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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[309]

Nr. 19.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.
(5. Fortsetzung.)


Tante Anna und Ditscha speisen allein in dem großen Eßzimmer, dessen zur halben Höhe getäfelte Wände das Wappen derer von Kronen in Holzschnitzerei zeigen, umgeben von frommen Engelsköpfchen. In den Ecken des Gemaches liegen tiefe Schatten, kaum hier und da blitzt eine Messingplatte oder ein Glasgefäß auf, mit denen der Sims besetzt ist, der sich oberhalb der Holztäfelung hinzieht. Die Plätze des Hausherrn und Tante Berthas sind leer, Friedrich serviert den Karpfen so geräuschlos als möglich.

Ditscha genießt fast nichts. Sie blickt im Zimmer umher und denkt, daß sie zum letztenmal in dem traulichen Raum beim Lampenschimmer sitzt, wohlgeborgen und warm, während draußen der Wintersturm an den Läden rüttelt, und wie es sein wird, wenn sie hier alle um den Tisch versammelt sind – ohne sie. Ob sie ihr fluchen oder verzeihen werden? Und ob sie jemals wieder über die Schwelle dieses Hauses treten darf? Es ist ihr ja doch, so gut es konnte, eine Heimat gewesen.

Tante Anna speist mit bestem Appetit. „Du gehst doch morgen in die Christmesse, Ditscha?“ beginnt sie.

Ditscha nickt.

„Du weißt, morgen bleibe ich bei meinen Geschwistern, jemand von der Herrschaft sollte aber auf alle Fälle in unserem Kirchenstuhl sein.“

Und als das junge Mädchen nicht antwortet, spricht sie weiter. „Es wäre besser, Joachim gäbe sein Murren gegen Gottes Willen auf und machte Frieden mit ihm – aber noch ist er weit entfernt davon!“ Tante Anna seufzt. „Nun gehst Du wohl zu Klementine?“ fährt sie fort.

Ditscha nickt abermals.

„Grüße sie; ich habe noch zu schreiben – gute Nacht, Ditscha! Oben wirst Du übrigens etwas finden von mir, möchte es Dir Freude machen!“

„Ich danke Dir, Tante,“ sagt Ditscha, die Serviette zusammenfaltend. Zum letztenmal! denkt sie dabei.

Droben im Turmgeschoß steht Hanne im kleinen Vorzimmer auf der Lauer, und als sie Ditschas Schritte hört, ruft sie, die Thüre öffnend: „Einen Augenblick warten Se hier, gnä’ Fröln Ditscha! Wann Fröln Klementine lüten, dann kommen Se in!“ Damit schießt die kleine Frau durch die knapp geöffnete Thür in das Wohnzimmer, aus dem einen Moment lang ein heller Glanz bricht.

Ditscha steht geduldig da und wartet. Auch hier nimmt sie Abschied, von alten Schränken und lauschigen Winkeln, in denen sie mit ihren Puppen gespielt, von dem Bogenfenster mit seinem Blick in die weite, weite Welt. Sie tritt näher und späht hinaus – zum letztenmal! Ganz in der Ferne bewegen sich Lichter, das ist der Bahnzug, der nach Hamburg eilt. – – Ach, morgen!

Der Ton eines Glöckchens schreckt sie empor, Hanne reißt die Thür auf. Ganz fein und silbern klingt Tantens Spieldose Ditscha entgegen. „Stille Nacht, heilige Nacht!“ Und wie sie in


Hugo Vogel in seinem Atelier.
Aufnahme nach dem Leben.

[310] den Rahmen der Thür tritt, flammen dort neben dem Krankenlager die dreißig Lichter einer kleinen grünen Tanne so weihnachtlich und zaubergleich zu ihr herüber, und der unerwartete Anblick – Ditscha hat nie ein Weihnachtsbäumchen gehabt – erschüttert sie so, daß sie auf den nächsten Stuhl sinkt, die Hände vor das Gesicht schlägt und weint, zum Herzbrechen. Sie weiß, wie sehr Tante Klementine sich hat überwinden müssen, um dies zu thun, und weshalb sie es gethan. – Aber das ist ja nun alles zu spät!

„Komm, Ditscha,“ sagt die Kranke weich.

Sie schwankt hinüber und legt den Kopf auf die Kissen neben Tante Klementines Haupt.

„Weine nicht, Kind,“ spricht diese fröhlich, „Du glaubst gar nicht, wie wenig Grund Du gerade zum Weinen hast! Schau Dir an, was unter dem Bäumchen liegt, und freue Dich!“

Ditscha fährt empor. „Ich habe allerdings gar keinen Grund zu weinen,“ sagt sie mit zuckender Lippe. „Ich habe ja alles, was mein Herz begehren darf, ich sitze im wohldurchwärmten Zimmer, habe vorhin gut zu Abend gespeist, und hier brennt ein Baum für mich und unter ihm liegen Geschenke; ich werde im weichen Bette schlafen und – – genau so gut hat es Frau Oberförster ihr Lieblingsdachs auch, nur daß statt der Marzipankringel Würstchen an den Zweigen hängen.“ Sie lacht jetzt schrill und tupft sich hastig mit dem Taschentuch gegen die Augen, springt auf und tritt an den Tisch.

Hanne hat einen roten Kopf vor Aerger. Die heutigen Menschen sind ’was verrückt, denkt sie, und nach einem Blick auf die blaßgewordene Kranke sagt sie scheltend: „Und Bäuker zum Lesen kriegt wahrscheinlich das Viehstück auch, und Schmucksachen und Geld und was da allens noch liegt. Nich’ wahr – das allens kriegt der Tackel ebenso!“

Aber die Kranke winkt ihr. – Sie hat dasselbe unbefriedigte Sehnen gehabt, dasselbe heiße junge Herz; sie kennt die Qual der Unthätigkeit, des Wartens auf eine Zukunft.

Ditscha achtet schon längst nicht mehr auf die hübschen Geschenke; sie sieht zu Boden und preßt die Lippen zusammen, um ein nervöses Schluchzen zurückzudrängen. Nach einem Weilchen gelingt es ihr; sie kommt herüber und kniet wieder vor dem Stuhl der alten Dame. „Ich danke Dir für alles, Tante,“ sagt sie leise, „und bitte, trage mir nicht nach, wenn ich Dich kränkte. Ich weiß, ich bin so unartig, so bitter jetzt gewesen – vergieb mir!“

Und Tante Klementine streichelt ihr die Wange und das braune Haar. Dann schweigen beide und sehen, wie die Lichter leise knisternd herabbrennen. Und Hanne holt einen Korb und packt die Geschenke ein. Es ist auch etwas vom Onkel und von Tante Bertha dabei, ein altes Schmuckstück der Großmutter Kronen; die hat das Diamantanhängsel an einer Schnur um den Hals getragen, als die Stadt Bützow auf dem Rathause zu Ehren der schönen jungen Königin Luise ein Fest gab, zu dem auch der Adel der Umgegend mit Einladungen beehrt worden war; jetzt ist’s als Brosche gefaßt. Papa hat Geld geschickt; die Börse reicht Hanne Ditscha hin, und sie steckt sie gleichgültig ein.

Als es zehn Uhr schlägt, erhebt sie sich. „Adieu, Tante Klementine – denk’ freundlich an mich!“

„Du bist ein sonderbares Kind, Ditscha,“ antwortet sie. „Und hör’, Mäuschen, weine nicht so viel morgen, wo Du allein bleiben mußt; sieh zu, daß Du den Tag leidlich vernünftig hinbringst.“

Das Mädchen nickt. Sie weiß, daß sie morgen niemand sehen wird von der Familie, die, jedes für sich, ihr Totenfest feiert. Ach, es ist alles wie geschaffen für das, was sie vorhat. Sie wendet sich noch einmal um an der Schwelle und sieht die Kranke an mit einem langen Blick, dann ist auch das überstanden.

Hanne trägt ihr die Geschenke hinunter, und in Ditschas Stube setzt sie den Korb auf den Tisch und sagt: „Wull de leeve Gott, Fröln Ditscha, Sie hätten ’nen gooden rechtschaffnen Mann und ’nen Hushalt, so grot, dat Se garnich op ’nen Stuhl to sitten kämen. Wet’n Se wat? Se sind so äverspönig ut lange Wil un ut nicks annern, un in der Art sind de vörnehmen Frölns slimmer dran as Unsereins, wat darto kein Tid hat, weil man sin paar Groschen verdeinen mutt, um to lewen. Na, nicks vör ungood, gnä’ Fröln, Se können ja nu mal de Welt nich anners macken.“

Sie hat eine Lampe angezündet, noch eine Weile mit in die Seiten gestemmten Armen dagestanden und auf Antwort gewartet. Als Ditscha aber stumm bleibt, seufzt sie, schüttelt den Kopf und geht mit der Beteuerung, daß dies zur Weihnachtszeit das schrecklichste Haus sei auf dem ganzen weiten Erdenrund.

Hinter ihr schließt Ditscha die Thür ab; denn was sie jetzt thut, darf niemand sehen. Sie schreibt, sie zerreißt Briefe, sie zieht Schubladen auf und öffnet Schränke. – Um ihren kleinen Schreibtisch herum beginnt es unordentlich auszusehen; im Ofen brennt Papier und verbreitet einen scharfen brenzligen Geruch; des Mädchens Gesicht glüht purpurrot. Als sie endlich fertig ist, schlägt es drei Uhr morgens und erschöpft wirft sie sich aufs Bett, wo sie in tiefem bleiernen Schlaf liegt, bis der Tag dämmert, der Unglückstag für sie, der Anfang von dem tiefsten Leid ihres Lebens.




Der Heilige Abend bricht an; im Hause ist kein Laut, kein Ton hörbar, kein hastiges fröhliches Treiben, keine jubelnde Kinderstimme, kein Kuchenduft. Kein Wagen bringt Gäste, kein Postbote geheimnisvolle Pakete. Die Dienstboten schleichen förmlich auf den Zehen umher, die Herrschaft befindet sich im Wohnzimmer und ist für heute unsichtbar. In einem der vorderen Räume, dem sogenannten Empfangssaal, hat Tante Anna Platz genommen auf einem Sessel, den sie zum Kachelofen gerollt; sie trägt ein schwarzes Kleid und hat ein schwarz gebundenes Buch mit Goldschnitt auf den Knien liegen. Sie ist der festen Ueberzeugung, daß an diesem Tage einmal etwas Schreckliches passieren wird, bildet sich ein, ihr Bruder Joachim werde den Verstand verlieren oder einen Schlaganfall bekommen, und hält es für ihre Pflicht, sich nicht aus seiner Nähe zu entfernen.

Wie Tante Klementine diesen Tag verbringt, weiß niemand außer Hanne, denn auch das Turmgeschoß ist verriegelt.

Wäre das, was Ditscha vorhat, ein gutes Werk, so hätte man meinen können, die Engel im Himmel ebneten ihr die Wege.

Nichts störte sie, nichts hinderte sie, niemand fragte nach ihr, sie kann mit völliger Bequemlichkeit in ihr Unglück rennen.

Um sechs Uhr abends kommt sie die Treppe herunter in die Halle. Sie ist im Pelzmützchen und Mantel und hat den kleinen Fußsack als Täschchen am Arm, wie sie ihn stets mit in die Kirche nimmt. Totenstill ist’s um sie, nur das Rauschen ihres Kleides hört sie und das Ticken der alten Uhr. – „Wo – hin? Wo – hin?“ klingt es dem jungen Geschöpf in die Ohren, als sie vorüberschreitet. Sie glaubt auch ein Seufzen zu hören, das schauerlich durch den halbdunklen Flur weht – vielleicht der Schutzgeist des Hauses? Mit scheuen Blicken sieht sie sich um, aber nichts – nichts, was sie hält.

Noch einmal schaut sie rückwärts, dann mit einem energischen Ruck öffnet sie die Thür. Der Sturm reißt sie ihr aus der Hand, um sie schmetternd zuzuschlagen, der Hall schlittert durch das ganze Gebäude, gewaltig und laut. Ditscha erschrickt; mit so einem Donnerschlag mag das Thor des Paradieses zugefallen sein, als Gott die Menschen hinauswies auf immer, so krachend, so vernichtend und unaufschließbar für sie.

Onkel Joachim, der ruhelos im Zimmer umherwandcrt, hat es gehört, Tante Bertha auch, aber sie nehmen keine Notiz weiter davon. Die Frau mit den rotgeweinten Augen sagt nur: „Horch, der Sturm, Jochen!“

Er nickt und wandert weiter. „Damals,“ sagt er endlich, „damals war auch so ein Sturmabend, Bertha.“

„Ja, und die schöne junge Eiche wurde umgeknickt, Jochen.“

Seine Eiche, Berthachen – ich hatte sie gepflanzt an dem Tage, wo er geboren wurde –“

Sie seufzt, ohne ihn anzusehen.

„Wär’ besser, wir hätten den Tag nicht erlebt, Bertha –“

„Ach, Jochen – und es war doch so schön!“

„Ja, wie ich in Dein Zimmer kam und hörte sein Stimmchen – hatte eine Lunge wie ein Posaunenbläser und sah so rot und quabbelich aus – – ich hab’ nie gemeint, daß einem Menschen so zu Mute sein kann, Bertha, so wunderbar – so – na, ich weiß nicht, wie? Und nun – alles hin, alles hin!“

Die Frau auf dem Sofa leidet furchtbar in solchen Stunden, vielleicht mehr als der Mann; aber sie versucht doch noch, ihn zu trösten. „Joachim, ich denke immer, es ist ihm vielleicht viel Leid erspart worden. Wer weiß denn, was er hätte alles durchkämpfen müssen, wär’ er leben geblieben! Er war so zartfühlend, so leicht verletzlich – denk’ nur ’mal an eine unglückliche Heirat! Der Jung’ wär’ an einer Frau, die nicht zu ihm paßt, einfach zu Grunde [311] gegangen – oder an irgend etwas anderm Schweren, so etwas, wo wir beide da gestanden hätten in Jammer und Herzeleid, ohne helfen zu können, so etwas, wo wir hätten sagen müssen: ‚Wär’ er doch lieber nie geboren!‘ Denk’ nur, Joachim.“

„Ach was, Kind, das glaubst Du ja selber nicht, das hat Dir damals der Pastor einreden wollen! Ich hab’s gehört und hab’ mich darüber geärgert. Das ist ein jammervoller Trost, für alte Waschweiber und dergleichen! Damals hast Du auch nichts davon hören wollen. – Ich seh’ Dich noch, wie Du in Verzweiflung ihm winktest, er solle zu sprechen aufhören. Du saßest ja da und horchtest immer hinaus, meintest immer, die Leute würden den armen Jungen doch noch bringen, wenigstens seinen Körper. – ‚Er ist ja nicht tot, Herr Pastor!‘ hast Du gewimmert, ‚es kann ja nicht sein, nehmen Sie mir nicht alle Hoffnung!‘ Herr Gott, ich sehe alles noch vor mir, bis ins Kleinste! Du hattest ein kornblumblaues Kleid an und eine rote Kragenschleife, und die Haare hingen Dir wirr übers Gesicht, weil die beiden armen Hände immer wieder hineinfuhren, und so kreideweiß und so verzerrt warst Du, und dazu all die Leute in der Stube, die Verwalter, der Doktor, der Pastor und die Nachbarn. Der alte Graf Berkow, sein Pate, und der Karkower und die beiden Schlüchterns und der alte Calwerwisch – –“

„Und Du standest da am Ofen, als hättest Du den Starrkrampf, Jochen.“

„Ja, ich meinte immer, es sei ein Traum, und ich sagte zu Friedrich: ‚Kerl, rüttle mich ’mal, daß ich aufwache!‘“

„Jochen, wenn ich doch lieber gestorben wäre!“

„Oder ich! Du hättest den Jungen besser noch erzogen, wie ich es gekonnt.“

„Ach, Jochen, der erzog sich allein, er war so verständig – so gut –“

„Ja, ja, das war er,“ und der Mann bricht in leises jammervolles Weinen aus.

„Komm, Jochen, komm, trink’ Deinen Grog,“ bittet sie.

„Nein, heute nicht! Nein, ich kann nicht!“ Er setzt sich wie erschöpft neben sie in das Sofa und legt den Kopf an ihre Schulter. „Ja, Alte, was thun wir eigentlich noch hier?“ schluchzt er.

So sitzen sie beide, in dem Schmerz um den Verlorenen wühlend. Das Pfeifen des Sturmes draußen hat nachgelassen und die Heilige Nacht sinkt herab auf die in Andacht erschauernde Erde, in alle Häuser und Hütten dringt der Gottesfriede, nur in dieses nicht, und bitterlich weint der Mann. Und sie, die stille, früh ergraute Frau, hält ihn umfaßt, und auch ihre Thränen rannen leise über die Wangen.

Tante Anna draußen auf ihrem Weihnachtsposten nickt ein, so still, so totenstill ist es um sie her; dann wacht sie auf von einem bellen einzelnen Glockenton. Sie hat wohl lange geschlafen? Das Buch ist ihr vom Schoß geglitten, die Kerze vor dem Spiegel fast heruntergebrannt – Eins schon? Sie sieht nach – ein Uhr, richtig! Fröstelnd schmiegt sie sich tiefer in den Stuhl, dann fährt sie empor – es ist doch kein Traum gewesen! – Die Glocke – die Glocke der Hofthür wird abermals heftig gezogen.

Tante Anna springt auf – es ist ein Zeichen, das lange nicht vernommen wurde in diesem Hause. Sie ergreift das Licht und stürzt in den Flur. Friedrich poltert eben die Treppe herauf, noch in den Kleidern, denn die Leute sitzen noch beim Punsch beisammen, und läuft zur Thür.

Ein Telegraphenbote kommt herein, über der Uniform einen dicken roten Shawl, den er wahrscheinlich eben von seiner Frau zu Weihnacht bekommen hat, die Beinkleider aufgekrempelt, einen Stock in der Hand und rot vor Kälte.

„Ein Telegramm für Herrn Baron – sechzehn Groschen!“ sagt er mit einem gewissen Schmunzeln, das glauben läßt, er ahne etwas von dem Inhalt.

Tante Anna heißt ihn warten, eilt an die Wohnstubenthür und pocht, als gelte es, Tote zu erwecken. „Jochen! Bertha!“ ruft sie, „ein Telegramm!“

Darauf kommt der schwere Tritt des Bruders herüber. Er öffnet die Thür, und nun stehen sie zu Dritt und zittern dem Inhalt der Depesche entgegen.

Joachim von Kronen hat das Papier aufgerissen, über sein Geßcht fliegt ein wunderliches Zucken. „Ein Sohn!“ sagt er leise.

Tante Bertha faltet die Hände, ihre Lippen hängen an dem Antlitz ihres Mannes.

„Ein Sohn! Klaus hat einen Sohn!“ schreit Tante Anna auf, „Jochen – Bertha – einen Sohn! O, lieber Gott, welch ein Weihnachtsgeschenk!“

Jochen von Kronen faßt sich zuerst. „Und heute!“ sagt er, „Berthachen – heute!“

„Es ist – es ist wunderbar, Joachim!“

Tante Anna ist zur Klingel geeilt, und als Friedrich eintritt, ruft sie ihm entgegen: „Dem Herrn Oberst ist ein Sohn geboren, Friedrich!“

Der Alte nickt schmunzelnd, wirft indes einen scheuen Blick auf seine Herrschaft, der Baron aber reicht ihm mit zitternder Hand ein Geldstück – „Für den Boten!“

Tante Anna läuft jetzt aus der Stube, sie hat etwas von Ditscha und Klementine gerufen, ihre hohe freudige Stimme schallt durch das ganze Haus. – Die Lampen sollen im Empfangszimmer angezündet werden, befiehlt sie, die Leute sollen alle nach oben kommen, der Herr Baron habe ihnen etwas zu sagen: und nun stürzt sie die Treppe hinauf, um Ditscha zu wecken und Klementine.

Mann und Frau sind allein geblieben; seine Thränen sind versiegt. „Ein Erbe für Beetzen!“ sagt er leise. Sie aber, sie schluchzt jetzt ganz rückhaltslos, bitterlich, in diesem Augenblick rüttelt der Schmerz sie heftiger als je.

„Berthachen,“ murmelt er, „aber Berthachen!“

Im Hause ist es lebendig, ist’s Weihnacht geworden mit einem Male. Hanne hat Fräulein Klementine, die schlaflos auf ihrem Stuhle liegt, die Freudenkunde zugerufen, und die Lippen der Kranken flüstern ein Dankgebet. Friedrich hat sämtliche Lampen im Empfangszimmer angebrannt, die Dienerschaft versammelt sich da mit erregten Gesichtern, denn sie wissen alle, was geschehen ist, und auch sie bewegt die frohe Kunde, besonders die Alten. Der Baron spricht mit jedem ein paar freundliche Worte, die gnädige Frau nickt nur aus verweinten Augen. Tante Anna, Ditscha und Hanne fehlen noch.

Plötzlich stürzt letztere schreckensbleich herein. „Herr Baron, gnä’ Frau Baronin – uns’ Fröln Ditscha – o Gott – o Gott – nee!“ – Sie faßt sich an die Kehle, als ersticke sie von dem, was sie sagen will. – „Kommen Sie doch man bloß rasch nach oben!“ stößt sie endlich hervor.

Tante Bertha, die denken muß, das Kind sei krank geworden, eilt aus dem Zimmer, so rasch sie kann, der Baron folgt ihr. Die Thüre von Ditschas Stube steht weit auf, drinnen brennt ein Licht auf dem Tische. Tante Anna sitzt davor auf einem Stuhl, fassungslos, zitternd, ein Blatt Papier in der herabhängenden Hand.

„Was ist’s!“ ruft Joachim barsch. Er wird immer zornig, wenn er erschrickt.

„Schließt die Thür!“ verlangt Tante Anna.

Hanne macht die Thüre zu. Joachim entreißt seiner Schwester das Blatt, ärgerlich über ihr Gebahren, liest es, sieht im Zimmer umher, als suche er jemand, und liest wieder.

„Barmherzigkeit!“ schreit Tante Bertha, die ihn starr angesehen hat, „sie ist fort, Joachim, sie ist fort, Jochen – sie ist – –“

„Fort!“ sagt Tante Anna, „fort mit ihm –“

„Mit wem? mit –?“

„Der Schurke!“ stöhnt Joachim.

„Hans von Perthien?“ stammelt Frau von Kronen.

„Verzeiht mir, daß ich selbständig handle, lieber Onkel, liebe Tanten!“ liest er mit halblauter bebender Stimme, „ich werde Hans von Perthiens Frau gegen Euren Willen. In Helgoland werden wir getraut. Wenn Ihr mir verzeihen könnt, so thut es,

ich begehe ja keine Sünde, erfülle nur meine Pflicht, indem ich ein gegebenes Wort halte.
Sophie von Kronen.“ 

„Wann ist sie fort?“ fragt Joachim, als ob die beiden Frauen es wissen müßten.

„Hanne hat sie sicher zuletzt gesehen!“

Hanne wird hereingeholt. Sie kann keine Auskunft geben, sie weiß nur, Fräulein Sophie hat in die Kirche gehen wollen heute abend. Um vier Uhr, als Hanne ihr den Thee gebracht, war sie noch da.

„Sie wird mit dem Abendzug von Bützow fort sein,“ sagt Jochen von Kronen nach einer schwülen Pause. „Und jetzt habt [312] Ihr vor allem zu schweigen über die Geschichte, es gilt die Zukunft des Mädels,“ setzt er hinzu.

Er überlegt einen Moment. „Fräulein Ditscha hat Sehnsucht gehabt nach ihrem Papa und ist heimlich nach Berlin gereist“ – schärft er Hanne ein, „und Fräulein Anna und ich, wir reisen mit dem nächsten Zuge hinterher – verstanden? Wir reisen hinterher, weil wir unsern Glückwunsch zur Geburt des Jungen selbst bringen wollen. Geh’ hinunter und erzähle das – wehe dem, der etwas anderes glaubt.“

Herr von Kronen ist plötzlich der thatkräftige zielbewußte Mann früherer Tage. „Um drei Uhr fünfundvierzig geht ein Zug nach Hamburg,“ fährt er fort. „Friedrich soll mir in die Reisekleider helfen, Anna, mach’ Dich fertig, Du begleitest mich, ich muß versuchen das ehrvergessen Geschöpf noch vom Rande des Abgrundes zurückzureißen.“

„In eine Besserungsanstalt müßte man sie bringen,“ bemerkt Tante Anna, die Röte des Zorns auf den Wangen.

„Wäre sie mein, ich schösse sie über den Haufen,“ knirscht Joachim, indem er das Zimmer verläßt. Tante Bertha eilt ihm nach, sie wagt kaum, etwas Besänftigendes zu sagen, sie ist selbst so außer sich, so empört über des Mädchens Flucht, daß sie nervös zittert. „Herr Gott, was muß man alles erleben!“

In stummer Eile werden die Vorbereitungen zur Abreise getroffen. „Wo, um Gotteswillen, wollt Ihr sie denn in Hamburg suchen, Joachim?“ fragt Frau Bertha endlich.

„In irgend einem Hotel am Hafen, wo sonst?“ antwortet er, auf die Polizei werde ich gehen. Sie denken doch nicht, daß wir ihnen so bald nachsetzen, wie wollen sie denn überhaupt um Weihnacht nach Helgoland kommen? Ist gar keine regelmäßige Verbindung! Ich werde den Vogel schon erwischen, und Gnade Gott dem Schurken, wenn er mir unter die Hände gerät – die Hundepeitsche nehme ich mit!“

Tante Anna kommt in ihrem Pelz und mit dem Ausdruck tief gekränkter weiblicher Würde. „Daß ich je so eine Reise machen muß, hätte ich auch nicht geglaubt,“ seufzt sie. „Gott prüft uns schwer! Kaum schickt er einen Sonnenstrahl, so folgt schon die Wolke hinterher, und was für eine Wolke!“

„Halte Deine Reden ein andermal, Schwester, und komm, der Wagen ist da,“ unterbricht sie Joachim. „Adieu, Bertha – Gott weiß, wie wir wiederkommen!“

In wenig Minuten hört die noch immer wie betäubt dastehende Frau das Knirschen der Räder auf dem Kies des Parks, im schärfsten Trabe entfernt sich der Wagen.

Frau Bertha und Klementine sehen sich fast nie; erstere kann es so wenig wie ihr Mann überwinden, daß diese die unschuldige Ursache zu des Sohnes Tode war. Heute, in ihrer grenzenlosen Angst und Verwirrung, steigt sie die Treppe empor und tritt in die Schlafstube der kranken Schwägerin.

Klementine von Kronen sitzt aufrecht im Bette mit fieberheißen Wangen und gerungenen Händen. Sie sieht der Eintretenden entgegen, als sei sie ein Gespenst.

„Entschuldige, Klementine,“ sagt die zitternde Frau, „ich weiß nicht wohin vor Angst, ist es nicht fürchterlich? Wie konnte sie uns das anthun?“

„Erwachst Du endlich ’mal aus Deiner Trauer?“ grollt es zurück. „Hättest Dich früher dazu halten, früher die schlafenden Augen aufmachen sollen, dann wär’ ein großes Unglück weniger geschehen.“

„Ums Himmelswillen, was kann ich dafür, Klementine?“

Frau von Kronen ist ganz fassungslos auf den Stuhl zu Füßen des Lagers gesunken und starrt ihre Schwägerin an, als sei diese wahnsinnig geworden.

„Ihr allein könnt dafür, Du und Joachim!“ ruft die Kranke schneidend. „Dem Toten habt Ihr gelebt und der Lebendigen vergessen! Sie hat sich nach Liebe gesehnt und hat keine gefunden bei Euch, und da hat sie das erste beste, das sie dafür hielt, in ihr Herz geschlossen. – Ich habe gezittert für sie schon lange Zeit, aber was konnt’ ich thun, die Kranke, Gelähmte? Wenn mein Bruder Klaus sein Kind fordert und Ihr könnt es ihm nicht geben, so tragt Ihr die Schuld. Gott hat Euch viel genommen – ja! Aber Ihr trotzt mit ihm – alles, was er Euch gegeben hat an Lieblichem und Schönem, um Eure Wunde zu lindern, das habt Ihr mißachtet, habt es höchstens geduldet. Verzeih’, daß ich gerad’ heute so mit Dir spreche, aber – wer weiß, wann ich Dich wiedersehe, und – auf der Seele brannte es mir schon lange.“

Schwer atmend sinkt sie zurück. Frau von Kronen hat unter ihren anklagenden Worten den Kopf gesenkt, wie schneidige Schwerter sind sie ihr in die Seele gedrungen. „Dem Toten habt Ihr gelebt und der Lebendigen vergessen!“ Wie furchtbar wahr das ist, und wie weh der Blitz der Erkenntnis thut. „Klementine,“ stammelt sie, „Du weißt nicht, wie einer Mutter zu Mute ist, die ihr Einziges hingeben mußte!“

„An wen gabst Du es? An den Tod!“ ruft die Kranke laut. „Du weißt, es ist geborgen, gerettet vor allem Schmutz, vor aller Gemeinheit des Lebens – das Kind, an dem Du hättest Mutterstelle vertreten sollen, hast Du an das Leben verloren und weißt Du, an was für ein Leben? Weißt Du, welchem Verhängnis sie entgegen geht? Weißt Du, wie tief sie sinken kann? Ob es nicht so tief ist, daß sie sich nie wieder emporzuheben vermag? Und wenn Ihr sie wiederbekommt, vielleicht noch gerettet, noch rein an Leib und Seele, glaubst Du nicht, daß selbst dieser beabsichtigte Fehltritt ein ewiger Schandfleck für sie bleiben wird? Glaubst Du, daß ihre Seele sich je wieder von dem Drucke freimacht, den ihr diese unselige Erinnerung auferlegen muß?“

„Klementine, um Gotteswillen! Ach, wäre es doch erst morgen!“ jammert die gefolterte Frau. „Klementine, sprich nicht weiter, ich kann’s nicht hören heute – erbarme Dich!“

„Es hat auch keinen Zweck mehr,“ sagt die Kranke gleichgültig, preßt ihr Taschentuch vor den Mund und bleibt stumm.

Welch ein Tag! Ein Tag, an dem ein neuer, glückverheißender kleiner Stern aufdämmerte und ein heller, blitzender von seiner Höhe herabsinkt!

Wie wird es werden?

(Fortsetzung folgt.)




Die Suggestion im Dienste des Aberglaubens.

Von 0C. Falkenhorst.
Hexenwahn und Hexenverfolgung. – Die Hysterie. – Besessene.


Seit jeher war es den Menschen bekannt, daß seelische Regungen einen bestimmten Einfluß auf den Körper und seine Verrichtungen ausüben. Alltäglich kann ja beobachtet werden, wie Furcht und Schrecken die Muskeln lähmen und Blässe erzeugen, wie der Zorn das Blut aufwallen läßt, wie Kummer und Sorge an der Gesundheit nagen und die Kräfte zerrütten. Erst in der jüngsten Vergangenheit kam jedoch die Wissenschaft zu der klaren Erkenntnis, daß die Macht des Geistes über den Körper eine weit größere sei, daß nicht nur Gefühle, Stimmungen und Leidenschaften, sondern auch einfache Gedanken und Vorstellungen die Verrichtungen des Körpers zu verändern und in gewisse Bahnen zu leiten vermögen. Wer kennt nicht heute die Macht der Suggestion! Diese Erkenntnis ist nicht nur für den Arzt, der berufen ist, Leiden zu heilen und Krankheiten zu verhüten, von höchster Bedeutung, sie verleiht auch dem Geschichtsforscher den Schlüssel zum Verständnis einer Anzahl rätselhafter Bewegungen, die im Laufe der Zeiten weitere Volkskreise ergriffen, läßt ihn die festesten Säulen erkennen, aus welche der finstere Wahn des Aberglaubens sich jahrhundertelang zu stützen vermochte.

Wir wollen darum im Nachstehenden versuchen, an einigen geschichtlichen Beispielen zu zeigen, in welcher verderblichen Art die Suggestion gepaart mit krankhafter nervöser Anlage, den finstersten Aberglauben genährt und schlimmer als verheerende Kriege, einer Pest gleich, gegen die Menschheit gewütet hat.

Als ein Schandmal ragen aus der Geschichte der europäischen Christenheit die Hexenprozesse hervor. Was bei ihnen am meisten befremdet, ist die Thatsache, daß ihre Blütezeit nicht in das finsterste Mittelalter, sondern in die durch eine hohe Blüte der

[313]

Der Große Kurfürst empfängt Abgesandte der Refugiés.
Nach dem Wandgemälde von Hugo Vogel im Berliner Rathaus.

[314] Wissenschaft und Kunst, durch freie Geistesregungen ausgezeichneten Zeiten, in das 15. und 16. Jahrhundert fällt. Zauberer und Hexen hat es zu allen Zeiten gegeben; sie wurden wohl hier und dort verurteilt und hingerichtet, aber bis zu jener Zeit hatte man von Massenverfolgungen der Bethörten nicht gehört. Diese Schreckensscenen wurden durch zwei Ursachen bedingt.

Der erste dieser Gründe ist in der Aenderung im prozessualischen Verfahren und Beweissystem zu suchen, die im 15. Jahrhundert eintrat. Damals fingen die Gerichte an, das alte, rein formelle, auf Eid und Eideshelfern beruhende Beweissystem zu verlassen und alles vom Geständnisse der Angeschuldigten abhängig zu machen. Dieses Geständnis suchte man mit allen möglichen Mitteln, namentlich durch Anwendung der Folter herbeizuführen. Wir werden später erklären, wie verhängnisvoll dieses Verfahren gerade für Hexen sein mußte.

Der zweite Grund der Anhäufung der Hexenprozesse lag in dem Umstande, daß um jene Zeit die Lehre vom Teufel und seinen Beziehungen zu Zauberern und Hexen zu einem festgefügten System ausgebildet wurde und diese Anschauungen in höchstem Maße volkstümliche Verbreitung fanden. Wir wollen das Bündnis zwischen dem Bösen und den Hexen in kurzen Zügen schildern.

Der Teufel – so hieß es in jener Lehre – pflegte den Hexen unter der Gestalt eines anständigen Mannes, eines Junkers, Jägers, Bürgers und unter verschiedenen Namen, wie Volland, Federlin, Federhanns, Zucker, Kasperle, Gräßle, Hämmerlein, Kreutle etc., zu erscheinen. Er versprach, ihnen in ihren Bedrängnissen zu helfen, gab ihnen auch Geld und Edelsteine, nötigte sie aber, mit ihm ein Bündnis zu schließen. Sie mußten ihm versprechen, Gott abzusagen, Menschen und Tieren möglichst Schaden zuzufügen. Willigte die Verführte ein, so drückte ihr der Teufel sein Zeichen auf, er berührte sie am Arm, an der Stirn oder hinterm Ohre, und diese Stelle des Körpers blieb von nun an für immer unempfindlich; man konnte sie stechen, ohne daß die Hexe dabei Schmerz empfand oder aus der Stichwunde Blut floß. Das war das berüchtigte Teufelsmal, das stigma diaboli.

Nach dem Verschwinden des Bösen erlebte die Hexe eine Enttäuschung, denn Geld und Kleinode, die er ihr gegeben hatte, pflegten sich in Stroh und Dung oder wertloses Zeug zu verwandeln. Der Teufel, in dessen Besitz sie nun war, kehrte jedoch zu ihr zurück und stachelte sie an, ihren Nächsten Schaden zu stiften, zu welchem Zwecke er ihr Zauberpulver und andere Mittel gab. Er behandelte sie aber keineswegs gut, sondern drangsalierte oft sein Opfer; oft peinigte er sie derart, daß sie sich in schrecklichen Krämpfen herumwälzte. Der Böse versammelte auch von Zeit zu Zeit seine Getreuen um sich, und diese Zusammenkünfte, die an entlegenen Orten, auf Bergen, Burg- und Klosterruinen stattfanden und bei welchen verschiedene Scheußlichkeiten und Gotteslästerungen vollbracht wurden, hießen Hexensabbathe. Zu diesen Orgien holte der Teufel die Hexe selbst ab oder sie ritt zu ihnen durch die Lüfte auf einem Besenstiel, nachdem sie sich mit einer aus narkotischen Kräutern (Bilsenkraut, Stechapfel etc.) bereiteten Salbe eingerieben oder den aus gleichen Stoffen gebrauten Hexentrank zu sich genommen hatte.

Wurde nun eine Frauensperson unter dem Verdacht, eine Hexe zu sein, vors Gericht gebracht und leugnete sie die Schuld, so wurde sie zunächst der Hexenprobe unterworfen. Man hatte dafür verschiedene Proben ausgesonnen, wir erwähnen hier nur diejenige, die in der ersten Epoche der Hexenprozesse angewandt wurde. Man entblößte die Angeklagte und verband ihr die Augen; hierauf trat ein Chirurg an sie heran und stach sie in die verschiedensten Hautstellen, um jene Stellen zu finden, die als Teufelsmale unempfindlich waren und nicht bluteten. Solche Male wurden in der That ungemein häufig gefunden.

Leugnete die Angeklagte weiter, so wurde sie gefoltert. Unter den fürchterlichen Qualen gestanden viele alles, was die Richter wünschten, gaben andere Personen an, die mit ihnen am Hexensabbath teilgenommen haben sollten, und zogen neue Opfer ins Verderben. Ueberraschend ist es aber, daß viele der Unglücklichen alle Leiden der Tortur standhaft ertrugen, ohne zu klagen und ohne ein Wort zu gestehen. Das waren nach der Meinung der Richter die schlimmsten Hexen, denn ihnen stand im Augenblick der Tortur der Teufel zur Seite, machte sie gefühllos und legte ihnen das „Hexenschweigen“ auf.

In derselben Weise schlossen männliche Hexenmeister den Bund mit dem Bösen, unb in derselben Weise wurden auch sie gerichtet, aber sonderbarerweise war ihre Zahl im Vergleich zu der der Hexen äußerst gering.

Frankreich bildete den Ausgangspunkt der Massenverfolgung der Hexen. Dieses Vorgehen fand Billigung durch die Bulle des Papstes Innocenz VIII. vom 5. Dezember 1484, und von nun an breiteten sich die Hexenprozesse über alle christlichen Länder aus. Wie wüteten da die Hexenrichter! Zu Hunderten wurden in einzelnen Städten die Unglücklichen verbrannt, und an manchen Orten waren die Pfähle, an denen sie den Tod erlitten, wie ein Wald anzusehen.

Wie konnte die Welt durch einen krassen Aberglauben so furchtbar geblendet werden? Der Glaube an den Teufel allein hatte diese Verwirrung nicht gezeitigt. Es waren noch andere Umstände dabei maßgebend: erstens die Thatsache, daß Tausende von Hexen auch ohne Folter den Verkehr mit dem Teufel eingestanden hatten, zweitens das Vorhandensein von Erscheinungen am Hexenleibe, die nach der Anschauung der damaligen Zeit auf natürliche Weise sich nicht erklären ließen, wie die unempfindlichen, nicht blutenden Hexenmale und die Gefühllosigkeit bei der Tortur. Und doch waren diese Erscheinungen keineswegs Werke des Teufels. Sie waren Folgen einer Vorstellung, welche den Geist der sogenannten Hexen beherrschte und ihren Leib krankhaft veränderte. Noch heute könnte man die Stigmata diaboli zu Tausenden unter Frauen und Männern nachweisen!

Es giebt ein Leiden, das seit uralten Zeiten die Menschheit plagt, da es schon in den ältesten medizinischen Büchern beschrieben wurde, ein Leiden, das häufiger Frauen als Männer befällt und jedem unter dem Namen Hysterie bekannt ist. Der großen Masse des Volkes ist es heutzutage als eine launenhafte Krankheit verleidet, die selbst die längste Geduld auf die härteste Probe stellen kann, und in der That ist die Hysterie so wechselvoll in ihren Symptomen, daß sie dem Ungeübten eine ganze Anzahl von Krankheiten vorzutäuschen vermag. Wie vielfältig ist das Nervensystem der Hysterischen verstimmt. Ihre Empfindlichkeit kann gesteigert sein; sie bringt ihnen ein Heer von Schmerzen in den äußeren und inneren Körperteilen, dabei sind auch die Sinne überempfindlich; das Ohr vernimmt die leisesten Geräusche, das Auge erlangt die merkwürdigste Schärfe, der Tastsinn und der Geruch werden in unglaublichem Maße gesteigert. Aber neben dieser gesteigerten Empfindlichkeit besteht auch ein Verlust derselben, der zu den merkwürdigsten Erscheinungen der Hysterie zählt. Derselbe betrifft zumeist die äußere Haut, von der kleinere oder größere Bezirke sich unempfindlich zeigen und dabei so blutarm sind, daß sie, wenn sie mit einer Nadel oder einem spitzen Messerchen gestochen werden, gar nicht oder nur sehr unbedeutend bluten. Diese unempfindlichen Hautstellen, die bei Hysterischen sehr häufig vorkommen, sind eben die „Teufelsmale“, nach welchen die Hexenrichter fahndeten. Die Empfindungslosigkeit kann sogar den ganzen Körper erfassen, sie ist alsdann eine vollkommene, und schrecklich können die Verletzungen sein, die sich die Kranken in diesem Zustande zufügen oder selbst zuziehen. So haben Hysterische glühende Kohlen mit bloßen Händen aus dem Ofen geholt und sie an ihren Körper gedrückt, der nun mit den schlimmsten Brandwunden bedeckt wurde. Nun ist es klar, daß Personen, die mit einer derartigen vollkommenen Empfindungslosigkeit behaftet waren, in Hexenprozessen lautlos alle Qualen der Folter ertrugen, weil sie dieselben nicht fühlten. So erklärt sich das „Hexenschweigen“, durch das sie ihre Henker in Erstaunen versetzten.

Wichtig ist ferner der Seelenzustand der Hysterischen. Viele von ihnen erscheinen uns lasterhaft, und im allgemeinen sagt man ihnen nach, daß sie lügenhaft sind. Unbeständigkeit ist eins ihrer weiteren Zeichen. Die Empfindungen der Kranken wechseln ungemein rasch und damit auch ihre Stimmungen und Klagen. Darum gelten auch die Hysterischen als launenhafte Wesen. Deswegen sind sie aber nicht zu verdammen, sondern zu bemitleiden; denn sie sind ein Spiel von Vorstellungen, die ihre Seele durchzucken. Im Schlafe werden sie von aufregenden und schreckhaften Träumen geängstigt und im wachem Zustande sind sie oft Sinnestäuschungen unterworfen, und was sie in solchen Augenblicken gesehen, gehört und gefühlt haben, das erscheint ihnen wirklich erlebt, Gestalten der Einbildungskraft, lose und tolle Wahngebilde halten sie für Wirklichkeit. Infolgedessen erheben sie gegen sich und gegen andere Beschuldigungen und Anklagen, und noch in der [315] Neuzeit wurde das Zeugnis Hysterischer vor Gericht für völlig Unschuldige verhängnisvoll.

Erst in dem letzten Jahrzehnt ist es den Aerzten gelungen, den Zustand der Hysterischen zu verstehen, das Wesen der Krankheit zu enthüllen, und möglich war dies erst, nachdem man die Macht der Vorstellung und deren tiefen Einfluß auf die Verrichtungen und Empfindungen des Körpers durch hypnotische Versuche kennengelernt hat. Alle jene wunderbaren Symptome, die bei Hysterischen vorkommen, lassen sich zwanglos durch die Suggestion in hypnotischem Schlafe erzeugen, und so ist man allmählich zu der Ansicht gelangt, daß die Hysterie ihrem Wesen nach eine psychologische Krankheit ist. Ihre Grundlage ist ein geschwächtes, überempfindliches Nervensystem, und dieses macht den Körper zum Spiel der Eindrücke, welche die Kranken erhalten, und zum Spiel der Vorstellungen, die von außen auf sie eindringen oder selbstthätig in ihrem Geiste entstehen.

Treffend hat neuerdings J. P. Möbius, einer der besten Kenner der Hysterie, geäußert: „Die der Hysterie wesentliche Veränderung besteht darin, daß vorübergehend oder dauernd der geistige Zustand des Hysterischen dem des Hypnotisierten gleicht, d. h. jener reagiert, ohne hypnotisiert zu sein, wie dieser. Ebenso wie alle im hypnotischen Zustande beobachteten Erscheinungen sind alle Erscheinungen bei der Hysterie Wirkungen der Suggestion, d. h. des Vorstellens.“

Auf Grund dieser Erkenntnis wird es jedem klar, wie zu einer Zeit, da die Lehre vom Teufel und seinen Beziehungen zu Menschen mit größtem Nachdruck verbreitet wurde, der Teufel in den Träumen und Hallucinationen der Hysterischen eine hervorragende Rolle spielen mußte. Die armen Kranken glaubten, ihre Wahnvorstellungen wirklich erlebt zu haben, und versicherten mit voller Ueberzeugungstreue, den Teufel gesehen, mit ihm verkehrt und an seinen Orgien teilgenommen zu haben. Diese Erlebnisse erzählten sie umständlich dem Richter auch vor Anwendung der Folter und die Geschichten klangen sich immer ähnlich; denn die Kranken schöpften ihre Selbstsuggestionen aus der festgefügten und volkstümlich gewordenen Lehre von den Beziehungen des Teufels zu den Hexen, von welcher auch die Richter befangen waren.

Das Hexenwesen ist jedoch lange nicht das ausschließliche Gebiet, auf welchem die Suggestionskrankheit Hysterie den Teufelsaberglauben nähren half. Der Teufel schließt mit der Hexe den Bund, und sie verfällt seiner Macht mit ihrer Einwilligung; der Böse kann aber nach der alten Teufelslehre, ohne den Menschen danach zu fragen, in denselben hineinfahren, sich seiner wider Willen bemächtigen, der Unglückliche ist alsdann ein Besessener. Der Glaube, daß Dämonen in den Menschen hineinfahren können, ist uralt, es hat aber in Europa zu keiner Zeit so viele Besessene gegeben wie im 17. Jahrhundert. Damals war die Besessenheit geradezu epidemisch geworden. Man könnte sie als eine Abart des Hexenwahns betrachten, und manches spricht in der That dafür. Jedenfalls war es weniger gefährlich, den Besessenen als den Hexenmeister zu spielen, denn während Hexenmeister und Hexen hingerichtet wurden, trieb man dem Besessenen den Teufel aus. Zu wahren Epidemien gestaltete sich die Besessenheit namentlich in Frauenklöstern. Fühlte sich eine der Nonnen besessen, so folgten bald andere ihrem Beispiel. Die Scenen, die sich dann abspielten, waren geradezu schauerlich. Die Besessenen nannten den Namen des Teufels, der sich ihrer bemächtigt hatte; sein Name war nicht weltlich, wie dies zumeist bei den verführten Hexen der Fall war, sondern der theologischen Teufelslehre entlehnt, er hieß Uriel, Behemoth, Dagon, Magog, Asmodeus, Leviathan oder ähnlich; die Auswahl war groß, bestand doch das Höllenheer nach Weiers Offenbarung aus 72 Höllenfürsten und 7 405 928 gewöhnlichen Teufeln. Durch den Mund der Besessenen lästerte der Teufel Gott und die Heiligen; dann versetzte er ihren Körper in die furchtbarsten Verzückungen. Die Besessene wurde von Krämpfen befallen, Schaum trat vor ihren Mund; ihr Leib krümmte sich, daß die Fersen den Nacken oder der Kopf die Fußspitzen erreichte, oder ihr Leib wurde in gewaltigen Zuckungen emporgeschleudert, daß er mehrere Fuß hoch emporschnellte, zurückfiel zur Erde und wieder emporprallte, und dies wiederholte sich bis zwanzigmal hintereinander; andere Besessene rollten sich hin und her und schwarz und geschwollen trat die Zunge vor ihren Mund. Namentlich während der Teufelsaustreibung ereigneten sich solche Anfälle, die von den Zeugen ganz genau beschrieben und auch naturgetreu abgebildet wurden. Fürwahr, tief erschütternd war der Anblick solcher Vorgänge und teuflisch mußte die Macht erscheinen, die in den Unglücklichen wütete!

Zwei Jahrhunderte sind seit der Blütezeit der Besessenheit verflossen und Besessene leben nach wie vor unter uns. In schweren Fällen der Hysterie werden Krämpfe, wie die oben geschilderten, erzeugt, und die Aerzte haben in Nervenheilanstalten vollauf Gelegenheit, sie zu beobachten. Ihr Anblick ist in der That tief erschütternd, und beklemmend ist die Flucht der Ausdrücke, in denen das Gesicht der Kranken die Wahngebilde widerspiegelt, die vor ihren Augen vorüberwallen oder ihr Gehör erfüllen.

Manchmal, aber sehr selten, schreckt und ängstigt noch heute die Teufelsgestalt ein krankes Gemüt, das im Glauben an böse Geister großgezogen wurde. Im allgemeinen hat der Teufel seine Macht über die Menschheit, soweit sie aufgeklärt ist, völlig eingebüßt, und es sind Hallucinationen rein weltlichen Inhalts, die während der Anfälle die Kranken plagen. Diese stärksten Ausbrüche der hysterischen Krämpfe hat man mit dem Namen Hystero-Epilepsie benannt, obwohl sie mit der wirklichen Epilepsie nichts gemeinsam haben. Sie können auch epidemisch werden, wie die Besessenheit es war in den Frauenklöstern; wird auf der Abteilung eines Krankenhauses eine Hysterische von einem solchen Anfall betroffen, so kommt es wohl vor, daß andere Hysterische, die in demselben Saale untergebracht sind, der Reihe nach dieselben Erscheinungen zeigen und der Saal plötzlich einer Pulverlunte gleicht, die ein Funken entzündet hat.

Aber der Besuch eines solchen Krankenhauses bietet uns nicht allein traurige Eindrücke, im Gegenteil, er erfüllt uns mit erhebender Zuversicht. Vor zweihundert Jahren war es, da hatten die besessenen Ursulinerinnen von Loudun den Geistlichen Urbain Grandier beschuldigt, daß er nachts durch die Mauern in das Kloster eindringe, um teuflische Künste zu treiben. Man suchte den Nonnen den Teufel auszutreiben und nahm den Geistlichen ins Verhör; er hatte erbitterte Feinde, denn dem Gerichtshofe wurde sogar ein Brief, anscheinend in seiner Handschrift, übergeben, in dem er sich dem Teufel verschrieb, und dieser Brief wird noch heute als Kuriosum aufbewahrt. Grandier wurde als Hexenmeister gefoltert und verbrannt. Neulich hat in einem unserer größten Krankenhäuser eine Hysterische zwei Aerzte beschuldigt, daß sie nachts durch die Mauern in die Krankensäle dringen, aber es kam zu keinem Prozeß. Die Aerzte verziehen der Armen, die nicht wußte, was sie that und sprach, und pflegten sie, bis sie genas. Das ist eben die tröstliche Kunde, die uns von der modernen Wissenschaft verkündet wird, daß die Hysterie ein heilbares Leiden ist, und noch wichtiger und beruhigender ist die Erkenntnis, daß sie verhütbar ist.

Nur wer sich nicht zu beherrschen vermag, wer keine Schulung des Geistes durchgemacht hat, wer nicht zu denken versteht und im Fühlen und Empfinden aufgeht, wird zu einem willenlosen Spiel der auf ihn eindringenden Vorstellungen, wird zum Sklaven der Suggestion. Je vernünftiger der Mensch, desto gefeiter ist er gegen diese seelische Krankheit.

Eins aber lehrt uns noch dieser Abschnitt der Geschichte des Aberglaubens. Die Kulturmenschheit hat sich von dem Hexenwahn befreit, ohne die Macht der Vorstellung auf den Körper, ohne die Suggestion und ohne das Wesen der Hysterie zu kennen; die Macht der Aufklärung hat hingereicht, um diese Wahngebilde zu zerstreuen. Und wunderbar ist das nicht, denn der schwache Kranke schöpft seine Suggestionen nur aus der Umgebung, in der er sich befindet, deren Luft er atmet. Wo der Teufelsglaube unter den Gesunden geschwunden ist, giebt es heutzutage weder Hexen noch Besessene. Halten wir also fest an den Errungenschaften der Aufklärung und treten wir unverzagt allen mystischen Regungen entgegen, die in der Neuzeit ihr Haupt erheben möchten, weil sie natürliche Vorgänge nicht zu deuten verstehen, wie einst die Hexenrichter und die Masse des Volkes ratlos den Erscheinungen der Hysterie gegenüberstanden und in den Kranken dem Teufel Verschriebene vermuteten.




[316]

Die Jungfraubahn.

Der kühne Gedanke, eine Eisenbahn auf den Gipfel der Jungfrau zu führen, erscheint auf den ersten Blick so verwegen, daß er naturgemäß bei seinem ersten Auftreten gerechtes Aufsehen erregte. Da zugleich einige der ersten Konzessionsgesuche den Stempel einer überschwenglichen Phantasie und einer vollständigen Unkenntnis des Hochgebirges zur Schau tragen, so war es nur begreiflich, daß sich gerade die Bergkundigen dem Projekte gegenüber sehr skeptisch verhielten und es zum Teil geradezu mit Mißtrauen aufnahmen.

Und doch hat die Idee einen gesunden Kern: sie ist durchführbar und keine leere Phantasterei. Nach langer Prüfung der Frage und eingehendster Erwägung aller Faktoren erteilten denn auch die schweizerischen Behörden im Dezember vorigen Jahres Herrn Guyer-Zeller in Zürich die Konzession zum Bau und Betriebe der Bahn. Und damit ist wohl die Bahn selbst so gut wie gesichert, denn Guyer-Zeller ist ein so zielbewußter und energischer Kopf, daß ihn die Größe der Aufgabe eher reizen als abschrecken dürfte. Wenn Artikel 8 der Konzession für die letzte Strecke „Eiger - Jungfrau“ der Regierung eine spätere Genehmigung der Detailpläne vorbehält und dieselbe von dem Nachweis abhängig macht, daß Bau und Betrieb der Bahn „in Bezug auf Leben und Gesundheit der Menschen keine ausnahmsweisen Gefahren nach sich ziehen werde“, so ist auch hierin kein Hindernis zu erkennen.


Profil der Bahn in natürlicher Böschung. Maßstab 1 : 100 000

„Aber wir haben doch genug Bergbahnen - wozu nun noch eine neue!“ wird der geneigte Leser vielleicht denken, und nicht mit Unrecht, denn wir haben nicht nur genug, sondern viel zu viel Bergbahnen. Aber alle diese Bahnen zeigen uns ein und dasselbe Bild, denn ob wir den Rigi befahren oder die paar Dutzend anderen Bahnen, die seither nach der Schablone der Rigibahn erbaut wurden, so bietet sich uns immer nur ein und dasselbe Thema in etwas anderer Variation: es eröffnen sich stets auch Voralpenrundsichten, nie aber intimere Einblicke in die Hochgebirgswelt. Selbst die Wengernalpbahn führt nur am Hochgebirge vorbei, aber nicht in dieses hinein.

Und doch giebt es Tausende und aber Tausende, die sich danach sehnen, einmal einen offenbarenden Blick in die geheimsten Tiefen der Hochwelt zu gewinnen, denn ihre Kräfte und ihre Mittel reichten bisher hierfür nicht aus. Wenn nun hier die Technik in den Riß tritt und durch ein kühnes Werk Bahn bricht, so erfüllt sie nichts anderes als ein Gebot des Zeitgeistes.

Daß wir es mit keinem Hirngespinste, sondern mit einer technisch vollständig reifen Frucht zu thun haben, wird ohne weiteres aus folgendem klar. Schon heute führt bis in die halbe Höhe der Jungfrau eine bereits gut rentierende Eisenbahn, die Wengernalpbahn. Es war deshalb eine treffliche Idee Guyer-Zellers, die oberste Station dieser Bahn, die Scheidegg mit 2066 Metern Meereshöhe, als Ausgangspunkt für die Jungfraubahn zu benutzen. (Siehe oben unsere Kartenskizze.) Von hier aus führt die Bahn mit ganz mäßigen Steigungen bis zum Gipfel empor. Die größte Steigung beträgt bloß 26%, also nicht einmal die Hälfte der Maximalsteigung der Mürrenbahn (60%) oder der Bahn von Territet-Glion (57%).

Bis zum Eigergletscher fährt die Bahn oberirdisch, von dort an durchweg im Tunnel bis zum Gipfel. Dort wird die Aussicht durch Zwischenstationen derart erschlossen, daß die ganze Majestät des Hochgebirges zu vollster Entfaltung gelangt. Diese Zwischenstationen sind 1. Eigergletscher, 2280 Meter, 2. Eiger, 3221 Meter, 3. Mönch, 3623 Meter, 4. Jungfrau, 4100 Meter.

Von der Station Jungfrau bis zum allerhöchsten Gipfel, 4166 Meter, wird für alle Freunde der Bequemlichkeit ein „Lift“ in den Fels gesprengt; für solche Passagiere aber, die lieber gehen wollen, soll eine Wendeltreppe um den Aufzug herum emporführen.

Studieren wir nun aber vorerst der Reihe nach die Zwischenstationen: 1. Station Eigergletscher, 2280 Meter. Während wir auf der Scheidegg noch inmitten der Grasregion stehen, sehen wir uns hier angesichts der furchtbaren Dolomitwände des Eigers. Riesige Moränen und ein wundervoll zerklüfteter Gletscher umgeben uns in nächster Nähe – unmittelbar von der Station aus beginnt eine der dankbarsten Gletscherwanderungen. 2. Station Eiger, 3221 Meter. Sie liegt auf der Südseite des Eigers, nördlich der Bergliklubhütte, und erschließt einen Blick in den unteren Grindelwaldgletscher, wie er bisher nur Touristen ersten Ranges vergönnt war. Der untere Grindelwaldgletscher ist nicht nur einer der größten Gletscher der Gesamtalpen, sondern überhaupt der großartigste und schönst aufgebaute aller Gletscher ohne Ausnahme. Gleichzeitig ist seine Gipfelumrandung unvergleichlich. Die Schreckhörner, 4080 Meter, die Viescherhörner, 4049 Meter, das Finsteraarhorn, 4275 Meter, der Eiger, 3975 Meter, der Mönch, 4105 Meter, das Lauteraarhorn, 4043 Meter, etc. sind alles Gipfel allerersten Ranges, und sie alle liegen in unmittelbarster Nähe. - Noch interessanter aber wird 3. die Station Mönch, denn hier, bei ungefähr 3600 Metern Meereshöhe, sind wir gerade auf der Wasserscheide von Rhein und Rhone. Wir sehen einerseits ins Wallis, anderseits ins Berner Oberland hinunter. In mächtigem Abstürzen sehen wir den Guggigletscher zu unsern Füßen seine Eislabyrinthe zu Thal ergießen, indes uns der große Aletschgletscher spielend zum Eggishorn hinübergeleitet. Jungfrau, 4166 Meter, Mönch, 4105 Meter, Trugberg, 3933 Meter, Roththalhorn, 3946 Meter, sind von dieser Station aus zu Fuß leicht in etwa 11/2 Stunden zu ersteigen, und es ermöglicht uns diese Station somit, die interessantesten Hochgipfelbesteigungen mit einem Minimum von Anstrengung auszuführen. Gerade darin, daß die Jungfraubahn nicht nur auf einen Hochgipfel führt, sondern die Besteigung einer ganzen Reihe von Hochgipfeln ersten Ranges zu einer in höchstem Grade genußreichen und anstrengungslosen gestaltet, liegt ihr tieferer Wert und eine gewisse Garantie für ein gesundes Gedeihen des Unternehmens, denn die Station „Mönch“ ist geradezu ein Dorado für mittelmäßige Bergsteiger und ermöglicht es, einige Hochgipfel ersten Ranges ohne Ueberanstrengung zu bezwingen und Hochgipfelrundsichten bei ungeschwächtem Körper auf sich einwirken zu lassen.

4. Die Station Jungfrau liegt 66 Meter unter dem höchsten Gipfel der Jungfrau. Auch sie wird wie alle früheren Stationen direkt als eine Art „Rathauskeller“ in den Fels eingesprengt. Von ihr aus führt noch 66 Meter höher direkt ein „Lift“ (ähnlich jenem Aufzug des Eifelturms) zum höchsten Gipfelpunkte. Dieser erhält Wirtschaftsräume und ein wissenschaftliches Observatorium. Beide werden aber so eingerichtet, daß sie in keiner Weise den Berg verunstalten. Von unten wird man sie daher kaum bemerken können. Diese Gipfelstation wird nun ein überwältigendes Hochgebirgsbild entrollen, ein Bild, das um so ergreifender wirken wird, weil es uns völlig unvermittelt entgegentritt. Wir werden eben nicht wie bei einer Besteigung allmählich an die Abgründe und die Böschungen gewöhnt und dagegen abgestumpft, sondern wir treten völlig frisch und eindruckskräftig vor das urgewaltige Bild, und die Wirkung muß daher wahrhaft erschütternd sein.

[317] Aus unsern Ansichten läßt sich leicht ein genügend klares Bild der Bahn gewinnen. Die obere zeigt das Bahnprojekt von der letzten Station Scheidegg der Wengernalpbahn bis zum Gipfel, die untere veranschaulicht des Näheren den Anschluß der Bahn an die bestehende Wengernalpbahn; die ausgezogene Linie auf beiden zeigt das oberirdische Stück, die punktierte Linie den im Tunnel geführten Teil der Bahn. – Was die technische Seite des Unternehmens betrifft, so ist diese in den Grundzügen schon ziemlich abgeklärt. Nördlich von Lauterbrunnen, in der Nähe der „Hunnenfluh“ werden zwei Turbinenanlagen hergestellt und dadurch einige tausend Pferdekräfte gewonnen. Die Lütschine führt überreich Wasser dazu. Die so erzielte Kraft wird mittels elektrischer Stromleitung bergauf geleitet und dort zum Bau, zur Bohrung, zum Betriebe etc. verwendet.

Gesamtüberblick des Bahnprojekts.

Die Steigungen sind so gering, daß sie ohne Drahtseil überwunden werden können. Sie betragen im Maximum bloß 26 % und elektrische Firmen ersten Ranges verbürgten sich bereits für vollständig gefahrlose Anlage und Betriebsweise der Bahn.

Die Gesamtlänge der Tunnels erreicht nur etwa zwei Drittel jener des einzigen großen Gotthardtunnels – technisch sind also schon wesentlich größere Arbeiten ausgeführt worden.

Aus diesen kurzen Notizen ist daher leicht ersichtlich, daß die Aufgabe keine unmögliche ist. Der Schlüssel zur Lösung der ganzen Aufgabe liegt natürlich in einer genauen Vermessung des Baugebietes; aber auch eine solche wird entschieden durchführbar sein, wenn auch ihre Durchführung ganz außerordentliche Anstrengungen und Strapazen mit sich im Gefolge führen wird.

Das Jungfraubahnprojekt von Scheidegg bis Mönch.

Ich betone darum ausdrücklich, daß die Gipfelpartie der Jungfrau noch keineswegs so eingehend studiert ist, um schon jetzt zu gestatten, auch nur annähernd etwas Sicheres über die Spur der Bahn für die Strecke von der Station Mönch bis zum Jungfraugipfel zu sagen. Genaue Vermessungsresultate und [318] zuverlässige Kostenberechnungen sind noch abzuwarten, denn die vorläufigen Schätzungen scheinen jedem Kenner wesentlich zu niedrig gegriffen.

Von der Höhe der Bausumme wird aber in erster Linie die Rentabilität abhängen, und nach den bisherigen Erfahrungen läßt sich in Bergbahnangelegenheiten nicht vorsichtig genug sein.

Die Gesamtfahrzeit von der Scheidegg bis zum Jungfraugipfel soll ungefähr zwei Stunden betragen. Wie die wissenschaftliche Untersuchung ergab, erleidet bei passiver Beförderung der menschliche Organismus auch in der Höhe von 4000 Metern keine Störung, so daß jedermann, der eine längere Eisenbahnfahrt erträgt, auch diese Fahrt unbedenklich wagen darf. Nur hat in seinem Gutachten Professor Kronecker (Bern) allen „bergungewohnten“ Reisenden abgeraten, länger als zwei bis drei Stunden auf der Gipfelstation zu bleiben, um so jeder Gefahr, von der „Bergkrankheit“ befallen zu werden, vorzubeugen.

In etwa fünf Jahren soll der Bau durchgeführt werden und die erste Strecke, Scheidegg bis Eigergletscher, womöglich schon dieses Jahr gebaut werden. Damit würden den weitesten Touristenkreisen, selbst der zarten Damenwelt, die großartigsten Offenbarungen des Hochgebirges erschlossen.

Interlaken. S. Simon, Ingenieur.     


Hugo Vogels Geschichtsbilder im Berliner Rathaus.

Von Georg Buß.
Zu den Bildern S. 309, 313 und 321.


Im Berliner Rathause hat die Vorhalle zum Sitzungssaale des Magistrats, der sich auf dem Gebiete der Kunstpflege eines löblichen Eifers befleißigt, im Laufe des letzten Jahrzehntes einen umfangreichen malerischen Schmuck erhalten. Bedeutsame Vorgänge aus der Geschichte der Hauptstadt sind an den Wänden des langgestreckten, leider nur zu schmalen Raumes in Kaseinfarben zur Darstellung gebracht. Hugo Vogel, Scheurenberg, Bleibtreu und Simmler haben diese Gemälde ausgeführt. Zwei der ansprechendsten und auch ihrem Stoffe nach interessantesten dieser Bilder stellt heute die „Gartenlaube“ ihren Lesern vors Auge; das eine schildert den Empfang von Refugiés durch den Großen Kurfürsten, das andere die Besichtigung von Neubauten in der Berliner Friedrichstadt durch König Friedrich Wilhelm I.

Der eine wie der andere Vorgang weist auf Verdienste, welche sich frühere Hohenzollernfürsten um das Wachstum und Gedeihen ihrer Residenz erwarben, die später berufen sein sollte, die Hauptstadt des Deutschen Reiches zu werden. Die Flüchtlinge aus Frankreich, die um ihres Glaubens willen nach der Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahre 1685 ihre Heimat verließen, vergalten die gastliche Aufnahme, welche ihnen der Große Kurfürst in seinen Landen gewährte, durch die Einführung und Pflege nützlicher Industriezweige, namentlich in Berlin, das von da an erst als Industriestadt zu Bedeutung gelangte. Unter dieses thatkräftigen Fürsten segensreicher Regierung erfolgte aber auch in jeder andern Beziehung ein großartiger Aufschwung der während des Dreißigjährigen Krieges arg in Verfall geratenen Stadt. Für den Anbau der Friedrichstadt entwarf sein Nachfolger Friedrich III., der als König der erste seines Namens auf preußischem Throne war, den Plan, aber erst Friedrich Wilhelm I. gab ihm die Erweiterung, die noch ihr heutiger Umfang erkennen läßt. War unter des ersteren Regierung namentlich die innere Stadt mit dem Zeughaus, dem Schloß, der Akademie, den Kirchen auf dem Gendarmenmarkt ausgebaut worden, so wurde von Friedrich Wilhelm I. vor allem der Ausbau der Friedrichstadt betrieben. Er nahm an diesen Bauten den lebhaftesten persönlichen Anteil, freilich mit jener Selbstherrlichkeit, die seinem Wesen und dem absoluten Königtum, das er vertrat, eigen war. So sehen wir ihn auf unserem Bild die Rolle des Bauherrn mit der des Baumeisters vertauschen. Die Stadt Berlin hat aber aus seinem ebenso eigenwilligen wie energischen Vorgehen großen Nutzen gezogen.

Der Schöpfer dieser Bilder, Hugo Vogel, vertritt unter den genannten am Ausschmuck des Berliner Rathauses beteiligten Künstlern die jüngere Generation. Gerade in diesen Proben seines künstlerischen Schaffens offenbart sich das ihn beseelende Streben nach Wahrheit, nach scharfer Erfassung der Natur, nach überzeugender und eindrucksvoller Schilderung in bezeichnender Weise. Kein Pathos, nichts Komödiantenhaftes, keine Phrase, und gerade darum eine fesselnde Wirkung. So, wie sie hier geschildert sind, müssen sich die Vorgänge abgespielt haben. Gnädig empfängt der Große Kurfürst im Beisein seiner stolzen Gemahlin Dorothea von Holstein-Glücksburg und des Kurprinzen, sowie Grumbkows und verschiedener anderer Personen des Hofstaates, vor dem Portal des Potsdamer Stadtschlosses eine Deputation französischer Flüchtlinge, die voll Dankes ihm huldigen für die Gastfreundschaft und Förderung, die er ihnen gewährt hat. Und mit der ganzen Wucht seines Wesens erteilt König Friedrich Wilhelm I., der wie aus Erz gegossen dasteht, seinen Baumeistern und Werkleuten Befehle, wie sie in der Mauerstraße nahe bei der im Jahre 1738 vollendeten Dreifaltigkeitskirche die Häuser bauen sollen.

In Haltung und Ausdruck der Personen beider Bilder charakteristisches Leben! Man sehe nur die teutonisch monumentale Erscheinung des Kurfürsten und die geschmeidigen, von einer gewissen Eleganz umflossenen Figuren der Refugiés an. Mit treffenden Pinselstrichen ist der Unterschied zwischen germanischem und gallischem Wesen betont. Die Gestalten stehen auch wirklich im Raum, sie sind umflossen von dem hellen Licht des Tages, es sind wirkliche Menschen und keine Schemen. Und zudem klare satte Farben von wahrhaft erfrischender Kraft, denen auch im Schatten ihr ausgesprochener Charakter meisterlich bewahrt ist. Das alles eint sich zu Kompositionen von malerischer und großer Wirkung, die trotz des zum Genre neigenden Vorwurfes den vollwichtigen Anspruch auf monumentale Historienbilder erheben können.

Gleicher Vorzüge erfreuen sich die übrigen Wandbilder des Meisters in dieser Vorhalle: eine große Darstellung jenes bedeutungsvollen Momentes, da der Rat von Berlin und Cölln das Abendmahl in beiderlei Gestalt nimmt und sich hiermit dem protestantischen Bekenntnis zuwendet, sowie zwei Füllgemälde über den Thüren, deren herrliche, aus edelstem Schönheitsgefühl geborene Idealgestalten die Büsten Schlüters und Schinkels, der um Berlin so hochverdienten großen Baukünstler, mit Lorbeer schmücken. Der Karton zu dem erstgenannten Gemälde bildet den Hintergrund für das von uns wiedergegebene Bildnis des Malers.

Es war im Jahre 1885, als Hugo Vogel, damals dreißigjährig, in dem Wettbewerb, den der Berliner Magistrat um die Vergebung dieser Bilder ausgeschrieben hatte, den Preis errang. Für den „Verein für historische Kunst“ hatte er eben ein großes Gemälde vollendet, das ebenso wie das Bild im Rathause den Empfang der Refugiés durch den Großen Kurfürsten schildert, und zwei Jahre vorher war ihm in Berlin bereits die Kleine goldene Medaille für seine echt deutsch empfundene Schöpfung „Luther predigt auf der Wartburg“, die sofort in den Besitz der Hamburger Kunsthalle überging, verliehen worden. Der Sieg im Wettbewerb traf mithin einen an Jahren jungen, an Erfolgen jedoch schon reichen Meister. Seit diesem Siege im Jahre 1885 gehört Vogel der Künstlerschaft der deutschen Reichshauptstadt an, und in aufsteigender Linie hat er sich zu einem ihrer hervorragenden Mitglieder entwickelt.

Des Künstlers Vaterstadt ist Magdeburg. Hier ist er als Sohn eines Kaufmanns am 15. Februar 1855 geboren. Die feinsinnige Mutter, die alten und malerischen Bauten der Stadt, unter denen der Dom machtvoll und gebietend als vielhundertjähriger, schicksalsreicher Riese emporragt, Reisen nach Dresden zur Besichtigung der Schätze der Galerie weckten in dem jungen Realschüler frühzeitig künstlerische Neigungen. Seine Großmutter hatte Malerin werden wollen, und nun wurde der Enkel ein Maler. Hoffnungsfroh und thatendurstig zog der Neunzehnjährige gen Düsseldorf, um in den Aktsälen und Ateliers die Geheimnisse der Kunst zu ergründen. Unter seinen Lehrern fesselten ihn vornehmlich der urdeutsche Gebhardt und Wilhelm Sohn, der seit 1874 an der Akademie wirkte. Nach Beendigung des akademischen Studiums haben Verehrung und Freundschaft die Verbindung mit beiden Männern nur noch mehr gefestigt. Auf größeren Reisen, von denen eine im Jahre 1882 unternommene durch Spanien, [319] Marokko und Italien führte, wurden Anschauung und künstlerisches Empfinden gekräftigt.

Dann begann mehr und mehr die Schaffenskraft in beachtenswerte Werke auszuströmen. In einigen Bildnissen und in einer warm empfundenen Darstellung der deutschen Hausfrau prägte sich das frische Talent so fesselnd aus, daß ihnen aufrichtiger Beifall auf den Ausstellungen gezollt wurde. Auch zeigten Bestellungen und Verkäufe, daß er beim Publikum Anklang fand.

Und nun regte sich der Historienmaler, der große und bedeutungsvolle Handlungen groß und bedeutungsvoll darzustellen wünscht. Der Künstler, dessen Vaterstadt einst für das protestantische Bekenntnis so schwer gelitten, wandte sich der Reformationsgeschichte zu und schuf jenes schon erwähnte Bild, das Luther darstellt, wie er mit überzeugender Begeisterung in der altehrwürdigen Wartburg-Kapelle, durch deren bunte Scheiben goldig das Sonnenlicht dringt, vor einer kleinen Gemeinde, unter ihr der ehrenfeste Burgvogt und dessen liebliche Gattin, eine Predigt hält. Das war die erste, wirklich hervorragende Schöpfung des Meisters, die seinen Ruf fest begründete. Das feine charakteristische Leben der Figuren, die Kraft der Farbe, der reizvoll geschilderte Kampf zwischen dem Sonnenlicht und dem Schatten des Raumes, die trefflich ausgedrückte Art des deutschen Wesens stempelten das Werk zu einem der besten, welche die damalige Berliner Kunstausstellung darbot.

Schon im Jahre 1886 wurde der damals einunddreißigjährige Künstler zur Vertretung des erkrankten, leider zu früh verstorbenen Professor Hellquist als Lehrer an die Kunstakademie in Berlin berufen, im folgenden Jahre wurde ihm das Lehramt unter Ernennung zum Professor endgültig übertragen. Bis zum Jahre 1893 hat er in diesem Amte gewirkt, zahlreiche Schüler mit ausgezeichnetem Erfolge vorbildend; dann aber trat er von ihm zurück, um sich ungehindert seiner Kunst widmen zu können. Reisen die vorzugsweise nach Holland, Belgien und Paris unternommen wurden, und zwar meist in Begleitung der liebenswürdigen Gattin, der Tochter eines Marburger Professors, haben den bisherigen Berliner Aufenthalt zeitweise unterbrochen. In Brüssel regte ihn der Eindruck der Kirche von St. Gudule zu einem Bildercyklus an, der ihn gleichfalls bis in die jüngste Zeit beschäftigt hat. Auch in ihm hat Hugo Vogel gezeigt, mit welcher Meisterschaft er das Studium der feineren Lichtwirkungen im Dienst einer schöpferischen Kunst verwendet, die darauf ausgeht, Vorgänge der Vergangenheit mit dem vollen Reiz unmittelbaren Lebens im Bilde darzustellen.


Schwester Brigitte.

Novelle von Otto von Leitgeb.

     (3. Fortsetzung.)

Die Wochen verrannen.

In Käthes Seele that sich ein Zwiespalt auf. Es war ein Widerstreit dessen, was sich ihr eigenes Herz langsam aufgebaut hatte, und der neuen Eindrücke, die sich in dieses drängten. In ihre Seele, die früher klar und ruhig und wirklich eins mit sich selber gewesen, rannen so verschiedenhaltige Empfindungen zusammen, daß sie fast feindlich aufeinander stießen.

Langsam wurde aus ahnungsvoller Sorge ein fühlbarer Gegensatz und aus dem Gegensatz oft ein Ringen, wie von zwei Gegnern, die sich auf einem Pfade begegnen, der nur für Einen Raum hat. Und manchmal wurde es ein wilder Kampf, in dem ihr Herz blutete.

Es ahnte niemand, daß sie solchen Kampf in sich trug. Es wußte niemand, wie sie sich innerlich beugte vor dem Sturmwind, der an sie prallte, der die Blüten zerpflückte, die sie mit liebevoller Hand gepflegt, und sie forttrug, weg von ihr. Ihr Herz haschte nach jeder, als greife sie sehnsüchtig danach, wie der Sturm sie wirbelnd wegtrug über ihren Scheitel, die süßen geheimnisvollen Blumen ihrer Träume.

Und dann wieder wollte sie mit aller Macht die fremde Sorge hinausdrängen aus ihren Gedanken. Jene alten, freudewarmen Träume mußten ja die stärkeren sein. Sie hatten ihr ja so viel gegeben, so viel Vertrauen, so viel Zuversicht, so viel Glück. Sie waren ja das Leben, und das andere war der Tod.

Aber der Tod ist stärker als das Leben.

In seiner Angst kam ihr Herz bis dahin, sich selber zu täuschen, und sie sagte sich vor, daß sie an die Täuschung glaube. Dann waren hundert Stimmen laut in ihr und geschäftig, sie zu beruhigen, und so lange sie klangen, gab sie sich dem Irrtum hin, als könnte er sie betäuben.

Weit dahinter aber, ganz in der Ferne, ahnte sie einen Ton der lauter war als die andern alle. Und dann kam er näher, immer näher, bis die tröstlichen Stimmen schwiegen, eine nach der andern, bis der einzige Ton ganz allein, alles übertönend, an ihr Ohr schlug, ein einziges Wort, das alles versagte, alles verwischte, alles verneinte, ein riesengroßes Nein, das überall lebendig wurde, in jedem Atemzug, in jedem Blutstropfen, der in ihrer Schläfe pochte, in ihr und um sie – überall.

Und es war eine Lüge, daß die Liebe blind macht. Wurde sie denn nicht sehend? Hörte und sah sie nicht mehr als früher? – Es war, als ob ihre Sinne verschärft und verdoppelt würden, als käme ein neuer hinzu, der auf geheimnisvolle, wunderbare Art die Eindrücke aufnahm, wo sie sonst niemals zu erlangen sind, aus ahnungsvollen, fast hellseherischen Empfindungen, die über ihre Seele huschten wie der Widerschein einer unsichtbaren zitternden Lichtquelle.

Sie wurde ernster und wortkarger. Sie konnte manchmal das heitere lustige Plaudern von Hubert und Gusti schwer ertragen. Sie wurde fast empfindlich und konnte manchmal die beiden nicht lachen hören.

Sie tadelte sich selbst und litt darunter. Aber ändern konnte sie es doch nicht.

Aus ihren Stimmen hörte sie immer einen andern Klang heraus, der nebenher ging, so, als läge der Gedanke nicht mehr in den Worten allein, als schwebte er im Ton, im Hauch.

Und in ihren Augen sah sie dann nur mehr das Fremde, das, was der neue Sinn sah, was sich verbergen wollte, was mehr sprach als alle Worte; was die andern selbst vielleicht noch nicht verstanden und was sie doch schon erkennen mußte, mit dem grausamen Klarblick, der in ihrem Herzen erwacht war.

*     *     *     

Der Schnee schmolz und warme Regen wuschen den Winter hinweg. Die Tropfen von den Dächern gaben ein lustiges Konzert. Lange Tage standen die Wassertümpel wieder auf dem Markte, und in den Gossen rauschte es wie Bächlein. Wie im Herbst die fröstlichen Winde angekündigt hatten, daß der Winter näher ziehe, weckte nun eine laue Luft allenthalben die wohlige Ahnung vom kommenden Lenz, und der Himmel wurde klar und sonnig.

Nun trat auch Herr Meier drüben ab und zu wieder unter die Hausthüre, mit den Händen in den Taschen seiner Beinkleider. Und während er ein wenig auf den Platz hinaussah, hatte er die Gewohnheit, die Geldstücke aneinander zu reiben, die seinen dicken Fingern in der Tasche begegneten.

Sah er Hubert zufällig daherkommen, so rief er ihn von weitem an. „N’tag, Herr Förster, N’tag!“ Denn er gab ihm diesen Titel höflich im voraus. Gelegentlich unterhielt er sich auch mit ihm über die Jagd, über den Wildbretmarkt, über Streu- und Holzpreise.

„Mir scheint, der junge Mann gefällt Ihnen nicht übel, Herr Gevatter!“ sagte der alte Doktor eines Tages und zwinkerte mit den kleinen Augen, wie er zu thun pflegte, wenn er eine Neckerei im Sinne hatte. „Wär’s am Ende ein Eidam?“

„Hm!“ machte Herr Meier. „Uebrigens – es ist dafür gesorgt, daß die Gusti sich ihren Mann wird aussuchen können, Herr Doktor, wenn er nur ein braver und ordentlicher Kerl ist!“

Ueberall streckten sich nun grüne Blättchen in die Höhe, auch an den Rainweiden in Krügers Garten. Und am Waldrand draußen machten sich die Palmkätzchen schön, und darunter wurde es gelb von den aufgehenden Primelsternen. Hubert brachte einmal einen ganze Strauß davon mit, der dann tagelang im Fenster stand, der erste Frühlingsgruß. Der Vater arbeitete wieder an den Beeten draußen herum, und Käthe fing an, ihre Gemüse für die Küche zu besorgen.

Es schien alles wieder wie es immer gewesen, so viele Jahre daher.

Und doch war etwas anders geworden nicht für Käthe allein; auch für Hubert schien sich etwas Fremdes eingeschlichen zu haben [320] in ihren kleinen Kreis. Etwas, das namenlos war, aber doch dastand, und wovon manchmal ein Schatten über sie fiel.

Wenn Käthe allein war mit dem Vater und Hubert, schien sie die Alte; aber der alte heitere Ton war es nicht, wenn Gusti hinzukam, und dann hatte Hubert das Gefühl, als stocke irgend etwas und als trete ein Ernst in ihr Gesicht, den sie früher nicht gekannt. Sie konnten zuweilen beinahe schweigsam werden.

Aber keines fühlte es so wie Käthe, und keines kannte wie sie die Sehnsucht nach dem alten Frieden, denn ihr nagte ein Vorwurf und ein Tadel immer still am Herzen und bleichte ihre Wangen, als ob sie selbst die Schuld an dem Wechsel trüge.




5.

Die Wochen verrannen.

Der alte Kirschbaum draußen stand da wie ein riesengroßer Blütenstrauß, wie angethan mit einem weißen Festkleide. Und wenn die Mailuft durch die Aeste wehte, dann schauerten die weißen Blättchen herab, daß darunter der Tisch und die Bank davon bedeckt wurden, und der ganze Weg war bestreut mit Blüten.

Auf der Bank saßen die beiden Mädchen, arbeitend und plaudernd.

„Was bringst Du für ein hübsches Sträußchen mit!“ rief Käthe Hubert entgegen, der den Weg heraufkam.

„Gelt? – Sieh’s ’mal an,“ und er reichte es ihr hin.

Es waren die ersten Gentianen, Primeln und Leberblümchen. Ein paar zarte Farnblätter waren dabei, und ein Tannenreislein.

„Wer es wohl bekommen soll?“ fragte Käthe.

„Wart’,“ lachte Gusti. „Wir wollen uns darum bemühen! Die Wahl muß ihm ja schwer werden.“

Er drehte das Sträußchen lachend in der Hand.

„Ihr macht mir’s wirklich sauer!“

„Er hat recht,“ sagte Käthe nach einer Weile, und fast als ob ihr der Scherz zu lang währte, setzte sie hinzu „Wir müssen ihm doch freie Wahl lassen, wenn ich am Ende dabei auch den kürzeren ziehe. Du bist so geschickt, Gusti!“

Sie ging nach einiger Zeit ins Haus, um ein Garn zu holen, das sie zu ihrer Arbeit brauchte, und als sie zurückkam, hatte Gusti das Sträußchen vorne an die Brust gesteckt.

Käthe schlug die Augen nieder, als wollte sie ihre Gedanken verbergen. „O Gusti!“ sagte sie so unbefangen sie konnte, „Du hast ihm gewiß keine Ruhe gelassen!“

Die andere lachte fröhlich. „Nein, nein! – Es war seine freie Wahl!“

Käthe aber musterte ihre Arbeit und die Farben flimmerten vor ihren Blicken.

Die Sperlinge jagten sich und schwätzten oben in dem alten Baume.

„Welch ein Geschrei sie machen!“ sagte Gusti.

„Das müssen die Männchen sein,“ meinte Hubert. „Es sind ja ganz rauhe Stimmen.“

„O!“ rief Gusti. „Wenn sie kein anderes Liebeslied zu singen wissen.“ – –

Und Käthe begann das Elend, das auf ihrem Herzen lastete, wie eine Prüfung zu tragen, die ihr Gott beschieden und vor der sie sich beugen mußte. Alles war doch noch nicht entschwunden. Sie kannte noch die stille Freude, ihn zu erwarten, wenn er kommen sollte; sie fand noch oft den alten glücklichen Ton, wenn er dasaß und mit ihr und dem Vater plauderte.

Ab und zu sprach er im Vorübergehen drüben bei Meiers vor. Käthe sah ihn öfter, wie er aus dem Hause trat und über den Platz herüberkam. Dann pflegte er von seinem Besuche zu erzählen, und man sprach über dies und jenes, das darauf Bezug hatte.

Später aber kam er manchmal von drüben und erwähnte nichts mehr davon. Und einmal sah ihn Käthe das Haus verlassen und über den Markt hinab fortgehen. Das erste Mal gab sie nichts darauf. Aber dann wurde es öfter so.

Meiers Gusti lag dem jungen Jägersmann im Sinn. Sie hatte es ihm angethan mit ihren helleu Augen, mit ihrem blonden Kopfe, mit ihrem ganzen fröhlichen Wesen. Ihre zierliche, etwas untersetzte Gestalt stand ihm fortwährend vor Augen, sogar auf seinen einsamen Wegen über das Moor, im Forst. Und wenn die Lerchen sich trillernd erhoben gegen den blauen Sommerhimmel, dachte er an ihren Gesang und summte selber vergnüglich ein Liedchen.

Bald kam er vorwärts in seinen Gedanken. Er dachte an sein Amt, an seine Beförderung, an die Möglichkeit eines künftigen Hausstandes, und daß dann das bisherige Leben sich verändern würde – wie es sich ändern wird!

Daran blieben seine Gedanken zuweilen haften.

Eigentlich hätte er Käthe am liebsten haarklein erzählt, wie es um ihn stand. Er dachte es sich selig, ihr so davon sprechen zu können, und er hatte es mehr als einmal vor, auf dem ganzen Wege. Wenn er aber unter die Hausthüre trat, ließ er die Absicht fallen, es war etwas in ihr Wesen gekommen, das ihn schweigend davon zurückhielt. Sie war so sonderbar ernst und still geworden, und bei ihr wollte ihm die Anknüpfung an alles, was er dachte und erwog, verloren gehen. So fühlte er mehr als einmal, wenn er aus Meiers Haus trat und Käthe am Fenster erblickte. Und einmal gedachte er auch seiner ersten knabenhaften Neigung, die ganz weit zurücklag und seine Brüderlichkeit zu ihr einen Augenblick bedroht hatte, damals, als Käthe angefangen hatte, sich um seine kleinen persönlichen Angelegenheiten in mädchenhafter Sorglichkeit zu kümmern, und er sie seine „Frau Försterin“ genannt hatte; als sie um die losen Knöpfe an seinem Rock sorgte und seine verschlissenen Halstücher wieder in stand setzte, wie sie es treulich immer gethan bis hierher.

Aber sein Herz war anderswo gebunden und alles übrige verbleichte in der einen Empfindung, die vergeßlich macht und kalt auch gegen das, was eine lange Lebensstrecke ausgefüllt hat.

Er kam eines Tages wieder, gerade als die Mittagsglocken ausgeklungen. Es war ein heißer Sommertag. Die Mücken tanzten in der Luft über den Beeten und kein Blättchen regte sich an den Zweigen.

Käthe saß draußen unter dem Kirschbaum und wollte eben die Aepfel, die sie geschält, in das Körbchen vor sich zusammennehmen.

„Hör’, Käthel,“ sagte Hubert, nachdem er sich zu ihr auf die Bank gesetzt hatte. „Ich muß Dir heule ’was Ernstes sagen!“

„Ernstes?“ – Sie sah ihm in die Augen und merkte wohl, daß eine zurückgehaltene Erregung darin lag. Ein lebhafter Glanz, wie von freudiger Unruhe, schimmerte in ihnen und seine Wangen waren gerötet. Ihr aber war plötzlich, als legte sich der schwüle Mittag unmittelbar auf ihr Herz.

Einen kurzen Augenblick war’s, als griffe eine unsichtbare Hand in sein Wort, und er zögerte.

„Ich muß Dir doch etwas sagen – von mir!“ sprach er dann. „Weißt Du, Käthel, ich habe mich verlobt!“

Ihre Arme sanken unwillkürlich etwas zurück, mit den Ellbogen an die schlanken Hüften. Es schoß ihr heiß in die Augen wie hervorbrechende Thränen. Sie sah ihn stumm an und ihre feinen Lippen zuckten in jähem Schmerz.

Er schlug die Augen bestürzt nieder vor einer Erkenntnis, die wie ein greller Schein über sein Herz flog.

Und sie schwiegen beide, als forderte eine heilige Stimme in ihrer Brust, daß ihre Lippen stumm verharrten vor dem ungesprochenen Wort. –

Mechanisch zupfte Hubert an den Hirschhornknöpfen seines Rockes und starrte auf den Kies hinab, den er mit der Fußspitze langsam hin und widerstrich.

Und leise sagte er endlich: „Ich weiß jetzt, was Du mir gabst, Käthel. – Wenn ich Dir aber nicht das Gleiche geben kann?“

Die Worte wurden ihm schwer, wie etwas Unnatürliches, dagegen sich ihr Schweigen sträubte, bis es über ihn kam, als müßte er ihr sagen, wie sein Gedächtnis alles Liebe und Gemeinsame treu bewahre. Seine Gedanken flogen zurück in die vergangenen Jahre. Da und dort an den Schätzen ihrer armen schlichten Jugendzeit blieben sie haften, wie der Schmetterling wieder einmal zurückfliegt auf die Blumen, aus denen er süßen Seim geküßt.

„Du warst mir immer teuer,“ sagte er. „Ich hab’ Dich ja geliebt von Kindheit auf, wie ein Bruder die Schwester. – Weißt Du noch – als Franz und ich so wilde Jungen waren und Du ein scheues Ding in kurzem Röckchen? Als wir zusammen Kirschen pflückten und so wenige davon in das Körbchen kamen, weil wir so viel gegessen! Du standest unter dem Baum und warst so gewissenhaft und so hilflos gegen uns . . . ich werde nichts vergessen können – und die Zeit, da wir Dein Gärtchen drüben pflegen mußten, im Tagelohn für die Aepfel – und als wir Krieg spielten und Du die Marketenderin warst. – Du warst immer die treue Schwester! – Auch als ich mich mit dem Beil in die Hand schlug und Du mich verbandest und mich pflegtest, da, auf der Bank –“

[321]

König Friedrich Wilhelm I. besichtigt die Neubauten in der Berliner Friedrichstadt.
Nach dem Wandgemäle von Hugo Vogel im Berliner Rathaus.

[322] „O, schweig – schweig!“ rief Käthe leise und zitternd, und ein kurzes Schluchzen brach ihr Wort ab.

Ein tiefes, verwirrendes Mitleid erfaßte ihn.

„In dieser Stunde ist mir, als komme das alles auf mich,“ sagte er. „Alles wie ein Vorwurf! – Du sagst es nicht, Käthe; aber so steht sie jetzt vor mir, die ganze Zeit – sie klagt mich an, daß ich gefehlt habe an Dir. Großer Gott, wie gefehlt! – Wie soll ich Dir den Schmerz nennen, der größer ist, als ich je auszusprechen vermag –?“

Auch in seinen Augen brannte es, und seine starken Hände zitterten.

„Willst Du mir kein Wort sagen, Käthe? Schau, mir möchte sonst immer dünken, es liegt kein Segen auf uns, auf Gusti und mir!“

Sie bebte zusammen.

„O, laß mich, Hubert, laß mich! – Kein Vorwurf! Nur schweigen laß mich – und allein sein!“

Sie erhob sich langsam, und auch er stand auf. Er sah zu ihr in schmerzlich gespannter Erwartung. Aber er suchte vergebens ihrem Blick zu begegnen, der ihm unter den langen Wimpern scheu auswich, um die Qual ihres Herzens zu verbergen.

„Geh’ nicht so!“ bat er flehend und griff nach ihrer Hand. „Laß sie mir ein wenig – und hör’, Käthe – küß’ mich eimal noch!“

Sie zog ihre Hand aus der seinigen und machte einen Schritt von ihm fort auf den Weg. Sie hielt den Kopf immer tief gesenkt, und ihre Arme hingen schlaff herab.

„Nur noch einmal!“ sagte Hubert wieder. „Damit ich weiß, daß Du mir vergiebst! Wie in der alten Zeit – so, wie Bruder und Schwester. – O, küß’ mich noch einmal, Käthe!“

Sie wandte sich auf den Weg.

„Nein – ich kann es nicht –“ sagte sie leise und stockend. „Ich hatt’ es anders gemeint - der Kuß ist heilig -“

Und langsam ging sie dem Hause zu, ganz knapp an den Johannisbeersträuchern, die ihr Kleid streiften, und fuhr ab und zu mechanisch mit der Hand über die feinen Zweiglein. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, als prüfte sie die Beeren, die wie Blutstropfen zwischen den Blättern schimmerten.

Er stand regungslos, und seine Blicke hingen an ihrer schlanken Gestalt, als müßte er sie für ewig so im Gedächtnisse festhalten, die schwarzen, um den Kopf gelegten Zöpfe, das verschossene Sammetbändchen am Nacken, das verwaschene, rosagestreifte Leinenkleid, unter dessen Saume der Fuß bei jedem Schritte sichtbar wurde. Die Sonne lag auf ihrem Scheitel, daß ihr Haar glänzte. Und noch nie war ihm ihre ganze Gestalt, ihre Haltung so ruhig, so einfach und so edel erschienen. Es war, als ob auch in der Schlichtheit ihres Gewandes etwas läge, das ihn rührte. Heiße Thränen stiegen in ihm auf.

„Käthe!“ rief er noch einmal.

Sie wandte sich nicht um. Nur laugsamer wurde ihr Schritt, als zögerte ihr Fuß, sie fortzuführen von einem Stück ihres Lebens. Und so trat sie aus dem Sonnenschein in den Schatten des Hauses und entschwand unter der Thüre seinem feuchten Blick.

Er stand noch eine Weile wie verloren und strich mit der Hand über die Runzeln der verwitterten alten Tischplatte.

Und dann ging auch er langsam den Weg hinunter und mit gesenkten Blicken durch den Flur aus dem Hause, als ob er sich scheute, den Abschied zu denken. –

Noch eine schwere Stunde schlug für Käthe, als Gusti kam. Sie weinten beide. Die eine vor seliger Freude und die andere, weil ihr das Herz brach.

Und eine unsägliche Trauer bemächtigte sich Käthes, ein bodenloser Schmerz, daß sie es war, die einen Schatten warf über die beiden, daß sie es war, die einen Wermutstropfen in ihr Glück mischen sollte. In Augenblicken sehnte sie sich, Hubert ein Wort sagen zu können, und gleichzeitig schnitt ihr Elend schon das bloß gedachte Wort entzwei.

Sie beugte sich tiefer unter dem Griff des Schicksals. Ihr Wesen ward ein völlig andres. In kalte Nacht begraben fiel alles, was sie Teures geträumt, und wie mechanisch stand und ging und schaffte sie an den Arbeiten des Tages.

Sie sah ihn auch wieder, er mußte ja kommen. Sie sprachen mitsammen, fast als ob nichts ihre Wege getrennt hätte, die so lange nebeneinander gegangen waren. Sie zwang sich zum Gleichmut und zur Rühe, ja zu einer freundlichen Rede, die fast so klang, wie sie früher zu ihm gesprochen. Aber etwas Eisiges kam in ihr Wesen, etwas Verloschenes, Totes.

Mit aller Kraft ihrer Seele mühte sie sich ab, zu verdecken, wie ihr Leben zusammenbrach. Niemaud sollte es erfahren.

Einer aber kannte sie ganz genau und wußte alles, auch ohne daß sie ein Wort gesprochen: ihr alter Vater. Er sah, wie verkümmert sein Herzblatt aussah, und wußte, was sie stumm in sich trug.

Und so begann ein Spiel der Täuschung zwischen den beiden. Keines wollte dem andern seine Gedanken verraten, keines sich schwach zeigen.

Manchmal war es der süßeste Trost für sie, dieses stumme Verständnis des Vaters. Und dann wieder wurde ihr Schmerz nur größer daran, zehnfach und hundertfach.

Sie konnte den stillen traurigen Blick in seinen Augen oft nicht vertragen. Dann bemühte sie sich in ihrem Wesen, ihm Unrecht zu geben, ihn irrezuführen. Aber eine unendliche Müdigkeit kam damit über sie, in welcher ihr Herz erstarrte.

Und ein Gefühl trostloser Einsamkeit spannte sich über ihr Leben aus.

Sie suchte ihm zu entfliehen. Sie machte weite Wege über die Heide, durch die Felder. Aber der blitzende Sonnenschein vertiefte bloß die Schatten in ihr und das tausendfältige Leben der Natur machte ihr die regungslose Leere im eigenen Herzen bewußt.

Viel mehr Frieden fand sie in der nahen Kirche. Dort saß sie eines Abends lange still in einer der leeren Bänke hinter der Säule. Kein Laut regte sich. Das Abendlicht fiel durch die hohen schmalen Fenster herein, und dämmernd lag das Kirchenschiff da. Die Ruhe that ihr wohl. Sie saß regungslos da, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte vor sich hin auf die Mutter Gottes, die sich vom Altar zu neigen schien. Ein Rest von Tageslicht schwebte um das schöne milde Frauenantlitz wie eine Aureole. Das bleiche Angesicht übte einen seltsamen Zauber auf Käthe aus und bannte ihren Blick.

Seither kam sie öfter dorthin, gegen Abend, wenn die Kirche leer und still war. Sie saß manchmal lange da, am äußersten Ende der Bank. Und wenn sie nach Hause kehrte, nahm sie eine gewisse Beruhigung mit sich, als wären ihre Gedanken in etwas Großem und Allgemeinem aufgegangen und hätten darin einen Halt gefunden.

So kam ihr äußeres Wesen beinahe wieder in die frühere Haltung, und es gelang ihr, die Erschütterung, die sie bis in die Tiefe ergriffen hatte, wie etwas der Welt Fremdes zu verdecken. Als hätte sich eine verborgene glimmende Lohe nur das eine Mal in aufbrechenden Flammen verraten müssen und wäre nun wieder von der Kraft ihres Herzens niedergehalten und von dem Staub am Alltagswege erstickt.

Gegen die schmerzliche Empfindung, die Hubert mitten in seinem Glückstraum heimgesucht hatte, stritt die andere an, die er selig im Herzen trug, und die Sorge um Käthe, die ihm manche Stunde schwer und nachdenklich gemacht hatte, beruhigte sich daran.

Es war ja nicht möglich, daß zum Abschluß eines ganzen Jugendlebens voll schlichten Glückes sich der Kreis lösen sollte, den so viele Jahre mit ihren tausenderlei treulich geteilten Empfindungen um sie geschlossen hatten. Er konnte ja doch nicht mit einem Male verzichten auf das Bewußtsein, an Käthe eine liebevolle Schwester zu haben.

Vor der Zuversicht, mit der er lebensfroh seine Gedanken an die Zukunft spann, schwand wohl mit der Zeit, wenn er an sie dachte, das Schmerzliche, das ihre Begegnung damals zurückgelassen. Aber ein bitterer Bodensatz war dennoch geblieben, und manchmal stieg ein Nachklang jener Stunde plötzlich vor ihm auf, wie man in freudiger Zeit oft einen Mangel klarer sieht und gegen eine Lücke empfindlicher wird.

Einmal, im Wald, flog ihn der Gedanke an: es war ja doch ein Abschied an jenem Mittag unter dem Kirschbaum – ein Abschied von einem Herzen, im Augenblick, wo er es erkannt hatte. Wider Willen suchte sein Gedächtnis da und dort ein Licht aus der verblassenden Vergangenheit. Welch ein verborgenes Leben liegt in uns allen! Sie hat ihn geliebt, vielleicht jahrelang, hat jahrelang die aufkeimende Neigung still geborgen, ihm ihr Sinnen und [323] Sorgen, ihr stilles Hoffen und ihre Zärtlichkeit zugewendet, ihn umgeben mit ihren geheimsten Träumen, ihn geliebt, wie ihr treues warmes Herz lieben muß. Und erst so spät mußte das alles vor ihm stehen, aufleuchtend in einem Augenblick und in kurzem grellen Erglühen wie ein fallender Stern vor seinen geblendeten Blicken niederziehen; – erst damals, da ihre Wege sich schieden. –

Trocken und heiß verlief der Sommer.

In wolkenlosem Blau spannte sich der Septemberhimmel über Wald und Heide. Nur auf den fernen Höhenrücken lag ein dünner, silberweißer Schleier. Das dürre Gras am Heidesaum dunstete vor Hitze, und am Waldrand leuchteten die roten Stämme der Föhren, als ob sie glühend geworden wären in den heißen Sonnenstrahlen. Vom Waldboden strömte eine schwere, harzgetränkte Luft auf wie ein warmer Hauch, in den die regungslosen Zweige ihren duftenden Schweiß hinuntertropften.

Der Jäger lag an Grase an einer einsamen Stelle, wohin nur ein wohlvertrauter Fuß durch die Farne und das Heidekraut den Weg fand.

Aus dem Ried erhoben sich die Kiebitze und schrieen und zankten in der Sonnenluft. Abseits, an einem Stamme, hämmerte ein Specht. Durch das Schilf blitzte der kleine Wasserspiegel des Weihers regungslos.

Und wie er es von Kind auf so gern gethan, musterte Hubert die nächsten Gegenstände, die braunen Halme, um welche die Mücken tanzten; die feinen Moosballen, die sich dazwischen durchzogen. Gerade über seinem Kopfe, als wenn er gar nicht da wäre, schlug eine Spinne in geschäftiger Eile ihren Faden zwischen zwei Berberitzenzweigen. Ein paar kleine Heuschrecken stelzten sorglos umher, rieben die Beine aneinander und erregten ihr schwirrendes, scharf klingendes Sonnenlied. Und rings umher gab es Antwort, daß die Luft zu zittern schien von der Tausendfältigkeit des Geräusches.

Dann sah Hubert wieder sinnend in das weißliche Blau über den Baumkronen hinauf.

Und plötzlich drückte ihn diese luftlose Stille. Er sprang auf, so daß er die fleißige Arbeit der Spinne zerriß und die kleinen Schreier am Boden erschrocken durch das heiße Gras wegschnellten.

Unwillig, als ob der stille Sonnenschein auf dem verlassenen Fleck ein Unheil brüte, warf er die Büchse über die Achsel und schlug sich durch die knackenden Büsche.

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten



Spargelgrün. Die meisten Liebhaber des Spargels kümmern sich wenig um die Pflanze, die uns die saftigen Stangen liefert, und doch ist dieselbe in mancher Hinsicht interessant und eigenartig. Ist nicht das Spargellaub wunderbar gestaltet? So fein und zierlich, daß es den duftigsten Schmuck eines Blumenstraußes abzugeben vermag! Und dieses Spargellaub ist der eigentliche Schöpfer der „Stangen“, die wir genießen. Während des Sommers schießt es hoch und buschig empor, arbeitet im Sonnenlicht, erzeugt eine Fülle Materials, auch das dem Spargel seinen Wohlgeschmack verleihende Asparagin, und die Pflanze führt das Ergebnis dieser unermüdlichen Arbeit seines Laubes zu dem weitverzweigte kriechenden Wurzelstocke und nährt mit ihm im nächsten Frühling die schönen Spargelsprossen.

Das Spargelgrün arbeitet just wie alle anderen Pflanzenblätter, aber das zierliche Gebilde ist kein Blatt. Die Blätter des Spargels sehen ganz anders aus. Die kleinen rötlichen Schuppen an den eßbaren Stangen sind die einzigen wahren Blätter, welche die Pflanze hervorbringt, und die vielfach verästelten grünen Fäden des zierlichen Laubwerkes sind lauter Blütenstiele. Nur einige wenige von ihnen tragen kleine gelblichgrüne Glockenblumen, aus denen später die glänzend roten Beeren hervorgehen, die meisten sind fehlgeschlagen – bleiben nur Blütenstiele, die aber durchaus nicht zwecklos sind, sondern die Stelle der Blätter vertreten und wie diese arbeiten. Was hat wohl den Spargel veranlaßt, solche Launen zu entfalten? Forschen wir ein wenig in seiner Entwicklungsgeschichte, die weiter als die geschriebene Geschichte der Menschheit zurückreicht. Dieses Küchengewächs gehört zu der lieblichen und poetisch verklärten Gruppe der Lilienpflanzen und hatte wohl früher gleich diesen lange, dünne und saftige Blätter. Der Boden, auf dem es wuchs, und der Himmel, unter dem es blühte, veränderten sich mit der Zeit. Die Regen in jener Gegend wurden seltener und der sumpfige Grund verwandelte sich in trockenen Boden. Da rangen die Lilienpflanzen gegen diese Unbill der Natur und die meisten von ihnen gingen ein; eine aber wußte sich dem trockenen Standort, auf dem sie nunmehr angewiesen war, anzupassen. Sie warf ihre Blätter ab und erzeugte dafür eine Menge grüner Zweige und harter Blätterstiele, welche der Dürre besser trotzen konnten. Sie behauptete sich durch diese Aenderung, aber die Lilie hatte sich in den Spargel verwandelt. Fremdartig steht der Spargel unter den anderen grünen Pflanzen unserer Flora, auf unserem heimischen Boden das seltene Beispiel einer blattlosen Pflanze, deren Zweige die Arbeit der Blätter übernommen haben und dem unkundigen Blicke als Spargellaub, als wunderbar gefiedertes Blatt erscheinen. *     

Die deutsche Volksdichterin Katharina Koch, auf welche die „Gartenlaube“ wiederholt aufmerksam gemacht und deren Charakterbild Professor K. Weiß-Schrattenthal nach ihrem Tode im Jahrgang 1892, Nr. 28, entworfen hat, ist dem deutschen Volke bisher nur in einem Theil ihrer Dichtungen bekannt geworden. Es ist von ihnen nur bis auf vereinzelte zerstreut erschienene Proben die kleine Auswahl erschienen, die vom genannten Schriftsteller vor vielen Jahren herausgegeben wurde. Die Teilnahme, welche diese Auswahl in weiten Kreisen gefunden hat, das Interesse, das sich nach dem Tode der hochbegabten Dichterin kundgab, hat den Herausgeber veranlaßt, eine Gesamtausgabe ihrer Gedichte vorzubereiten, deren Erscheinen nunmehr bevorsteht. Das Buch wird außer den gesamten Gedichten auch die Erinnerungen von Katharina Koch enthalten, die lange Jahre als einfache Magd in ihrem Heimatsort Ortenburg in Niederbayern dahinlebte, bis der Erfolg jener Veröffentlichung ihr Los etwas besser gestaltete. Der Reinertrag des Buches ist bestimmt, für einen Denkstein verwendet zu werden, der in Ortenburg in der Nähe des Grafenschlosses errichtet werden soll. Kleinere Beiträge zu einem solchen hat Professor Weiß-Schrattenthal bereits nach ihrem Tode erhalten. Das Buch wird in nächster Zeit im Selbstverlage des Genannten (Preßburg, Kisfaludygasse 22) erscheinen.

Das schnellste Schiff der Welt. Wenn bisher unter den Schiffen die Torpedoboote die Palme der Schnelligkeit hielten und darin selbst den gefeiertsten Passagierschnelldampfern der Weltmeere um 20 bis 25% vorausblieben, so hat neuerdings eine andere Klasse von Fahrzeugen den kleinen Meerespiraten den Rang abgelaufen, nämlich die sog. Torpedobootjäger, deren jüngster im letzten Jahre die Werft von Thornycroft u. Komp. in Chiswick verlassen hat. Wie lange dieser bei etwa 250 Tonnen Gehalt rund 56 m messende Dampfer den Ruhm des schnellsten Schiffes behalten wird, kann man angesichts der schnellen Fortschritte auf dem Gebiete des Schiffsbaues nicht wissen, aber vorläufig ist er mit seiner auf den ersten drei Fahrten erzielten Durchschnittsgeschwindigkeit von 28,6 Knoten – zeitweilig bis 29,27 Knoten – in dieser Hinsicht die bedeutendste Leistung der Schiffsbaukunst. Zum Vergleich möge dienen, daß die schnellsten Passagierdampfer der nordamerikanischen Route um mehr als 6 Knoten hinter dem „Daring“, so heißt der neue Torpedojäger, zurückbleiben, und daß letzterer die Oceanfahrt von England nach New York, welche heute noch 5 bis 51/2 Tage dauert, in der That in 4 Tagen 5 Stunden machen könnte, wenn seine geringen Kohlenvorräte das erlaubten. In der That würde die Höchstgeschwindigkeit des „Daring“ und seiner Schwesterschiffe sich nur wenige Stunden, jedenfalls aber nicht für den Zeitraum eines vollen Tages, unterhalten lassen, denn dieser Schnelligkeit steht ein so unverhältnismäßiger Aufwand von Dampfkraft gegenüber, daß das Fahrzeug, selbst wenn es eben völlig mit Kohlen gefüllt wäre, doch schon in 10 bis 15 Stunden die Vorräte verbraucht haben würde. Ueberhaupt ist ja die Frage des Kohlenverbrauches und der kolossalen Maschinen der heikelste Punkt beim Bau geschwinder Dampfer und gern würde man, wenigstens bei den Schnellschiffen der Kriegsmarine, die Dampf- zu Gunsten der elektrischen Maschine ganz verlassen, wenn das bei größeren Schiffen möglich wäre. Aber der „Daring“ z. B. würde, sollte er anstatt durch Dampf durch Elektricität aus mitgeführten Accumulatoren getrieben werden, für seine 4800 Pferdekräfte – selbst wenn diese Höchstleistung nur 2 Stunden andauern sollte – das Vierfache seines Gesamtgewichtes in Accumulatoren mitführen müssen, was natürlich nicht möglich wäre. Wenn auf großen, bereits sehr kostspielig arbeitenden Oceanschnelldampfern etwa 1,5 Pferdekräfte auf jede Tonne Schiffsinhalt kommen, so sind es bei den Torpedobootsjägern, sofern sie mit voller Kraft arbeiten, zehnmal soviel! Auf längeren Reisen laufen daher auch diese Fahrzeuge stets nur mit mäßiger, höchstens 1/5 bis 1/10 ihrer Maschinenkraft erfordernder Schnelligkeit. Bw.     

Ein hoher Schuldner. Wenn es auch heutzutage noch vorkommt, daß fürstliche Herren in Geldverlegenheiten geraten, so nehmen sich solch unangenehme Verhältnisse doch golden aus gegen das finanzielle Elend, unter welchem in vergangenen Jahrhunderten selbst das Oberhaupt des Deutschen Reiches zu leiden hatte. Auch Kaiser Maximilian konnte ein Lied von dem ewigen Geldmangel singen, der so viel Beschämendes und Demütigendes mit sich brachte. So schrieben unterm 27. Mai 1496 die königlichen Räte zu Worms an den „Letzten Ritter“, daß, da er kein Geld gesandt habe, die Speisung seiner Gemahlin und des Hofgesindes stille stehe, nur durch große Mühe und Vorkehrung höchstmöglichen Fleißes hätten sie es dahin gebracht, daß wenigstens die allergnädigste Frau und ihre Jungfrauen noch drei oder vier Tage gespeist werden könnten. Würde jedoch kein Geld kommen, so würde die Speisung ganz aufhören. Der deutschen Kaiserin drohte also der Hungertod infolge Geldmangels! Der freundliche Leser wird fragen, ob denn niemand da war, der der Kaiserin geborgt hätte? Darauf muß man leider antworten, daß eben der Kredit schon so in Anspruch genommen war, daß kein Mensch mehr weiter etwas auf Borg geben wollte. Ein Jahr vorher, als sich die römische Königin in Mecheln aufhielt, war es ähnlich gegangen; die [324] Königin mitsamt dem Hofgesind und dem „Frauenzimmer“, d. i. dem weiblichen Hofstaat, warteten auf einen Abgesandten des Kaisers, der alle Schulden bezahlen und die Königin nebst Gefolge auslösen sollte. Als dieser jedoch immer nicht eintraf, schrieben die Herren vom Hofstaate die dringendsten Briefe an den Kaiser: „Wie schwer aber ihnen ist hie zu bleiben, nachdem sie ganz kein Geld haben und man ihnen auch nichts auf Borg mehr geben will, mag Ew. Majestät wohl ermessen: wir aber, so viel unser hie sein, sehen und greifen das.“ Herzog Albrecht von Sachsen wollte einen Teil der Schulden bezahlen, damit wenigstens „das Frauenzimmer“ ausgelöst würde, „das die Schuldner (Gläubiger) seiner Gnaden abgeschlagen haben, dieweil sein Gnad für alle Schulden, so Ew. Majestät, unser gnädigste Frau Königin und das Frauenzimmer hie schuldig sein, nit gutsprechen hat wollen. Deshalben das Frauenzimmer hie bleiben hat müssen.“ Wolf Herr zu Polheim und Marquart von Breisach schreiben, daß sie „solch Noth, Elend und Armuth in Ew. Majestät Frauenzimmer und am Hofgesind nit länger mögen ansehen“ und sie wegreiten wollten, wenn der Kaiser nicht eilends Geld sende. Nebenbei erwähnen sie, daß des Kaisers Hofmeister, der nach Antwerpen geritten sei, um die Gläubiger zu bitten, noch eine kleine Zeit Geduld zu haben, von diesen in der Herberge durch Stadtknechte festgehalten werde, damit sie Zahlung erhalten. Unter diesen Finanznöten hatte Kaiser Maximilian bis an sein seliges Ende zu leiden und es genierte ihn gar nicht, die 100 Gulden Leibgeding, die er 1515 Albrecht Dürer aus der Nürnberger Stadtsteuer gewährt hatte, auch noch dem Kurfürsten Friedrich von Sachsen zu verpfänden. Zum Glück für Dürer lebte der Kurfürst in geordneten Verhältnissen und hatte auch so viel Kunstsinn, Dürer nicht zu kurz kommen zu lassen.

Afrikanische Laubfütterung. Als vor zwei Jahren wegen der anhaltenden Dürre in Deutschland Futtermangel herrschte, wurde von verschiedenen Seiten den Landwirten der Rat gegeben, Laub von Bäumen zu verfüttern. Wir haben über diese Vorschläge auch in der „Gartenlaube“ (1893, Nr. 29) berichtet. Heute möchten wir noch als Nachtrag mitteilen, daß es in der That ein Land giebt, in welchem die Viehzucht auf Laubfutter begründet ist. Es ist dies die Insel Ukara im deutschen Teil des großen afrikanischen Sees Victoria-Njansa. Dr. Oskar Baumann, der als erster Europäer diese Insel besuchte, schreibt über deren Einwohner in seinem gehaltvollen Werke „Durch Massailand zur Nilquelle“: „Sie betreiben eine sehr eigentümliche Kultur, welche durch ihre insulare Lage veranlaßt wird. Sie bauen nämlich eine Art Laubbäume als Futterpflanzen für das Vieh: dieselben stehen in förmlichen Alleen. Das Laub wird abgeerntet und in kegelförmigen Schobern getrocknet. Dadurch sind sie in der Lage, große Rinderherden von kleinem Zubuvieh zu halten, obwohl die Insel keine Weideplätze bietet.“ – Da wird man wieder an den alten Spruch Ben Akibas erinnert. Was in Europa heute als Neuerung empfohlen wird, ist im Herzen von Afrika durch die „Wilden“ längst praktisch verwertet worden. *      

Sollen Kinder radfahren? Es hat alles seine Schattenseiten. Man hat solche auch bei dem sonst so gesunden Radfahren entdeckt und spricht und schreibt bereits von „Radfahrerkrankheiten“. Wir wollen auf diese nicht eingehen, denn es sind, genau besehen, Leiden, die infolge jeder Leibesübung eintreten können, wenn man sie übertreibt. Man hat aber auch die Frage aufgeworfen, ob Kinder radfahren sollen. In dieser Hinsicht möchten wir uns der Meinung derjenigen Aerzte anschließen, die wie Dr. A. Winckler davor warnen, Kinder und solche junge Leute, deren Knochenwachstum noch nicht vollendet ist, radfahren zu lassen. Bei ihnen begünstigt diese Art Leibesübung Verkrümmungen der Wirbelsäule und läßt auch Herzleiden zustande kommen. Will man trotzdem ein Kind radfahren lassen, so sorge man wenigstens für eine äußerst leicht gebaute Maschine, deren Maße genau für seinen Körper passen, und dulde nicht, daß es krumm darauf sitze. Außerdem kann auch der Druck, den der Sattel des Stahlrades auf den Körper ausübt, ungünstige Folgen nach sich ziehen. Es hat alles seine Zeit, und so mag auch der Knabe tüchtig laufen, springen und klettern lernen, um dann, wenn sein Körper ausgebildet und gestärkt ist, Maschinen zur Fortbewegung zu benutzen. *      

Die Heimat der Birkenrindenen“. In den ostbayerischen Waldlandschaften hat man eine eigene Art, zu schnupfen. Dort verwahrt der ehrsame Bürger und Landmann seinen Tabak in einer flachen blauen Flasche. Hat er das Bedürfnis nach einer Prise, so schüttet er sich das erforderliche Quantum auf die äußere Fläche der linken Hand zwischen Daumen und Zeigefinger und führt es so zur Nase, ohne sich der Finger zu bedienen. Anderwärts aber ist man der Ansicht, daß man eine richtige Prise nur aus einer Dose nehmen könne. Frankreich, wo man bereits zur Zeit Ludwigs XIII. (gestorben 1643) schnupfte und wo das Schnupfen gewissermaßen zu einem Sport ausgebildet wurde, hatte schon frühe eine förmliche Dosenindustrie, und ein Zweig davon, die Herstellung der Rindendosen, ist mit der Erwerbung Lothringens an Deutschland gelangt. Diese ursprüngliche Fabrikation wird in dem Dorfe Spittel unweit Saargemünd gegenwärtig noch in etwa 7 Werkstätten betrieben, welche mit 20 Personen jährlich 36000 Dutzend Dosen im Werte von 20– bis 24000 Mark erzeugen. Obenan steht die „birkenrindene“ Dose, wovon etwa 7200 Dutzend, meist nach Frankreich, verschickt werden; eine billigere Sorte wird aus Buchenrinde gemacht. Beiden Sorten ist der Lederhenkel gemeinsam, der in der einfachsten Weise mittels eines Knotens am Deckel befestigt wird. Viele Schnupfer bedienen sich mit Vorliebe, wenn nicht gar ausschließlich solcher Dosen. Man findet dieselben auch bei der Landbevölkerung in Süddeutschland ungemein häufig; ihr schlichter Verschluß ist für rauhgearbeitete Bauernfinger weit praktischer als jener der feineren städtischen Dosen.

Abendgesang
Nach einer Zeichnung von Aug. Kraus.

Mittel gegen Sommersprossen. Es giebt wohl kaum einen anderen Schönheitsfehler, der so viele erfinderische Köpfe beschäftigt hat, wie die Sommersprossen. Die Zahl der Geheimmittel, die dagegen helfen sollen, ist erstaunlich groß, und nicht minder zahlreich sind die Hausmittel, die von alten erfahrenen Frauen auf die jüngeren vererbt werden. Viele von diesen Mitteln sind in der That wirksam, leider aber in ihrer Wirkung zweischneidig; werden sie ohne genügende Vorsicht angewandt, so verschlechtern sie die Hautfarbe oder bringen gar einen schlimmeren Schaden hervor. Wir wollen zur Warnung nur ein Beispiel mitteilen, das Dr. P. J. Eichhoff in seinem trefflichen Werke „Praktische Kosmetik für Aerzte und gebildete Laien“ anführt.

Eines Tages kam zu ihm eine junge Dame in die Sprechstunde. Sie hatte sich, um einige Sommersprossen wegzubringen, ein Mittel gegen teures Geld gekauft und gewissenhaft nach Anweisung jede einzelne Sommersprosse mit der Tinktur betupft. Diese, eine zu starke Sublimatlösung, hatte allerdings die Sommersprossen weggeätzt, aber an Stelle einer jeden derselben nun große, runde Geschwüre gesetzt, welche heftige Schmerzen verursachten und nach der Heilung Narben zurückließen, so daß die junge Dame aussah, als hätte sie die Blattern gehabt. Wer ein Hautwasser oder eine Schönheitssalbe anwendet, deren Zusammensetzung ihm nicht bekannt ist, setzt sich ähnlichen Gefahren aus. Selbst wenn er ein „wirksames und unschädliches“ Geheimmittel kauft, ist er in der Regel geschädigt, denn er muß den hochklingenden Titel und die teuren Reklamekosten mitbezahlen. Es dürfte darum für manche unserer Leserinnen von Wert sein, Mittel kennenzulernen, die gegen Sommersprossen helfen und die man sich für billiges Geld selbst bereiten kann. Nur wollen wir bei unserer Mitteilung ehrlich sein und von vornherein erklären, daß es kein Mittel giebt, durch welches Sommersprossen ein für allemal vertrieben werden. Der Schönheitsfehler kann nur für eine bestimmte längere oder kürzere Frist beseitigt werden; wer Anlage und Neigung dazu hat, muß darauf vorbereitet sein, daß die gelben Flecken sich wieder einstellen.

Das mildeste und zugleich unschädlichste Mittel ist nun der Borax. Man nimmt 15 g Borax und löst ihn auf in 20 g Kölnischem Wasser und 130 g destilliertem Wasser. Mit diesem Waschwasser reibt man täglich verschiedenemal die mit Sommersprossen behafteten Stellen des Gesichts ein. Es wirkt allerdings langsam, kann aber ohne Schaden so lange fortgebraucht werden, bis der Erfolg eingetreten ist. Zeigen sich die Sommersprossen wieder, so beginnt man mit den Einreibungen von neuem.

Dem Borax kann man auch Pottasche (kohlensaures Kali) zusetzen; man erhält alsdann die sogenannte Lilionèse, für die es mehrere Vorschriften giebt. Wer sie bereiten will, braucht nur 15 g Borax und 5 g kohlensaures Kali in je 80 g Rosenwasser und Kölnischem Wasser aufzulösen. Dieses Mittel reibt man des Abends in die Haut ein und wischt es morgens trocken ab. Vielfach wird dieser Mischung noch präparierter Talk zugesetzt, etwa 5 g auf die oben angegebene Menge. Dieser wirkt als weißes Schminkmittel mit, indem er die Haut undurchsichtiger macht und die Sommersprossen verdeckt.

Zu anderen, kräftiger und rascher wirkenden Mitteln sollte man auf eigene Hand nicht greifen, sondern nur unter ärztlicher Leitung. Denn selbst bei Benutzung sogenannter Hausmittel, wie grüne Seife, Essigsäure und Schwefelblumen, kann man sich leicht Hautentzündungen zuziehen, die viel schlimmer sind als der Schönheitsfehler, den man beseitigen wollte.


Inhalt: Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg (5. Fortsetzung). S. 309. – Die Suggestion im Dienste des Aberglaubens. Von C. Falkenhorst. S. 312. – Die Jungfraubahn. Von S. Simon. S. 316. Mit Abbildungen S. 316 und 317. – Hugo Vogels Geschichtsbilder im Berliner Rathaus. Von Georg Buß. S. 318. (Zu den Bildern S. 309, 313 und 321.) – Schwester Brigitte. Novelle von Otto von Leitgeb (3. Fortsetzung). S. 319. – Blätter und Blüten: Spargelgrün. S. 323. Die deutsche Volksdichterin Katharina Koch. S. 323. – Das schnellste Schiff der Welt. S. 323. – Ein hoher Schuldner. S. 323. – Afrikanische Laubfütterung. S. 324. – Sollen Kinder radfahren? S. 324. – Die Heimat der „Birkenrindenen“. S. 324. – Mittel gegen Sommersprossen. S. 324. – Abendgesang. Bild. S. 324.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.