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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[357]

Nr. 22.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Martinsklause.
Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(21. Fortsetzung.)


Von allen, die um Hiltischalk und Hiltidiu gestanden, war eine einzige nur geblieben, die Magd. Die Hände verkrampft, mit verzerrtem Gesicht und aufgerissenen Augen, kauerte sie auf der Erde. „Willst Du allein dem Himmel nicht folgen?“ schrie Waldram und faßte ihren Arm. „So will ich Dich der Hölle mit Gewalt entreißen!“ Keuchend wehrte sich die Magd; doch Waldram schleifte sie zur Kirche und stieß sie in das offene Thor.

Mit zitternden Händen griff Hiltischalk nach seinen Augen, als müßte er eine Binde niederreißen, die ihm das Sehen wehrte. „Hilti, Hilti!“ lallte er. „Komm! Jetzt müssen wir rufen zu Ihm! Er muß uns hören! Er muß!“ Mit versagenden Knien taumelte er der Kirche zu. Doch Waldram stand vor dem Thor und streckte wehrend die Arme. „Weiche von dieser Schwelle, die Dein Fuß entweiht! Hier wohnt Gott – wo Du bist, brennt die Hölle!“ Das Kreuz erhebend, trat er rücklings in das Dämmerlicht der Kirche. Dröhnend schloß sich das Thor, und der eiserne Riegel klirrte.

Hiltischalks Hände griffen zuckend ins Leere, er drohte niederzustürzen, doch Hiltidiu eilte herbei und stützte ihn; mühsam bezwang sie ihre Thränen und redete zu ihm mit ihrer sanften leisen Stimme, aber was sie auch sagte … er schüttelte den Kopf und wehrte zornig mit den Händen. Wie hätte er auf Worte hören sollen? Er sah die Welt zertrümmert, die sein reiner Glaube und die Liebe ihm erbaut hatten in seinem Herzen, er sah das Haus zerstört, darin er gewohnt in Glück und Frieden. Er hatte gesät durch sechzig Jahre … und wie lag die Ernte jetzt vor ihm? Verwüstet in einer kurzen Stunde! Wovon nun sollte er zehren? Wie sollte er noch leben können?

Mit verstörten Augen blickte er sein Kirchlein an, sein Haus, die welkende Linde und die Gräber; dann hoben sich seine Blicke empor zum grauen treibenden Gewölk, und keuchend rang es sich aus seiner Brust: „Rufen muß ich! Rufen! Rufen! Hat er mich nie gehört … heut muß er mich hören! Und darf ich auch nimmer hinein in das heilige Haus – komm, Hilti, komm, ich weiß schon ein Platzl, wo ich rufen kann, ein Fleckl, wo er mich hören muß!“


An der Unteren Lände in München.
Nach einer Originalzeichnung von P. F. Messerschmitt.

[358] Er faßte den Arm der Greisin und riß sie hinter sich her, zum Kirchhof hinaus, hinunter auf den Karrenweg am Ufer der rauschenden Ache, dem stillen Wald entgegen und der Windach zu.




24

Es ging auf die Mittagsstunde; doch tiefe Ruhe herrschte in Wazemanns Haus. Das Geflügel war in die Ställe gesperrt, und im Zwinger saß ein Rüdenknecht, um die Hunde bei Ruhe zu erhalten. Das Gesinde, welches im Hof und im Unterbau des Hauses beschäftigt war, vermied jedes Geräusch, denn nach einer Nacht wie der vergangenen pflegten Wazemann und seine Söhne dem Lärm nicht hold zu sein.

Herr Waze lag in den Kleidern auf seinem Spanbett, einen nassen Bund um die Stirn, und kaute Schlehen, um den bitteren Pelz auf seiner Zunge mit Bitterkeit zu lösen. Zuweilen grub er das Gesicht in die Bärenhaut und drückte stöhnend die Fäuste an seine Schläfe. Herr Waze litt an Haarweh; wohl hatte er nicht viele Haare mehr, doch die wenigen schmerzten ihn doppelt.

Es wär ein hartes Stündlein für die alte Ulla, als sie zur Not die Herrenstube in Ordnung bringen mußte, um für Mittag die Tafel decken zu können. Bei dem leisesten Geräusch, das sie verursachte, flog eins von den Dingen, die in Herrn Wazes Armbereich nicht niet- und nagelfest waren, ihr an den Kopf oder um die Füße, begleitet von einem Fluch. Als sie die schwere Metbitsche brachte, drückte Herr Waze die Hände an den Kopf und kreischte: „Hinaus mit dem Gesöff! Mir graust! Und Ruh’ will ich haben, Ruh’, Ruh’! Man soll noch warten mit dem Mahl! Solang’ mich selber nicht hungert, braucht kein anderer zu fressen! Wo sind die Buben?“

„Sie liegen noch,“ flüsterte die Magd.

„So laß sie liegen! Und Recka?“

„Sie ist vor Tag zu Berg geritten.“

„Schon wieder! Einen Tag um den andern! Was stehst Du noch? Hinaus mit Dir!“

Ulla zögerte und fragte scheu: „Herr, soll man Zehrung in das Bußloch tragen?“

„Hinaus, hinaus!“ Alle Geschosse hatte Herr Waze schon versandt, nur der hölzerne Schemel vor dem Spanbett war noch übrig, doch eh’ ihn Herr Waze mit tappender Hand zu fassen bekam, hatte sich Ulla aus der Stube geflüchtet. „Zehrung in das Bußloch?“ Herr Waze saß halb aufgerichtet, stierte vor sich hin, griff nach dem Schlüssel an seinem Gürtel und lachte. „Zehrung? Wozu denn? Der Pfaff ist ja ans Fasten gewöhnt! Knurren soll er, mürb’ soll er werden, eh’ ich raiten will mit ihm! Und giebt er mir den Gadem nicht zu Lehen mit Brief und Siegel, mit einem Schwur bei seinem Heiligen, so soll er den Tag nicht wieder sehen! Ich will ...“ Seine Worte erloschen in einem Grinsen. Stöhnend drückte er die Fäuste an seinen brummenden Schädel und ließ sich zurücksinken auf die Bärenhaut. Nach einer Weile fiel er in Schlaf und schnarchte.

Um die gleiche Stunde verließ Eberwein das Fischerhaus, von Sigenot geleitet, der alte Senn’ und Wicho trugen eine Stangenbahre, auf welcher Huze ruhte. Als sie die Ache erreichten, faßte Eberwein die Hand des Fischers. „Weiter sollst Du nicht gehen mit mir. Kehr’ um und wahre Dein eigen Haus!“

„Das muß ein anderer wahren, der stärker ist als ich!“

Eberwein atmete tief, und eine matte Röte schlich über seine bleichen kummervollen Züge. „Ja, Sigenot, bei Gott ist alle Hilfe! Doch wir dürfen die Hände nicht in den Schoß legen und thatlos harren und rufen: jetzt zeige, Gott, wie stark Du bist! Wir müssen auch der eigenen Kraft vertrauen und müssen sinnen auf Schirm und Schutz vor unseren Feinden. Weißt Du mir einen sicheren Boten?“

„Wohin soll er Botschaft tragen?“

„Weit hinaus ins ebene Land, an den Hof des Bayernherzogs.“

„Mein Jungsenn’ hat lange Füß’ und ist ein treuer Bub’. Ich schick’ ihn Dir zum Lok’stein, wenn die beiden wieder heimkehren.“ Sie schieden. Sigenot stand und blickte ihnen nach, bis sie unter den Bäumen verschwunden waren.

Gesenkten Hauptes, versunken in den heißen Streit seiner Empfindungen und Gedanken, schritt Eberwein hinter der Bahre her. Er blickte nicht auf, als sie nahe den Halden der Schönau vorüberkamen, auf denen die Leute in Hast die letzten Garben von den Feldern räumten.

Reges Leben herrschte rings um den Hag des Richtmanns; doch die Knechte und Mägde sprachen nicht, sie rührten nur die Arme und warfen zuweilen sorgenvolle Blicke hinauf in das finster treibende Gewölk. Der Schönauer überwachte die Ladung der Karren und zählte die Garben, und jeden Karren, der in den Hag gezogen wurde, geleitete er bis zum Thor; dort stand er immer eine Weile und blickte mit kummervollen Augen nach seinem Buben. Ruedlieb saß auf der Steinbank unter den Eichen, die Arme um seine Knie geschlungen, regungslos ins Leere starrend. Einmal rief ihn der Vater an: „Liebli, willst nicht auch ein lützel mit zugreifen?“

Der Bub’ schüttelte nur den Kopf; seufzend kehrte der Richtmann aüf die Felder zurück, doch es währte nicht lange, so trieb es ihn wieder in die Hofreut. Er ging auf Ruedlieb zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und rüttelte ihn. „Wach’ auf, Liebli, wach’ auf! Das ist ja kein Leben nimmer seit gestern. Mag daraus werden, was will – das kann ich nimmer länger mit anschauen! Und wenn Dir die Arm’ so tot sind, daß Dich kein Schaffen freut ... schau’, ich weiß Dir einen Gang: geh’ ein lützel in Heimgart zum Rötli und sag’ der lieben Dirn, daß ich sie grüßen lass’!“

Ruedlieb sprang auf, und die Zähren schossen ihm in die Augen, während er die Hände seines Vaters drückte.

„Aber wenn Du gescheit bist,“ sagte der Richtmann, „so thust Dich noch gedulden bis auf den Abend. Der Tag ist unser Feind, die Nacht hat bessere Weg’.“

Da nickte der Bub’, und unter einem stockenden Atemzug dehnte sich seine Brust. „Weis’ mir Arbeit an, Vater! Die Zeit vergeht mir flinker, wenn ich schaff’!“

„Ja, Liebli, komm!“

Als sie zum Hagthor gingen, führ ein kalter Windstoß vom Untersberg einher über die Halden der Schönau. Der Richtmann und Ruedlieb lauschten: auf dem Winde kam vom Lokiwald ein verwehter Hall der Glocke über das Thal geflogen. Bruder Wampo hatte den Strang gerührt. Als er aus seinem langen Schlaf erwacht war und sich noch immer einsam in der Klause fand, befielen ihn Angst und Sorge, doch er wagte die hölzernen Mauern nicht zu verlassen, unter der Thüre stand er und schrie den Namen Schweikers in die Stille hinaus; aber keine Antwort kam – es rauschte nur der Wald, wenn ein Windstoß, welcher plötzlich erwachte und rasch verwehte, für kurze Weile die dumpfe Ruhe der Lüfte störte. Auch klangen Bruder Wampos Rufe nicht weit, denn seine Stimme war heiser von der langen Zwiesprach’, die er in der Nacht mit seinem unheimliche Gesellen in der Grube gehalten. Die Glocke, meinte er schließlich, würde besser rufen. Als er im Läuten einmal aussetzte und über die Lichtung spähte, glaubte er Stimmen im Wald zu hören. „Schweiker!“ rief er und eilte den Bäumen zu, doch er fand nur den stillen öden Wald, eine kleine Strecke wagte er sich noch weiter, dann aber schüttelte er bedenklich das runde Köpflein und kehrte wieder um. Ein Summen machte ihn aufblicken, und was er gewahrte, ließ ihn plötzlich alle Furcht und alle Sorge um die Brüder vergessen. An einem morschen Baum, in ziemlicher Höhe, sah er ein Loch, welches in die Höhlung des Stammes führte, der ein Bienennest zu bergen schien, denn zahlreich und emsig flogen die wilden Immen aus und ein. „Schau’, schau’! So kann man in dem schiechen Wald doch auch ’was Liebes finden!“ lachte Bruder Wampo, der den süßen Honig schon auf der Zunge spürte. Er musterte den Baum und meinte, daß er ohne allzugroße Mühe das Nest ersteigen könnte, denn die Stümpfe dürrer Aeste ragten wie Leitersprossen aus dem Stamm. Er griff nach Schwefelfaden und Feuerstein in seiner Kutte, nahm zwei kleine Moosbüschel, die er hinter den Gürtel steckte, und begann über die Sprossen emporzuklimmen. Aber er hatte diese Mühe doch zu leicht geschätzt; freilich, der Baum erhob keine Schwierigkeiten, um so größere jedoch Bruder Wampos Bäuchlein, das eine besondere Vorliebe bezeigte, mit jedem Zweig und jedem Rindensplitter eine längere Auseinandersetzung zu halten. Manches Tröpflein Schweiß war vergossen, als Bruder Wampo endlich neben dem Immenloch auf luftigem Aste saß. Während er schwere Mühe hatte, die ihn umschwärmenden Immen abzuwehren, schlug er hurtig Feuer, brachte das eine der Moosbüschel in glimmenden Brand, schob den dick rauchenden Wisch in die Höhlung des Stammes und verstopfte mit dem anderen das Loch. Flink ließ er sich auf die Erde gleiten und rannte davon, mit schlagenden Armen die Immen scheuchend. In einiger Ferne blieb er lachend stehen und schnalzte mit der Zunge.

[359] „Jetzt soll Euch der Rauch einen Tag lang beißen! Dann komm’ ich wieder und heb’ den süßen Schatz!“

Ein Wehlaut schloß diese Worte, und mit beiden Händen griff Bruder Wampo nach seiner Glatze; er spürte zwischen den Fingern noch die Biene, die ihn gestochen hatte; kreischend schüttelte er sich, rannte der Lichtung zu, raffte im Laufe einen Klumpen Erde auf und drückte ihn stöhnend über sein Köpflein. „Schweiker! Schweiker!“ schrie er mit seiner heiseren Stimme. Doch hätte Bruder Wampo auch einen Ruf gethan so mächtig wie das Gebrüll eines Löwen – es wäre wohl kaum zu Schweikers Ohr gedrungen.

Hoch oben auf dem Hang des Göhl saß Schweiker noch immer in der Stube des Greinwalders und hielt die Hände der Hirtin fest, damit ihre bösen Schmerzen nicht wiederkehren möchten. Er hatte sich seines Traumes in jener ersten Nacht erinnert, und da begann er nun zu forschen, wie es um das „Seelgerät“ der Hirtin bestellt wäre. Erschrocken über das zweifelhafte Ergebnis seiner Fragen rief er: „Kindl, Kindl! Sauber und gewaschen liegst vor mir, aber einwendig schaut’s bei Dir noch aus, daß einem grausen könnt’!“ Während draußen im Hof die Beilschläge des Greinwalders klangen, der das zertrümmerte Thor wieder zusammenflickte, fing Bruder Schweiker zu sprechen an und predigte der lauschenden Hirtin den Himmel ... seinen Himmel. Es war ein Himmel, den man greifen konnte mit Händen. Um zu beweisen, wie schön es im Himmel wäre und welche Wonne man von der ewigen Seligkeit zu erwarten hätte, schilderte er die Qualen, welche die Heiligen und Märtyrer auf Erden erduldet hatten, um all dieser himmlischen Freuden teilhaftig zu werden. Er wählte die Geschichten seiner Lieblingsheiligen ... das waren jene Märtyrer, für welche die „wüsten Heiden“ die grausamsten Leiden ersonnen hatten.

Hinzula zitterte an allen Gliedern, und ihre Augen wurden feucht, als sie hörte, wie standhaft die Heiligen all ihre furchtbare Marter ertragen hatten. „Ja sag’ nur, sag’ ... und das alles ist wahr?“

„Freilich, mein liebes Kindl, so wahr, wie daß ich bei Dir sitz’!“

„Aber wie kann denn ein Mensch solche Leiden nur aushalten?“

„Das kann freilich nur ein Heiliger, weißt, den der liebe Gott gekräftiget hat und gespeiset mit Himmelsbrot!“

„Himmelsbrot? Was ist denn das für eins?“

„Das ist von allem das best’! Das backen die guten Engel im Himmel, und wer so fromm ist, daß ihm Gott ein Bröcklein schickt davon, der fühlt in Leid und Schmerzen sein Herz erhoben zu reiner Freud’ und Süßigkeit, der spüret nimmer Schmerz und Kummer, und seine Seel’ thut jauchzen und ist voll von all dem Glück, das ihr der liebe Gott gegeben. Gelt, für so ein Himmelsbrot, da möcht doch ein jeder gern leiden bis aufs Blut? Meinst nicht auch?“

Hinzula nickte. „Freilich, da möcht’ mir auch ein Bröcklein schmecken!“ Mit träumendem Lächeln blickte sie zu Schweiker auf – und nun schwiegen sie alle beide und hingen Aug’ in Auge.

„Wohl wohl!“ stotterte Schweiker nach einer Weile, aus seiner Verlorenheit erwachend. „Was hab’ ich denn sagen wollen? Richtig, ja ... alleweil’ in der höchsten Not, wenn die Kräft’ die Heiligen schier haben verlassen wollen, hat ihnen der liebe Gott einen Engel geschickt mit Himmelsbrot. Schau’ nur, wie’s dem heiligen Laurenzi gegangen ist ...“

„Hat der auch so viel leiden müssen?“

„Wohl wohl! Paß nur schon auf, ich erzähl’ Dir alles ...“ Während Schweiker die Legende begann, trat draußen in der Hofreut die Bäuerin zu ihrem Mann. „Ja sag’ nur. was ich thun soll? Jetzt hockt er noch alleweil’ drin! Es muß schon lang’ über Mittag sein ... ich muß ja Feuer schüren und kochen.“

Der Greinwalder kratzte sich hinter den Ohren. „Ich weiß mir selber keinen Rat. Hinauswerfen ... das wird sich hart machen. Der Unfirm möcht mir ja alle Knochen im Leib brechen. Meinetwegen, setz’ die Supp’ halt zu! Jetzt ist er da – soll er halt mitessen!“

Durch die offenen Fenster klang Schweikers Stimme: „Und richtig, wie es ihm der heilige Vater Sixtus, der ihm vorangegangen ist im Martertod, vorhergesagt hat ... drei Tag’ später, da haben ihn die heidnischen Schergen gepackt und haben verlangt von ihm, daß er die heiligen Kirchenschätz’ den Richtern ausliefern soll.“

„Solche schieche Leut’!“ stammelte Hinzula.

„Da hast recht! Und was hat der heilige Laurenzi gesagt? Wohl wohl, hat er gesagt, kommet nur morgen, und alle Schätze meiner Kirche will ich Euch zeigen ... hat er gesagt!“

„Geh’, das ist aber doch nicht recht von ihm gewesen!“

„Wart’ nur, wie’s weiterkommt, wart’ nur! Am andern Tag haben sich die Schergen wieder eingestellt, und da hat der heilige Laurenzi die Kirch vor ihnen aufgethan, und die ganze Kirch’ ist voll gewesen mit Kranken, mit armen notbeladenen Leuten. Schauet hin, hat er gesagt, schauet hin, das sind die Schätze meiner Kirche.“

Schweikers Stimme schwankte vor Rührung, und Hinzulas Augen füllten sich mit Thränen. „So ein guter guter Mann!“

„Und weißt, was sie ihm gethan haben? Einen eisernen Rost haben sie hergeschleift, haben einen ganzen Haufen heißer Kohlen drunter ausgebreitet, und wie der Rost über und über geglüht hat, haben sie den heiligen Laurenzi lebendigen Leibes draufgelegt.“

„All Ihr guten Mächt’,“ rang es sich mit erstickten Lauten von Hinzulas Lippen, „wie kann man denn einem guten Menschen so ’was thun!“

„Gezischt und geprasselt hat’s, und Rauch und Feuer ist aufgegangen von seinem schönen Lockenhaar. Der heilige Laurenzi aber ist standhaft geblieben und hat nach einer Weil’ gerufen: ‚Schauet her, die eine Seite ist genug gebraten, jetzt wendet mich auf die andere!‘“

„Hör’ auf, hör’ auf, ich kann’s nimmer hören!“ flehte Hinzula und brach in krampfhaftes Schluchzen aus. Erschrocken sprang Schweiker auf, und während ihm selbst die dicken Zähren über die Backen kollerten, suchte er das Mädchen mit stotternden Worten zu trösten. Doch Hinzula hörte nicht, sie schluchzte und schluchzte. „Kindl, Kindl!“ rief er in heller Verzweiflung. „So hör’ doch auf, das Weinen muß Dir ja schaden!“

Unter herzzerbrechendem Schluchzen jammerte die Hirtin: „So viel leiden hat er müssen, so viel leiden!“

„So thu’ doch nimmer weinen! Das ist ja doch viele hundert Jahr’ schon her, und schau’ ... wer weiß, ob’s wahr ist!“ Der Jammer und sein zitterndes Erbarmen hatten ihm diese bedenklichen Trostworte auf die Zunge gelegt; er selbst erschrak, als sie gesprochen waren, und griff mit beiden Händen an seine Stirn, als ginge ihm alle Besinnung aus den Fugen.

Die Bäuerin trat in die Stube, ein Bündel dürren Holzes auf den Armen. Als sie das Schluchzen ihres Kindes hörte, warf sie das Holz auf den Herd und eilte zum Bett. „Ja was thust denn?“ fuhr sie den Bruder an und beugte sich über die Schluchzende. „Jetzt macht’ er mir die sieche Dirn’ noch weinen!“

Schweiker brachte kein Wort über die bleichen Lippen. Hinzula aber bezwang ihr Schluchzen und stammelte. „Mutter, Mutter so thu’ doch ihn nicht schelten! Er hat doch keine Schuld ... ich selber ... und ... der heilige Laurenzi!“ Brummend ging die Greinwalderin zum Herd, und während sie Feuer schlug, rief sie über die Schulter zurück. „Der Bauer hat gesagt, Du kannst mitessen! Hörst!“

„Mitessen?“ fragte Schweiker. „Hat denn das Kindl noch kein Frühmahl gehabt?“

„Frühmahl? Ja bist denn Du gescheit? Es geht doch schon bald auf den Abend zu.“

„Auf den Abend?“ Dem Bruder fuhr der Schreck in alle Glieder. „Allmächtiger Gott, wo bin ich denn gewesen! Mein Herr! Mein guter guter Herr!“ Er stürzte zur Thüre; als er den schluchzenden Ruf der Hirtin hörte, drückte er die Hände über die Ohren, dennoch hielt es ihn fest auf der Schwelle. Mit verstörten Blicken hing er an dem Mädchen, dann schüttelte er den Kopf, wehrte mit den Armen und taumelte aus dem Hause. Mit langen Sprüngen gewann er das Thor, rannte in seiner blinden Eile den Bauer nieder und war schon im Wald verschwunden noch ehe der Greinwalder wieder auf die Füße zu stehen kam. Keuchend und erschöpft erreichte Schweiker die Klause. Auf der Thürschwelle saß Bruder Wampo, der ein Stück Rasen über seinen Kahlkopf gebunden hatte, um den Schmerz des Bienenstiches zu lindern. Schweiker hatte kein Auge für den drolligen Anblick dieser seltsamen Kappe; nach Atem ringend, stieß er die Frage hervor: „Ist unser Herr daheim?“

„Nein, nein.“

„Hat ihn der Pater nicht gefunden?“

„Ich weiß nicht ...“

[360]

Pelikane am Strand.
Nach einer Originalzeichnung von K. Ahrendts.

[361]

Pelikanjagd.
Nach einer Originalzeichnung von F. Schlegel.

[362] Was Bruder Wampo noch weiter sagte, hörte Schweiker nicht mehr; keuchend rannte er wieder davon. Wohin er wollte, das wußte er nicht; kreuz und quer durchirrte er den Wald und schrie den Namen Eberweins hinaus in die dumpfe Stille. Durch wirre Gebüsche schlug er sich und geriet in das Thal der Ramsauer Ache. Auf schmalem Pfad kam ihm die Tochter Wazes auf ihrem Rappen entgegengeritten. Sie wollte wenden, als sie den Mönch erblickte, doch mit dem Aufgebot seiner letzten Kraft sprang Schweiker auf Recka zu, faßte den Zügel des Pferdes und keuchte: „Mein Herr, mein Herr . . . hast Du meinen Herrn nicht gesehen?“ Das Pferd bäumte sich, aber Schweiker hielt fest und ließ sich schleifen.

In jähem Zorn hatte Recka die Gerte gehoben; da traf sie ein Blick aus Schweikers Augen, angstvoll und verzweifelt; sie ließ die Gerte sinken und konnte die Antwort nicht versagen: „Sorge Dich nicht – Dein Herr weilet unter sicherem Dach, bei Sigenot, dem Fischer.“

Schweikers Arme ließen los, und während Recka davonritt, drückte der Bruder seine zitternden Fäuste auf die atemlose Brust. „Unter sicherem Dach!“ keuchte er, dann warf er sich zu Boden und preßte schluchzend das Gesicht ins Moos.

Dem Lauf der Ache aufwärts folgend, ritt Wazes Tochter unter den Halden der Strub vorüber und kam in das enge Waldthal, dessen Gehänge wiederhallten vom klingenden Hammerschlag der Ilsanker Schmiede. Nach kurzem Ritt erreichte sie die Stelle, an welcher die Windach ihre schäumenden Wellen in die Ramsauer Ache goß. Sie setzte über den rauschenden Bach und ritt in den dunklen Hochwald ein, um nach einer Bärengrube zu sehen, welche am Fuß einer den Wald durchschneidenden Felswand ausgeworfen war. Noch hatte sie das Ziel ihres Rittes nicht erreicht, als sie das Pferd verhielt und gegen die Höhe lauschte. Ihr war, als hätte sie vom Gewänd der Windach hernieder den angslvoll klingenden Schrei einer weiblichen Stimme vernommen. Lange lauschte sie, doch sie hörte nichts mehr als das dumpfe Rauschen des Wassers. Eine quälende Erinnerung befiel sie, und kaltes Grauen schlich ihr in das zerrissene Gemüt . . . der Schatten der armen Heilka war vor ihr aufgestiegen.

„Die Lebendigen und die Toten, alles schreit um mich her und klagt wider meine Brüder und meines Vaters Haus! Könnt’ ich doch nimmer hören! Müßt’ ich doch nimmer sehen! Hätt’ nur alles schon ein End’! Ein End’!“ Mit pfeifendem Gertenschlage trieb sie das Roß und verschwand im Dunkel des Gehölzes.

Da klang der Schrei in der Höhe wieder. Hoch über dem Geklüft der Windach, wo nah’ dem Absturz zwischen Felsen und Gestrüpp ein Albensteig emporführte gegen den König Eismann, rangen zwei Menschen miteinander. Ihre lauten Stimmen mischten sich, ihre schwarzen Gewänder und ihre weißen Haare flatterten in dem eisigen Luftstrom, der dem Sturz der Windach thalwärts folgte. Hiltidiu lag auf den Knien vor Hiltischalk und hielt ihn umklammert mit ihren dürren Armen; das sonst so milde sanfte Antlitz war verwandelt zu einem Schreckbild, jeder Zug verzerrt von Entsetzen und Todesangst. Um Hilfe schreiend, umkrampfte sie den zitternden Körper des Greises, der sich loszureißen suchte. Hiltischalks Augen glühten wie im Wahnsinn und schrill und heiser klang seine Stimme: „Laß mich, Hilti, laß mich! Jetzt muß ich rufen zu ihm, da ist das Fleckl, wo er mich hören muß! Hat er mich selbigsmal nicht auch gehört, wie ich da drunten geschrieen hab’ zu ihm: Mein guter Herre, Du mein Gott? Hat er mich nicht gehoben aus Not und Tod? Jetzt muß er mich wieder hören, jetzt muß er mich lohnen für die Treu’, mit der ich gestanden zu ihm . . .“

„So hör’ mich doch! Um Gotteswillen laß Dir sagen . . .“ jammerte das Weib.

Doch Hiltischalk hörte nicht. „Ein Urtel muß ich haben! Recht muß er sprechen nach seiner ewigen Gerechtigkeit!“

„Mann, Mann!“ schrie die Greisin mit halb erstickter Stimme. „Ja bist denn Du ein anderer geworden! Du, der allzeit Gute, der allzeit Fromme – Du willst Gott versuchen und Dich versündigen an ihm?“

„Laß mich, Hilti, laß mich! Ein Urtel muß ich haben! Wissen muß ich, ob ich fromm gelebt hab’ oder ein Verfluchter bin, ob ich Gott gedient hab’ oder der Höll’!“

„Denk’ schon nimmer an mich und meine Lieb’ . . . nur laß Dich bitten: versuch’ den Himmel nicht . . .“

„Ein Urtel muß ich haben! Ich muß! Ich muß! Laß Deine Händ’ von mir ... und hab’ nur keine Sorg’ ... er wird mich heben aus Not und Schmerzen! Hab’ nur acht, wie er demselbigen zeigen wird: was Gott vereinet, können Menschen nimmer trennen! Laß Deine Hand’ von mir! Ich muß! Ich muß! ...“

Er riß sich los und taumelte zum Rand der Felsen. Gellend hob sein Ruf sich zu den Wolken: „Mein guter Herre, Du mein Gott!“ Und mit ausgebreiteten Armen, brennenden Blicks die grau verschleierte Höhe suchend, trat er hinaus ins Leere. Unter herzzerreißendem Schrei hatte Hiltidiu sich aufgerafft und wankte ihm nach mit brechenden Knien. Ihre Hände haschten noch sein flackerndes Gewand, sie wollte nicht lassen von ihm und stürzte, von seinem Fall gezogen, mit ihm hinunter in die dunkel gähnende Tiefe . . .

Dumpf rauschte die Windach, ihre grauen Wasserdämpfe stiegen auf, und in der Tiefe rollten ihre Wellen den immer gleichen Weg, die fallenden Steine verschlingend, den weichenden Erdgrund fressend und alles Wachstum mordend, das ihr zu nahe kam. Sie gab nicht wieder, was sie genommen. Ein Urteil war gefallen, und es lautete, wie Hiltischalk gehofft: nun war er ledig aller Not und Schmerzen und war vereint mit seinem Weib für alle Zeiten.

Dumpf rauschte die Windach; ihre lohenden Wellen erschütterten den Felsengrund und machten den Steg erzittern, der die finstere Kluft überspannte. Da schwankte der Balken unter dem festen Schritt eines Mannes. Pater Waldram suchte den Heimweg. Ohne Grauen blickte er nieder in die finstere Tiefe, furchtlos überschritt er die Kluft Er wußte sich in Gottes Hut! Hatte er nicht das stolzeste Werk seines Lebens an diesem Tag vollführt? War ihm heute der Dank des Himmels nicht doppelt gewiß, da er Gottes Haus gesäubert von Laster und Aussatz, eine ganze Gemeine mit hundert Seelen gerettet hatte vor ewigem Verderben? Sicher trug ihn der Steg.

Als er die Blöße des Ufers überschritten hatte und in den von Dorngestrüpp umwachsenen Hochwald trat, vernahm er einen jauchzenden Ruf, der das Rauschen des Wassers übertönte. Ueber ihm, in der Weite eines Bogenschusses, hielt Recka auf ihrem Pferd vor dem Absturz der Felsen. Sie hatte in die Tiefe geblickt, dann mit den Augen den Pfad im Thal gesucht. „Ist denn mein Leben noch den Umweg wert?“ Lachend hatte sie das Roß zum Sprung getrieben. „Heilka, jetzt ruf’ die Alfen der Windach auf . . . laß sie greifen nach Hennings Schwester!“ Und mit dem jauchzenden Schrei, welchen Waldram gehört, hatte sie den Anlauf zum Sprung genommen. Doch vor dem Absturz der Felsen stockte das Pferd im Lauf mit vorgeschobenen Hufen und scheute zurück. „Willst Du nicht?“ lachte Recka. „Ich sag’ Dir aber: Du mußt!“ Sie lenkte rückwärts und begann von neuem den Anlauf, die Flanke des Pferdes mit der Gerte peitschend. Nun sprang das Roß, vorgestreckten Halses, mit wehender Mähne flog es über die Kluft. Seine Hufe gewannen das Ufer, wohl brach unter ihm der hohle Rasen, doch es schnellte sich vorwärts und stand auf fester Erde, zitternd an allen Gliedern.

„Gott schütze Dich!“ hatte Waldram geschrieen und wie in heißer Angst um dieses Weib die Arme ausgestreckt.

Recka sah ihn nicht und hörte keinen Laut seines Rufes. Das schöne Antlitz von tiefer Blässe überzogen, blickte sie mit verlorenem Lächeln rückwärts in die Tiefe. „Den Himmel find’ ich nimmer, die Höll’ begehrt mich nicht . . . wohin denn jetzt? Wieder heim in meiner Brüder Haus!“ Sie streichelte den Hals des Pferdes und ließ es mit hängendem Zügel in den Hochwald treten.

Als sie verschwunden war, schien Waldram wie aus einem Traum zu erwachen. Brennende Röte schoß ihm in Stirn und Wangen, während er die beiden Fäuste auf seine Augen schlug. „Teufelin! Hat Dich zum anderenmal die Hölle geschickt, mich zu versuchen?“ Mit zuckenden Händen faßte er seine Brust. „Sündiges Fleisch, erbärmliches Gefäß du einer gottgeweihten Seele ... ich will dich züchtigen!“ Gestreckten Leibes warf er sich in einen Dornbusch und wälzte sich auf den stachligen Ranken.




25.

Dem trüben Tage folgte ein grauer lichtloser Abend. In einem der hölzernen Wächtertürmchen, welche die Ecken der um Wazemanns Haus gezogenen Mauer krönten, stand Henning bei seinem vertrauten Knechte. Sie redeten mit gedämpften Stimmen.

„Das weißt Du gewiß, daß er seit Tagen nicht mehr ausgefahren ist zur Fischweid?“

[363] „Ja, Herr, das schwör’ ich. Was drunten im Hof geschieht, weiß ich nicht – die Bäum’ decken den halben Hag; aber der See liegt offen unter mir. Ich hätt’ ihn sehen müssen, wenn er gefahren wär’.“

„Er braucht aber Fisch’!“ Henning lachte. „Die Leut’, die er gesammelt hat in seinem Hag, wollen zu beißen haben. Bei Taglicht hält er das Thor geschlossen, so muß er fahren in der Nacht und fischen bei der Fackel. Schleich’ Dich hinunter, bevor es dunkel wird, und steig’ auf einen Baum! Merkst Du, daß er die Netz’ zur Ausfahrt richtet, so komm gelaufen. Und eh’ Du gehst, sprich mit Deinen Kammergesellen Zacho und Heripot . . . versprich ihnen, was Du willst! Sie wagen ja nicht viel. Wenn die vier besten Fäust’ auf der Fischweid sind, so greifen wir die Dirn’ halb wie im Spiel. Und sag’ ihnen . . .“

Ein Blick des Knechtes machte ihn verstummen unter dem Wächterhäuschen ließ sich ein Schritt vernehmen, und Henning lächelte spöttisch. Mit lauter Stimme begann er von dem bösen Wetter zu reden, das die schweren Wolken erwarten ließen. Dann flüsterte er: „Thu’, wie ich Dir gesagt hab’!“ und verließ das Wächterhäuschen. Da stand sein Bruder Eilbert vor ihm, mit schmalen Lippen und eingekniffenen Augen. „So? Grob’ Wetter wird kommen? Meinst Du?“

„Ich denk’!“

„Dann bleib’ nur schön in Deiner Kammer heut’ nacht. Sonst könnt’ Dir das Wetter grob in die Knochen fahren!“ Eilbert wandte sich und ging dem Hause zu.

Henning ballte die Fäuste, aber sein Zorn verrauchte schnell, und lächelnd eilte er dem Bruder nach. „Laß reden mit Dir! Ich merk’, Du hast gelauscht. Gut also ... Dir sticht die Dirn’ in die Augen, mir auch. Müssen wir aber deshalb gegen einander stehen? Laß uns zusammenhalten, wir sind ja Brüder! Dem Vater brummt der Schädel, und die schwarzen Schermäus’ haben wir nimmer zu fürchteu . . . so kommt uns gute Stund’, wenn der Fischer in der Nacht mit seinem Knecht zum Fang ausfahrt. Wir wollen zusammenhalten als gute Gesellen und ... um die Dirn’ spielen wir. Willst oder nicht?“

Eilbert besann sich. „Gut, ich stell’ das Brett auf. Komm!“ Lächelnd stieg er über die Freitreppe empor ... er hoffte zu gewinnen, denn er war der bessere Spieler. Doch Henning war der bessere Trinker. Er ging in den Unterbau des Hauses und rief die alte Ulla. „Bring’ einen Krug vom schwersten Met hinauf in meine Kammer!“

Während die beiden Brüder beim gefüllten Becher und beim Brettspiel saßen und bei jedem Stein, der geschlagen wurde, der Schwester Sigenots die Minne tranken, stieg Hennings Knecht über den Felsenpfad hinunter zum Ufer. Als er sich unter den Bäumen in die Nähe des Fischerhages schlich, sah er Rötli auf dem Lugaus sitzen. In heißer Sehnsucht spähte sie gegen den Achensteg, denn sie wußte, daß Ruedlieb kommen würde. Wicho und der Altsenn’ waren vor kurzer Weile aus dem Lokiwald heimgekehrt; als sie unter den Halden der Schönau vorübergezogen waren, hatte Ruedlieb, der auf dem Felde schaffte, den Knecht des Fischers erkannt und war auf ihn zugesprungen. Bei der Heimkehr hatte Wicho das Mädchen mit Sigenot auf dem Lugaus gefunden und hatte ihr lächelnd die Botschaft zugeflüstert „Auf den Abend kommt Dein Bub’ . . . und sein Vater mit ihm!“ Erblassend und zitternd war Edelrot aufgesprungen, mit bangem Blick an ihrem Bruder hängend. Doch Sigenot hatte die Schwester an sich gezogen und ihr zärtlich das Haar gestreichelt. „Freu’ Dich nur! Hast ja gehört: er kommt mit seinem Vater. Harte Zeit liegt über uns allen, aber ich weiß ein Blüml, das blüht auch unter dem Schnee. Der Richtmann und ich, wir wollen heut’ vergessen, daß ein jeder von uns auf anderen Wegen geht, und treulich wollen wir raiten um Euer Glück.“

Schluchzend vor Freude hatte Rötli den Bruder umschlungen und seit er mit dem Knecht ins Haus getreten, saß sie auf dem Lugaus, in heiß quellender Sehnsucht ihres Buben harrend. Doch bei aller Sehnsucht war die Gewißheit des Wiedersehens nicht ihre tiefste Freude, sie konnte kaum den Augenblick erwarten, daß sie ihm sagen durfte: „Du sollst nicht sterben müssen! Leben sollst Du! Es giebt keinen Bid - das hat ein Gottesmann gesagt, der alles weiß. Und hat Dich der böse Feind geschreckt und sollt’ er wiederkommen, ich weiß ein Mittel wider ihn, da muß er weichen. Er muß! Er muß!“. Mit zitternder Hand bekreuzte sie das Gesicht und stammelte das Stoßgebetlein, welches Bruder Wampo ihr vorgesprochen. Da klang, weit über die Ache her, der helle Jauchzer, mit welchem Ruedlieb sein Kommen meldete. Rötli sprang auf, schluchzend und lachend ... der Weg zum Thor war ihr zu weit und das Thor stand ja geschlossen; sie schwang sich auf die Bank, auf den Tisch und sprang vom hohen Hag auf den Weg hinunter. Mit flatterndem Röcklein und fliegenden Haaren eilte sie der Ache zu und kam an dem Busch vorüber, hinter welchem Hennings Knecht verborgen lag. Der machte große Augen, als er das Mädchen gewahrte. „Die Dirn’ allein? Um und um kein Mensch? Bessere Stund’ kann nimmer kommen – ich will mir schweren Dank von meinem Herrn verdienen!“ Im Schatten der Bäume glitt er am Weg entlang und sah, wie Edelrot hinwegeilte über den Achensteg. Er sprang ihr nach; am Waldsaum, wo die Wege sich teilten, erreichte er sie und schlug die Hände um ihre Kehle. Mit gellendem Schrei brach Edelrot in die Knie. „Wart’, ich will Dich schweigen machen!“ raunte der Knecht, riß die lederne Kappe vom Kopf und schloß mit ihr den schreienden Mund. „Komm nur, komm, ich trag’ Dich ein lützel, daß Dir die kleinen Füßlein nicht müd’ werden.“ Mit groben Fäusten riß er das Mädchen in die Höhe . . . aber da sanken ihm jählings die Arme, und während Rötli mit halb erloschenen Sinnen zu Boden glitt, taumelte der Knecht und stürzte lautlos über den Weg. Ein dicker Blutstrom quoll ihm aus der linken Schulter.

Als Edelrot mit verstörten Augen aufblickte, sah sie vor sich ihren Buben stehen, sein Gesicht war totenbleich, er hielt das blutige Messer in der Hand und starrte nieder auf den entseelten Knecht.

„Ruedlieb!“

Ein Zittern befiel ihn beim Klang dieser Stimme. Rötli wollte sich in seine Arme werfen, doch vor seinen Füßen sank sie schluchzend zur Erde und barg das Gesicht.

Der Schönauer kam, entsetzt die Hände ringend. „Bub’, Bub’ – um aller guten Mächt’ willen, was hast denn gethan?“

„Was ich thun hab’ müssen! Hast Du nicht selber gesagt: wenn’s zum Aergsten kommt, so greif’ zum Messer und stoß’! Und was könnt’ ärger sein, als was dem Rötli geblüht hat?“

„Liebli, mein armer Bub’, Du hast den Tod über Dich gerufen!“

„Tod oder Leben – aber von denen da droben soll mir keiner an das Rötli rühren!“

Unter schluchzenden Worten hatte Edelrot sich aufgerafft und umklammerte den Geliebten mit zitternden Armen. Das Messer fiel aus Ruedliebs Hand, er faßte das Haupt des Mädchens, bog es zurück, um ihre Augen zu sehen und sagte mit tonloser Stimme: „Rötli, Du meine liebe Dirn’! Schau’, jetzt hab’ ich Dir die Blutblumen ins Haar gelegt! Gelt, der Bid hat schnelle Füß’?“ Sie schüttelte den Kopf und rührte die Lippen, doch die Sprache versagte ihr; kaum vermochte sie noch die Hand zu heben, um das rettende Zeichen über Ruedliebs Stirn und Lippen zu schlagen.

„Fort, fort! Schau’, daß Du mit ihr den Hag gewinnst!“ keuchte der Richtmann und drängte die beiden mit ungestümen Armen der Ache zu. „Fort! Fort!“ Er schob sie hinaus auf den Steg.

Mit verlorenen Sinnen, eines das andere umschlingend, überschritten sie im Zwielicht des sinkenden Abends den rauschenden Bach, als sie unter den Bäumen gingen, sahen sie nicht, daß ein junger Bauer ihnen entgegenkam, und hörten nicht, daß er zu ihnen redete. Es war der Hanetzer, der mit halb geheilter Wunde von den Alben gestiegen kam. Lachend blickte er den beiden nach. „Die Zwei hat das Lieb’sglück blind und taub gemacht!“ Er wanderte zur Ache; unter den letzten Bäumen stockte ihm der Schritt. Drüben am anderen Ufer schleifte der Richtmann einen stillen Mann zur Böschung und ließ ihn niederrollen in die schießenden Wellen. Das gelbe Wams des Knechtes leuchtete noch aus dem weißen Wasserschaum – dann verschwand es. Schwer atmend, richtete sich der Schönauer auf, eilte zum Seeufer, warf sich auf die Knie und stieß die roten Hände in den Wasserschwall. Mühsam erhob er sich und mußte, als er den Steg überschritt, das Geländer fassen. Bei dem ersten Schritt ans Ufer erstarrte ihm der Schreck alle Glieder . . . einer stand vor ihm.

{Fortsetzung folgt.)




[364]

Herzogin Hadwig, die Heldin des „Ekkehard“.

Von 0R. Artaria.


Wenige Namen des deutschen Mittelalters sind heute dem großen Publikum so vertraut wie der der Herzogin Hadwig von Schwaben, trotzdem die verbürgte Geschichte gerade von dieser Fürstin viel weniger berichtet als von den anderen erlauchten Frauengestalten der Ottonenzeit. Der Grand ist allbekannt: Frau Hadwig, von deren Leben vor dem Jahr 1855 nur geschichtskundige Gelehrte etwas wußten, hat ihren Dichter gefunden, der aus den alten Ueberlieferungen das lebendige Bild ihrer Persönlichkeit zu erwecken verstand, so daß es jetzt in unverwelklicher Frische aus den Blättern des tausendfach gelesenen „Ekkehard“ leuchtet. Verhältnismäßig nur wenige Figuren der ganzen Weltgeschichte sind, trotz der unzähligen Romane und Dramen, auf diese Weise der Volksseele nahe gebracht worden, denn es gehört zu ihrer Wiedererweckung eine hohe dichterische Gestaltungskraft; und auch diese bedarf zu ihrem Schaffen nicht bloß der allgemeinen geschichtlichen Ueberlieferung, sondern noch eines besonderen Schatzes von persönlichen Charakterzügen, wie sie nur eben hie und da, dank einem günstigen Geschick, in eigenen Aufzeichnungen oder in denen von Zeitgenossen erhalten sind. Aus solchen Quellen hat Walter Scott für seine großen Romane geschöpft, er hätte z. B. ohne die ausführlichen Nachrichten von Comines über Ludwig XI. die unvergleichliche Figur dieses Königs nicht mit einer solchen Fülle persönlichster Züge ausstatten können, wie sie in „Quentin Durward“ dem Leser leibhaftig entgegentritt.

Ebenso würde Scheffel nicht imstande gewesen sein, ein so menschlich anmutendes, ergötzliches, in Licht und Schatten völlig getreues Bild aus dem fernen 10. Jahrhundert zu geben ohne die ausführliche, von ihm selbst mit einer glänzenden Perlenschnur verglichene St. Gallener Klosterchronik des jüngeren Ekkehard IV.[1] Sie liefert auch Farben in Fülle, um das dürftige Umrißbild der Herzogin Hadwig zu ergänzen, welches der sächsische Chronist Widukind von Corvey nur in kurzen Worten zeichnet, sie bringt von ihr eine Anzahl so lebendiger Charakterzüge, daß es für einen Dichter wie Scheffel eine Lust gewesen sein muß, das Bild „der gestrengen hohen Frau, die sich den jugendschönen Lehrer aus des heiligen Gallus Klosterfrieden entführte, um auf ihrem Basaltfelsen am Bodensee klassischen Dichtern eine Stätte sinniger Pflege zu bereiten“ – dieses Bild zum Mittelpunkt der Geschichte zu nehmen, die ihm in der Bücherei des heiligen Gallus und später zwischen den einsamen Burgtrümmern von Hohentwiel in voller Deutlichkeit vor der Seele aufging. Er hat der Herzogin keinen Zug gegeben, dessen Möglichkeit nach den geschichtlichen Berichten ausgeschlossen wäre. Allerdings ist bei Ekkehard IV. von der Hauptsache des Romans nichts zu spüren, nicht die leiseste Andeutung eines „Reigens von Herzen zu Herzen“, welches im zehnten Jahrhundert sich in so gefährlicher Nähe vermutlich ebenso leicht vollzog als im neunzehnten. Sein großer Oheim, Ekkehard II., stand ihm offenbar turmhoch über solchem Verdacht, und auch die Schilderung der Herzogin deutet auf nichts weniger als auf liebende weibliche Herzensschwächen. Er gedenkt ihrer folgendermaßen:

„Anf Duellium (Hohentwiel) wohnte Hadwig, Tochter des Herzogs Heinrich,[2] nach dem Tod ihres Gemahles Burkard verwitwete Herzogin von Schwaben; sie war eine sehr schöne Frau, aber gegen ihre Leute gar zu hart und deshalb weit und breit dem Land ein Schrecken. Als kleines Kind war sie dem Griechenkönig Konstantin[3] verlobt und wurde in griechischer Wissenschaft gar sehr unterrichtet durch Lehrer, welche deshalb geschickt waren. Aber als einer davon, der Maler war, sie ganz genau ansah, um das Bild der Jungfrau ganz ähnlich abzumalen und seinem Herrn zu schicken, da war ihr die Vermählung so verhaßt, daß sie den Mund und die Augen verzerrte. Sie verschmähte den Griechen hartnäckig, dann lernte sie lateinische Wissenschaft und Herzog Burkard heiratete sie mit ihrem reichen Schatz . . .“

Dieser Burkard, ein treuer Freund und Gefolgsmann des Sachsenkaisers Otto I., brachte sein Leben im Harnisch und auf Fehdezügen aller Art zu. In Schwaben fürchteten sie ihn als einen rauhen Zwingherrn und die sächsischen Mönche nannten ihn in ihren Chroniken „einen kaum zu ertragenden Kriegsmann“. Es wird also ziemlich der Wahrheit entsprechen, wenn der Verfasser des „Ekkehard“ schreibt:

„Darum hatte Frau Hadwig den alten Herzog in Schwaben genommen, ihrem Valer zu Gefallen, hatte ihn auch gehegt und gepflegt, wie es einem grauen Haupte zukam, aber wie der Alte zu sterben ging (973), hat ihr der Kummer das Herz nicht gebrochen.“

Sie konnte ganz im Gegenteil jetzt mit großen Hoffnungen ins Leben sehen. Einer Frau von so männlichem Geist, kühnem Herzen und klassischer Bildung durfte man wohl als Landesverweserin das Herzogtum Schwaben dauernd übertragen. So dachte sie wenigstens, nachdem in den ersten Zeiten der junge Kaiser Otto II. die Zügel in ihrer Hand lassen zu wollen schien. Der Hohentwiel war ihre Residenz, sie gebot über das Hegau, samt dem Hochstift Konstanz und den Klöstern am See. Bald freilich besann sich der Kaiser anders und verlieh das Herzogtum Schwaben seinem Neffen und Jugendgenossen Otto, zum großen Zorn Heinrichs von Bayern, der Herzogin Hadwigs Bruder war. Sie aber nahm nicht teil an dessen Kämpfen gegen Kaiser und Herzog, sondern blieb auf ihrem Witwensitz Hohentwiel im Genuß von allerhand Rechten und Befugnissen, die ihr der Kaiser verliehen hatte, und es ist wohl denkbar, daß in solchem Stillleben die aus dem ersten Kapitel des „Ekkehard“ bekannte Stimmung der Langeweile über sie kam und die folgenschwere Fahrt zum St. Galler Kloster veranlaßte.

„Als diese Witwe,“ fährt Ekkehard IV. fort, „einst den heiligen Gallus aufsuchte, um zu beten, nahm sie unser Abt Burkard als seine Nichte festlich auf und wollte ihr Geschenke machen; sie aber sagte, sie wolle kein anderes Geschenk haben, als daß er ihr den Ekkehard auf einige Zeit als Lehrer nach Hohentwiel überlasse.“

Einige Seiten früher sagt er von seiner Absicht, diesen Ekkehard zu schildern: „Ich beginne damit ein schweres Werk, denn ich fürchte, man wird mir nicht glauben, weil es jetzt gar keine solchen Männer giebt oder doch nur sehr wenige. Er war so schön von Angesicht, daß die Leute, welche ihn ansahen, um seinetwillen stehen blieben, wie auch König Otto der Rote von Sachsen[4] über ihn sagte: ‚Niemals hat einem die Kutte des heiligen Benedikt vornehmer gesessen.‘ Er war von hoher Gestalt, einem Kriegsmann ähnlich, von gleichmäßigen Wuchs und funkelnden Augen ... Weisheit und Beredsamkeit hatte er wie der Beste seiner Zeit. In blühender Jugend freute ihn mehr der Ruhm als die Demut ... aber später war das nicht so, denn die Zucht, welche keinen Stolz leidet, wurde an ihm sehenswert. Er war ein guter und strenger Lehrer, denn als er bei dem heiligen Gallus beiden Schulen vorstand, wagte niemand außer den kleinen Bürschchen, mit den Gespielen ein anderes Wart zu sprechen als nur Latein, und die er zu ungeschickt für das Studium fand, beschäftigte er mit Abschreiben und Buchstabenzeichnen. In beidem war er selbst sehr geschickt, besonders in großen Anfangsbuchstaben und in der Vergoldung. In der Wissenschaft aber unterrichtete er gleich sorgfältig die aus dem Mittelstand und die Vornehmen. Mehrere seiner Schüler sah er selbst noch als Bischöfe, wie einst zu Mainz im Concilium, [365] wo sechs Bischöfe bei seinem Eintritt aufstanden und ihn als Lehrer grüßten.“

Es war also sehr begreiflich, daß Frau Hadwig den Wunsch hegte, solchen Unterrichts auch teilhaftig zu werden. und Ekkehard dafür zu gewinnen suchte. Es gelang ihr; sie hatte sich, ehe die Oberen davon wußten, seines guten Willens versichert.

„Dies gab der Abt ungern zu . . . aber Ekkehard setzte es doch durch, worum er gebeten war. Er kam am verabredeten Tage nach Hohentwiel, ungeduldig erwartet, sie nahm ihn höher auf, als er selbst wollte, und führte ihren Lehrer, wie sie sagte, an der Hand in das Gemach, welches zunächst dem ihrigen war. Dort trat sie bei Tag und Nacht mit einer vertrauten Dienerin ein, um zu lesen, doch standen immer die Thüren offen, damit niemand Grund zum Argwohn hätte, wenn er sich solcher Gedanken unterfangen wollte. Oft fanden dort Dienstmannen und Ritter, auch die Vornehmen des Landes, beide zusammen über den Büchern oder im gelehrten Rat. Durch ihre harte und wilde Art aber empörte sie den Mann oft und vielmals wäre ihm wohler zu Hause gewesen, als bei ihr zu wohnen. So hatte er selbst aus Demut geboten, das Rückentuch und den Vorhang seines Bettes wegzunehmen, sie aber befahl, den zu züchtigen, der es weggenommen hatte, und wurde kaum durch große Bitten ihres Lehrers abgehalten, diesem Menschen Haut und Haare vom Kopf ziehen zu lassen.“

Es ist ferner die Rede von reichen Geschenken, welche Hadwig nimmer müde wurde, dem verehrten Manne oder dem heiligen Gallus darzubringen: seidene Mäntel, Oberkleider und Stolen (auf einer derselben war die im „Ekkehard“ erwähnte Hochzeit des Mercurius und der Philologie mit Gold eingestickt). Und einen großen Raum nimmt in diesen Aufzeichnungen das nächtliche Einschleichen des bösen Rudimann in das Kloster des heiligen Gallus ein, seine persönliche Feindschaft gegen Ekkehard und das entschiedene Eintreten der Herzogin für denselben, bis endlich die den Klosterfrieden aufs tiefste aufwühlende Unthat durch gesetzmäßige Buße gesühnt und allerseits Versöhnung geschlossen wurde.

Ein sehr lebhaftes Interesse für ihren berühmten Lehrer war also bei der Herzogin entschieden vorhanden. Wie weit dasselbe ging und ob in dem nahen Zusammenleben nicht doch dann und wann ein verschwiegenes Sehnen ihr stolzes Herz bewegte – diese Frage verhallt gegenüber einem vielhundertjährigen Schweigen. Aber das Recht, sie zu beantworten, hat der Dichter, dessen schöpferischer Phantasie es gegeben ist, „indem er die alten Gebeine ausgräbt, sie zugleich auch mit dem Atemzug einer lebendigen Seele anzuhauchen“, und er hat im vorliegenden Fall aufs glücklichste seines Amtes gewaltet. Die herben Züge der geschichtlichen Hadwig sind nicht gefälscht, nur von einem Gefühl verklärt, das sie gerade so empfunden haben kann, wenn uns auch nichts darüber berichtet ist.

Der anfangs so scheue und später so leidenschaftdurchglühte Ekkehard des Romans freilich hat nur das Pförtneramt des heiligen Gallus und die körperliche Schönheit mit seinem Urbild gemein, nicht einmal die Autorschaft des Waltariliedes. Auch das gute Schwert des seligen Herrn Burkard kann er nicht gegen die Ungarn geschwungen haben, weil deren Einbruch ins Hegau lange vor seiner Zeit stattfand.

Aber alles, was jener feindlichen Springflut damals vorausging – der Eintritt des wilden Heeres in das von seinen Insassen verlassene Kloster Reichenau und der Empfang durch den blödsinnigen Heribald, die Geschichte der Klausnerin Wendelgard, die Verschanzung der St. Galler Brüder im Wald über dem Kloster, alles dies und noch viel mehr steht ausführlich in der Chronik des jüngeren Ekkehard, welche Gustav Freytag in seinen prächtigen „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“ der allgemeinen Kenntnis zugänglich gemacht hat.

Diese Chronik enthält auch zum Schluß des von Ekkehard II. handelnden Kapitels den Vermerk: „Unterdes wurde Ekkehard auf Betrieb der Hadwig an den Hof der Ottonen, des Vaters und Sohnes, gezogen, als kaiserlicher Kaplan, als Lehrer des jungen Königs (Ottos III.) und als Helfer bei den wichtigsten Geschäften. Dort zeigte er sich in kurzem so tüchtig, daß alle sagten, er habe eines der höchsten Bischofsämter zu erwarten. Denn auch die Königin Adelheid (Gemahlin Ottos I. und Mutter Ottos II.), die jetzt heilig gesprochen ist, liebte ihn ausnehmend.“

Die späteren Lebensschicksale Ekkehards aber sind in der Geschichte wie im Roman ungewiß. Sein Name verschwindet wieder aus den Aufzeichnungen; neueren Forschungen zufolge starb er als Propst zu Mainz 990.

Frau Hadwig überlebte ihn und baute in ihrer beschaulichen Witweneinsamkeit ein Frauenkloster auf dem Hohentwiel. Dort starb sie am 28. oder 29. August 994.

Die späterhin zur starken Festung umgeschaffene Burg auf dem Bergkegel hat noch mancherlei Schicksale erlebt. Im Dreißigjährigen Krieg hielt sie ihr tapferer Kommandant Wiederhold siegreich gegen fünfmaligen Ansturm, auch im Spanischen Erbfolgekrieg 1703 vermochten die Franzosen nicht, sie mit Gewalt zu nehmen. Aber 1800 übergab sich ihnen die schwache Besatzung selbst und General Vandamme ließ die Mauern und Türme zerstören.

... Heute überwuchert üppiges Grün die altersgrauen Trümmer, zu welchen jahraus jahrein Unzählige emporsteigen, um die Stätte zu sehen, wo vor Jahren Frau Hadwig lebte und starb. Der Blick fliegt heute wie damals von der Mauerbrüstung frei hinaus über das Hegauer Land mit seiner fruchtbaren Ebene und seinem Kranz von kühnen, stolz aufragenden Bergen, über den leuchtenden Bodensee und die fernen Alpengipfel, er senkt sich auch mit einem dankbar wehmütigen Gedächtnis nach dem Städtlein Radolfzell hinab, wo derjenige am liebsten weilte, dessen Dichterphantasie der Herzogin Hadwig zur Unsterblichkeit verholfen hat.


Der Hohentwiel.


  1. Es waren Verschiedene dieses Namens nacheinander in St. Gallen.
  2. von Bayern.
  3. Konstantin Porphyrogennetus ist hier gemeint. Indessen widersprechen dem die Thatsachen seines Lebens zu sehr. Es könnte nun sein Sohn Romanus gewesen sein, allein von einer Absicht desselben auf Hadwig von Bayern ist nichts bekannt. Solche ziemlich starke Ungenauigkeiten haben dem guten Chronisten Ekkehard IV. das Mißtrauen einer strengen Geschichtskritik eingetragen. Faßt man aber ins Auge, daß er erst nach dem Jahre 1040, also 50 Jahre nach Frau Hadwigs Tode schrieb, so wird man ihm die chronologischen und sonstigen Irrtümer nicht allzu hoch anrechnen dürfen. In der Hauptsache wird ihn die Klosterüberlieferung wohl zutreffend berichtet haben.
  4. Kaiser Otto II.




[366]

Wasserdicht.

Hygieinische Skizze von 0Dr. Lorenz.


Wetterfest sollte der Mensch sein; er sollte Wind und Wetter trotzen können, ohne sich gleich Rheumatismus zu holen oder am Schnupfen zu leiden. Das ist eine Forderung, welche die Erzieher aller Zeiten auf ihre Fahne geschrieben haben, aber mächtiger als alle Schulen erwies sich die fortschreitende Kultur, welche den Menschen zarter, weichlicher gemacht und ihm trotzdem Mittel an die Hand gegeben hat, der Unbill der Witterung zu trotzen. Der civilisierte Mensch ist nicht so abgehärtet wie der Neger von Angola, der beinahe nackt im Lauf eines Tages Temperaturen von + 5° bis + 30°[1] erträgt, er ist empfindlicher gegen die Kälte als der Feuerländer oder der Eskimo, aber doch leistet er mehr als der Neger oder der Wilde der kalten Regionen und erobert Schritt für Schritt die Erde. Der Kulturmensch zieht eben eine andere Haut an und trägt sein Klima zum großen Teil mit sich herum. Die Abhärtung, die er infolge seiner veränderten Lebensweise nicht so gut wie der Naturmensch erlangen kann, ersetzt er durch seine Kleidung.

Darum ist eine zweckmäßige Kleidung von höchster hygieinischer Bedeutung. Das ist der Menschheit unserer Tage mehr denn einem früheren Geschlecht zum Bewußtsein gekommen. Die Kleidungsfrage ist in den letzten Jahrzehnten zu einer brennenden geworden, und es giebt ganze Heerlager, die in Wolle für Wolle oder in Leinwand für Leinwand streiten. Wenn man eine hygieinische Ausstellung der Neuzeit besucht, so nehmen die Manufakturwaren, die Tuch- und Wäschestoffe in dieser keinen geringfügigen Raum ein.

Ein Rundgang durch ein solches Musterlager ist höchst lehrreich; denn man sieht da, was der Mensch dem Schafe und dem Kamel entlehnen kann, wie er sich in Baumwolle einspinnt oder in Linnen wickelt, und es wird einem schwer, sich in diesem überreichen Angebot zurechtzufinden und die Spreu vom Weizen zu scheiden, denn die Bekleidungsfrage ist nicht mehr allein ein Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung, sondern auch die Grundlage spekulativer Untermehmungen. Wenn man also über Kleidungsstoffe sprechen will, so muß man sich darauf gefaßt machen, daß man „in ein Wespennest sticht“. Trotzdem wagen wir, einer Kleidungsfrage näher zu treten, wollen versuchen, den Wert von Stoffen zu besprechen, die uns vor der empfindlichen Nässe des Regens schützen sollen. Anscheinend gehen wir dabei der Kardinalfrage: Wolle, Baumwolle oder Leinwand aus dem Wege. Und doch, wer weiß, ob wir nicht da aus dem Regen unter die Traufe geraten!

Durchnäßte Kleider sind nicht angenehm und auch nicht gesund. Die Erfahrung lehrt, daß man sich in solchen Kleidern besonders leicht erkältet. Die künstliche Haut, die der Mensch mit so vieler Mühe herstellt, ist in dieser Beziehung viel mangelhafter als das Kleid vieler anderer lebender Wesen. Die gütige Natur hat die Federn der meisten Wasservögel und das Haar so vieler Tiere, die dem Regen ausgesetzt sind, mit einer Fettschicht überzogen, an welcher das Wasser abläuft; sie hat die Blätter so vieler Pflanzen mit einem Firnis versehen, an dessen glatter Fläche die Wassertropfen abfließen; diese Wesen können also schon einen langen und starken Regenguß ertragen. Der Mensch aber, der die Fäden zu seinen Kleidungsstoffen von Tieren und Pflanzen auf dem Wege der Zwangsanleihe nimmt, beraubt diese Fäden bei seinen Fabrikationsarten des Fettes und des Firnisses und verschlechtert so seine künstliche Haut. Dem war allerdings nicht immer so. Der erste Mensch, der Wolle spann, ließ an ihr das Fett und hatte somit ein warmes und auch in hohem Maße wasserdichtes Kleid. Aber in solchen Kleidern gehen heute nur noch die Hirten barbarischer Völker oder ganz zurückgebliebene Kulturmeaschen umher, denn Stoffe dieser Art haben keine „Appretur“, können nicht gefärbt werden, sind nicht schön und nicht fein.

Vom Schönen trennt sich der Mensch nicht gern, und so entstand schon vor geraumer Zeit in ihm der Wunsch, Mittel zu erfinden, mit welchen man den schön gewobenen Stoffen Wasserdichtigkeit verleihen könnte. Vor siebzig Jahren, es war Anno 1823, jubelte man auf: denn die große Erfindung schien in der That gemacht worden zu sein. Damals lebte in Schottland ein geistreicher Chemiker, Charles Macintosh, und dieser erfand das Verfahren, Stoffe mit Gummi wasserdicht zu machen. Man begann Gummimäntel zu tragen, wurde auch in ihnen von außen nicht naß, da der Gummi keinen Regen durchließ, dafür aber von innen; man schwitzte in ihnen, weil die Mäntel nicht nur kein Wasser, sondern auch keine Luft durchließen. Man überzeugte sich, daß diese Erfidung, auf den Menschen angewandt, doch ihren Haken hatte, und später, als die Wissenschaft fortschritt, da war auch die Hygieine in der Lage, zu erklären, warum diese Macintoshmäntel nicht gesundheitsgemäß seien und welche Forderung man an einen hygieinischen wasserdichten Stoff stellen müsse. Wir müssen diesen Entwicklungsgang der Fabrikation wasserdichter Stoffe in unserer Darstellung berücksichtigen und den Leser bitten, sich ein wenig in das Kapitel von der menschlichen Eigenwärme vertiefen zu wollen.

Dieses Kapitel wird in volkstümlichen Büchern zumeist sehr kurz erledigt. Man sagt, daß die Temperatur des menschlichen Blutes bei gesunden Menschen stets 37,5° betrage, und daß der Neger im tropischen Afrika, der Europäer im gemäßigten Klima und der Eskimo am Nordpol stets dieselbe Eigenwärme besitzen, die im Laufe desselben Tages nur um wenige Zehntel auf und absteige. Das ist im allgemeinen ja auch ganz zutreffend. Der Mensch besitzt eben einen Wärmeregulierungsapparat, der die von außen an den Körper herantretende Abkühlung und Erhitzung stets ausgleicht. Die Regel hat aber auch ihre Ausnahmen, und gerade diese Ausnahmen sind für das Verständnis der Fragen, die uns hier beschäftigen, von hoher Bedeutung. Denn nicht unter allen Umständen ist der Wärmeregulierungsapparat imstande, die Eigenwärme des Menschen auf der normalen Höhe zu erhalten. Nun wissen wir, daß Menschen erfrieren, wenn ihre Blutwärme auf etwa + 25° sinkt, und auch sterben müssen, wenn sie auf + 42,6° steigt. Solche Schwankungen der Eigenwärme kommen allerdings nur unter außergewöhnlichen Umständen vor, aber diese Betrachtung lehrt uns, daß das Leben an recht enge Grenzen der Blutwärme gebunden ist, sie legt uns den Schluß nahe, daß auch schon geringere Schwankungen der Blutwärme der Gesundheit nicht zuträglich sein können. Und thatsächlich werden solche Schwankungen schon durch anscheinend geringfügige Umstände hervorgerufen.

Im kalten Bade erniedrigt sich unsere Wärme; wenn wir uns ausziehen und eine Stunde in einem Zimmer von + 24° sitzen, so sinkt unsere Körpertemperatur um etwa 1°. Der nackte Wilde ist abgehärteter, er behält seine normale Eigenwärme bei verschiedenen Temperaturen. Es kommt eben darauf an, wie der Wärmeregulierungsapparat des Menschen beschaffen ist.

Das wichtigste Entwärmungsorgan des Menschen ist die Haut. Sie ist von vielen Blutgefäßen durchzogen, die gegen Temperatureinflüsse empfindlich sind, die in der Kälte sich zusammenziehen und in der Wärme sich ausdehnen. Die Folge davon ist, daß die Haut in der Kälte bleicher, blutarmer, in der Wärme dagegen röter, blutreicher wird. Diese Einrichtung ist von besonderer Wichtigkeit für die Wärmeökonomie des menschlichen Körpers, denn die blutarme Haut giebt weniger Wärme an die Umgebung ab als die blutreiche, die warme Haut erzeugt außerdem Schweiß, der durch die Verdunstung wieder dem Körper Wärme entzieht. Dieser Vorgang, der uns in der Hitze abkühlt und in der Kälte einen zu großen Wärmeverlust verhütet, ist aber auch von einem großen Einfluß auf die Verteilung des Blutes in den inneren Organen. Zieht sich das Blut von der Haut zurück, so überflutet es die inneren Organe, geschieht der Andrang in zu hohem Maße, so tritt eine Ueberhitzung der inneren Organe ein, die schädlich werden kann. Im allgemeinen darf man den Satz aufstellen, daß durch eine übermäßige Abkühlnug des Blutes das Erfrieren eintritt, während die sogenannten Erkältungskrankheiten zumeist die Folge einer übermäßigen Erhitzung der inneren Organe sind.

Der Haut kommt aber außer der Wärmeregulierung noch eine andere wichtige Aufgabe zu: sie ist ein Ausscheidungsorgan des Körpers. Es ist nachgewiesen, daß krankmachende Stoffe, selbst Bakterien, durch den Schweiß ausgeschieden wurden, und so werden im gesunden Zustand auch verbrauchte, dem Körper schädliche Stoffe durch die Haut entfernt.

Aus allen diesen Gründen muß man an eine gesundheitsgemäße Kleidung die Anforderung stellen, daß sie, während sie uns gegen äußere Einflüsse schützt, die Thätigkeit der Haut nicht unterbricht [367] Unter anderem muß also die Kleidung unbedingt porös sein, d. h. die Luft muß, wenn auch langsam, durchdringen, der menschliche Körper muß auch durch die künstliche Schutzhaut ausdünsten können. So sind aber die Macintoshmäntel nicht beschaffen. Sie sind zwar wasser-, aber auch vollkommen luftdicht, erschweren dadurch die Verdunstung und führen leicht eine innere Ueberhitzung des Körpers herbei. Durchnäßte Kleider sind aber nicht minder schädlich. Das Wasser verstopft die Poren des Stoffes und macht ihn für die Luft undurchlässig, außerdem entzieht die Feuchtigkeit dem Körper viel Wärme. Wie groß die Verluste des Körpers dabei sind, ergiebt sich aus der Berechnung Pettenkofers, wonach das Wasser von nur 50 g durchnäßter Wolle der Fußbekleidung so viel Wärme zu seiner Verdunstung erfordert, daß man damit 250 g Wasser von 0° bis zum Sieden erhitzen könnte.

Da nun so viele Menschen in Wind und Wetter arbeiten müssen und der Durchnässung ausgesetzt sind, ging man mit Feuereifer daran, wasserdichte und zugleich poröse Stoffe zu erfinden. Das hygieinische Handwerk hat noch immer einen goldenen Boden, wenn die Neuerung einschlägt; so wuchs auch schnell die Zahl der Erfinder und auch die der Fabrikanten. Man versuchte durch Tränken der Gewebe mit Fetten, Paraffin, Teer und Salzlösungen, namentlich mit essigsaurer Thonerde, die erwünschte Wasserdichtigkeit zu erzielen; aber eine vollständige richtige Lösung der schwierigen Aufgabe wurde bis heute nicht gefunden und der „große Preis“ ist noch immer zu gewinnen. Im Grunde genommen sind alle vorgeschlagenen Verfahren, die wir hier nicht sämtlich einzeln beschreiben können, kein schwieriges Kunststück und unter Umständen vermag jedermann seine Kleider porös wasserdicht zu machen, soweit dies eben nach dem Stande der heutigen Technik möglich ist.

Als Beispiel möchten wir nur das Hillersche Verfahren für leinene Gewebe mitteilen. Man beizt sie mit heißer zweiprozentiger Alaunlösung 15 Minuten, spült sie im Wasser ab, taucht sie dann eine Viertelstunde in eine heiße Lösung von 3 Teilen Natronseife und 100 Teilen Wasser, spült sie in reinem Wasser ab, trocknet und rollt sie. Einige Vorsicht ist jedoch bei hellen und empfindlichen Farben nötig, da, wenn der Alaun nicht völlig rein ist, die Farben leicht angegriffen werden. Ueberhaupt ist es viel zweckmäßiger, derartige wasserdichte Stoffe vom Fabrikanten zu beziehen, da dieser, mit allen Hilfsmitteln der Wissenschaft ausgerüstet, die Arbeit sicherer und besser besorgen kann, was vor allem für Tuche gilt.

Prüft man die nach besseren Verfahren gefertigten porös wasserdichten Stoffe auf ihre Brauchbarkeit, so gelangt man zu folgenden Ergebnissen: die Stoffe halten jeden Sprühregen sowie einen Landregen von zwei bis drei Stunden aus, ohne an der Innenseite naß zu werden. Gegen einen nicht zu wuchtigen Platzregen dürften sie etwa eine halbe Stunde lang Schutz gewähren. Eng anliegende und gespannte Stellen werden leichter durchnäßt als lose hängende Teile der Kleidung. Die Wasserdichtigkeit ist somit nicht vollkommen, aber doch wesentlich und vorteilhaft.

Was die Luftdurchlässigkeit solcher Stoffe anbelangt, so fehlen leider genauere Untersuchungen, aber man darf annehmen, daß sie um ein Geringes vermindert ist. Man schwitzt bei gutem Wetter in Röcken aus porös wasserdichten Stoffen leichter als in den aus gewöhnlichem Tuch gefertigten. Dagegen bleibt im Regen der porös wasserdichte Anzug mehr luftdurchlässig als der gewöhnliche, und das ist ein sehr großer Vorteil, denn er erhitzt infolgedessen während des Regens weniger und kühlt nach dem Regen weniger ab, da er geringere Mengen Wasser in sich aufgenommen hat.

Die Vermehrung des Stoffgewichts durch das Verfahren ist so geringfügig, daß sie gar nicht in Betracht kommen kann, ebenso ist die Verteuerung nicht nennenswert. Dagegen sind derartigzubereitete Stoffe häufig dauerhafter als gewöhnliche und in gewisser Hinsicht stock- und mottensicher. Durch Waschen werden die meisten ihre Wasserdichtigkeit einbüßen, aber man wäscht ja Tuchanzüge selten, und dann lassen sie sich immer nach dem Waschen von neuem wasserdicht machen.

Es scheint somit die Behauptung berechtigt, daß in hygieinischer Beziehung die Vorteile bei den porös wasserdichten Stoffen überwiegen, und das Tragen derselben dürfte sich für Leute empfehlen, die viel im Freien zu thun haben. Allerdings sind weitere genaue Untersuchungen nach dieser Richtung hin sehr wünschenswert, und sie werden wohl mit der Zeit ausgeführt werden. Die Hygieine der Kleidung ist ja bekanntlich noch ein sehr dunkles Gebiet.

Das Ideal eines porös wasserdichten Anzuges würde dann erreicht werden, wenn es gelingen sollte, eine Faser zu erhalten, die kein Wasser aufsaugt. Wolle, Seide, Baumwolle, Leinen nehmen Wasser auf, die einen leichter, die anderen schwerer. Vielleicht befinden wir uns schon auf dem Wege zur Herstellung einer wasserdichten Faser. Man hat jetzt in Frankreich angefangen, künstliche Seide aus Holzstoff zu fabrizieren. Dabei wird der Holzstoff vermittelst Salpeter- und Schwefelsäure in eine Art Schießbaumwolle, diese in verschiedenen Lösungen in eine schleimige kollodiumartige Masse verwandelt, aus der man unter Wasser glänzende „Seidenfäden“ spinnt. Ueber den Wert dieses neuen Fabrikats wollen wir vorderhand kein endgültiges Urteil aussprechen; aber es ist nicht ausgeschlossen, daß aus den Retorten der Chemiker dereinst eine Faser hervorgehen wird, die zur Anfertigung porös wasserdichter Stoffe sich eignet.




Die verlorene Tochter.

Humoreske von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)


Frau Schöneberg hielt ihr Augenglas über die Nase und sah nach dem Radfahrer aus, der schon ganz nahe war. „Ist das nicht – wahrhaftig! Sieh doch einmal, Martha! Der junge Maler, der uns gegenüber das Atelier hat.“

„Meinst Du, Mama?“ fragte Martha, schüchtern sich abwendend. Sie war feuerrot geworden.

„I, da ist doch kein Zweifel! Er hat uns ja schon ein paarmal unaufgefordert seinen Besuch gemacht.“

Nun erkannte ihn auch Schöneberg. „Mich hat er neulich ganz dreist angesprochen,“ sagte er, „und gefragt, ob ich Dich nicht malen lassen will. Du lieber Himmel, wo man jetzt die schönsten Photographien für billiges Geld haben kann!“

„Nu – es zeugt doch von gutem Willen,“ meinte seine Frau geschmeichelt. „Uns fehlt auch eigentlich noch ein großes buntes Bild über dem grünen Plüschsofa. Uebrigens ein ganz netter Mensch.“

Martha wendete sich rasch zurück. „Nicht wahr, Mama?“

„Er hat Absichten,“ sagte Schöneberg.

Rosine zuckte die Achseln „Auf wen?“

„Na!“

„Ach, Unsinn!“

„Thun wir so, Kinder,“ sagte er, „als ob wir ihn gar nicht bemerkt hätten. Vielleicht steigt er wieder aufs Roß und reitet ab.“

„Aber es schadet doch nichts,“ meinte sie, „wenn wir ihm –“

„Es hilft auch nichts mehr,“ unterbrach Opitz lachend. „Er steuert hierher.“

Wirklich näherte sich der Nadfahrer auf geradestem Wege, zog die Mütze ab und rief sehr vergnügt: „Sehe ich recht, meine verehrten Herrschaften – sind Sie’s? Herr Schöneberg – gnädige Frau – Fräulein Martha . . .“ Er reichte ihnen nach der Reihe die Hand. „Ist das aber ein glücklicher Zufall, der mich in den ‚Eulenkrug‘ dirigiert hat! Wollte mich einmal einen Nachmittag gründlich von der Arbeit ausruhen, im Freien erholen und denke mir: wo fährst Du hin? Natürlich dem großen Häuserhaufen möglichst aus dem Wege. Da fällt mir ein, daß kürzlich hier die neue Zweigchaussee eröffnet ist. Wie geschaffen für mein Zweirad – noch glatt wie der Tisch. Ich also hierher, wo ich heut’ am Wochentage keinen Menschen zu treffen erwarten kann, und – finde Sie. Das nenn’ ich Glück haben!“

„Na, wie man’s nehmen will!“ knurrte der Rentier.

Frau Schöneberg empfand dieses zufällige Zusammentreffen gar nicht so lästig, war durch die „gnädige Frau“ geschweichelt und zeigte dem ungebetenen Gast das freundlichste Gesicht. „Wollen Sie sich nicht zu uns . . .“

Schöneberg zupfte sie am Rock. „Du wirst doch nicht?“

„Aber wir haben ja so viel Kaffee übrig,“ zischelte sie ihm zu.

Der Gast überließ es den Eheleuten, sich über die schwierige Frage zu einigen, und wendete sich dem andern Teil der Gesellschaft zu. „Ah, Herr Opitz – hatte schon das Vergnügen. Darf ich Sie bitten, mich Ihren Damen vorzustellen?“

Opitz verneigte sich wiederholt etwas linkisch. „Gern, gern. Herr Vanhusen, wenn ich nicht irre, Maler und Lackierer –“

[368] „Entschuldigen Sie, akademischer Maler.“

„Frau Steueramtssekretär Streckebein –“

„Sehr angenehm,“ versicherte die alte Dame.

„Frau Ida Döbler, ihre Tochter,“ fuhr Opitz fort. Er hielt die Hand vor den Mund und flüsterte beiseite: „Witwe.“

„So jung! Ist’s möglich?“ antwortete Vanhusen ebenso.

„Hm, hm – die Partie hat sich so gemacht!“

Der Maler verstand Opitz falsch, weil dieser verliebt zu Ida hinüberschielte. „Gratuliere.“

Opitz wurde ganz verlegen. „Ach nein, so ... die Landpartie mein’ ich.“

Indessen hatte Frau Schöneberg die Bedenken ihres Mannes beseitigt. „Wollen Sie nicht ein Täßchen Kaffee mit uns trinken, Herr Vanhusen?“ fragte sie.

Er setzte sich sogleich neben Martha. „Aber ich beraube Sie, gnädige Frau.“

„Durchaus nicht.“ Sie stieß ihren Mann an, um ihn zu einem freundlichen Wort zu nötigen.

„Wir haben noch eine ganze Menge übrig,“ brummte er denn auch, „bleibt doch nur stehen.“

Vanhusen nahm die Tasse. „Wenn Sie denn so liebenswürdig einladen – danke bestens.“

„Martha, reiche dem Herrn Maler den Kuchen!“ sagte die Mama. Martha gehorchte sofort. Sie war plötzlich ganz munter geworden, ihr hübsches Gesicht hatte sich belebt. Indem sie den Teller hinreichte, flüsterte sie. „Das ist aber reizend, daß Sie gekommen sind!“

„Verstand sich ja von selbst,“ versicherte er leise, „nachdem ich von Ihnen einen Wink –“

„St!“ machte sie und errötete wieder. „Wollen Sie dieses Herz –“

„Mit dem größten Vergnügen. Wenn Sie das andere da nebenbei –“

„Ich bin eigentlich schon ganz satt, aber Ihnen zur Gesellschaft esse ich –“

Der Mama schien die Auswahl etwas lange zu dauern. „Es ist alles von demselben Konditor,“ bemerkte sie.

„Der Maler und Martha verzehrten die beiden süßen Herzen mit innigstem Behagen, wie von ihren Gesichtern abzulesen. Was ließ sich nicht alles dabei denken!

Schöneberg meinte, eine Unterhaltung beginnen zu müssen; zugleich wünschte er seiner Ueberlegenheit einen launigen Ausdruck zu geben. „Na, wie geht’s denn so im allgemeinen mit der Pinselei, wenn ich fragen darf?“ warf er von oben her hin.

„Das kommt auf den Pinsel an,“ antwortete Vanhusen schlagfertig. „Wenn der Pinsel kein Pinsel ist –“

„Ha ha ha!“ lachte Opitz. „Da hast Du’s.“

„Schwärmen Sie auch für Freilicht?“ mischte Ida sich ein. Es war ihr lieb, mit ihrer Bildung glänzen zu können.

Schöneberg nahm den Ausdruck wörtlich. „Warum soll er nicht?“ fragte er. „Wenn er’s haben kann –“

„Die Sonne scheint ja zum Glück noch immer umsonst,“ bemerkte der Maler trocken.

Ida kicherte in ihr Tuch. Frau Schöneberg merkte, daß da etwas nicht in Ordnung sei. Sie stieß wieder ihren Mann an und flüsterte ihm zu: „Du blamierst Dich.“

Vanhusen sprang mitleidig ab. „Waren die Damen schon in der Ausstellung?“ fragte er. Sie schüttelten den Kopf. „Sie müssen sich ’mal meinen ‚Verlorenen Sohn‘ ansehen.“

„Den aus der Bibel?“ erkundigte sich die Frau Sekretär.

„Gewissermaßen. In moderner Auffassung natürlich. Vater Millionär, Geheimer Kommerzienrat, Ritter hoher Orden – Mutter im Vorstand von einem Dutzend Wohlthätigkeitsvereinen – sehr respektable Leute. Der Herr Sohn ein blutjunger Mensch, der schon mit liederlichem Volk ein Vermögen durchgebracht, Wechsel gefälscht, Ehrenscheine verbummelt hat, jetzt verstoßen, gänzlich abgebrannt –“

Frau Streckebein nickte zustimmend. „Ja, ja – und nährt sich nun von den Träbern.“

Der Maler zuckte lächelnd mit der Lippe. „Gerade das! Merken Sie auf! Asyl für Obdachlose, Volksküche, zwei Gänge für fünfzehn Pfennig, Jammergestalten im Halbdunkel, schattenhaft – alles genau nach der Natur. Durch die vordere Thür links tritt eben der verlorene Sohn, den eingedrückten Cylinder schief auf dem Kopf, elegant schäbig, Ruine eines Stutzers – kolossal wirksam, versichere ich Sie. Die eine Figur, nichts weiter –“

In diesem Augenblick schrie die Frau Sekretär laut auf und hielt sich die Augen zu. Die ganze Gesellschaft fuhr erschreckt zusammen. „Was giebt’s, was giebt’s?“

„Lieschen!“

„Aber was denn?“

„Sie ist an der Schaukel. Komm fort da, Lieschen!“

„Aber lassen Sie das Kind doch ein bißchen schaukeln,“ sagte Schöneberg. Die alte Dame winkte immer. „Es ist dabei schon so viel Unglück vorgekommen! Die Stricke sind gewiß alt und die Ringe durchgescheuert. Und nichts als ein kahles Brett! Wenn das Kind schwindlig wird!“ Sie stand auf und ging nach der Schaukel.

Ida folgte. „Aengstige die Großmama nicht, Lieschen!“ sagte sie. Auch Frau Schöneberg und Opitz erhoben sich und begaben sich dorthin. „Komm, spielea wir ‚greifen‘,“ sagte er. Man beschäftigte sich mit dem Kinde. Schöneberg hatte sich auf der Bank umgekehrt und sah zu. Diese günstige Gelegenheit benutzte Vanhusen, mit Martha ein heimliches Gespräch anzuknüpfen. „Wir müssen einen Spaziergang in den Wald machen,“ flüsterte er.

„Ach, das wird nicht gehen,“ antwortete sie, offenbar freudig erschrocken.

„Ich hab’ Ihnen so viel zu sagen, liebste Martha.“

„Ich Ihnen auch. Aber wie kann ich?“

„Wenn Sie nur wollen! Wir müssen etwas wagen. Ich werde verschwinden und dort hinter dem Gebüsch auf Sie warten.“

„Die Mama läßt mich nicht allein –“

„Wir fragen sie gar nicht. Nur ein Viertelstündchen! So eine Gunst des Geschicks kehrt nicht so bald wieder. In meinem Atelier wollen Sie mich doch nicht besuchen Und immer nur die zwei Worte auf der Straße und im Pferdebahnwagen ... man muß zu einem Entschluß kommen, so oder so.“

„So oder so . . . was heißt das?“

„Wenn die Alten merken, daß es doch nicht anders geht . . . man stellt sie vor eine vollendete Thatsache.“

„Vor eine vollendete . . . aber wie?“

„Das wollen wir eben beraten. Wir finden gewiß ein lauschiges Plätzchen –“

„Nein, nein!“

„Oder bleiben auch auf dem Waldwege. Es ist ja gar nichts dabei.“

„Das meinen Sie so!“

„Aber bedenken Sie doch nur, was wir einander alles zu sagen haben, liebste Martha!“ Er faßte ihre Hand und drückte sie zärtlich.

„Sie und so unvorsichtig,“ schalt sie, rückte ihm aber doch näher.

„Sie wissen ja, daß ich die ehrlichsten Absichten –“

„Ach Gott!“ Martha zog ihre Hand fort, da der Papa Anstalten machte, sich wieder zurückzuwenden.

„Ja, wenn Sie mir nicht trauen -“

Martha war in großer Unruhe. „Ich werde sehen. Verschwinden Sie denn . . .“

„Engel!“

„St!“

Frau Schöneberg näherte sich wieder dem Tisch. „Nimm Dich einmal Lieschens an, Martha!“ sagte sie.

Martha stand sogleich auf. „Ja, Mama.“ Sie nahm Lieschen an der Hand und spazierte mit ihr herum, den Maler immer im Auge behaltend. Dieser schlürfte seinen Kaffee aus und zog die Cigarrentasche hervor.

„Eine Cigarre!“ rief Schöneberg, „ganz mein Gedanke. Hast Du etwas dagegen, Schwager?“

Opitz holte auch seine Tasche heraus. „Na“ – mit einem Blick auf Ida – „der Mücken wegen, wenn Sie erlauben.“

„Darf ich Feuer . . .“

„Danke, danke! Immer versorgt.“

Die drei Herren saßen noch eine kleine Weile zusammen und bliesen den Rauch in die Luft. Dann stand Vanhusen auf, ging langsam um den Tisch herum, sagte jeder von den Damen etwas Verbindliches und war verschwunden, ehe man’s merkte. Er hatte freilich nur wenig Schritte bis zu dem Gebüsch, das den Waldweg einfaßte. Es stand da eine Tafel mit der lockenden Aufschrift: „Nach dem Schwarzen See und der Schönen Aussicht.“ Hier ging er, der Gesellschaft unsichtbar, auf und ab.

Die beiden alten Damen beschäftigten sich damit, das Kaffeegeschirr zusammenzusuchen. „Haben Sie schon an den Kutscher gedacht?“ fragte die Frau Sekretär.

„Der trinkt lieber Bier,“ meinte Frau Schöneberg.

[369]

Der Landarzt.
Nach einer Originalzeichnung von P. Scoppetta.

[370] „Kaffee ist ihm viel gesünder. Erlauben Sie, daß ich hier in den Milchtopf . . .“ Sie hob vorsichtig die Kaffeekanne, um den Grund nicht aufzurühren, und klärte den Rest in den Topf ab, der noch nicht leer war. „Ich pflege bei Landpartien dem Kutscher immer Kaffee zu geben,“ bemerkte sie. „Er fühlt sich so mehr zur Familie gehörig und paßt hinterher besser auf.“ Sie warf Zucker hinein, rührte mit dem Löffel um, der kaum den Boden fand, und schmeckte. „Hübsch süß, das lieben die Leute!“ Dann legte sie auf einen Teller mehrere Stücke Kuchen. „So – das will ich ihm selbst in die Krugstube bringen. Man spricht bei der Gelegenheit gleich ein verständiges Wörtchen wegen der Rückfahrt.“

In der einen Hand den fast bis zum Rande gefüllten Kaffeetopf, in der andern den Teller mit dem Gebäck, machte sie sich in ganz kleinen Schritten auf den Weg, immer bedacht, dem Schwanken des graubraunen Trankes und dem Herabgleiten des Kuchens rechtzeitig Einhalt zu thun. Frau Schöneberg ging ihr nach. „Erlauben Sie, daß ich Ihnen helfe!“

„Danke, danke, es geht schon.“

Während sie mit gebeugtem Rücken und weit vorgestreckten Armen weiter trippelte, teilte Frau Schöneberg ihr mit, daß sie die Wirtin zur Abräumung des Geschirrs herausschicken und dann gleich die Bowle zurechtmachen, auch etwas zum Abendessen bestellen wolle. Sie hätten ja den Korb auf dem Wagen, meinte Frau Streckebein.

„Etwas müssen wir nehmen,“ entgegnete ihre Begleiterin. „Ich denke an Rührei und Schinken, oder vielleicht . . .“ Sie traten ins Haus ein und setzten dort ihre Beratungen fort.

Martha hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Es war ihr von großer Bedeutung, diese beiden gefährlichsten Aufpasser los zu sein. Mit Lieschen sang sie deren Schullieder, schwenkte sie an den Armen herum, jagte sich mit ihr am Tisch vorbei. Sie schien sehr lustig zu sein. Endlich machten sie wieder am Ringspiel Halt. Von dort konnte man ein Stück in den Waldweg hineinsehen. Martha kehrte ihm, während Lieschen den Ring in Bewegung setzte, halb den Rücken zu, blickte aber öfters über die Schulter. Mit allen ihren Gedanken war sie bei dem hübschen jungen Maler, der sie immer mit so verliebten Augen ansah. Diese Augen! Martha gestand sich, es seien gefährliche Augen. Sie hatten ihr’s gleich bei der ersten Begegnung angethan. Es traf sich so zufällig, daß er immer, wenn sie aus der Klavierstunde oder vom Gesanglehrer kam, auch nach Hause ging oder ihren Weg kreuzte. Das war ihr nun eines Tages so komisch vorgekommen, daß sie lachte. Und darauf hatte er sie keck angesprochen und sich erkundigt, ob ihr sein großer, oben eingedrückter Schlapphut Spaß mache. Das nächste Mal hatte er schon wie ein alter Bekannter gethan und dann im Hause Besuch gemacht. Sie erfuhr von ihm, daß sie die längsten und stärksten Zöpfe habe, die er noch je bewundert, und in den Augen so etwas Unsagbares ... er möchte sie für sein Leben gern zu malen versuchen. Viel fehlte gar nicht, daß sie seiner Aufforderung folgte, sich doch einmal sein Atelier anzusehen. Ein kleines Bild – Selbstporträt von ihm – ließ sie sich in die Musikmappe schieben, um dann in großen Sorgen zu sein, wie sie es vor der Mama sicher genug verstecken könne. Da er immerfort bat, schenkte sie ihm ihre Photographie; er mußte aber versprechen, sie keinem Menschen zu zeigen. Und dann hatte sie ihm heute früh ganz beiläufig gesagt: „Wir fahren nach dem ‚Eulenkrug‘.“ Wenn die Eltern das alles wüßten! Und nun sollte sie gar mit ihm allein in den Wald! Ihr schlug doch ängstlich das Herz. Nun stand er da im Gebüsch und winkte. Sie nickte und traute sich doch nicht. Es schickte sich gewiß gar nicht . . . aber es wär’ doch so schön gewesen!

Lieschen zupfte sie am Rock. „Du – Großmama ist fort. Komm, wir wollen schaukeln!“

„Es ist verboten“ antwortete sie mit einer recht schulmeisterlichen Miene. Aber richtig war’s doch: die Großmama war fort und die Mama auch, und eben kam die Wirtin, das Kaffeegeschirr abzunehmen, und die beiden Herren spaßten mit ihr. Wenn sie nur einen zur Begleitung hätte mitnehmen können – natürlich einen, der nicht störte, aber doch da war und den Maler hinderte, zu dreist zu werden. Da ging ihr’s plötzlich wie ein Licht auf: Lieschen! Und ohne sich weiter zu besinnen, fragte sie: „Wollen wir einmal Blumen pflücken, Lieschen?“

Das Kind wor sofort bereit. „Ach ja, Blumen pflücken, das ist hübsch!“ Lieschen hing sich an ihre Hand und hüpfte vor Vergnügen.

„Du versprichst aber, sehr artig zu sein, ja? Und plauderst auch gar nichts aus?“

„Was soll ich nicht ausplaudern?“

Martha merkte, daß sie sich selbst schon verplaudert hätte. „Komm nur,“ sagte sie, „dort wachsen die schönsten Blumen!“

Eben ging die Wirtin mit dem Kaffeebrett voll Sachen hinter ihr dem Hause zu. Jetzt mußte es geschehen. „Greife mich!“ rief sie und lief dem Gebüsch zu. Lieschen lachend hinterdrein.

Vanhusen ließ sie vorüber und holte sie dann bald ein. An der nächsten Biegung des Weges bot er Martha den Arm. Sie zögerte, aber nur ein kleines Weilchen. Die Kleine war selig, Blumen pflücken zu können, wo es ihr gefiel. –

Am Tisch saßen Schöneberg und Opitz, ihnen gegenüber Ida. „Ein ganz sauberes Weibchen,“ sagte ersterer, der Wirtin nachschauend.

„Versieh Dir nicht die Augen,“ riet Opitz ganz ernst. „Du bist verheiratet.“

„Spaßvogel!“

Opitz schielte zu der schönen Frau hinüber und warf ihr von Zeit zu Zeit auch ein paar Worte zu, die wenig zu bedeuten hatten und mit einer gleich nichtssagenden Redensart beantwortet wurden. Seine Gedanken beschäftigten sich ganz anders mit ihr. Sie gefiel ihm längst schon, aber er konnte immer noch nicht mit sich einig werden, ob ein Antrag zu wagen sei. Das heißt zu wagen . . . es schien eigentlich kein großes Wagnis. Eine Witwe – und das Kind! Und in glänzenden Verhältnissen lebte sie durchaus nicht. Das Putzgeschäft ging ganz gut, aber sie mußte doch den ganzen Tag fleißig arbeiten und ersparte gewiß wenig. Die Alte lebte von einer kleinen Pension, Vermögen war nicht da. Er selbst stand nicht mehr in den Jahren, wo man sich einen verliebten Streich leicht verzeiht. Er hatte sein gutes Auskommen, lebte recht bequem als Junggeselle und war ein bißchen verwöhnt. Seine Schwester hänselte ihn oft genug, daß er doch noch die rechte Zeit verpassen werde. Nun meinte er wohl, sie sei gekommen, hatte aber doch keinen Mut, zuzugreifen. Und es war auch noch nicht so gewiß, ob Ida ihn mochte. Er wußte, daß sich ihr schon manche gute Partie geboten hatte und daß sie jede bisher ausgeschlagen. Heute hatte er sich mit dem Gedanken auf den Wagen gesetzt, es müsse zur Entscheidung kommen. In Gottes freier Natur würde sich doch wohl die Gelegenheit finden, ein Wörtchen unter vier Augen ... Und nun hätte sich’s schon so einrichten lassen, wenn Schöneberg nicht gerade einer zu viel gewesen wäre. Wie ließ er sich fortschaffen?

Diese Erwägungen machten ihn nicht unterhaltender. Der Rentier sah nach der Uhr, pfiff sich etwas vor und unterdrückte nur mit Mühe ein Gähnen. Endlich griff er entschlossen in die Tasche und zog ein Spiel Karten hervor. „Wie wär’s mit einer Partie Skat,“ rief er. „Hast Du ’was dagegen, Hermann?“

Das paßte Opitz jetzt gar nicht. „In Gottes freier Natur!“ antwortete er varwurfsvoll.

„Ist ja nichts Böses,“ meinte Schöneberg.

„Na aber . . . was meinen Sie, Frau Ida?“

Sie packte aus einem kleinen zierlichen Täschchen eine Handarbeit aus. „Ach, von mir kann ja gar nicht die Rede sein. Ich spiele so schlecht –“

„Um so mehr gewinnen wir,“ ermuthigte Schöneberg.

„Das könnte Ihnen gefallen,“ sagte Ida schmollend, indem sie mit den spitzen Fingern ein Röllchen Spitzen aufwickelte. „Eine arme Witwe ausziehen –“

„Wir können ja meinetwegen den Point einen Viertelpfennig spielen.“

„Es läßt schon tief blicken, daß Du Dir zu dieser Landpartie die Karteu in die Tasche gesteckt hast.“

„Aber zum Zeitvertreib –“

„Wie ein richtiger Bauernfänger. Wir sind hier, uns von der warmen Sonne bescheinen zu lassen, frische Luft zu schnappen, überhaupt ein ländliches Vergnügen zu genießen. Habe ich nicht recht, Frau Ida?“

Sie lächelte. „Aber ich begreife nicht, weshalb Sie sich so ereifern.“

„Ich kann mir nicht helfen, es gehört mir nun ’mal nicht in die Situation. Wenn man so viel besseren Zeitvertreib hat . . .“ Er winkte ihr mit den Augen.

Schöneberg wurde ärgerlich. „Na, dann lassen wir’s doch!“ Er [371] steckte die Karten wieder ein. „Ich kann ja warten, bis meine Alte fertig ist und die Frau Sekretär etwa zum dritten Mann Luft hat.“

Ida sah rasch auf. „Wenn das eine Anspielung darauf sein soll, Herr Schöneberg, daß meine Mutter schon zweimal verheiratet gewesen ist –“

Er blickte sie eine Weile ganz verdutzt an, ehe er sie verstand. „Nun wird’s gut!“ rief er und legte die Hand schwer auf den Tisch. „Ich soll anspielen, bevor noch Karten gegeben sind.“

„Es klang doch ein bißchen spitz,“ meinte Ida.

„Ja, wenn mir durchaus etwas untergelegt werden soll –“

„Nimm meinen alten Plaid,“ fiel Opitz trocken ein, „der hält’s aus.“ Nun lachte die schöne Frau. Das war Schöneberg denn doch zu viel. „Du – wenn das ein Witz sein soll –“

Opitz verzog keine Miene. „Na, ganz im Ernst,“ sagte er treuherzig, „falls Dir die Bank zu hart ist!“

Schöneberg hob das runde Kinn aus der Krawatte. „Rücke ’mal ein bißchen aus der Sonne,“ spöttelte er, „sie sticht heute bedenklich.“

„Aber meine Herren!“

Opitz warf Ida eine Kußhand zu. „Bleiben Sie ganz ruhig, schöne Frau, ich nehme meinem Schwager nichts übel.“ Er reichte ihm die Hand. „Na – vertragen wir uns.“

„Dummes Zeug,“ knurrte Schöneberg.

Es war Opitz nicht gelungen, ihn fortzuärgern. Er sann auf ein anderes Mittel. „Hast Du eigentlich heute schon die Zeitung gelesen?“ fragte er. Schöneberg fürchtete eine neue Hänselei. „Wieso meinst Du?“ fragte er etwas borstig.

„Na – Deine Frau hat den Kuchen darin eingewickelt. Da liegt sie noch.“ Auf dem Tisch lag wirklich ein großes Zeitungspapier, an einigen Stellen durchfettet. Schöneberg nahm es auf und prüfte das Datum. „Wirklich das heutige Morgenblatt! Darum konnt’ ich’s nicht finden. Die Weiber haben gar keinen Respekt vor so etwas.“ Er blickte sogleich hinein. „Sauregurkenzeit freilich, aber man will doch auf dem Laufenden bleiben. Telegraphische Depeschen wenigstens, und die Unglücksfälle … Na ja, da haben sie in Frankreich wieder einen harmlosen Reisenden als Spion abgefaßt!“ Er überflog den Inhalt weiter. „Sieh, sieh, sieh – Blaselwitz und Neureiter pleite! Mit denen hab’ ich auch einmal Geschäfte gemacht, als ich noch die Fabrik hatte.“ Er wollte sich bequem hinsetzen, vergaß dabei aber, daß der Bank die Lehne fehlte, und verlor das Gleichgewicht.

Opitz schlug ihm vor, sich’s auf dem Rasen bequem zu machen. Unter der Eiche zeige sich ein prächtiges Naturkanapee. „Und wenn Du meinen alten Plaid –“

„Fängst Du schon wieder an?“ brummte Schöneberg, streckte sich aber doch auf der Rasenbank aus und fand es sehr behaglich, so im Liegen die Zeitung zu lesen und seine Cigarre dazu zu dampfen. Er wurde wieder gemütlich. „Weißt Du, wenn man sich nun noch den Rock ausziehen könnte …“

„Genieren Sie sich meinetwegen gar nicht,“ bat Ida, „ich sehe nichts.“

„Anerkennenswert liberal! Na, wenn Sie gütigst erlauben …“ Er stand wieder auf. Sein Schwager half ihm beim Ausziehen des Rockes, rollte ihn zusammen und legte ihn ihm unter den Kopf. Dann kehrte er zum Tisch zurück. Nun meinte er, bald so weit zu sein, mit der schönen Frau ein ernstes Wort sprechen zu können. Er setzte sich ihr gegenüber und stützte die Ellbogen auf. „Sie sollten aber doch nicht so schrecklich fleißig sein, verehrteste Frau“ begann er nach einer Weile.

„Es ist nur, daß man etwas in der Hand hat. Sie haben ja die Cigarre.“

„Ich lege sie fort, wenn Sie mir versprechen –“

„Nein, rauchen Sie nur!“

Er blies dicke Rauchwolken in die Luft, steil an seiner Nase vorbei. Wieder vergingen einige Minuten. „Wissen Sie – hm, hm,“ stotterte er, „daß ich mir vorgenommen hatte, Ihnen heute eine Gewissensfrage vorzulegen?“

„Ach!“

Schöneberg ließ ihm nicht das Wort. Er fing plötzlich an zu schnaufen. „Wieder ein Zusammenstoß auf der Eisenbahn! Die Maschine und zwei Wagen kaput!“

Opitz fügte sich. „Falsche Weichenstellung, was? Ja, die Leute haben im Dienst nicht genug Ruhe.“ Er meinte ihn befriedigt zu haben. „Wenn ich wagen dürfte, Frau Ida –“

Aber nun zeigte sie Lust, die Unterhaltung mit Schöneberg fortzusetzen. „Doch kein Mensch verunglückt?“ fragte sie.

„Drei Ochsen gänzlich zermalmt,“ antwortete er. Ida bedauerte. Opitz sprach etwas von Lebensreisen, Entgleisungen, Dampfgeben und dergleichen.

„Wollen Sie zur Eisenbahn?“ fragte sie verwundert.

„Ach, ich mein’s nur so bildlich!“ entgegnete er. „Es wird wirklich Zeit für mich, zu heiraten. Worauf soll ich warten? Wenn man in die Jahre kommt und hat sich etwas erarbeitet und das Geschäft geht gut, so steht eigentlich gar nichts im Wege.“ (Schluß folgt.)



Blätter und Blüten.

Der Pelikan und die Pelikanjagd. (Zu den Bildern S. 360 u. 361.) Der gemeine Pelikan bewohnt vorzugsweise Nordafrika, ist in Egypten und auf dem Roten Meere in solchen Massen vorhanden, daß das Auge oft nicht imstande ist, die Scharen zu überblicken, findet sich aber auch schon häufig in Südungarn und Griechenland, in sehr großer Anzahl am Schwarzen Meere. Oft verfliegen sich Exemplare nach Deutschland, wie z. B. vor einer Reihe von Jahren eine Herde von 130 Stück am Bodensee erschien. Wie alle Scharben maßlos gefräßig, ist der große Vogel in kultivierten Ländern der Fischzucht so schädlich, daß er verfolgt werden muß; dem Reichtume der Meere, des Nils und der afrikanischen Seen freilich thun auch die Pelikane keinen Abbruch.

Ihre Fischzüge betreiben die verständigen, unter sich sehr verträglichen Vögel nach einer ganz bestimmten Ordnung. Sie können nicht tauchen, sondern müssen von der Oberfläche des Wassers aus fischen. Deshalb sind sie gezwungen, ihre Nahrung in ziemlich seichtem Wasser – süßem oder salzigem – zu suchen. Um ihr Jagdgebiet möglichst auszubeuten, verteilen sie sich in der Form eines weiten Halbmondes und schwimmen dann gegen das Ufer zu, den eingeschlossenen Wasserraum buchstäblich ausfischend.

Die Morgenstunden sowie den Nachmittag benutzen sie zu dieser Jagd. Die Mittagsstunden sind der Verdauung gewidmet und dem Putzen des Gefieders. Das „Mittagsschläfchen“ hält jeder Vogel in der ihm bequemsten Stellung ab, wodurch ein außerordentlich bizarres Bild entsteht. Sehr gerne schlafen sie auf Bäumen, viele lieben es aber auch, sich platt auf den Bauch zu legen, wieder andere schlafen auf einem Beine stehend, wie man dies bei den Gänsen häufig sieht.

Für den Ornithologen ist das sumpfige Delta, welches die Narénta in Dalmatien vor ihrem Ausfluß ins Adriatische Meer bildet, ein wahres Paradies, überreich an allerlei Wassergeflügel und so auch an Pelikanen. In neuester Zeit freilich werden diese „glücklichen Jagdgründe“ inmitten eines Kulturlandes mehr und mehr beschränkt, da die österreichische Regierung jetzt die Entsumpfung des Naréntathales und die Regulierung des unteren Laufes der Narénta ausführt. Die Pelikanjagd ist nun aber ein sehr mühseliges und oft erfolgloses Beginnen, wie ich aus den Erzählungen eines befreundeten Naturforschers entnehme, der einmal dort zu jagen Gelegenheit hatte.

In den mächtigen Sümpfen hatten sich die Pelikane zu ihrer Brutansiedlung Stellen ausgewählt, die jeder Möglichkeit, bis zu ihnen durchzudringen, zu trotzen schienen. Mehrmals wurde der Versuch gemacht, mit Kähnen in Schußnähe zu kommen. Allein die Klugheit der Vögel spottete jeder menschlichen List. Wohl sah man überall die prachtvoll weißen Geschöpfe mit einer Leichtigkeit, als wären es Spielzeuge aus Kork, auf dem Wasserspiegel dahinschwimmen, aber dem Boote wichen sie mit der größten Sorgfalt aus.

Nach einem Tage vergeblicher Anstrengung wurde beschlossen, dennoch auf eine der Inseln, wo die Niederlassungen der Pelikane waren, vorzudringen. Die Schwierigkeiten dieses Ausfluges müssen grenzenlos gewesen sein. Nur durch ein Meer von scharfem schneidenden Schilf und Rohr konnten sich die Jäger den Weg bahnen, durch und über höchst bedenkliche Sumpfstellen mußte der Marsch gewagt werden. Ein gräßlicher verpestender Gestank, hervorgerufen durch den die ganze Insel düngenden Unrat der Vögel und unzählige faulende Fische, erhöhte die Unannehmlichkeiten. Die ärgste Qual aber wurde durch Tausende und Abertausende von Stechmücken bereitet. Endlich lohnte der Erfolg.

Eine Reihe feuchter, aus Rohr und Schilf zusammengetretener Nester mit reicher Eierausbeute bot sich den kühnen Eindringlingen, und fast vor den Füßen der Jäger erst konnten sich die getreuen Mütter zum Abfliegen entschließen. Der Pelikan fliegt wahrhaft schön. Den Hals Sförmig gebogen, schwebt er gleitend einige Meter weit dahin und schraubt sich dann kreisend in höhere Luftschichten empor. Wohl durch das dichte Luftpolster, welches unter der Haut des Vogels liegt und die wunderbare Leichtigkeit seines Schwimmens bedingt, ist fast jede Verwundung durch Schußwaffen von sofortiger verheerender und tödlicher Wirkung. Auch mein Freund schildert lebhaft den überraschenden Eindruck seines ersten Schusses: „Der Pelikan zuckte zusammen; die Flügel wurden sofort schlaff, er sauste nieder und stürzte klatschend auf die Wasserfläche. Obwohl ihn mein vorzüglicher Wasserhund fast augenblicklich apportierte, war der große Vogel schon ohne jedes Lebenszeichen, als ich ihn erhielt.“

„Und dennoch“, meinte mein Freund, „so erfolgreich unsere Jagd [372] auch war, lieber, viel lieber noch hätte ich tagelang Beobachtungen in dieser so jäh und grausam gestörten Pelikan-Kolonie gesammelt, trotz der Mücken und inmitten des greulichen Geruches.“ A. F.     

Die 250jährige Jubelfeier des Pegnesischen Blumenordens zu Nürnberg. Unsägliches Unglück hatte der Dreißigjährige Krieg über unser Vaterland gebracht. Was Jahrhunderte geschaffen, ward im Laufe einiger Jahrzehnte vernichtet, und es schien, als ob sogar unsere Muttersprache dem Andrange der welschen Horden erliegen, unter der Nachäffung französischer Sitte und Sprache ersticken sollte. In dem stillen Kämmerlein der Gelehrten und Dichter aber erwuchs ungestört von dem Kriegsgetümmel eine mächtige Waffe in diesem Streite: die deutschen Sprachgesellschaften, die sich das schöne Ziel der Reinerhaltung deutscher Sprache und Gesittung steckten. Der Nürnberger Patrizier Georg Philipp Harsdörfer (1607 bis 1658), welcher sich durch Studien und weite Reisen eine gediegene wissenschaftliche und weltmännische Bildung angeeignet hatte, rief im Jahre 1644 einen ähnlichen Verein, den „Pegnesischen Blumenorden“ in Nürnberg, dem Stapelplatz süddeutschen Handels, ins Leben. Harsdörfer, der selbst eine fruchtbare litterarische Thätigkeit entfaltete – am bekanntesten ist sein „Poetischer Trichter“, der unter dem Namen „Nürnberger Trichter“ sprichwörtlich geworden ist – bezeichnete als Zweck der Gesellschaft, „unsere Muttersprache mit nützlicher Ausübung, reinen und zierlichen Reimgedichten und klugen Erfindungen in Aufnahme zu bringen.“ Die Wege, welche der Blumenorden einschlug, um die edle Dichtkunst zu pflegen und die Poesie vor allem auch zur Belebung der Geselligkeit zu verwerten, die Freude an geschmacklosen Sinnbildern, fade Schäferspiele und Reimereien, eine schwülstige Redeweise entsprachen allerdings dem Geschmacke der Zeit, förderten aber nicht die Gesellschaft. Und doch hat auch sie ihre Verdienste; schon ihre Gründung in der Zeit des Ueberwucherns alles Französischen ist als eine patriotische That zu betrachten.

Manche Wandlungen hat der Blumenorden durchgemacht; oft glaubte man, er würde ob der hier und da eingetretenen Verknöcherung selig entschlafen, aber noch grünt das von Harsdörfer gesteckte Reis und treibt reiche Blüten. Unter der Leitung des derzeitigen Vorstandes, des Oberarztes Dr. Wilh. Beckh, werden allmonatlich öffentliche Versammlungen abgehalten, finden allwöchentlich kleinere Vereinigungen der Angehörigen des Ordens statt, worin man sich an dem Besten und Gediegensten, was Deutschlands Dichter und Denker von der ältesten bis auf die allerneueste Zeit geschaffen, erquickt. In zwangloser Weise werden die Meinungen ausgetauscht und eigene Arbeiten Freunden bekannt gegeben. Zwei Bände „Altes und Neues aus dem Pegnesischen Blumenorden“, die in den letzten Jahren erschienen sind, bezeugen die ungeschwächte Lebenskraft des „Pegnesischen“, der in seltener Rüstigkeit Ende Juli des Jahres seinen 250jährigen Geburtstag in festlicher Weise begehen will.

Der alte Irrhain des Pegnesischen Blumenordens zu Nürnberg.

Bei dieser Jubelfeier wird ein Wäldchen, 1½ Stunden nördlich von Nürnberg bei dem Dorfe Kraftshof gelegen, eine ganz besondere Rolle spielen. Im Jahre 1676 kam der Pegnitzschäfer Myrtillus II., d. i. Pfarrer Martin Limburger zu Kraftshof, auf den Einfall, dieses Wäldchen zum Versammlungsort des Ordens einzurichten. Das Einrichten verstand er aber dahin, daß er das Wäldchen ebenso unnatürlich zustutzte, wie der deutschen Sprache Zwang angethan wurde in den Gedichten, welche die Pegnitzschäfer machten. Es wurden verschlungene Gänge durch das Wäldchen angelegt, mit steif zugeschnittenen Heckenwänden eingeschlossen, an einzelnen Plätzen Hütten erbaut und überhaupt von dem deutschen Vereine ganz in französischem Geschmacke ein Irrgarten oder „Irrhain“ angelegt, welch letzteren Namen das Wäldchen jetzt noch trägt. Ein Irrgarten ist es heute jedoch nicht mehr; die zugestutzten Laubgänge sind verschwunden, die Natur ist wieder zu ihrem Rechte gelangt. Zahlreiche Denkmale erinnern an dahingegangene verdienstvolle Mitglieder des Ordens.

Alljährlich im Hochsommer entfaltet sich in dem schattigen Haine ein buntes Leben und Treiben. Der Blumenorden hält hier sein Sommerfest ab, belebt von einem reichen Kranze schöner Damen. Hier führt die Jugend den Herrscherstab. In Scharen findet sich die Erlanger Studentenschaft ein, um den hübschen Nürnbergerinnen angelegentlich den Hof zu machen. Nach dem Festspiele, das nie fehlt und worin gar oft alte Ordensgenossen heraufbeschworen werden, die vor Jahrhunderten hier gewandelt, nach mancherlei ernsten und heiteren Vorträgen wird Terpsichoren gehuldigt und viel Lust und Freude herrscht in dem Haine. Der Mond sendet sein mildes Licht auf die fröhlichen Menschen herab, und wenn er nicht so verschwiegen wäre, könnte er von manchem zärtlichen Worte berichten, das unter dem Schatten hoher Eichen geflüstert, von manchem Bunde, der hier für das ganze Leben geschlossen wurde. Und wie gesund ist der Aufenthalt im Irrhaine! Die jungen Leute, die im Jahre 1844 beim 200jährigen Jubelfeste des Ordens dort ein Menuett tanzten, sie leben – wenn auch alt und grau geworden und in alle Weltgegenden zerstreut – beinahe alle heute noch. Gewiß eine Seltenheit! Möge auch ferner ein günstiger Stern über dem Blumenorden walten, damit er 1944 in gleicher Frische auch seinen 300jährigen Geburtstag festlich begehen kann! H. B.     

Der Landarzt. (Zu dem Bilde S. 369.) Ein Bild aus dem italienischen Volksleben ist es, das der Maler uns vorführt, ein Bild, das freilich mit geringen Aenderungen auch vielfach auf die ländlichen Zustände in unserer deutschen Heimat zutreffen würde. Der Herr Doktor befindet sich auf der Landpraxis! Nach einem abseits gelegenen Bergnest ist er gerufen, aber er kann seinen ohnedies beschwerlichen Weg nicht ohne mannigfachen Aufenthalt zurücklegen. Denn während er auf seinem biederen Grautier mühsam die steilen Pfade hinanklimmt, eilen die benachbarten Bauersleute von allen Seiten herzu, um sich Rats zu erholen für alle Leiden und Körperschäden, die sich seit Wochen oder Monaten angesammelt haben. Und der gute Doktor hört mit Engelsgeduld die umständlichsten und haarsträubendsten Krankheitsgeschichten an, fühlt willig den Puls, betrachtet gedankenvoll die ihm gezeigte Zunge, giebt einen guten Rat, wo er einen weiß, einen guten Trost, wo der Rat zu Ende – und reitet weiter seines Wegs, der Wiederholung desselben Schauspiels entgegen. Und sein Honorar? Ja, du lieber Himmel! „Wo nichts ist, hat der Kaiser das Recht verloren“, sagt das Sprichwort; wie sollte da ein bescheidener Landarzt seines finden? An dem freundlichen Doktor, der ein so weiches Herz hat, lassen es die armen Leute zuerst ausgehen; von dem wissen sie, daß er nicht kommt und fordert und droht wie der Steuereinnehmer oder der Padrone, dem man den Pachtzins schuldet; daß ihr getreuer Helfer gemeinhin auch nicht viel reicher ist als sie selber, das wissen die Leute freilich nicht.

An der Unteren Lände zu München. (Zu dem Bilde S. 357.) Schön ist die Reichenbachbrücke nicht, und es giebt Leute, die ihr sogar Baufälligkeit nachreden; dafür bietet sie zu Zeiten guten Wasserstandes der Isar ein gar unterhaltendes Bild: die Ankunft der Flöße aus dem Oberland an der Unteren Lände zu München. Und just nächst der Brücke, beim Muffatwehr, ist ein sogenannter „Schuß“, ein Wehr mit schöner Brandung, durch welche die Flöße im starken Gefälle hindurch müssen, so daß die Fluten das Floß überspülen. Allemal an dieser Stelle hüpfen die stämmigen Flößer je nach der Ladung auf erhöhte Plätzchen ihrer Flöße, um dem Naßwerden zu entfliehen. Geht es aber nicht, dann geniert diese wetterharten Gestalten, die eine geschlossene Gilde unter sich bilden, das „bisserl Wasser“ auch nicht. Müssen sie ja doch oft genug auf der Fahrt von Mittenwald, wo die junge lichtgrüne Isar flößbar wird, keck und ohne langes Besinnen ins kalte Wasser springen, wenn das Floß aufgefahren ist und durch Schieben, Stoßen und allerlei andere Anstrengungen wieder flottgemacht werden muß. Beil und Seil und die graue Hose mit dem Lenggrieser grünen Streifen kennzeichnen auf den ersten Blick den Flößer aus dem Isarwinkel. Ist ein Floß gelandet und liegt es am Kabel der Unteren Lände zu München, so wird seitens der Floßmannschaft das wenige Geschäftliche mit dem Ländmeister abgemacht, im Gasthaus zur „Unteren Länd’“ wohl auch noch eines getrunken, und abends fahren die Flößer „per Bahn“ wieder heim nach Tölz und so weiter.

Um möglichst Ländgeld für die Flöße am Kabel zu sparen, beeilt sich jeder Floßbesitzer mit dem Auseinandernehmen der angefahrenen Flöße. Die Blöcke werden voneinander gelöst und nun Stück für Stück, nachdem ein schwerer Eisenhaken mit daranhängender Kette eingeschlagen ist, von den Ländpferden und dem Ländknecht aus dem Wasser über den Triftweg auf den Damm gezogen. Diese Arbeit sieht sich recht leicht und anziehend an, verlangt aber Rüstigkeit und Verständnis. Die Pferde kennen ihre Arbeit durch lange Uebung und wissen oft, wie weit sie die schwere Last ziehen müssen. Sind die Blöcke alle auf dem Straßendamm, dann beginnt das Aufladen auf den Wagen, wobei wieder Pferde und lange eiserne Ketten, die eine Art einfachen Flaschenzuges bilden, nötig sind. Für die Münchener bietet diese Arbeit immer ein gern gesehenes Schauspiel. A. A.     



Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (21. Fortsetzung). S. 357. – An der Unteren Lände in München. Bild. S. 357. – Pelikane am Strand. Bild. S. 360. – Pelikanjagd. Bild. S. 361. – Herzogin Hadwig, die Heldin des „Ekkehard“. Von R. Artaria. S. 364. Mit Abbildung S. 365. – Wasserdicht. Hygieinische Skizze von Dr. Lorenz. S. 366. – Die verlorene Tochter. Humoreske von Ernst Wichert (Fortsetzung). S. 367. – Der Landarzt. Bild. S. 369. – Blätter und Blüten: Der Pelikan und die Pelikanjagd. S. 371. (Zu den Bildern S. 360 und 361.) – Die 250jährige Jubelfeier des Pegnesischen Blumenordens zu Nürnberg. Mit Bild. S. 372. – Der Landarzt. S. 372. (Zu dem Bilde S. 369.) – An der Unteren Lände zu München. S. 372. (Zu dem Bilde S. 357.)



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Alle Temperaturangaben dieses Artikels erfolgen in Graden des hundertteiligen Celsiusthermometers.