldern wird der Reisende von solchen Gefahren, wie sie das wirkungsvolle Bild Kowalskis darstellt, nicht bedroht. An der Grenze des Reichs im Osten und Westen treiben sich noch einige Wölfe herum, aber so frech sind sie nicht, daß sie sich an ein Gespann heranwagen sollten. Die kritische Scene, die der Maler uns vorführt, ist dem Leben in dem fernen Osten Europas entlehnt. Dort liegen die Verhältnisse allerdings anders als bei uns. Laut statistischen Angaben werden in Rußland jährlich gegen 170000 Wölfe erlegt und gegen 200 Menschen von diesen Raubtieren zerrissen. Dort kommen solche Ueberfälle im Walde vor, aber glücklicherweise äußerst selten. Für gewöhnlich ist Isegrim kein Held, der ohne weiteres stärkere Gegner angreift. Er zieht es vor, schwächeres Wild mit List zu jagen, und geht dem Menschen geflissentlich aus dem Wege. Einer der mächtigsten Triebe, die die Welt bewegen, der nagende Hunger, verändert jedoch gänzlich seinen Charakter. In der schweren Winterszeit wird der hungrige Wolf tollkühn; um Beute zu erlangen, scheut er dann keine Gefahr, und er wird zum furchtbaren Gegner, wenn er, zur Meute vereint, auf Jagd ausgeht. Das Bild Kowalskis ist somit keineswegs nach einem Märchen aus längst verklungener Zeit gezeichnet – es ist vielmehr sehr realistisch, giebt die nackte Wahrheit wieder. Die beiden Männer im Schlitten sind fürwahr in einer verzweifelten Lage – ihr Heil ruht auf der Treffsicherheit des Schützen, der, wie der Augenschein lehrt, im kritischen Augenblick das nötige kalte Blut zu bewahren versteht. *
Ein warmes Plätzchen. (Zu dem Bilde S. 849.) Ja, die sitzt warm, die Burgei, während draußen der kalte Nord alles zu Eis erstarrt. Die beiden Holzknechte, die auf der Heimkehr von der schweren Arbeit im Walde in der wohldurchheizten Stube des Sägmüllers einsprachen, wüßten über die Kälte, die ihnen die rauhen Hände steif gemacht, ein Lied zu singen, aber auf der Ofenbank und neben der Burgei wird’s ihnen bald so warm und wohl, daß sie die Unbill des Wetters, die sie hereintrieb, schnell vergessen und ihnen die Seele auftaut in frohem Behagen. Wenn so Drei beieinander beisammen sitzen und die Burschen bilden die Ueberzabl, wird das Dirndl natürlich zum Stichblatt für allerlei Späße. Aber sie giebt’s ihnen heim. Und während sie die Augen gesenkt hält, als seien ihr die fünf Nadeln im dicken Wollstrumpf etwas ganz Neues, und sie geduldig anhört, was von der rechten wie von der linken Seite her ihr ins Ohr geraunt wird, hält sie die treffende Antwort auf das spaßhaft harmlose Liebeswerben der kecken Burschen schon bereit.
„Burgel, magst ihn, den Hiesel da?“
„O, beileib nit!“
„Magst nachher mi?“
„Di a nit, Du dalketer Gsell Du!“
„Magst nachher gar koan auf der Welt?“
„Gar koaner ist der Richtige!“
„Nachher is’s schon recht. Wann’s nur dabei bleibt!“ H.
Mama will heim! (Zu dem Bilde S. 853.) Wundern kann einen das eigentlich nicht, denn alles auf der Welt hat seine Grenzen, also auch die Standhaftigkeit einer „Eismutter“, obwohl diese bekanntlich sonst eine oberste Stufe weiblichen Heldentums einnimmt. Aber schließlich ist sie eben auch nur ein Mensch mit Zehen von Fleisch und Bein, die in stundenlangem Stehen auf der Eisfläche zu schmerzenden Klümpchen erstarren, während fern am Horizonte das Töchterlein mit fliegender Boa, an der Hand des Herrn Lieutenants, des Herrn Doktors, des Herrn Assessors oder des jugendlichen Studiosus vorüberschwebt. Wäre der „Rechte“ darunter, so würde Mama vermutlich mit Todesverachtung noch weiter ausharren, denn sie weiß, daß in solchem Fall Geduld und Zeit notwendig sind, und daß leider! – eine Eisfläche mit zwölf Graden unter Null die Herzen viel sicherer erwärmt als der schönste bestgeheizte Ballsaal. Aber danach sieht es hier nicht aus: keiner der vier Herren denkt daran, den Damen seine Begleitung zum Heimweg anzubieten, sie sind nur empört über das gestörte Vergnügen. Und das zögernd hinter der Mutter dreinschleichende Fräulein teilt ganz und gar diese Verstimmung, wenn sie auch nicht offen zu rebellieren wagt. Wäre sie ein wenig klüger, ungefähr nur halb so viel als ihre resolute Mama, welche mit unverhohlener Genugthuung den Schneepfad entlang und dem warmen Kaffee zu Hause entgegenschreitet, so ginge sie frisch und munter neben ihr her und erwartete die Wirkung dieses strategischen Rückzugs auf die verblüfften Herren Verehrer. Versagtes reizt! das weiß die stattliche Matrone, die auch einmal jung und schön war, ganz genau. Deshalb hält sie das grausame Machtwort unerbittlich aufrecht und wandelt mit einem so vergnügten Gesicht, den Mantel fest anziehend, voraus, als wüßte sie es ganz gewiß, daß die jetzt so aufgebrachte Tochter ihr diesen Mangel an Zuvorkommenheit gegen die Herren später noch einmal von Herzen danken werde! Bn.
Kleiner Briefkasten.
F. M. in Soden. Das vom Vaterländischen Frauen-Zweigverein in Nizza daselbst errichtete Pflegehaus ist für deutsche Reichsangehörige bestimmt, die gesundheitshalber den Winter im Süden verbringen sollten und die bisher dafür erforderlichen Kosten nicht bestreiten können. Das deutsche Pflegehaus in Nizza bietet ein sehr gutes Unterkommen zu verhältnismäßig sehr billigem Preis und ist vom 1. November bis 1. Mai geöffnet. Aufnahmegesuche richtet man an die Präsidentin des Vereins Frau von Zelewski-Denzin in Lauenburg, Pommern.
K. L. in Fulda. Sie wollen wissen, wie viel Geld in Gold und Silber auf der Erde vorhanden ist? Auf Heller und Pfennig vermag niemand die Summe anzugeben, aber annähernde Schätzungen sind wohl vorhanden. Eine solche finden Sie in „Hübners Geographisch-statistischen Tabellen aller Länder der Erde“ (Ausgabe 1895, Verlag von Heinrich Keller in Frankfurt a. M.). Der „monetarische Edelmetallvorrat“ aller Länder der Erde betrug demnach im Jahre 1892: an Gold in Münzen und Barren 16 Milliarden 20 Millionen Mark und an Silber in Münzen 17 Milliarden 249 Millionen Mark.
Inhalt: Die Lampe der Psyche. Roman von Ida Boy-Ed (10. Fortsetzung). S. 84l – Gerda. Bild. S. 841. – Ueberfall im Walde. Bild. S. 844 und 845. – Lorenzo Magnifico. Zur Auffindung seiner Grabstätte. Von Isolde Kurz. I. S. 847. Mit Abbildungen und Bildnissen S. 847, 848 und 851. – Ein warmes Plätzchen. Bild. S. 849. – Karl Thiessens Brautfahrt. Eine Heiratsgeschichte von Hans Arnold, S. 852. – Mama will heim! Bild. S. 853. – Blätter und Blüten: Ein deutscher Patriarch im amerikanischen Westen. Mit Bildnis. S. 856. – Gerda. S. 856. (Zu dem Bilde S. 841.) – Ueberfall im Walde. S. 856. (Zu dem Bilde S. 844 und 845.) – Ein warmes Plätzchen. S. 856. (zu dem Bilde S. 849.) – Mama will heim! S. 856. (Zu dem Bilde S. 853.)