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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[741]

Nr. 44.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Um fremde Schuld.

Roman von W. Heimburg.
     (8. Fortsetzung.)

Sobald es dämmerig wurde, holte ich das Geld für die Base. Ich war im ganzen doch beruhigter, ich hatte felsenfestes Vertrauen zu der Macht der Komtesse, und wenn ich auch in Bezug auf Mama etwas unsicher geworden war, wenn ich mir auch sagen mußte, daß sie das Uebermenschliche thun würde im Pflichtgefühl gegen ihren neuen Gatten – mich würde sie doch nicht wider meine Neigung in eine Ehe zwingen, diesen Glauben hatte mir die Komtesse erweckt. Sie war ja doch meine Mutter, ich ihr einziges Kind, ihr Alles, wie sie mich so tausendmal genannt hatte. Und standen mir Kämpfe bevor, nun, so würde ich nicht allein kämpfen.

Der Beamte auf dem Rathause empfing mich mit gebührender Höflichkeit und wollte mich sogar zuerst bedienen, obgleich eine Menge Leute mit ihren Büchern wartete. Dicht vor mir stand eine kleine runde Frau, die ungeduldig von einem Fuß auf den andern trat, aber respektvoll zurückwich, als sie mich erblickte.

Die Sarkophage Kaiser Wilhelms I. und der Kaiserin Augusta im Mausoleum zu Charlottenburg.
Nach einer Originalzeichnung von W. Pape.

[742] „Bitte sehr,“ sagte ich zu dem Beamten, „immer der Reihe nach, ich habe Zeit.“

Ich kannzr die kleine Frau, die nun mit mir zurücktrat und ebenfalls noch warten mußte; es war die Totengräbersfrau von St. Marien. „Guten Tag, gnä’ Fräulein,“ sagte sie zutraulich, „waren schon früh heute morgen bei uns.“

„Jawohl, Frau Sietmann,“ entgegnete ich, und auf einmal kam wieder der Gedanke an den Fremden gewaltig über mich, und selbst den Schein der Neugierde auf mich nehmend, die ich doch schrecklich gewöhnlich finde, fuhr ich fort: „Da war heute noch jemand auf dem Friedhof, Frau Sietmann, so ein großer fremder junger Mann; kennen Sie ihn vielleicht? Er stand an Frau Wollmeyers Grab.“

Das runde Gesicht vor mir verzog sich zu einem Lächeln, einem schmunzelnden breiten Lächeln, das mir die Frau völlig fremd und unheimlich erscheinen ließ; ich hatte sie in ihrem Beruf als Totengräbersgattin und Leichenfrau zumeist nur mit dem entsprechend wehleidigen Gesichtsausdruck gesehen.

„Worüber lachen Sie denn um Gotteswillen?“ fragte ich.

„Ach, seien Sie nicht böse, gnä’ Fräulein, ’s ist nur, weil mich der fremde Herr heut früh genau so ausgefragt hat. Ich stand da vor unserem Häuschen und putzte die Fenster, man will’s doch ein bissel ordentlich haben – übermorgen wird der Herr Major von Tollen begraben und werden massenhaft vornehme Herrschaften folgen – da kommt der Fremde den Mittelweg herauf, geht aber bei mir vorüber. Na, denk’ ich, Guten Tag kann einer auch wohl sagen, er muß doch wissen, daß ich hierher gehöre – da kehrt er auf einmal um und kommt direktement auf mich los. ‚Sagen Sie mal, liebe Frau,‘ fragt er, ‚wer war denn die Dame dort unten auf dem Kirchhof?‘ ,Ja, weiß ich’s?‘ hab’ ich geantwortet, ,hier kommen viel Damens her; wie hat sie denn ausgesehen? Da sagt er: ,Klein brunett‘ – was ja wohl schwarz heißen soll – ‚Augen hat sie so groß, wie man sie selten sieht, und unterm Pelzmützchen haben ihr allenthalben die krausen Löckchen hervorgeguckt.‘ ,Ja, das könnt’ Fräulein von Tollen gewesen sein, was die Käthe ist,‘ hab’ ich geantwortet, ,aber die kommt doch heut nicht auf den Kirchhof, das arme Ding, die fürcht’ sich höchstens, weil sie ihren Papa übermorgen hinaustragen. Und da hab’ ich an Sie gedacht. ,Nee, warten Sie man, mein Herr, das wird Sternbergs Anneliese gewesen sein!‘ Und nun ist das so, Sie sagen’s ja eben selbst, gnä’ Fräulein, daß Sie es waren. ‚Sternbergs Anneliese?‘ hat er mir nachgesprochen, als besänne er sich auf etwas. Da sagte ich, nun ja, sie hat das Grab vom Papa besucht, kommt in Wind und Wetter und schaut nach ihres Vaters Ruhestätte, und was ihre Mutter ist, die hat sich ja den Wollmeyer genommen in zweiter Ehe.‘ Da hat er eine Tasche herausgezogen und hat mir einen Fünfzigmarkschein gegeben, fünfzig Mark, gnä’ Fräulein. ,So!‘ hat er gesagt, ‚da besorgen Sie ’mal das Grab recht schön, liebe Frau, und ich danke für freundliche Auskunft.‘ Und dann ist er gegangen. ‚Welches Grab?‘ hab’ ich hinterher geschrieen, aber er hat sich nicht umgedreht und nicht geantwortet. Und nun will ich man eben das Geld auf die Sparkasse tragen, denn so was kommt doch nicht alle Tage. Ich brauch’ mir ja kein Gewissen daraus zu machen, wenn ich’s nehme, ich sorg’ für alle Gräber, für Arme und Reiche, und der ganze Friedhof sieht aus wie ein Lustgarten, gnä’ Fräulein, das muß jeder sagen.“

„Bitte!“ rief jetzt der Beamte, und Frau Sietmann stürzte mit ihrem Sparkassenbuch vor.

Nein, zu den Schauspielern gehörte der nicht. Fünfzig Mark! Ein Westenberger Schauspieler und fünfzig Mark verschenken! Und ich lächelte plötzlich so vergnügt wie die Totengräbersfrau vorhin. Robert Nordmann! klang’s in meiner Seele wie Finkenschlag im Frühling, Robert Nordmann, der Base ihr Robert! Wenn er es wäre, welche Freude für die alte Frau!

Lange hielt freilich diese Stimmung nicht vor, und als ich in der Dämmerung nach Hause kam, schalt ich mich selbst aus. Wie konnte man so albern sein! Die drückende Gegenwart überfiel mich wieder mit aller Macht. Mamas Hilfe erschien mir zweifelhaft und das „Ausreißen“ unmöglich, als ich in den sinkenden Abend hinaussah. Die Angst vor einer unbekannten Fremde, wie sie jeder verspürt, der zum erstenmal hinaus soll aus der alten Heimat und der gewohnten Umgebung in eine ungewisse trübe Zukunft, packte mich mit eisernen Klammern. Wie wird’s werden, was soll ich thun, um mich zu retten vor dem verhaßten Menschen?

Da sah ich über dem leuchtenden Schnee des Hofes eine lange Gestalt daherwandern und erkannte das Ungetüm von Kapuze und den Muff, daraus man ein halbes Dutzend der jetzige Mode herstellen könnte, und mein Herz stand still vor Schreck. Die Komtesse, der mein Geschick keine Ruhe ließ, kam, um Wollmeyer ihre Meinung zu sagen, bevor sie sich bei Superintendents trafen! Am liebdten wär’ ich davongelaufen und hätte mich versteckt. Welche Scene würde nun folgen, schon deshalb, weil ich der alten Tante mein Vertrauen geschenkt hatte! Ich ging mit gerungenen Händen im Zimmer umher, während sie nun oben saß und ihre Auseinandersetzungen begann.

Mir war zu Mute, als hätte ich ein Verbrechen begangen; ich wußte nicht, ob die Zeit stille gestanden oder ob Stunden vergangen waren, als jetzt draußen eine Thür aufgerissen wurde und ein rascher heftiger Männerschritt sich meiner Stube näherte. Ich hatte noch kein Licht, aber ich erkannte die starke Figur meines Stiefvaters, der jetzt hinter sich die Thür schloß.

„Wo sind Sie?' fragte er kurz.

Ich erhob mich aus dem Lehnstuhl am Ofen. „Hier!“ sagte ich, aber der Ton wollte kaum aus der Kehle.

„Gehen Sie zu Ihrer Mutter hinauf, sie will Sie sprechen.“

„Weiß Mama –?“ stieß ich hervor.

„Wenn Sie so taktlos sind, ihr die Komtesse zu schicken als Fürbitterin, wird sie es wohl wissen.“

„Ich habe die Komtesse nicht geschickt – ich habe ihr nur, weil ich mich mit jemand aussprechen mußte – weil –“

„Diese Eutschuldigung nützt nichts mehr! Meine arme Frau ist furchtbar aufgeregt, und ich erwarte von Ihnen, daß Sie das Mögliche thun, damit sie ruhiger wird. Kommen Sie und – bitte – vor allem keinen Widerspruch!“

Ich ging vor ihm her nach oben mit zitternden Gliedern. Was würde Mama thun? Würde ihr Mutterherz sprechen, würde sie mich retten? Ach, sie konnte ja nicht wollen, daß ich unglücklich werden solle, sie konnte nicht! „Sie ist im Schlafzimmer,“ sagte er hinter mir; und ich schritt über den Gang und klopfte an die Thür. Als keine Antwort erfolgte, drückte ich auf die Klinke und trat ein; er folgte mir unmittelbar.

Mein Lebtag werde ich den Anblick Mamas nicht vergessen. Das Zimmer war erhellt, von der Decke hing die angezündete Ampel und auf dem Toilettetisch brannten die Kerzen der dreiarmigen Leuchter. Mama war offenbar beim Ankleiden gestört worden. Sie ging auf und ab; die marineblaue seidene Robe, über die sie einen Frisiermantel gebunden hatte, rauschte und knisterte bei jeder Bewegung. Ihr Haar fiel halb gelöst über den weißen gestickten Batistmantel, und an den Schläfen krauste es sich so eigentümlich, als habe sie in bitterer Verzweiflung mit beiden Händen darin gewühlt. Das Gesicht war furchtbar verändert, aschfahl, die Augen eingesunken und wie abwesend blickend; von der Nase zum Mund eine unheimlich scharfe Linie. Sie schien mich gar nicht zu sehen in ihrem Umherwandern.

„Helene, hier ist Anneliese!“ rief mein Stiefvater laut.

„Mama!“ sagte ich und trat vor sie hin, „Mama, um Gotteswillen –“

Sie sah an mir vorüber und die Hände zuckten nach den Schläfen. „Ja, ja, ich gebe es zu!“ rief sie, „es ist gut, Du kannst gehen!“

„Aber Mama!“ jammerte ich, die gefalteten Hände ihr entgegenstreckend.

„Helene, sprich vernünftig, nimm Dich zusammen!“ Er zwang sie in einen Sessel. „Du findest es ganz vernünftig und den Verhältnissen angepaßt, wenn Anneliese die Hand von Otto von Brankwitz annimmt?“

Sie zitterte am ganzen Körper und blickte vor sich hin.

„Helene, rege Dich nicht auf – mache der Sache ein Ende, sprich!“ forderte er streng.

Da nickte sie heftig, automatenhaft mit dem Kopfe: „Ja – ja – ja!“ Das letzte war wie ein Schrei.

„Meine liebe Mama!“ schrie ich auf. „Nein, Mama, Du kannst nicht, Du willst es nicht!“ und ich stürzte hin zu ihr und lag vor ihr auf den Knien und packte eine Falte ihres Kleides und forschte mit Todesangst in ihrem Gesicht.

Da drängte sie mich zurück und nickte noch einmal, ohne mich anzuschauen. „Ja, es ist recht, es ist das einzige, was – es ist eine sehr passende Partie, es ist – Du wirst es einsehen lernen –“

[743] Ich sprang empor. Eines Wortes war ich nicht mächtig, stumm wandte ich mich der Thür zu. Hätte ich geahnt, wie es in ihrer Seele aussah, welch furchtbare Marter sie litt, vielleicht wäre ich nicht so gegangen, so voll leidenschaftlichen Trotzes, so namenlos unglücklich, so fest davon überzeugt, daß meine Mutter mich nicht mehr liebe.

„Anneliese!“ Mein Stiefvater kam mir nach. „Treten Sie hier ein!“ Er schob mich am Arm in sein Schreibzimmer. „Sie sehen,“ begann er, „wie die Nachricht, daß Sie eine so vorteilhafte Partie aufgeben könnten, Ihre Mutter erschüttert hat. Sie sank wie leblos zusammen, als die Komtesse ihr unter den heftigsten Vorwürfen entgegentrat. Ich hoffe, alle Ihre nichtssagenden nackten Ausflüchte sind nunmehr beiseite gelegt.“

Ich antwortete keine Silbe, ich stand vor ihm, aber sah nach irgend einem Bilde an der Wand. Was sollte ich auch antworten? „Wir werden die Sache also sofort – –“ Er schritt zur Klingel. Da war ich mit einem Sprunge neben ihm und riß seine Hand zurück. „Ich habe Zeit bis morgen mittag, erinnern Sie sich!“

„Lächerlich!“ entfuhr es ihm. Nach einem Blick in mein Gesicht aber sagte er: „Meinetwegen, wenn Sie so kleinlich denken, und, bitte, die äußerste Rücksicht meiner Frau gegenüber! Sie sind kein Kind mehr, und ich kann Ihnen deshalb die Mitteilung machen, daß Sie Aussicht haben, nicht der einzige Verzug Ihrer Mutter zu bleiben, Sie werden ihre Liebe dereinst mit einem Geschwister teilen müssen, also, ich muß dringend um Schonung ihres mir jetzt doppelt teuren Lebens bitten.“

Ich preßte die Hände gegen das Gesicht vor Schreck und Scham und ging der Thür zu. „Also morgen mittag!“ rief er mir nach.

Wie ich hinuntergekommen bin, wie ich die nächsten Stunden zugebracht habe, dessen erinnere ich mich nicht mehr genau, aber das weiß ich, daß sie schwerer waren als alle die schweren, die ich durchlebt habe, daß sie aus dem Kinde mit einem Schlage das schwergeprüfte willensstarke Weib machten.


Droben war es jetzt ganz still. Es mochte neun Uhr sein, als ich endlich den Kopf hob und mit brennenden Augen in die Dunkelheit starrte wie eine Verzweifelte. Welche Macht hatte die Gemeinschaft der Ehe, wenn sie selbst die Mutterliebe auszulöschen vermochte! Und in diese Knechtschaft wollten sie mich stoßen, ich sollte im ewigen Kampf mit einem seichten gesinnungslosen Menschen mein Leben verbringen! Ein ewiges vergebliches Kämpfen, bis die Lebenskraft gebrochen sein würde, denn ich war nicht so fügsam, so leicht zu beeinflussen wie Mama. ich war ja, wie die Komtesse sagte, aus Trotz, Widerspruch und Leidenschaft zusammengesetzt.

Ausreißen! klang’s in mir. Was blieb noch anderes?

Ich hatte, am Fenster stehend, den Friedrich fortlaufen, den Sanitätsrat kommen und wieder gehen hören; dann war schließlich der Wagen doch noch vorgefahren, vielleicht um Herrn Wollmeyer zu Superinteudents, Frau Sellmann ins Theater zu bringen. Mama lag sicher ruhig zu Bette; sie hatte ihr Schlafmittel genommen – sie nahm so entsetzlich oft Chloral jetzt – um mich würde sich vor morgen mittag niemand kümmern. Dann aber kam man, mich aufzufordern, ich sollte mich „nett“ anziehen, und dann würde die Komödie in Scene gesetzt werden, und der – der – –

Ich schloß die Augen und stellte mir vor, daß diese wachsbleiche Männerhand mit den dünnen Fingern und den übertrieben langen Nägeln nach der meinen greifen, daß ich nicht das Recht haben würde, sie zornig zurückzuweisen, daß er neben mir gehen, daß er „Anneliese!“ flüstern würde, daß er mich mit diesen verletzenden Blicken ansehen dürfte, so viel er wollte . . .

Ich trat vom Fenster zurück, suchte nach meiner Briefmappe und nach Streichhölzern mit zitternden Fingern und angstvollem Herzklopfen. Ich wollte an Mama schreiben, einen Abschiedsbrief. Mama konnte mich entbehren, sie würde ja ein anderes Kind in ihren Armen halten, ein junges zartes Leben; sie würde es so in den Armen tragen, wie sie mich einst trug auf der kleinen Photographie, die immer Papas Schreibtisch zierte, die er sein Madonnenbild nannte – auf der ich kaum zu erkennen war vor Spitzen und Schleifen und auf der Mama so entzückend aussah, wie sie sich herunterbog zu mir und lächelte. Und da erfaßte mich ein wahnsinniger, ein eifersüchtiger Zorn; ich nahm das Bild und schleuderte es auf die Erde, und dann suchte ich die Glasscherben wieder zusammen und tastete nach der Photographie, die unter die Kommode gefallen war, und als ich sie endlich gefunden hatte, da drückte ich sie an mein Gesicht und begann leidenschaftlich zu schluchzen.

Dieser Ausbruch brachte mich zur Besinnung. Ich wollte ja fort und ruhig, besonnen sein, das war jetzt das Nötigste. Ich zündete Licht an und schrieb an die Komtesse, denn ich hatte mir überlegt, daß ein Brief von mir möglicherweise nicht in Mamas Hände gelangen könnte. Die Komtesse setzte ich von meinem Vorhaben in Kenntnis:

„Ich gehe zur Base, sie wird mich vorläufig aufnehmen, liebe Tante Komtesse: ich weiß nichts anderes im Augenblick und habe keine Zeit mehr, zu überlegen. Sag’ Du’s Mama und sag’ ihr auch, wenn sie mich zwingen wollen, Herrn von Brankwitz zu heiraten, dann laufe ich auch von der Base fort, aber so, daß mich niemand findet. Ich werde, mit Hilfe der Base, mir sobald als möglich ein Unterkommen suchen, wo ich Wollmeyer nicht mehr zur Last falle. Liebe Tante, ich thue, was Du mir geraten hast, ich sehe keinen andern Ausweg. Um eins bitte ich Dich flehentlich, gieb mir Nachricht, wie Mama meine Entfernung aufgenommen hat und ob sie gesund ist. – Versteh’ mich nicht falsch und behalte lieb Deine Anneliese!“ 

Dieses Schreiben verschloß ich, versah den Umschlag mit einer Briefmarke und beschloß, es auf dem Bahnhof in den Postkasten zu werfen, dann erhielt die Komtesse es morgen früh. Und ruhig stand ich auf und begann, nach meinem Schultäschchen zu suchen, denn etwas anderes, um ein paar nötige Gegenstände einzupacken, hatte ich nicht. Was ich mitnahm, war ein bißchen Wäsche, die Photographie Papas, ein Neues Testament, in dem von Papas Hand eingeschrieben stand: „Herr, Deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und Deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen.“ Nie hatte ich den Trost, den solche Worte geben können, deutlicher empfunden.

Ich wußte, um zehneinhalb Uhr ging ein Zug nach Magdeburg zu; in Magdeburg würde ich den Anschluß nach Thüringen erfahren und morgen früh konnte ich bei der Base sein. Eine andere Zuflucht gab es vorläufig thatsächlich nicht, und ich hatte auch das Gefühl, als wäre sie die Einzige, die mich schützen könnte.

Nur dies Morgen nicht hier erleben! Das war’s, was zunächst geschehen mußte; dann weiter auf eigenen Füßen. Tausendmal lieber das knappste Brot, als –

Ich zog mein Jackett an, nahm Pelzmütze und Muff, hing die Tasche über den Arm und verließ das Haus. Dem unbändigen Gelächter nach, das aus der Dienerstube erscholl, hatt ich nicht zu befürchten, jemand im Hofe zu treffen. Mir begegnete auch niemand, auch auf dem ganzen weiten Weg von der Stadt nach dem Bahnhof traf ich keinen, der mich näher kannte; der eisige Wind hielt alles in den Stuben, und in Westenberg ging man überhaupt abends kaum mehr aus.

Den Hundertmarkschein der Base – ich mußte ihn schon benutzen – brauchte ich wenigsteus nicht an dem schlecht beleuchteten Schalter wechseln zu lassen; meine kleine Barschaft reichte zu einer Karte dritter Klasse bis Magdeburg. Ich fuhr dritter Klasse, weil ich nicht wußte, wann ich imstande sein würde, der alten Frau meine Schuld zurückzuzahlen. Ein junger Kassierer, der mich jedenfalls nicht kannte, gab mir die Fahrkarte, und ich hatte gottlob noch nicht lange auf dem windigen Bahnsteig gestanden, da kam der Zug angebraust.

Ich stieg in das nicht übermäßig besetzte Frauencoupé – ein schriller Pfiff, ein grelles Läuten und langsam setzte die Wagenreihe sich in Bewegung. Ich war in meinem Leben erst ein einziges Mal verreist gewesen, als kleines Kind nach Köln, der Heimat Mamas, und das bange Gefühl, das den Neuling im Reisen ergreift, überkam mich während der ersten Stunde mit vernichtender Gewalt. Ich hatte einen Fensterplatz und starrte in die schneehelle Nacht, in die der Zug hineinbrauste. Mit rasendem Gerassel ging’s durch die kleinen Bahnhöfe; in weiter Ferne blitzten Lichter von verschneiten Dörfern auf, oder zogen sich die schwarzen Striche der Kiefernwälder hin, dann wieder endlose unabsehbare Schneeflächen, auf denen der Dampf der Lokomotive einen Reigen gespensterhafter Figuren aufführte, und dazu das Pfeifen des Windes, der an der Wagenreihe entlang strich.

Neben mir faß schlafend ein junges Mädchen; sie hatte die Augen geschlossen und um ihren Mund spielte ein glückliches Lächeln. Sie hielt im Arm, fest an sich gepreßt, ein Paket, das ihr aber endlich bei einer Bewegung, die sie im Schlummer machte, entfiel. Sie erwachte und sah, daß ich mich bückte und es ihr aufhob; sie [744] dankte sehr freundlich und fing ein Gespräch an. Wo ich hin wolle? Wo ich her käme? Sie habe ja gar nicht gesehen, daß ich eingestiegen sei.

Ich antwortete kurz: „Nach Thüringen.“

„Nun, da reisen wir zusammen“ meinte sie, „ich will heim, um meine Aussteuer zu nähen; ich war bis vor kurzem in Stellung in Hamburg, und zu Weihnachten haben wir Hochzeit. Mein Vater ist Kantor in Quersleben.“

„Ich will auch in die Gegend,“ sagte ich, „Quersleben ist meine Endstation. Wenn Sie erlauben, machen wir die Reise miteinander.“ Sie nickte, wickelte ein Butterbrot aus und begann zu essen. „Darf ich Ihnen anbieten?“ fragte sie.

„Danke sehr, ich nehm’ es sehr gern an!“ Und ich aß mit der kleinen Kantorstochter Hamburger Schwarzbrotschnitten, denn ich hatte seit Mittag nichts genossen. Sie thaten mir wohl, diese Butterbrote und diese Freundlichkeit.

„Man bekommt gleich andern Mut,“ bemerkte die Kleine, „wenn man satt ist,“ und bot mir nochmals an. Leider glaubte sie nun das Recht zu haben, mich etwas auszufragen, begriff aber sehr bald, daß ich das nicht liebte, und beruhigte sich mit den Worten: „Sie wollen wahrscheinlich aufs Amt in Langenwalde, die Inspektorsfrau hat ja immer solche, die die Wirtschast lernen wollen.“

Als ich schwieg, schwieg sie auch, und dann schlief sie abermals ein und träumte von ihrem Schatz, denn sie lächelke wieder im Schlaf. Das Treiben auf dem Bahnhof in Magdeburg, wo wir übrigens eine Stunde zu warten hatten, verwirrte mich etwas; ich war ja, wie gesagt, Neuling im Reisen. Meine resolute Begleiterin aber verschaffte mir die Fahrkarte und sorgte, daß wir Kaffee bekamen, und um halb zwei Uhr fuhren wir glücklich wieder weiter. Um Neun früh sollten wir in Quersleben sein.

„Ich freue mich auf den Schnee in den Bergen,“ sagte die Kleine, „weil’s dann gar so gemütlich zu Hause ist. Und meine Mutter, die ist so glücklich, daß sie mich noch ein paar Wochen hat, ehe ich heirate. Bin so zwar auch nicht bei ihr gewesen, unsereiner kommt ja schon aus dem Hause, sobald er vierzehn ist, aber so vom Ladentisch weg hätt’ ich nicht mögen heiraten, wenn man seine Heimat noch hat.“ Ich hörte ihr zu mit brennenden Augen.

„Sie haben doch Ihre Eltern noch?' fragte sie.

„Nein mein Vater ist tot.“

„Ach, das thut mir leid! Aber die Mutter?“

Es mochte beim Zurückdrängen des Schluchzens ein eigentümlicher Laut aus meiner Kehle gekommen sein, denn sie fuhr erschrocken fort: „Gott, nun weinen Sie! Aber Sie müssen nicht weinen, mein Vater sagt immer, über Waisenkinder hält der liebe Gott einen erwa großen Parapluie.“

Ich mußte lachen bei diesem Gleichnis, und doch saßen die Thränen mir bedenklich nahe. Und nun kam die kleine Geschwätzige auf ihren Zukünftigen. „Nein, so ein braver Mensch, und so gar nicht oben aus und so sparsam, und wie er seine Sache versteht! In der ganzen Steinstraße hat keiner so schönen Reis und so delikaten Käse wie er, weil er’s Einkaufen versteht, wissen Sie. Und wie er die Kunden zu behandeln weiß, alle Köchinnen aus der Straße kommen nur in unsern Laden. Er ist man ein ‚büschen‘ klein,“ schaltete sie auf gut hamburgisch ein, „aber sie kommen doch. Nun und ich versteh’ ja auch mit dem Publikwm umzugehen und ob man nu Kaffeebohnen verkauft oder Weißwaren – Handel ist Handel, und wir werden schon machen, daß wir vorwärts kommen und daß wir ’mal auf unsere alten Tage in Blankenese oder da herum ein eigenes Häuschen haben, wo wir dann vor der Thür sitzen und uns ausruhen.“

Mir that die harmlose Plauderei wohl, nichts erfrischt so sehr, als wenn man im eigenen Elend sieht, daß doch noch Glück in der Welt ist; es giebt Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihm.

Und die Nacht verging, und der kalte weiße Wintermorgen fand uns schon auf der schmalspurigen Zweigbahn, die in die Berge führt. Nie im Leben hat mich so gefroren wie in dem Wagen mit den vereisten Fensterscheiben in deren Eisblumen meine Reisegefährtin ein paar winzige Löcher gehaucht hatte, durch die wir die hohen weißen Berge sehen konnten.

„Ja, hier ist’s freilich kälter wie dort unten,“ meinte die Kleine, „aber ’s ist nicht mehr weit, nur noch zwei Stationen. Sie haben sich aber auch gar so wenig warm angezogen für solche Reise, und nun wollen Sie noch mit der Post weiter?“

„Ja“ sagte ich, „nach Langenwalde.“

„Na, ich dacht’s ja schon. Aber da können Sie ja das Stückchen mit Hübner seinen Milchschlitten fahren, ’s ist gar nicht weit – das sollt’ mich doch wundern, ob Hübner sein Milchschlitten nicht da ist,“ setzte sie hinzu.

Anneliese von Sternberg auf dem Milchschlitten! Ich mußte lächeln, aber, siehe da, es kam so. Als ich mit eisigen Füßen und vor Kälte blau auf dem Perron des Querslebener Bahnhofs stand, der so malerisch von hiwmelhohen Edeltannen umgeben ist, da sah ich einen wunderlich ungefügen Schlitten mit zwei übergroßen Pferden bespannt, und aus dem Bretterkasten des Gefährtes blickte wie Silber die blecherne Milchkannen. Meine Reisegefährtin, die von einer vor Freude weinenden einfachen Frau in Empfang genommen worden war, kam zurückgelaufen und rief: „Rasch, Fräulein, ich will Sie zu Hübners Schlitten bringen; er ist zufällig heute selber da, der Hübner, sagt meine Mutter.“

Eben wollte der große breitschultrige Mann wieder auf den primitiven Kutschersitz steigen, da rief die helle Mädchenstimme: „He, Herr Hübner, hier haben Sie noch einen Passagier! Das Fräulein möchte mit nach Langenwalbe!“

Er wandte sich erstaunt um, und ich blickte in ein ruhiges verständiges Männergesicht, von braunem Vollbart uwrahmt, in dem der Reif voreilig silberne Fäden gezogen hatte. „Eine Dame nach Langenwalde? Na, da soll sie aufsteigen, kommt schneller hin wie mit der Post. – Tag, Fräulein,“ wandte er sich an meine Beschützerin, „na, wieder daheim? Das ist ’ne Lust für Mütterchen – schön guten Tag, Frau Kantor!“

Ich saß bald neben ihm, und ohne zu fragen woher und wohin? trieb er die Pferde an und wir fuhren in die winterliche Pracht hinein. Ich hatte noch nie Berge, noch nie so stolzen Wald gesehen, und trotzdem mir die Seele im Leibe fror und die Augen im Kopfe schmerzten, starrte ich doch wie bezaubert in diese Märchenwelt. „Wie schön, ach wie schön!“ sagte ich.

„Ja, ’s ist schön hier, auch im Winter,“ gab er zu, „das macht der ewig grüne Tannenwald, Fräulein. – Aber friert Sie denn nicht?“ fuhr er fort. Und er griff hinter sich und holte die noch warme Pferdedecke vor und ich ließ mich einmummen in die groben Tücher mit ihrem scharfen Geruch und hätte dem Manne die Hand drücken mögen, so wohl that mir diese Freundlichkeit. Und weiter, am vereisten Bache entlang ging es, immer feierlicher wurde es, immer stolzer strebten die Bäume empor, und wie Friedensglocken läuteten die Schellen der dampfenden Pferde. Sonst kein Laut weit und breit, immer nur der Dreiklang – kling! kling! kling! Eine ungeheure Müdigkeit überfiel mich plötzlich, während wir langsam bergan fuhren. Vergebens suchte ich ihrer Herr zu werden. Kling, kling, kling – zitterte der Glockenton durch die dünne Luft; ich sah noch ein paarmal, mich zusammenraffend, die verschneiten Bäume, hörte noch die Glöckchen, fühlte noch das Gleiten des Schlittens, und dann wußte ich von nichts mehr. Ich schrak erst jäh empor durch ein heftiges Schütteln; jemand hatte mich an der Schulter gepackt.

„Jesus, Annelieseken – aber Kind, Kind, wachen Sie doch auf!“

Und wie ich ganz benommen umherblickte mit den weit geöffneten Augen, da sah ich ein schloßartiges Gebäude, vor dessen Freitreppe der Schlitten hielt, und sah Personen auf dieser Treppe, sah den großen Mann, der mich hergefahren und die Frau, die mich schüttelte, neben mir im tiefen Schnee stehen, und das war die Base.

„Base!“ schrie ich auf und wollte emporspringen aber die Glieder waren mir wie gelähmt.

„Mein Gott, Fräulein Anneliese,“ jammerte die alte Frau, „wo komme Sie denn bei so ’ner Kälte her? Nun haben Sie sicher etwas erfroreu!“

Und dann fühlte ich mich emporgehoben von den Armen des großen Mannes. „So,“ sagte er, „nun in die Stube, Base, zum Auftauen; wir haben vierzehn Grad Kälte heute früh, trotzdem die Sonne über Berg und Thal lacht.“ Und als sei ich leicht wie eine Feder, trug er mich die Treppe hinauf, vorbei an ein paar kichernden Mädchen und einer lächelnden rundlichen Frau. Die Base folgte uns, die Hände wiederholt zusammenschlagend vor Bestürzung, und die große behagliche Frau rief uns nach, sie werde gleich Thee besorgen, die Base solle mich nur derweil ins Bett stecken. So kam ich durch die Halle die breite Treppe hinauf, und dann wurde eine Thür geöffnet und ich stand auf meinen Füßen, die ich vor Kälte kaum fühlte.

(Fortsetzung folgt.)


[745]

In einer Korbflechterwerkstätte.
Nach einer Originalzeichnung von A. Eckardt.

[746]
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Die politischen Attentate im neunzehnten Jahrhundert.

Von Rudolf von Gottschall.

„Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,
Und das neue öffnet sich mit Mord.“

So sang einst Friedrich Schiller. Er ahnte nicht, daß in diesem neuen Jahrhundert der politische Mord eine große Rolle spielen, daß er schließlich in ein System gebracht und die Losung einer ganzen Partei werden würde. Der politische Mord ist ja nicht von gestern oder heute. Fürsten und Staatsmänner und Parteiführer sind zu allen Zeiten meuchlerischen Attentaten zum Opfer gefallen. Aber dem neunzehnten Jahrhundert blieb es vorbehalten, eine Partei hervorzubringen, in deren Lehre der politische Mord einen wesentlichen Bestandteil, ein Mittel der Propaganda bildet.

Oft genug hat man für mildernde Umstände bei der moralischen Verurteilung jener Morde und Mordversuche plädiert, welche von der Gesetzgebung gerade mit den härtesten Strafen bedroht werden: man wollte einen Möros, welcher, den Dolch im Gewande, sich zu Dionysios schleicht, um die Stadt vom Tyrannen zu befreien, nicht in eine Linie stellen mit dem gemeinen Mörder: das Gesetz aber bestraft hier schon den Versuch mit dem Tode. Der Mord aus blindem Fanatismus ist stets verurteilt worden; aber ein Mord aus patriotischem Gefühl, um ein politisches Ideal vor schmachvoller Entweihung zu retten, hat doch seine Anwälte gefunden, selbst bei edeldenkenden Geistern. Wir erinnern nur an Charlotte Corday, zu deren Ehrenrettung sogar ein weichgestimmter deutscher Idealist wie Jean Paul mit begeisterte Hymnen eingetreten ist. Freilich, sie lebte in einer Zeit, in welcher der politische Mord gesetzmäßig organisiert war und eine Schreckensherrschaft mit der stets bereiten Guillotine die widerstrebenden Parteien decimierte. Und von dem blutigen Hintergrunde alltäglich gewordener Greuel hebt sich ihr Bild fast wie eine Idealgestalt ab – die schöne Mörderin neben dem häßlichen widerwärtigen Opfer; und wie oft hat man den blutdürstigen Volksheiligen Marat verdammt und die jungfräulich-reine und edle Charlotte Corday gepriesen!

Der Größenwahn eines Herostrat, der sich einen Namen machen wollte, indem er den Tempel der Diana in Ephesus in Flammen steckte, hat vielen das Messer und das Mordgewehr in die Hand gedrückt, um mit dem Untergang gekrönter Häupter ihren Namen zu verknüpfen und ihm Dauer zu verschaffen. Sehr viele, die den Entschluß zu solcher That aus der eigenen Brust schöpften, litten an solchem Größenwahn; aber auch von denjenigen, die nur als Werkzeuge geheimer Verbindungen, als ausgeloste Vollstrecker eines von jenen gefällten Todesurteils zur Mordwaffe griffen, berauschten sich an dem Gedanken eines Nachruhms, der einem solchen verbrecherischen Heldentum ein dauerndes und bei Gleichgesinnten rühmliches Angedenken sichert.

Wenn wir hier die Reihe der politischen Attentate im neunzehnten Jahrhundert vor uns vorüberziehen lassen, so haben wir von vornherein eine Anzahl solcher auszuscheiden, bei denen keinerlei politisches Motiv dem Angreifer die Hand führte und die nur um deswillen unter den politischen Attentaten aufgezählt zu werden pflegen, weil sie eine hervorragende politische Persönlichkeit zum Ziel hatten. Aus Privatrache schoß der ehemalige Bürgermeister Tschech am 26. Juli 1844 auf König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, und der Sattlermeister, der am 26. März 1854 den verlotterten Herzog Karl III. von Parma inmitten vieler Zuschauer mit einem Dolche durchstieß, grollte dem Herzog, weil er von ihm öffentlich eine Ohrfeige erhalten hatte. Jener Gaiteau, der am 2. Juli 1881 den Präsidenten der Vereinigten Staaten James Garfield zu Washington mit seinem Revolver auf den Tod verwundete, war nichts anderes als ein mißvergnügter Stellenjäger, der seine Unzufriedenheit am Staatsoberhaupte ausließ. Vollends außer Betracht fallen die fruchtlosen Versuche einiger Irren, die der Größenwahn auf die Glorie des Königsmörders erpicht machte. Angriffe solcher Art hat insbesondere die Königin Viktoria von England eine ganze Reihe erlebt; auch der ehemalige Unteroffizier Sefeloge, der am 22. Mai 1850 die Hand wider Friedrich Wilhelm IV. erhob, war irrsinnig.

Auch wenn wir diese Fälle beiseite lassen, wenn wir ferner absehen von Mordthaten, die in offenem Aufruhr begangen wurden, wie jene, denen der Graf Latour in Wien, der General Auerswald und der Fürst Lichnowsky in Frankfurt, Graf Rossi, der päpstliche Minister in Rom, im Revolutionsjahre 1848 zum Opfer fielen – so ist die Kette von Attentaten, die sich durch das neunzehnte Jahrhundert hindurchzieht, noch immer erschreckend groß. Frankreich, das Land der politischen Umwälzungen, ist besonders reich daran. Das Attentat auf den ersten Konsul Bonaparte am Weihnachtsabend des Jahres 1800 eröffnete den Reigen. Wegen seiner Folgen gehört es mit in unser Jahrhundert. Seine Anstifter sind unter den königstreuen Chouans zu suchen, unter den Landsleuten und Gesinnungsgenossen George Cadoudals, der aber selbst an diesem Attentat nicht beteiligt scheint. Ein früherer Marineoffizier Namens St. Rejant fertigte mit zwei Genossen eine Höllenmaschine an, die aus einem mit Kartätschenkugeln geladenen Pulverfaß bestand. Am Weihnachtsabend, als Bonaparte in die Oper fuhr, um Haydns „Schöpfung“ zu hören, führten die Verschworenen das Faß auf einem mit einem Pferde bespannten Karren an die engste Stelle der Straße St. Nicaire, durch welche der Wagen des Konsuls durchfahren mußte. St. Rejant blieb allein zurück und beging noch die empörende Grausamkeit, das Pferd von einem fünfzehnjährigen Mädchen halten zu lassen. Als der Wagen Bonapartes sich näherte, zündete St. Rejant die Lunte an und entfloh. Doch die Lunte brannte zu langsam und der zufällig betrunkene Kutscher des Konsuls fuhr zu rasch, so daß, als die Explosion erfolgte, der Wagen schon vorbei und durch eine Umbiegung der Straße gedeckt war; nur die Fenster der Karosse zersprangen, das Mädchen und das Pferd aber sowie die nächsten Häuser flogen in die Luft. St. Rejant und der eine seiner Genossen mußten das Schafott besteigen; nur der andere entkam.

Den Versuch, der 1800 mißlungen war, wiederholte Cadoudal persönlich einige Jahre darauf mit ebensowenig Erfolg. Im Jahre 1803 hielt er sich verkleidet in Paris auf, wohin er mit gleichgesinnten Edelleuten und Chouans gekommen war. In seiner Begleitung befand sich Pichegru, ein General der Republik, und auch Bonapartes Nebenbuhler, Moreau, nach jenem der gefeiertste Kriegsheld Frankreichs, wußte von der Verschwörung. Allein Fouché, obschon damals nicht Chef der Polizei und beiseite geschoben, weil er in den Augen vieler anständigen Leute mißliebig war, entdeckte durch seine Agenten die neue Verschwörung, die von einigen eingeschüchterten Genossen verraten wurde. Cadoudal wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet (26. Juni 1804); General Pichegru erdrosselte sich selbst im Gefängnis.

So groß später der Haß war, den der siegreiche Imperator bei den besiegten und unterdrückten Völkern gegen sich entflammte, so nahte sich ihm doch nur ein einziges Mal die Gefahr, ermordet zu werden. Es war nach den blutigen Schlachten von Aspern und Wagram im Jahre 1809; Napoleon leitete in Schönbrunn die Friedensunterhandlungen mit Oesterreich; da suchte am 13. Oktober ein Deutscher aus Naumburg, der Predigersohn Friedrich Stapß, ein achtzehnjähriger Jüngling, sich in verdächtiger Weise der Person des Imperators zu nähern; man nahm ihn fest und er gestand, er habe Napoleon als den Verderber des deutschen Vaterlandes umbringen wollen. Der Kaiser fragte ihn, ob er ein Narr oder ein Illuminat sei; er erklärte, er sei kein Narr und wisse nicht, was ein Illuminat sei. Napoleon wollte ihm verzeihen und ihm das Leben schenken. „Ich will keine Verzeihung,“ sagte Stapß. „Würden Sie mir nicht danken, wenn ich Sie begnadigte?“ „Ich würde Sie doch zu töten suchen,“ versetzte der Jüngling. Erbittert über diesen Trotz, ließ ihn der Kaiser erschießen.

Während im Westen Napoleons Stern noch im Aufsteigen begriffen war, ward im Osten Europas ein Beherrscher des mächtigen russischen Reiches das Opfer einer Palastverschwörung. Der Zar Paul I. war, obwohl nicht ohne gute Anlagen, unter dem Druck furchtbarer Lebenserfahrungen zu einem Despoten schlimmster Sorte ausgeartet. Jene Mischung von Großmut und Mißtrauen, von hochherzigen Anwandlungen und asiatischen Sultanslaunen, die seine innere und äußere Politik so schwankend und unberechenbar machte, prägte sich am allerpeinlichsten im persönlichen Verkehr aus. Infolgedessen bildete sich eine Verschwörung, deren Haupt Graf Peter Pahlen, damals der einflußreichste Mann in des Kaisers Umgebung, war und deren Fäden bis in die kaiserliche Familie sich erstreckten. In der Nacht des 23. März 1801 drangen die [747] Verschworenen in den Michailowschen Palast, wo der Zar damals residierte, überraschten ihn in seinem Schlafgemach, schienen aber anfangs nur entschlossen, ihn zur Abdankung zu zwingen, bis entweder der Widerstand Pauls oder die Furcht und der persönliche Haß einzelner Verschworenen eine tragische Wendung herbeiführten.

Als nach den Befreiungskriegen, nach dem Sturze der Napoleonischen Herrschaft, die deutsche Jugend der Universitäten sich auflehnte gegen die freiheitsfeindlichen Beschlüsse der Kabinette und gegen die Ueberwachung durch auswärtige diplomatische Sendlinge, da war die Bewegung der Geister so mächtig geworden, daß ein religiös schwärmerischer und patriotisch begeisterter Student zum Dolche griff, um die Achterklärung, die auf einen dieser Agenten geschleudert worden war, zu vollziehen. Wie in früheren Jahrhunderten ein Abgesandter der Feme sein Opfer aufsuchte, um ihm den Todesstoß zu geben, so wanderte der junge Theologe Karl Ludwig Sand von Jena nach Mannheim, wohin sich der russische Staatsrat August von Kotzebue kurz vorher begeben hatte, und stieß ihn dort am 23. März nieder. Die That erregte ungeheueres Aufsehen, man verurteilte den Thäter, aber man bemitleidete ihn. Kotzebue hatte sich in der letzten Zeit als besoldeter russischer Agent im höchsten Grade verhaßt gemacht. Schon beim Wartburgfest hatten die Studenten Kotzebuesche Schriften dem Scheiterhaufen überantwortet, auf dem mißliebige und geächtete Werke verbrannt wurden. Sand stieß sich gleich nach der That den Dolch in die Brust, erlag aber der schweren Verwundung nicht; am 20. Mai 1829 endigte er zu Mannheim auf dem Schafott.

In demselben Jahre wurde in Frankreich ein politischer Mord begangen, welcher geeignet schien, der ganzen Dynastie der Bourbons, die seit 1815 wieder die Krone dieses Landes trug, den Todesstreich zu versetzen. König Ludwig XVIII. hatte keine Kinder, sein Bruder, der spätere König Karl X., zwei Söhne, von denen der älteste, der Herzog von Angoulême, kinderlos war, so daß die ganze Hoffnung der Dynastie auf dem zweiten, dem Herzog von Berry, ruhte, der nur eine Tochter hatte. Als der Herzog am 13. Februar 1820 aus der Oper kam, wurde er von einem gewissen Louvel, einem Sattler des königlichen Marstalls, mit einem großen Messer erstochen. Der Mörder hatte die That aus fanatischem Haß gegen das bourbonische Regiment vollbracht. Louvels Berechnung erwies sich übrigens als verfehlt; die Herzogin von Berry gebar nach dem Tode ihres Gatten einen Thronerben, Heinrich V., der allerdings nie den Thron besteigen sollte.

Wo sich wie in Frankreich Revolutionen und Staatsstreiche in rascher Folge ablösten, da mußten auch die Attentate auf die Staatsleiter sich öfters wiederholen. Am meisten war das unter der friedlichen Regierung Louis Philipps der Fall, die eine größere Masse von Zündstoff aufhäufte als selbst die Regierungen der volksfeindlichen Bourbonen. Nicht weniger als acht Mordanfälle sind auf den „Bürgerkönig“ gemacht worden, ohne daß ein einziger sein Ziel erreicht hätte.

Am raffiniertesten durch die Art der dabei verwendeten Höllenmaschine und am furchtbarsten in seiner Wirkung war das Attentat Fieschis am 28. Juli 1835. Bei der fünften Feier des Julifestes ritt der König zur Musterung der Nationalgarde und der regulären Truppen mit großem Gefolge die Boulevards entlang, als aus einem kleinen Hause sich eine Explosion entlud, ein ganzer Hagel von Flintenkugeln, welche dicht hinter dem König den Marschall Mortier und eine ganze Anzahl weiterer Personen des Gefolges – im ganzen 18 – töteten und über 20 verwundeten. Dem König streifte eine Kugel die Stirne, eine zweite verursachte eine Quetschung des linken Arms, eine dritte durchbohrte den Hals seines Pferdes. Die neue Höllenmaschine bestand aus einer Verbindung von angeblich mehr als hundert Flinten (nach anderen Zeugnissen sollen es nur 24 gewesen sein), die hinter einem Fensterladen angebracht waren und gleichzeitig losgefeuert wurden. Der Urheber des Attentats war der Korsikaner Fieschi, ein ziemlich verkommener Abenteurer, der bei dem unglücklichen Landungsversuch Murats an der neapolitanischen Küste sich beteiligt hatte, dafür zum Tode verurteilt, aber wieder begnadigt worden war, später wegen Urkundenfälschung zehn Jahre im Zuchthaus gesessen hatte und zuletzt aus einer Anstellung bei der Polizei wegen Veruntreuungen entlassen worden war. Er wurde sofort ergriffen und dann samt zwei Spießgesellen hingerichtet.

Fast ebenso häufig wie Louis Philipp wurde der dritte Napoleon von mörderischen Angriffen bedroht, besonders im Anfange seiner Regierung. Der „Mann des 2. Dezember“ war in seiner Jugend ein Schwärmer für die Freiheit und Einheit Italiens gewesen, ganz wie später die Anhänger Mazzinis, und als der Kaiser nicht hielt, was einst der Prinz verheißen, da galt er in den Augen der früheren Brüder als strafwürdiger Abtrünniger; mancher mochte auch wohl noch hoffen, daß Bedrohung seines Lebens ihn zu einem entscheidennen Schritt zu gunsten des „jungen Italiens“ drängen könnte. Kurz, die Zahl der italienischen Femboten ist keine geringe. Keiner aber hat so schreckliche Arbeit gemacht wie der Graf Orsini – auch er freilich traf das gesuchte Opfer selbst nicht, wie er gewünscht hatte. Das Bombenattentat Orsinis vom 14. Januar 1858 ist das blutigste, das je gegen ein gekröntes Haupt verübt worben ist. Man zählte 141 Tote und Verwundete, darunter 30 von der Polizei. Einer der Verwundeten hatte sich in eine Apotheke begeben und dieselbe rasch wieder verlassen; bald darauf fragte ein Fremder ängstlich nach ihm – es war Gomez, der Diener des Grafen Felice Orsini, der sich inzwischen in sein Versteck zurückbegeben hatte, dort aber verhaftet wurde. Orsini zeigte eine so edle Begeisterung für die Freiheit seines Vaterlandes, daß man den Mörder, der über hundert Unschuldige dem Tode geweiht hatte, fast darüber vergaß.

Aus der italienischen Einheits- und Freiheitsbewegung war dieses Attentat hervorgegangen, und wie es in der Natur solcher Zeiten staatlicher Umwälzungen liegt, hat auch in Italien selbst der politische Mord seine blutige Rolle gespielt. Von dem Ende des Grafen Rossi zu Rom und dem des Herzogs Karl III. von Parma ist schon oben in anderem Zusammenhange die Rede gewesen. Rein politischer Natur war das Attentat des Soldaten Milano auf König Ferdinand II. von Neapel am 8. Dezember 1856. Hier sollte ein tief verhaßter Gegner der Einheitsbestrebungen getroffen werden. Milano, der den König nur am Schenkel verwundete, erreichte mittelbar doch seinen Zweck. Ferdinand wollte von der Wunde kein Aufhebens machen, und durch ihre Vernachlässigung zog er sich ein schweres Leiden zu, dem er nicht ganz 21/2 Jahre nachher erlag.

Mit der italienischen Bewegung hing auch das Attentat auf Kaiser Franz Josef von Oesterreich am 18. Februar 1853 zusammen. Kurz vorher waren dem großen Komplott in Mailand viele österreichische Soldaten zum Opfer gefallen; es waren revolutionäre Aufrufe Mazzinis und Kossuths erschienen, und aufgehetzt von diesem gemeinsamen Ansturm auf die schwarzgelbe Monarchie, war der junge Ungar Libenyi auf den Kaiser, der auf dem innern Wall der Stadt Wien spazieren ging, mit einem großen Messer eingedrungen und hatte ihn im Nacken verwundet. Der Mörder wurde von dem Adjutanten des Kaisers und einem zufällig hinzukommenden Wiener Bürger zu Boden geworfen. Die Wunde war nicht ganz ungefährlich. Der Mörder wurde zum Tode verurteilt und gehenkt.

Als die italienische Einheit schon fest begründet und auf ihren Gründer, König Viktor Emanuel II., dessen Sohn Humbert gefolgt war, machte ein radikaler Fanatiker, der Koch Passanante, am 17. November 1878 in Neapel einen Mordanfall auf den König; doch der mit im königlichen Wagen sitzende Minister Cairoli lenkte den Dolch des Mörders ab, so daß der König nur eine leichte Verletzung erhielt, Cairoli aber schwerer am Beine verletzt wurde. Passanante wurde zum Tode verurteilt, aber zu lebenslänglicher Zwangsarbeit begnadigt.

Die deutsche Revolution von 1848 hat zwar blutige Aufstände, Kämpfe, Belagerungen und militärische Hinrichtungen in großer Zahl aufzuweisen, doch kein politisches Attentat im eigentlichen Sinne. Erst als König Wilhelm I. den preußischen Thron bestiegen, entsprang aus der Enttäuschung eines überspannten Gemüts ein Mordplan. Der junge Student Oskar Becker glaubte eine weltgeschichtliche Sendung zu erfüllen, als er am 14. Juli 1861 in der Lichtenthaler Allee in Baden-Baden auf den König beide Läufe eines scharfgeladenen Terzerols aus nächster Nähe abfeuerte, wobei der Fürst nur unbedeutend verwundet wurde; Becker wollte die That mit seiner Ueberzeugung begründen, der König sei den Umständen nicht gewachsen und nicht fähig, die Einigung Deutschlands herbeizuführen. Er wurde zu zwanzigjährigem Zuchthaus verurteilt, 1866 aber auf Fürsprache des Königs von Preußen von der badischen Regierung begnadigt.

Als dann König Wilhelm nach unvergänglichen Großthaten die deutsche Kaiserkrone trug, da schoß der Klempnergeselle Hoedel [748] am 11. Mai 1878 einen Revolver auf ihn ab, glücklicherweise ohne zu treffen. Hoedel war früher ein Kolporteur sozialdemokratischer Blätter gewesen, dann aber von der Sozialdemokratie selbst von ihren Rockschößen abgeschüttelt worden; er wurde hingerichtet. Inwieweit dann das Attentat, das Dr. Karl Eduard Nobiling am 2. Juni 1878 auf den greisen Kaiser verübte, mit bestimmten politischen Motiven zusammenhing, konnte nicht ermittelt werden, da derselbe sich gleich darauf mit einem Revolver in den Hinterkopf schoß und später nur ganz kurze Zeit vernehmungsfähig wurde. Auf den Mitbegründer des Deutschen Reichs, den Ministerpräsidenten von Bismarck, wurde, als er an der Schwelle jener großen Ereignisse stand, welche die politische Weltlage gänzlich wandeln sollten, in Berlin am 7. Mai 1866 ein Attentat verübt. Ferdinand Cohen-Blind schoß „unter den Linden“ in Berlin auf den Minister. An demselben Tage noch öffnete sich Blind im Gefängnis zu Potsdam die Pulsadern. Bismarck war damals der bestgehaßte Mann in Preußen; der Konflikt mit dem Landtag hatte seinen Höhepunkt erreicht; Adressen aus allen preußischen Städten bestürmten den König, er möchte ein neues Ministerium wählen. Da glaubte sich offenbar der junge Blind berufen, die Achtserklärung der öffentlichen Meinung zu vollziehen, den „Feind der Freiheit und des Friedens“ zu vernichten. Etwa acht Jahre später, nach des Deutschen Reiches Gründung, in der Zeit des Kulturkampfes, schoß der Böttchergeselle Kullmann zu Kissingen am 13. Juli auf den Reichskanzler, „um der Kirchengesetze willen“, und verwundete ihn leicht an der Hand.

Auch in den andern europäischen Ländern fehlte es keineswegs an verwegenen Köpfen, die politische Wirrnisse mit der Mordwaffe im eigenen Sinne zu lösen suchten. Insbesondere häuften sich im revolutionsreichen Spanien die Anschläge gegen Könige und Staatsmänner. Schon 1852 war die Königin Isabella von dem fanatischen Priester Merino angefallen worden; General Prim, der allmächtige Ministerpräsident, erlag im schicksalsreichen Jahre 1870 den Wunden, die ihm von meuchlerischen Händen beigebracht waren, König Amadeus sowohl wie König Alfons waren wiederholt bedroht.

Der große amerikanische Bürgerkrieg, der mit der Niederlage der Südstaaten endete, hatte ein blutiges Nachspiel in der Ermordung des würdigen Präsidenten Abraham Lincoln durch John Wilkes Booth, der ihn am 14. April 1865 im Theater in Washington erschoß. Der Mörder, ein Bruder des berühmten Schauspielers Edwin Booth und selbst Schauspieler, ein fanatischer Anhänger der unterlegenen Sklavenhalterpartei, entkam auf seiner Flucht bis Virginien, wurde aber dort entdeckt und von seinen Verfolgern erschossen.

In der Geschichte des politischen Mordes trat aber eine bezeichnende und bedeutsame Wendung ein, als derselbe in ein System gebracht und geheimbündlerischen Bestrebungen dienstbar gemacht wurde. Dies geschah in den letzten Jahrzehnten durch den Nihilismus und den Anarchismus, die beide gegenwärtig als furchtbare im Hintergrund lauernde Mächte die politische Weltlage beunruhigen und bedrohen. Die gemeinsamen Wurzeln beider sind in Rußland nachzuweisen. Der Stammvater des einen wie des andern ist Michael Bakunin, der in deutschen, österreichischen und russischen Kerkern gesessen, aus Sibirien über Japan entkommen, mit den Revolutionären in aller Herren Ländern die nächste Fühlung genommen hat und die Brandfackel schwang, die Vernichtung alles Bestehenden predigend; er ging sogar der Internationalen zu weit, die sich von ihm lossagte. Sein Schüler Netschajew zog dann die letzten Folgerungen seines Systems; er lehrte die „Propaganda der That“, die sich um ihre Opfer nicht kümmert, und pries alle Gewaltmittel, die dem Werke der Zerstöeng dienten.

Es würde zu weit führen, wollten wir alle nihilistischen Anschläge, die sich durch die letzten Jahrzehnte der russischen Geschichte hindurchziehen, hier einzeln aufzählen – von dem Attentat eines Dimitrij Karakasow gegen Alexander II. (16. April 1866) bis zu den aufgerissenen Schienen bei Borki, welche den Bahnzug mit Kaiser Alerxander III. zur Entgleisung brachte (29. Oktober 1888), ja bis herab zu dem teuflischen und glücklicherweise rechtzeitig vereitelten Plane, die Einweihung der Gedächtniskirche in Borki zu einem neuen Attentat zu benutzen (Juni 1894), bilden sie eine furchtbare Kette, der Regierenden Leben mit steter Todesdrohung verdüsternd, aller Ueberwachung und blutigen Unterdrückung spottend. Und am 13. März 1881 hat denn auch der Nihilismus einen traurigen Triumph erlebt – an diesem Tage endigte Alexander II., von einer platzenden Bombe schwer verstümmelt, sein Märtyrerdasein. Es war das sechste Attentat, das gegen den Kaiser persönlich gerichtet war.

Wenn der Nihilismus im Osten das Erbe Bakunins gleichsam nur mit Vorbehalt angetreten hat, so hat der Anarchismus das Evangelium der Zerstörung um jeden Preis, wie es Bakunins Schüler verkündigte, rückhaltlos angenommen. Die Nihilisten haben noch ein politisch-sociales Programm; die Anarchisten bekämpfen jedes Programm, in welchem noch das „Gespenst einer gesetzgeberischen Macht spukt“; sie verwerfen jede Herrschaft. Nicht bloß die Lenker der Staaten, auch die friedlichen Bürger, die ein Besitzrecht haben und damit eine Herrschaft ausüben, sind ihrem Hasse verfallen. Wohin die Mordwaffe treffen mag, sie mordet im Dienst der „guten“ Sache.

Trotz dieser Lehre waren die anarchistischen Mordanschläge in den romanischen Ländern nicht alle ohne einen bestimmten Zweck; Ravachols erstes Dynamit-Attentat am 11. März 1892 richtete sich gegen den Präsidenten eines Schwurgerichtshofes, der Anarchisten verurteilt hatte, ein zweites am 28. März galt dem Untersuchungsrichter Buloz. Und als Ravachol am 25. April 1892 vor Gericht gestellt werden sollte, da erfolgte, um dieses einzuschüchtern, am 25. April die Explosion im Restaurant Very, wo Ravachol verhaftet worden war. Es handelt sich also hier um die Verfolgung ganz bestimmter verhaßter Personen, um ganz bestimmte Racheakte. Der Bombenwurf des Anarchisten Pallas gegen den spanischen General Martinez Campos am 24. September 1893, die Unthat Vaillants, der am 9. Dezember 1893 seine Bombe in den gefüllten Sitzungssaal der französischen Abgeordnetenkammer schleuderte, um die französischen Gesetzgeber zu zerschmettern, der Revolverangriff Paolo Legas auf den italienischen Ministerpräsidenten Crispi am 16. Juni 1894 und endlich der ruchlose Dolchstoß Caserios, der am 24. Juni 1894 den unglücklichen Präsidenteu Carnot durchbohrte, wie jener andere zu Livorno, der am 1. Juli den Zeitungsverleger Bandi tötete zum Lohne dafür, daß er in seinem Blatte gegen Carnots Mörder geeifert, – sie tragen noch die Spuren einer Art von Zweckgedanken an sich. Ein vollkommen sinnloses Bubenstück aber war das Attentat Henrys im Terminus-Hotel (12. Februar 1894) und ebenso dasjenige von Pauwels in der Madeleinekirche (14. März 1894) zu Paris, wie die Schandthat Salvators, der im Teatro Liceo zu Barcelona am 7. November 1893 gegen hundert Personen tötete und verwundete.

Wenn man behauptet, der Anarchismus sei in Deutschland bisher noch nicht zur „Propaganda der That“ geschritten, so vergißt man den entsetzlichsten aller anarchistischen Mordversuche, dem gegenüber die Kaffeehausbomben der Pariser Mordgesellen als Kinderei erscheinen: das beabsichtigte Attentat am Niederwald. Von dem deutschen Anarchisten Reinsdorf ging der furchtbare Plan aus, bei der Einweihung des Denkmals auf dem Niederwalde am 28. September 1883 den Kaiser und seine Paladine, zahlreiche deutsche Fürsten und Generale, den Vorstand des Reichstags, alle hervorragenden Träger des Reichsgedankens mit einem Schlage in die Luft zu sprengen. Der Regen bewirkte, daß die Zündschnur der Dynamitlegung versagte. Erst später wurden diese neuen Herostrate, die Schriftsetzer Reinsdorf und Küchler und der Sattler Rupsch, dingfest gemacht, von dem Reichsgericht verurteilt und die beiden ersten am 13. Februar 1885 in Halle enthauptet. Auch die Ermordung des Polizeirats Rumpf zu Frankfurt a. M. durch Lieske (Januar 1885) ist eine anarchistische Greuelthat auf deutschem Boden. In der That haben die Theorien Bakunins den Weg von Rußland nach dem Westen über Deutschland genommen und leider hier – wir verweisen nur auf den Buchbinder Joh. Most – fanatische Apostel gefunden.

Von Stapß zu Caserio – welch ein Abstand! Dort der schwärmerische Predigersohn, der auszieht, die Seufzer und Thränen von Millionen zu rächen, das heilige Vaterland vom fremden Unterdrücker zu befreien, – hier der vaterlandslose Geselle, der ein durchaus friedlich gesinntes Staatsoberhaupt ersticht, nur um die Welt, soweit sie in staatlicher Ordnung sich wohl fühlt, aufzuscheuchen in jähem Schreck. Welch abgrundtiefe Kluft anscheinend zwischen beiden! Und doch steht nur der eine am Anfang, der andere am Ende einer verhängnisvollen schiefen Ebene, einer sittlichen Entartung, in deren Verlauf sich das schwärmerische Jünglingsantlitz in eine höhnisch grinsende Grimasse verwandelt.


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Die fränkische Korbwarenindustrie.

Von A. Berger.0 Mit Zeichnungen von A. Eckardt.

Alles Erdenkliche wird heute aus den schwanken Ruten der Weide aund ihren edleren Nebenbuhlern gefertigt. Wir können uns kaum ein Heim vorstellen ohne die zahlreichen Erzeugnisse der Korbflechterei, die ebensosehr dem Schmuck des Hauses wie dem praktischen Gebrauch dienen. In einen Korb birgt die sorgliche Hausfrau den Einkauf des Marktes und in einem Korbe entrückt sie den Blicken des Gatten die zierliche Handarbeit, die sein staunendes Auge erst auf dem Weihnachtstische bewundern darf. Ein Korb steht neben dem Schreibtisch des Hausherrn, bestimmt, in seinen Tiefen manchem geschriebenen Wort – nicht selten zum Glück! – ein stilles Grab zu bereiten und im traulichen Mädchenstübchen der ältesten Tochter umfängt ein Korb duftende Blüten, der Liebe holde Boten, die der Verlobte aus der Ferne gesandt. Die Jüngste aber summt leise, leise ein Schlummerliedchen: die geliebte Puppe im Korbwagen soll einschlafen!

Zu erfahren, wie und wo diese schier unentbehrlichen Gegenstände verfertigt werden, wird gewiß manchem Leser und noch mehr mancher Leserin willkommen sein.

In den Bezirken Lichtenfels und Kronach der reichgesegneten bayerischen Provinz Oberfranken, aus deren leuchtendem Kranz von Ortschaften das von Scheffel besungene Schloß Banz besonders hervorstrahlt, und in dem angrenzenden, nicht minder anmutigen Herzogtum Koburg befindet sich der Hauptsitz der Korbwarenflechterei. Hier wohnen in manchen Orten nahezu Haus bei Haus Korbmacherfamilien; im bayerischen Bezirksamt Lichtenfels sind die Hälfte aller Gewerbthätigen und in dem koburgischen Flecken Sonnefeld unter zwölfhundert Bewohnern fünfhundert Korbflechter. Zur Erklärung der letzteren Ziffer muß bemerkt werden, daß die Flechterei zumeist als Hausarbeit, an der Mann, Frau und Kinder sich beteiligen, betrieben wird. An lauen Sommerabenden sitzen die Kinder auf den Steintreppen vor den Häusern und es ist dann ein freundlicher Anblick, wenn man ihnen zuschaut, wie sie ihre flinken Hände so blitzschnell regen.

Die Anfänge der Korbwaren-Industrie in Oberfranken – in Koburg wurde sie erst später heimisch – klingen sagenhaft. Wandernde Handwerksburschen sollen im Anfange dieses Jahrhunderts in dem bayerischen Dorfe Michelau am Obermain als Dank für Trank und Speise die Einwohner das Flechten einfacher Körbchen zum Sammeln von Beeren gelehrt haben. Später wurden auch andere Hauswirtschaftsartikel, zum Beispiel Trag- und Waschkörbe, von den dortigen Landleuten an langen Winterabenden verfertigt. Das Rohmaterial zu diesen Erzeugnissen, die Weide, wuchs ja gewissermaßen vor ihrer Thür, am Ufer des Mains.

Zuerst kam die junge Industrie nur langsam empor, bis im Jahre 1838 ein unternehmender Korbwarenhändler aus Michelau das erste illustrierte Preisverzeichnis in die weite Welt versandte und dadurch auch in der Ferne den schon kunstvolleren Arbeiten seiner Heimat Freunde zu gewinnen verstand. Es war für jene Zeit kein geringes Wagnis; ein Zeichner hatte damals ein volles Jahr mit der Abbildung der 1400 Muster, welche der Katalog aufwies, zu thun, und die Kosten waren daher recht bedeutend. Aber der kühne Mann hatte nicht auf Sand gebaut; im Ausland gefielen die reizenden Erzeugnisse des oberfränkischen Gewerbfleißes und aus allen Ländern trafen Aufträge für die „Körbelstricker“ ein. Der Weltmarkt war erschlossen.

Heute ist die Mannigfaltigkeit der Korbwaren ungemein groß. Die Preisverzeichnisse der bedeutendsten Ausfuhrfirmen enthalten nunmehr zehntausend Nummern: Füllhörner, Schiffe, Pavillons und Muscheln in den phantasiereichsten Formen und mit den sinnigsten Ausschmückungen als Gefäße für lebende Blumen, mit leuchtendem Seidenband durchflochtene Körbchen zum Füllen mit Schokolade, Bonbons und anderen Leckereien, niedliche Behälter für Parfümerien Flaschenkörbe, Arbeits- und Journaltaschen, Nähständer und entzückende Kindermöbel, prächtige Papierkörbe füllen die Mustersäle. Jeder Tag bringt neue Formen, denn unbeschränkt herrscht die launische Göttin Mode auch im Reiche der Korbwaren.

Koburg und das unweit Banz am Main gelegene bayerische Städtchen Lichtenfels sind heute die Mittelpunkte des Korbwarenhandels; die thüringische Residenzstadt befriedigt mehr die Ansprüche an Zierlichkeit und Schmuck, während die Lichtenfelser in der Hauptsache den Forderungen des praktischen Gebrauchs zu dienen beflissen sind.

Neben dem Inlande bilden jetzt Frankreich und Amerika die Hauptabsatzgebiete. Namentlich bezieht Paris seinen reichen Bedarf an Blumengestellen und -körben sowie an Konfektkörbchen aus dem Koburger Lande, und schon mancher biedere Landsmann hat in seiner ahnungslosen Unschuld den echt französischen „chic“ solcher an der Seine teuer erstandener Sächelchen höchlichst bewundert!

Ausflechten der Gestelle.       Das Biegen der Rohre.       Gestellmacher.

Nicht allein die Form der fertigen Fabrikate, auch das zu ihrer Herstellung verwendete Material [750] ist einem beständigen Wechsel unterworfen. Während in den ersten dreißig Jahren des Bestehens dieser Industrie die Weide als ausschließlicher Rohstoff benutzt wurde, traten später Palmblätter und Espartogras – eine flachsartige Rohrart aus Spanien – hinzu. Dann kamen aus Frankreich die lackierten Rohre und im Anfang der siebziger Jahre chinesische und schwarzwälder Strohgeflechte.

Zusammenstellen der Teile. 0 Arbeit nach der Zeichnung.

In dieser Zeit paßten sich die Modelle mehr dem „leichten“ französischen Geschmack an. Vom Jahre 1886 an suchte man besonders eifrig nach neuen Rohmaterialien. Die grüne Teichbinse bot hierzu den Anlaß, denn als man sah, daß dieser so lange Jahre unbeachtete Pflanzenstengel sich so herrlich zum Korbflechten eignete, versuchte man aus allem Möglichen Körbe herzustellen. Litzen aus Barmen und der Schweiz traten hinzu, Atlasbänder und Raffiabast, der auch jetzt noch gebraucht wird, Kokosnüss, Muscheln, Kürbisse, Palmenwedel, Maisblätter, Bambusstäbe, Korkrinde und Celluloid, alles wurde herangezogen, den unendlichen Trieb nach Neuem zu befriedigen.

Um die Herstellung der Korbwaren betrachten zu können, treten wir ein in die ausgedehnten Arbeitsräume einer großen Fabrik in Koburg, die zur Zeit fünfhundert Arbeiter und Arbeiterinnen teils in Heimarbeit, teils in eigenen Werkstätten beschäftigt. Zuerst wenden wir uns der Gruppe zu, die mit der Hauptarbeit, dem Biegen der Rohre, beschäftigt ist. Im Mittelfelde des Bildes S. 749 unten biegt ein Arbeiter einen Bambusstab über Gasfeuer, während ein anderer schon vorher gebranntes Rohr (sogenanntes Peddigrohr) von einer Walze, auf welche es genagelt war, ablöst, um es nun in einzelne Ringe zu zerschneiden. Durch das Brennen verliert nämlich das Rohr seine frühere Elasticität und verharrt in der ihm durch das Aufwalzen gegebenen Form. Links im Hintergrunde wird schon schwierigere Biege- und Brennarbeit ausgeführt. Der dort sitzede Arbeiter verfertigt Schnecken, wie sie an allen möglichen Gegenständen zur Verwendung kommen. Ist das Rohr gebrannt, wird es zu Gestellen oder Gerippen zusammeugefügt. Diese Arbeit erfordert größere Kraft und wird immer von Männern ausgeführt. Dann werden die Gestelle von Arbeiterinnen mit bandartig geflochtenen Streifen aus Palmblatt, Stroh oder anderen Materialien durchzogen. Auf der rechten Seite unseres Hauptbildes S. 745 hängen ganz dünne, bastartige Palmblätter herab, die zur Ausfüllung von Gestellen zu Blumengefäßen, Nähständern etc. verarbeitet werden.

Nachdem die einzelnen Stücke von den Arbeiterinnen fertig ausgeflochten sind, kommen sie in die Hände geschickter Leute, denen die Zusammenstellung der einzelnen Teile obliegt. So ist z. B auf dem obenstehenden Bilde ein Arbeiter eben damit beschäftigt, ein mächtiges Füllhorn an dem dafür bestimmten Gestelle zu befestigen.

In der Koburger Korbwaren-Industrie wird fast nur aus freier Hand, also nicht über Formen, gearbeitet. Die ersten Muster werden von besonders gewandten Arbeitern nach Abbildungen angefertigt, die ihre Entstehung dem findigen Kopfe eines eigens dazu angestellten Zeichners verdanken. Im Hintergrunde des eben angeführten Bildes sehen wir, wie der Zeichner einem jugendlichen Arbeiter das neueste Muster an der Hand der Zeichnung erklärt. Selbstverständlich ist es für jede Fabrik von größter Wichtigkeit, einen talentvollen und erfinderischen Zeichner zu besitzen, denn immer größere Bedeutung gewinnt die künstlerische Durchdringung des Gewerbes und mehr und mehr wird das Streben sichtbar, bei jedem einzelnen Gegenstande die schöne und vornehme Form hervortreten zu lassen. So dürfen wir erwarten, daß die Korbwarenflechterei in Zukunft einen hervorragenden Platz in dem aufblühenden deutschen Kunstgewerbe behaupten wird.


[751]
Zeit bringt Rosen.
Novelle von Stefanie Keyser.

Sommerfrische! Badereise! Die Worte, die alljährlich mit der beginnenden schönen Jahreszeit auftauchen, gingen einmal wieder durch das Land. Wie die anderen Kur- und Badeorte war auch die Stadt Frankenhausen um die Pfingstzeit ihrer Gäste gewärtig, die von den sprudelnden Salzquellen Gesundheit, von der reinen Luft Stärkung erhofften oder auf Schusters und anderen Rappen, auf Zweirad und Dreirad dem im benachbarten Waldgebirge thronenden Kyffhäuser zuzogen.

In einem der freundlichen Landhäuser, die aus den engen Straßen hinausgeschwärmt zu sein schienen in die Gärten, waren zwei Damen angelangt.

Auf dem Sofatisch des gemeinschaftlichen Salons, den die Schlafzimmer zu beiden Seiten begrenzten, lag das Fremdenbuch aufgeschlagen. „Fräulein Gabriele Raunthal,“ trug die Aeltere, eine hohe schlanke Gestalt, sich ein. Als sie den Kopf über die Schrift neigte, schimmerten ein paar Silberfäden aus dem dunklen Haargewinde; aber die zarte elfenbeinweiße Hautfarbe ließ das edelgeschnittene Gesicht jung erscheinen, die klaren braunen Augen strahlten in einem Glanz, von dem Jahre nichts zu verwischen vermögen.

Die andere, die mit rosigen Wangen, Purpurlippen und dicken goldblonden Locken über der Stirn in Jugendblüte förmlich zu glühen schien, streute achtlos die langen Handschuhe, den Hut mit der dicken Guirlande, das elegante Reisetäschchen über Sofa und Sessel und schwang sich dann ausgelassen auf die Fensterbank. Die langweiligen Tanten, die unter den Kastanien des Vorgartens Kaffee tranken, fanden das wohl unpassend? Nun erst recht! Sie begann mit dem Fächer aus Stahlfiligran der nebst Flacon und winziger Uhr an der Chatelaine ihres Gürtels hing, herausfordernd zu wehen, während ihre blauen Augen über den Damenkreis hinwegglitten. Von den Zweigen der blühenden Kastanien wie von weißen und roten Riesensträußen eingerahmt, erblickte sie die Veranda des Nachbarhauses. Zwei Herren saßen dort. Der tief brünette etwas ältere sah von der Zeitung, die er in der Hand hielt, auf und wandte das energisch geschnittene Gesicht mit dem kurz gehaltenen schwarzen Vollbart herüber. Ein Blick aus dunklen Augen traf sie, maß sie kurz auf ihrem ungewöhnlichen Platz; spöttisches Erstaunen meinte sie darin zu lesen. Was unterstand sich dieser Herr? Aber unter dem Blick stieg doch ein heißes Rot ihr bis in die Stirn, und plötzlich glitt sie von der Fensterbrüstung herab und zog sich zurück.

Sie nahm die Feder, machte einen Klex in das Fremdenbuch und schrieb: „Ilse Großheim.“

„Wer mögen die beiden da drüben sein?“ fragte sie dann ihre Gefährtin, die das kleine Cylinderbureau mit Schreibgerät, aus schönen Versteinerungen gearbeitet, ausstattete, das schwarz gebundene Tagebuch in einem der Fächer verschloß und auf dem Tischchen am Fenster Nähkästchen und Stricketui ordnete.

Gabriele sah flüchtig hinüber. Der Schwarzbärtige hatte sich wieder hinter seiner Zeitung verschanzt.

Jetzt wandte der andere mit dem so seltenen aschblonden Haar, über dem es wie lichter Staub zu liegen schien, den Kopf herauf. Sie schaute in tiefe Augensterne, die sich mit einem seltsam suchenden und doch träumerischen Ausdruck auf sie hefteten.

Auch sie trat zurück. Dann sagte sie: „Der Brünette kann seiner strammen Haltung nach Offizier sein. Der andere wohl auch,“ setzte sie zögernd hinzu. „Nur in den Augen ist ein Ausdruck, der eher auf einen Künstler schließen läßt. – Aber Sie haben ja noch gar nicht ausgepackt! Ich wollte Ihnen eigentlich einen kleinen Spaziergang vorschlagen. Der Abend ist schön und Frankenhausen eine alte Stadt; die erscheint immer am stimmungsvollsten von der untergehenden Sonne beleuchtet.“

Ilse griff sofort nach ihrem Strohhut. „Natürlich begleite ich Sie. Zum Auspacken habe ich jetzt keine Lust. Später! Wo ist meine Hutnadel? Die mit der goldenen Hand? Na, lassen wir sie! Morgen wird sie schon wieder zum Vorschein kommen.“ Sie huschte hinaus. Ein verstohlener Blick flog zu der benachbarten Veranda hinüber; sie war leer.

Die beiden Damen bogen in die Stadt ein. Gabriele entdeckte hinter Kugelakazien graues Bauwerk; überall zwischen Schattentüchern und Kübelbäumchen lugte die alte Stadt mit spitzen Dächern und vielen kleinen Fenstern heraus.

„Suchen Sie einen Stoff für Ihre Feder?“ forschte Ilse.

„Meine Stoffe suche ich nicht,“ antwortete Gabriele. „Ich finde sie zufällig wie vierblätterigen Klee.“

„Was soll’s werden? Kulturgeschichtliche Novelle oder Märchen?“

„Ich weiß es noch nicht,“ sagte Gabriele, „bin ja eigentlich zufällig zu dieser Beschäftigung gekommen. Meine kleinen Schülerinnen verfolgten einmal eine Kröte, und ich verschaffte dem schuldlosen Tier Respekt durch Erzählen der aus deutscher Vorzeit stammenden Sage, daß es Geld ins Haus bringe. Es ist ein liebenswürdiger Zug in dem Aberglauben des Heidentums, daß er häßliche Kreaturen durch angedichtete geheimnisvolle Gaben schützt. Nun, der Herausgeber einer Jugendschrift las das Märchen und nahm es mir weg. Das war der Anfang.“

„Unfaßbar!“ murmelte Ilse. „Sich für solche ungezogene Rangen zu plagen!“

„Meine armen kleinen Mädchen in den geflickten verblichenen Röckchen, die so fleißig stricken!“ verteidigte Gabriele ihre Pfleglinge. Sie meinte, zu sehen, wie all die Kinderaugen leuchteten, als sie versprach, aus der Sommerfrische ein neues Märchen mitzubringen.

Ilse schüttelte den Kopf. „Ich möchte wissen, was Ihr seliger Vater zu Ihrem Leben sagen würde. Ein berühmter Professor, und die Tochter Armenlehrerin aus Liebhaberei!“

„O, in dessen Geist handle ich gerade,“ entgegnete Gabriele: „Dienen soll der Mensch, lautete sein Wahlspruch, dem Nächsten, dem großen Ganzen, erhabenen Ideen. Und kleinlich nannte er es, zu wägen, welche Arbeit die höhere sei, wenn ihre Früchte nur der Menschheit nützten. In der Amalienschule bedurfte man noch einer Lehrerin, und da keine geldspendende Kröte das Stiftungskapital vergrößerte, trat ich als Hilfe ein.“

„Sehr edel.“ Ilse seufzte dazu, als möchte sie aus ihrer jungen glatten Haut herausfahren.

Sie waren in winklige Gäßchen geraten, die den Berg hinaufklommen, an den die Stadt sich lehnte. Auf einem Vorsprung ragte ein verwitterter Bau empor mit bröckelnden Mauern, zerfallenden Fenstern; zwischen wenigen Ziegeln starrten morsche Dachsparren heraus.

„Das alte Frankenhaus! Wie traurig und verlassen es da oben steht!“ sprach Gabriele und begann die nach der Ruine führenden Steinstufen zu ersteigen.

Ilse lachte. „Es muß etwas nur recht krumm und schief sein, dann gefällt’s Ihnen. Da hinauf klettert gewiß außer uns kein Mensch.“

Ueber die von der Zeit weggeschliffene Ringmauer schritten sie hinüber im den kleinen ehemaligen Vorhof des Burggebäudes. Glatter Bergrasen bedeckte ihn. Ein großer wilder Rosenstrauch von der edlen Art, an der auch jedes grüne Blättchen duftet und die den Namen Christdorn trägt, nickte mit unzähligen Knospen leise im Abendwind. Gabriele ließ sich in seinem Schatten nieder. Sie fügte sich der melancholischen Stätte harmonisch ein mit ihrem grauen Sommeranzug, dem trotz der lichten Farbe etwas wie von lange getragener Trauer anhaftete, mit dem breiten Saume des Gazeschleiers und den schwarz genähten Handschuhen. Einzig glänzte ein stählernes Steinhämmerchen, wie es wohl Geologen führen; es diente als Griff des Schirmes.

„Kein Röschen ist aufgeblüht,“ schmollte Ilse, neben Gabriele Platz nehmend. „Nicht einmal ein Sträußchen kann man sich anstecken.“

„Geduld! Zeit bringt Rosen!“ erwiderte Gabriele. „Das Wort hat mir zuerst mein Großmütterchen in der Ergebung der guten alten Zeit gesagt, und ich habe seinen tiefen Sinn schätzen gelernt als Trost bei jedem höheren Ringen und Streben, trotz allem, was mir vom Schicksal zugeteilt wurde,“ schloß sie mit sinkendem Ton. Dann bog sie doch, auf den Wunsch des jungen Mädchens eingehend, die Zweige auseinander, um nach einer aufbrechenden Knospe zu suchen. Ein fast versunkenes Steinkreuz kam zum Vorschein.

„Ein Blutkreuz!“ rief sie, Halme und Moos davon ablesend. „Da ist die eingegrabene Heugabel, da die Axt! Als Warnungszeichen stellte man diese Kreuze an den Stätten auf, wo im Bauernkrieg die Aufrührer gerichtet wurden.“ Sie zog, von plötzlichem Schauder geschüttelt, das schwarze Spitzentuch fester um die Schultern. Dann strich ihre feine Hand wie liebkosend über die Knospen.

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Die Frauenkirche zu München.
Vom Dache der Michaelskirche aus gezeichnet von Robert Aßmus.

[753] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [754] „Es sieht dem Christdorn ähnlich, daß er hier sich erbarmungsvoll ansiedelte.“ Und mit einem Aufleuchten gingen ihre Augen in die Weite. „Dort arbeitet der Bauer auf seinem freien Felde; kein Büttel beruft ihn mehr zum Frondienst. Auf seinem eigenen Grund und Boden ist er der Herr. Gleiches Recht gilt für alle. Die Nachkommen erreichten, was die Vorfahren forderten. Auch hier hat die Zeit Rosen gebracht.“

„Erst nach vierthalb hundert Jahren!“ mäkelte Ilse. „Darüber können Sie übrigens keine Novelle schreiben. Nur Bauern und nicht ein bißchen Liebe!“

„Die ist immer und überall dabei gewesen,“ entgegnete Gabriele, in Träumerei versinkend.

Um die grauen Mauern, schienen Fäden zu weben, die ihre Seele umspannen; sie hatte wie immer an solchen Stätten das Gefühl, ein unsichtbares Etwas suche Verständigung mit ihr. „Sehen Sie das Fensterchen droben im spitzen Giebel?“ fuhr sie leise fort. „Dort hat vielleicht des Turmwächters Töchterlein hinausgeschaut, mit glänzenden Augen an dem Tage, da der Volksheld Thomas Münzer unter seiner wallenden Fahne, die den Regenbogen führte, heranzog, um sich den anderen Bauern anzuschließen; unter heißem Herzklopfen, als der düstere Schwärmer mit der traurigen Miene, die er allein für das Elend, der Welt geziemend fand, hier vorüber den Schlachtberg hinaufstieg, als seine stattliche Gestalt im hellen Koller von Elenhaut aus der dunklen, Sensen und Dreschflegel tragenden Schar hervorleuchtete. Und sorgenvoll stützte sich wohl ihr blasses Köpfchen in dem altdeutschen Häubchen an den kleinen Fensterpfeiler, da die bewaffneten Kriegsvölker enger und enger sich um den Haufen der Bauern schlossen. Beten und Schluchzen mag die jetzt öde Stube erfüllt haben, während auf dem Schlachtberg droben die Feldschlangen die Wagenburg der Aufständischen zerschmetterten. Dann sah sie, wie Blutbäche herunterrieselten, vernahm, daß der Held ihrer Träume gefangen war, und endlich stürmten die Söldner dort die zerfallene Wendelstiege empor. Da rettete sie sich durch einen Sprung aus dem Fensterchen in den Tod.“

„Ach nein,“ rief Ilse, „lieber in die Arme eines hübschen Söldners, der sie schützte und heiratete!“

Ein unterdrücktes Lachen brach hinter dem Rosenbusch hervor. Zugleich schnellte der blonde Herr von der Veranda empor.

Auch der schwarzbärtige tauchte auf. Die zwei Reihen weißer Zähne zwischen dem Vollbart verrieten den Lacher. Aber rasch gefaßt, den Hut in der Hand, redete er die sich ebenfalls erhebenden Damen an: „Verzeihung, wenn wir stören; und gestatten die Damen, daß wir uns vorstellen!“ Ein Neigen des dunklen Kopfes mit dem kurzgeschorenen dichten Haar. „Hauptmann Holl.“

„Premierlieutenant von Schersen,“ nannte sich der Jüngere mit einer Verbeugung, die, obgleich streng salonmäßig, doch eine besonders ehrerbietige Huldigung für Gabriele, ausdrückte.

Sie nahm mit höflichem Gruß die Vorstellung entgegen. Ilses Hut nickte kurz. Sie wandte dem Hauptmann Holl, diesem Herrn, der sich heute schon zum zweitenmal so etwas wie eine Kritik gegen sie erlaubte, die Schulter zu, die sich, wie er beobachtete, reizend unter der rotseidenen Bluse abzeichnete, und einen kindlich neugierigen Blick auf das Skizzenbuch in Schersens Hand werfend, fragte sie: „Haben Sie den Schauplatz der Novelle gezeichnet, die Sie mit anhörten?“

Er zögerte, aber sie streckte die Hand aus; es wäre unritterlich gewesen, ihr das Buch zu verweigern, er überließ es ihr.

„Das Frankenhaus!“ rief sie. „Und – da schaut die Türmerin aus dem Fenster. Ah!“ – es klang wie ein kleiner Schrei – „das sind Sie, Gabriele! Wie sehnsüchtig Sie aussehen!“

„Noch einmal: Verzeihung!“ bat Schersen schnell. „Es war so stimmungsvoll, wie Sie den alten Turm belebten. Ich sah Ihr Profil durch die von Herrn Hauptmann Holl zurückgebogenen Rosenzweige – ich konnte nicht widerstehen.“

Gabriele schaute auf die kleine anmutige Zeichnung und schwieg überrascht. Holl behauptetete indessen mit gelassenem Lächeln den Platz im Hintergrund, auf den ihn Ilse verwiesen hatte. Er sah und hörte alles. Die schöne Linie von dem blond umkräuselten Nacken nach der trotzig ihm zugekehrten Schulter entging ihm so wenig wie die Erregung in Schersens Stimme, das Staunen der Dame in Grau über ihr Bild. Und er bemerkte auch zuerst, daß ein einzelnes Blatt aus dem Skizzenbuch flatterte. Er bückte sich danach, reichte es aber sofort Schersen hin, während er scheinbar gleichgültig darüber hinwegsah.

Ilse gab das Skizzenbuch zurück und reckte nun wieder ihr Hälschen, um das einzelne Blatt zu betrachten, auf dem eine Frau, auf morgenländische Weise in Schleier gehüllt, dargestellt war; neben ihr die Umrisse eines Kamels mit reichem Sattelzeug, im Hintergründe Pyramiden.

„Wer ist das? Nicht schön, aber riesig interessant! Eine Odaliske?“

Gabriele meinte einen Ausdruck von Befangenheit über Schersens Gesicht gleiten zu sehen. „Der Haltung nach ist es eine Dame der Gesellschaft, und zwar der besten,“ sagte sie.

„Sie haben richtig geraten,“ erwiderte Schersen, das Blatt wieder einfügend, während das leise Rot auf seinen Wangen langsam sich verflüchtigte. „Es ist die Gemahlin meines früheren Kommandeurs, die mit ihrem leidenden Gatten nach Kairo übersiedelte. Ein Phantasiestück,“ erklärte er, zu Holl gewandt, „ich habe die Gräfin nicht wiedergesehen.“

„Ich ebenfalls nicht,“ antwortete Holl leichthin. „Ich glaube überhaupt nicht seit dem Whistabend –“

Schersens Fingern entglitt der goldene Stift, der eine neunzackige Grafenkrone trug – Holl schwieg.

Die Sonne war hinter den Bergen versunken. Gabriele wandte sich zur Heimkehr. Holl faßte nach dem Hut, um sich zu verabschieden. Aber Schersen vereitelte seine Absicht.

„Gestatten Sie,“ sagte er, „daß wir Sie begleiten, gnädig –“ sein Blick flog rasch und doch prüfend über Gabrieles Gesicht, und bevor sie den ihr zukommenden Titel nennen konnte, vollendete er bestimmt: „gnädiges Fräulein.“

Sie fand dem respektvollen Ton gegenüber keine Ablehnung seiner Bitte, und er ging mit ihr voraus, geschmeidig sich ihrem ruhigen Wandeln anfügend.

In einer halblauten verbindlichen Weise, die beide isolierte und doch jede ungeziemende Vertraulichkeit ausschloß, sprach er: „Ich vermute, gnädiges Fräulein sind ebenso wie ich durch einen Zufall hierher verschlagen worden. Ich gedachte einen Pfingstausflug nach dem Harz zu unternehmen. Aber auf dem Bahnhof in Sangerhausen entdeckte mich Hauptmann Holl, mit dem ich früher in demselben Regiment stand und der mich nun überredete, ihn hierher zu begleiten; die Gegend sei eine noch unausgebeutete Fundgrube für Maler, erklärte er. Ich gestehe, Stadt und Umgebung erschienen mir zuerst alltäglich“ – er lächelte und setzte leiser hinzu: „Aber eine einzige Begegnung genügt manchmal, auch die einfachste Landschaft mit dem Schimmer echter Poesie zu verklären. Werden die Damen länger hier bleiben?“

„Es ist noch, unbestimmt,“ antwortete Gabriele. „Meine junge Schutzbefohlene wird baden. Mich zog die reiche Vergangenheit her, deren Spuren diesem Stückchen Erde aufgeprägt sind, und die weltabgeschiedene Stille, die meine jenseit der Jugend liegenden Ansprüche befriedigt.“

Ein Lächeln um seine Lippen erhob Einspruch gegen dieses „jenseit der Jugend“. Sie verstand und verneinte durch eine leise Bewegung des Kopfes.

„O, man glaubt manchmal die Jugend hinter sich zu haben,“ plauderte er weiter, mit einem Anflug von Keckheit, der doch nicht dreist berührte, „und dann kommt irgend ein Ereignis, das uns fühlen läßt: wir stehen noch mitten darin.“

Ihre Augen schweiften zurück nach dem Christdorn mit seinem versunkenen Kreuz. „Oder vielmehr wir gewahren, daß die Schmerzen, welche die Jugend uns brachte, beim leisesten Anlaß wieder erwachen,“ sagte sie langsam.

„Müssen es gerade die Schmerzen der Jugend sein, die wiederkehren?“ fragte er. „Warum nicht auch ihr Glück? Aus Ihrem schönen Wort: ,Zeit bringt Rosen’ wehte ein frischer Duft wie die Ahnung einer Freude mich an. Und ich lege Wert auf solche Vorgefühle.“

Gabriele widersprach nicht mehr. Die Anschauungen ihres Begleiters dünkten sie zwar sehr jugendlich; aber seine Stimme war so gedämpft, sein Blick so sanft verschleiert, als seien sie der Elegie des Abendbildes und ihren eigenen in stilles Sinnen versinkenden Empfindungen angepaßt.

Von solchem Sinnen wußte das folgende Paar nichts. Eine kleine Strecke blieben beide stumm. Holls wohlgeformter Fuß schritt so gleichmäßig über das unter jedem Tritt gleitende Geröll wie über den festgestampften Boden des Exerzierplatzes. Ilse sprang, die dichten blonden Brauen zusammengezogen, bald hastend, bald zaudernd die ausgetretenen Stufen hinab.

Seinen langen Schnauzbart zwirbelnd, sah er belustigt in das [755] trotzige Gesichtchen. „Vorsicht!“ mahnte er, als unter den zierlichen Knopfstiefeln ein Stein in die Tiefe kollerte.

„Ach!“ warf sie geringschätzig hin, „wer solche Gletschertouren gemacht hat wie ich, ist nicht ängstlich!“ Und gereizt von einer Empfindung, die sie sich selbst nicht zu erklären vermochte, setzte sie hinzu: „Was könnte mir denn auf diesem höchst harmlosen Weg gefährlich werden?“

Er lachte über die Herausforderung in Ton und Miene. „Wir sind ja auch nicht hier, um Gefahren zu bestehen, sondern um von etwas geheilt zu werden.“

„Brauchen Sie auch die Kur?“ fragte Ilse, verwundert, daß dieses Bild der Gesundheit einer solchen bedurfte. „Ist die Quelle vielleicht auch gut gegen unbefugtes Lauschen und Lachen?“

„Gegen Mucken aller Art,“ gab er ihr ebenso anzüglich zurück. Dann fuhr er gleichmütig fort: „Und die will ich meinem Arm abgewöhnen, der seit einem Sturz mit dem Pferd im Manöver anfängt, sich als Wetterglas aufzuspielen. Was meinen Sie, was er heute prophezeit hat? Veränderlich? Sturm?“

Ihr blonder Kopf richtete sich kampfbereit höher auf.

„Hellen Sonnenschein,“ vollendete er verbindlich. „Und er hat recht behalten. Denn ich habe eine reizende Bekanntschaft gemacht, an der ich nur eins vermisse –“

Wieder fuhr sie herum, eines Angriffs gewärtig. Er weidete sich einen Augenblick an dem bewegten blühenden Gesichtchen, dann schloß er: „daß ich sie nicht mit Namen nennen kann.“

Sie knixte schelmisch gravitätisch: „Ilse Großheim.“

Er erwiderte mit tiefer Verbeugung. Dann suchte er in seinem Gedächtnis. „Der Name klingt mir bekannt.“

Ilse half nach. „Großheims Spargel, Schnittbohnen, Pfirsiche, Nüsse und was weiß ich? Ich kümmere mich natürlich nicht um unsere Konserven.“

„Schmücken sich aber mit jungen Gemüsen,“ scherzte er, einen Blick auf ihre dicke Hutguirlande werfend. „Ich sehe sogar Schoten. Die gehören doch in den Topf, nicht auf den Kopf. Wie kochen Sie Schoten?“

„Küchenangelegenheiten! Damit kann man mich jagen!“ lachte sie auf.

„Mich nicht,“ entgegnete er. „Ich jage nur ungeschickte Köchinnen fort.“

„Sie sind verheiratet?“ Es klang ganz enttäuscht.

Ein Lächeln verlor sich in seinem Bart. „Unberufen, nein. Aber Vorstand des Kasinos und als solcher verpflichtet, über die Küche zu wachen.“

„Und natürlich ein Feinschmecker wie alle Hagestolze,“ neckte sie.

„Auch das,“ gab er zu, „Wenn ich die Mahlzeiten meiner Kompagnie koste.“

„Kosten, meinetwegen,“ sagte Ilse. „Aber kochen? Das wäre unter meiner Würde!“

„Eine gute Reissuppe und alle Hülsenfrüchte kann ich zubereiten,“ antwortete er.

Ihre Lippen kräuselten sich. Das Wort „Topfgucker“ schwebte auf ihrer Zunge. Aber es wurde nicht ausgesprochen angesichts dieser hochgewachsenen Gestalt, die trotz des bequemen Civilanzuges wie aus Eisen gegossen schien.

„Man muß das verstehen,“ erklärte er, „wenn man das Abkochen der Leute im Manöver überwachen will.“ Und nachdrücklich setzte er hinzu: „Was zu unserem Beruf gehört, ist nie unter unserer Würde.“

Ilse empörte sich gegen die Belehrung, aber sie fand keine Antwort. Während sie innerlich danach rang, wieder auf das hohe Pferd zu kommen, auf dem sie zu sitzen pflegte, band er, ein flottes Marschtempo anschlagend, ohne daß sie es merkte, ihren unstäten Gang an seinen gleichmäßigen Schritt.

Am Eingang in die Stadt holten sie das andere Paar ein. Gabriele war stehen geblieben. „Ich habe noch ein paar Einkäufe zu besorgen.“ Schersen zog sofort den Hut. Ein letzter rosiger Abendstrahl traf das jetzt unbeschattete fein geschnittene Gesicht, schimmerte auf dem hellen Haar und schien sich in den schönen braunen Augen zu spiegeln. Ihr selbst unbewußt vermochte ihr Blick ein paar Sekunden lang sich nicht von ihm loszureißen. Dann verneigte sie sich zum Abschied.

„Auf Wiedersehen!“ sagten einstimmig ihre Begleiter.

Schweigsam gingen die Freundinnen durch Damengruppen, die in Toiletten à la Watteau, den Pompadour am Arm, den Kaffeegärten entströmten; durch Kinderscharen, die mit Ketten von Löwenzahn und Körbchen voll Eichelnäpfchen aus den Waldverstecken, von den sonnigen Triften heimkehrten; vorüber an Trupps von Herren, die, friedlich vor sich hindämmernd, nach Hause schlenderten, sichtlich in der beschaulichen Stille des kleinen Badeortes von der nervösen Hast der Großstadt erlöst.

Keine merkte die Einsilbigkeit der andern. Mit ihren Gedanken beschäftigt, begab sich jede nach eingenommenem Thee auf ihr Zimmer. Bei Ilse hob sofort ein Klingeln nach dem Stubenmädchen, ein Klappern mit Schlüsseln und Kofferdeckeln und lautes Geplauder an.

„Den Anzug, ‚à la Tragkleid‘ in die tiefste Ecke des Schrankes, man wird sonst zuletzt für ein Baby gehalten! Wie ein Kind, das auf die Nase fällt, bin ich behandelt worden. Fort mit den englischen Schuhen! In denen schiebt man wie eine Ente herum. Die Pariser Stiefelchen mit den hohen Hacken zieh’ ich morgen an. Da hat man seine richtige Größe, auch einem großen – nein, langen Herrn gegenüber. Haben Sie die Bonbonniere auf das Marmortischchen gelegt? Etwas zu knabbern muß ich haben. Daß Sie mich morgen nicht wecken! Ich schlafe, so lange es mir gefällt. Gute Nacht!“

Indessen saß Gabriele, die Feder in der Hand, vor dem Cylinderbureau. Aber auf der neuen Seite des Tagebuchs waren nur die Worte eingetragen: „Zeit bringt Rosen“. Sonst pflegte sie Pläne zu Arbeiten, kurz skizziert, darin niederzulegen. Jedoch die kleine Erzählung, die bei dem Frankenhaus ihr durch den Sinn gegangen war, als hätte eine Stimme aus dem zerklüfteten Gebäude sie ihr ins Ohr geflüstert, ließ sich in keine feste Form fassen. Des Türmers Töchterlein, das sie in das verfallene Fenster geträumt hatte, zerfloß wie ein Nebel vor der Erinnerung an ihr eigenes Bild, das ein Fremder mit einer Art Hellsehen dahin zeichnete und bannte. Der düstere Held aus dem Bauernkrieg, den sie so deutlich zu erschauen meinte, wie er den Schlachtberg hinaufzog, tauchte in die versunkene Zeit zurück vor der Gestalt des Zeichners, der hinter den geschlossenen nickenden Rosenknospen sich erhob. Ein Stück Maler steckte in ihm. Die erkennen aus dem Antlitz der Menschen feine Regungen der Seele, welche gewöhnlichen Sterblichen verborgen bleiben. So las er von ihren Zügen die Sehnsucht ab.

Kein Wunder, daß diese wie ein Teil von ihr geworden war! Sie hatte es jahrelang geübt, das Ausschauen in die Ferne, in die Sterne, bis sie wußte, daß es Barmherzigkeit war, wenn die Himmelslichter ihr nicht wiederspiegelten, was sie erblickten.

Und an dem Faden flogen die Gedanken einen weiten Weg zurück. (Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüten.

Das neue Heilverfahren gegen Diphtherie und sein Begründer. Das Jahr 1890 war das Geburtsjahr einer neuen Heilmethode. Damals machte Stabsarzt E. Behring in Berlin eine hochwichtige Entdeckung. Er fand, daß das Blut von Tieren, welche an gewissen durch Bakterien erzeugten Krankheiten leiden, sich in eigenartiger Weise verändere. Genasen die Versuchstiere von der Diphtherie oder dem Wundstarrkrampf (Tetanus), so enthielt ihr Blut Heilstoffe, welche die verderblichen Wirkungen der Diphtherie- oder Tetanusbacillen aufzuheben vermochten. Ferner ermittelte Behring, daß jene Heilstoffe nicht in den festen, sondern in den flüssigen Bestandteilen des Blutes, d. h. in dem Blutserum oder Blutwasser, enthalten waren. Dieselben Eigenschaften zeigte auch das Blut der Tiere, welche durch Schutzimpfung gegen die genannten Krankheiten immun oder unempfänglich gemacht wurden. Es galt nun, diese wichtige Entdeckung zum Wohle der leidenden Menschheit zu verwerten, und mit rastlosem Eifer ging Professor Behring daran, aus dem Blute diphtherieimmun gemachter Tiere ein Heilserum zu gewinnen, das auch an Diphtherie erkrankte Menschen retten könnte.

Mit berechtigter Spannung sah die Welt den Endergebnissen dieser mühevollen Arbeiten entgegen; war doch bis jetzt gegen den Würgengel unserer Kinderwelt kein sicher wirkendes Heilmittel bekannt. Bevor man jedoch zu Versuchen an kranken Menschen schreiten konnte, waren große Schwierigkeiten zu überwinden; die Kunst, verschiedene Haustiere mit Sicherheit immun zu machen, mußte erst erlernt werden, und zwei Jahre vergingen, bis der Erfinder des Heilverfahrens in der Lage war, so hohe Grade der Immunität zu erzielen, daß mit dem neuen Mittel Versuche in Kinderkrankenhäusern angestellt werden durften. Das erste Ergebnis war nicht entscheidend, aber soviel stellte sich heraus, daß das Heilserum keinen Schaden brachte und den Verlauf der schweren Krankheit [756] milder zu gestalten schien. Behring ersah hieraus, daß er den richtigen Weg beschritten habe, er gönnte sich keine Ruhe und Erholung und suchte seine Methode zu vervollkommnen, durch zweckmäßige Behandlung der Tiere, wie Schafe, Pferde etc., ein Serum von noch größerer Heilkraft zu gewinnen. Endlich wurde auch dieses Ziel erreicht und die Herstellung des Heilserums in größeren Mengen konnte beginnen.

Zu Anfang dieses Jahres wurde in einigen Berliner Krankenhänsern der erste Versuch im großen ausgeführt. Das Urteil der Fachleute lautete wiederum ermutigend. Es gelang allerdings nicht, alle diphtheriekranken Kinder durch das neue Heilmittel vor dem Tode zu retten, aber der günstige Einfluß der Serum-Einspritzungen war unverkennbar; die Aerzte faßten mehrfach ihr Urteil dahin zusammen, daß die Sterblichkeit an Diphtherie, die sonst 30 bis 60 % beträgt, auf das geringe Maß von nur 5 % herabgedrückt werden könnte, wenn man mit der Serumbehandlung schon am ersten und spätestens am zweiten Tage der Erkrankung beginnen würde. Zu gleicher Zeit wurde die Behringsche Heilmethode auch in Paris durch Professor Roux eingeführt und der erste Versuch lieferte gleichfalls Ergebnisse, die zu weiterem Vorgehen ermutigten. Während bis dahin das Serum nur zu klinischen Versuchszwecken hergestellt wurde, entschloß sich nun Professor Behring, durch ein großes chemisches Institut, das ihm schon vorher die materiellen Mittel zur Fortführung seiner Versuche gewährt hatte, das neue Heilmittel der Allgemeinheit zugänglich zu machen, und seit dem 1. August dieses Jahres wurde es dem Verkauf übergeben.

Professor Behring.

Nach einer Photographie von C. Höpfner Nachf.
Fritz Möller in Halle a. d. S.

So standen die Dinge, als Ende September die Versammlung der deutschen Naturforscher und Aerzte in Wien tagte; das Diphtherieheilserum bildete auf ihr den Gegenstand lebhafter Erörterungen und der Ruf des neuen Heilmittels wurde durch die Tagespresse in die weitesten Kreise getragen. Das Verlangen, dasselbe allen Leidenden zugänglich zu machen, wurde allgemein. Leider aber stand der Verwirklichung dieses Wunsches der teuere Preis des Serums entgegen. An verschiedenen Orten Deutschlands wurden darum, sei es von wohlthätigen Personen, sei es von Stadtgemeinden, besondere Geldmittel zur Verfügung gestellt, durch welche Krankenhäuser oder Armenärzte in die Lage versetzt sind, das Mittel bei ihren Diphtheriekranken anzuwenden. Das Heilserum wird in nächster Zeit in großem Maßstabe verwendet werden können und dann wird es auch den Aerzten möglich sein, über dessen Wert ein abschließendes Urteil zu fällen. Vieles berechtigt zu der Hoffnung, daß dieses Endurteil günstig lauten werde. Ein unermeßlicher Gewinn würde es sein, wenn es uns gelingen sollte, die hohe Sterblichkeit der Diphtheriekranken auf ein geringeres Maß herabzudrücken; denn vielen Tausenden würde dadurch alljährlich das Leben gerettet werden.

An das Heilserum knüpfen sich jedoch noch andere Hoffnungen. Nicht nur zum Heilen bereits Erkrankter soll es verwendet werden, es verleiht auch Gesunden Schutz gegen Ansteckung und es wird daher auch zur Schutzimpfung gegen Diphtherie empfohlen. Diese erfolgt dadurch, daß man dem zu schützenden Kinde eine gewisse Menge des Serums von bestimmter Stärke unter die Haut einspritzt. Wie lange diese Einspritzung vor der Ansteckung schützt, ist noch nicht genau ermittelt, man nimmt aber an, daß die auf diese Art erworbene Immunität einige Monate anhält. Es würde also zu Zeiten von Epidemien möglich sein, gesunde Kinder in Häusern mit Diphtheriekranken oder in Schulen vor der Gefahr der Diphtherieansteckung zu bewahren.

Schließlich muß noch hervorgehoben werden, daß die Diphtherie nicht die einzige Krankheit ist, welche durch ein Heilserum behandelt werden kann. In ähnlicher Weise wird es vielleicht mit der Zeit gelingen, auch andere durch Bakterien erzeugte Krankheiten zu bekämpfen. Es liegt hier ein ganz neuer Weg vor, den die Forschung betreten hat, und diesen Fortschritt verdanken wir in erster Linie der rastlosen Arbeit des Mannes, dessen Bildnis nach der neuesten Aufnahme heute die „Gartenlaube“ bringt und der als Begrüuder der Heilserumtherapie gefeiert wird.

Emil Adolf Behring wurde im Jahre 1854 zu Hausdorf bei Deutsch-Eylau in Westpreußen geboren und besuchte das Gymnasium im nahen Hohenstein. Als Zögling der militärärztlichen Bildungsanstalten studierte er in Berlin und trat im Jahre 1878 als Militärarzt in das Sanitätskorps ein. Schon frühzeitig begann er in Posen und dem schlesischen Städtchen Winzig, wo er anfangs stationiert war, selbständige Untersuchungen über den Einfluß der Desinfektionsmittel auf die Wundbehandlung. Diese seine Arbeiten wurden durch die Versetzung in die Universitätsstadt Bonn wesentlich gefördert, und hier bereits wurde von ihm der Heilkraft des Blutes besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Im Jahre 1888 wurde Behring als Stabsarzt an das Friedrich Wilhelms-Institut in Berlin abgeordnet und bald darauf begann seine Thätigkeit in dem hygieinischen Institut von Robert Koch, die 1890 zu der Begründung des neuen Heilverfahrens führte. Als das Institut für Infektionskrankheiten errichtet wurde, folgte Behring Robert Koch in diese neue Anstalt. In Anerkennung seiner Verdienste erhielt Behring im Jahre 1893 den Professortitel und heute wirkt er als Professor der Hygieine an der Universität Halle. *      

Die Sarkophage Kaiser Wilhelms I. und der Kaiserin Augusta im Mausoleum zu Charlottenburg. (Zu dem Bilde S. 741.) Seit Jahrzehnten bildet das Mausoleum zu Charlottenburg das pietätvoll aufgesuchte Wanderziel vieler Tausende, die sich dorthin gezogen fühlen durch die wunderbaren Marmorbilder des Königs Friedrich Wilhelm III. und der Königin Luise, von Rauchs Meisterhand für diese Stätte geschaffen. Nachdem auch der letzte Sohn der Königin Luise, Kaiser Wilhelm I., gestorben war, wurde eine Erweiterung des 1810 nach Schinkels Plänen errichteten, 1843 vergrößerten Baues beschlossen und im Jahre 1890 vollendet. Der neu gewonnene Raum der Gruft nahm den Sarg des ersten Kaisers des neuen Reiches auf und bald auch den seiner Gemahlin, der Kaiserin Augusta. Professor Erdmann Encke in Berlin erhielt den Auftrag, den beiden Rauchschen Vorbildern entsprechend zwei Sarkophage zu fertigen, die als künstlerische Grabdenkmale für die Verewigten im Oberraum des Mausoleums Aufstellung finden sollten. Und nunmehr sind diese Sarkophage vollendet und eingeweiht. Der Kaiser ist dargestellt in der Uniform des 1. Garderegiments, entblößten Hauptes unter einem Hermelinmantel ruhend, mit beiden Händen das lorbeerumwundene Reichsschwert fassend. Die Kaiserin, mit dem Diadem und einem feinen Spitzenschleier geschmückt, hält in den gefalteten Händen ein Kruzifix. In ihrem Schoße liegen Blüten und Blätter der Passionsblume. Beide Gestalten lagern auf antiken Ruhebetten, deren Ecken von geflügelten Löwenköpfen gebildet werden; um die Friese der Hauptgesimse schlingt sich als ornamentales Band die Kette des Schwarzen Adlerordens, die Langseiten sind beim Kaiser mit den Sinnbildern des Kriegs und des Friedens, bei der Kaiserin mit denen des Glaubens und der Wohlthätigkeit verziert. Ein gelbes Oberlicht wirft seinen gedämpften Schein über die edlen Marmorgebilde.

Außer den beiden Sarkophagen hat das Charlottenburger Mausoleum noch einen neuen bildnerischen Schmuck, ebenfalls von Erdmann Enckes Hand, erhalten. In der Vorhalle steht jetzt ein gewappneter Erzengel, der mit seinem Flammenschwert Wache hält vor der Gruft der Toten. Kaiser Wilhelm II. hat ihn für diesen Platz bei dem Künstler bestellt. Schwert, Helm und Schild sind von vergoldeter Bronze, und von einem bläulichen Lichtschein übergossen, erhebt sich achtunggebietend die mächtige Gestalt.

Die Frauenkirche in München. (Zu dem Bilde S. 752 und 753.) Das Wahrzeichen Münchens, das mächtige Turmpaar der Frauenkirche, hat in diesen Tagen seinen vierhundertsten Geburtstag gefeiert, und noch heute ragt das mächtige Denkmal der spätgotischen Backsteinarchitektur, wie wir sie vielfach in den Hansastädten vertreten finden, fest und unerschüttert vom Sturm der Zeiten über Münchens Häusermeer empor. Der kunstsinnige Herzog Sigmund von Bayern legte 1468 den Grundstein auf der Stelle einer bereits früher bestehenden Marienkirche, bei deren Abbruch sich nach dem Bericht einer Chronik die ganze Bevölkerung „mit gieriger Müh’ und Arbeit“ beteiligte. Der neue Bau wurde unter der Leitung des Jörg Gankoffer von Haselbach bei Moosburg ausgeführt, dem die bedeutendsten Baumeister von Ulm, Regensburg, Nürnberg und Wien mit ihrem Rat zur Seite standen. Die Vollendung erforderte einen ungewöhnlichen Aufwand von Hingebung und Ausdauer. Denn München besaß damals erst etwa 18000 Einwohner, und nur mit Hilfe der frommen Spenden, die aus ganz Deutschland, insbesondere aus Franken und Bayern zuflossen, war es möglich, die ansehnlichen Kosten aufzubringen.

Den gewaltigen Größenverhältnissen der Kirche, die 101 Meter lang, 38,5 Meter breit und 58 Meter hoch ist, entsprechen auch die Maße der beiden Türme, die man früher wegen ihrer sonderbaren Bedachung mit Kugelhauben „Welsche Kappen“ nannte. Sie erheben sich zu einer Höhe von 99 Metern. Für ihren nicht eben schönen Abschluß nach oben darf der ursprüngliche Baumeister nicht verantwortlich gemacht werden. Die beiden Hauben sind ein Werk des 16. Jahrhunderts und wurden damals infolge Verzichts auf eine stilgerechte Vollendung der Türme aufgesetzt.

Robert Aßmus hat die weltbekannte Kirche aus Anlaß ihres 400jährigen Bestehens von einem besonders günstig gelegenen Standpunkt, von einer Dachluke der Michaelshofkirche aus, gezeichnet. Sein Bild zeigt uns rechts von den Domtürmen einen Teil des neuen Rathauses, das alte Rathaus mit seinem wunderschönen Turm, die Heilige Geist-Kirche, den „alten Peter“ (Turm der Peterskirche), in der Ferne die Kirche von Rammersdorf, im Vordergrunde die Dächer der Gebäude, welche den Hof des Landgerichts umschließen. Es dürfte kaum möglich sein, einen Platz zu finden, von dem aus sich die machtvolle Gestalt der beiden Riesen wirksamer und charakteristischer erfassen ließe.


Kleiner Briefkasten.

P. K. in Nürnberg. Ihre Annahme ist irrig.

A. G. in L. Wir bedauern, Ihnen über die betreffende Heilanstalt keine Auskunft geben zu können.


Inhalt: Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (8. Fortsetzung). S. 741. – Die Sarkophage Kaiser Wilhelms I. und der Kaiserin Augusta im Mausoleum zu Charlottenburg. Bild. S. 741. – Die politischen Attentate im neunzehnten Jahrhundert. Von Rudolf von Gottschall. S. 746. – Die fränkische Korbwaren-Industrie. Von A. Berger. S. 749. Mit Abbildungen S. 745, 749 und 750. – Zeit bringt Rosen. Novelle von Stefanie Keyser. S. 751. – Die Frauenkirche zu München. Bild. S. 752 und 753. – Blätter und Blüten: Das neue Heilverfahren gegen Diphtherie und sein Begründer. S. 755. Mit Bildnis des Professor Behring. S. 756. – Die Sarkophage Kaiser Wilhelms I. und der Kaiserin Augusta im Mausoleum zu Charlottenburg. S. 756. (Zu dem Bilde S. 741.) – Die Frauenkirche zu München. S. 756. (Zu dem Bilde S. 752 und 753.) – Kleiner Briefkasten. S. 756.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.