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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[373]

Nr. 23.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Abend am See.

Von B. Del-Pero.

Auf die sturmesmüde Welle
Senkt sich Friede sanft und hold,
Und des Tages letzte Helle
Streut darauf ihr bestes Gold.

5
Aus dem tiefen klaren Grunde,

Eine zweite Wunderwelt,
Winkt der Berge goldne Runde
Und das blaue Himmelszelt.

Traumverloren blickst du nieder

10
Zu dem stillen Märchenglück,

Und dein Auge strahlt es wieder,
Strahlt es tausendfach zurück.




Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(22. Fortsetzung.)

Eine stumme Weile hingen die Augen des Richtmanns und des Hanetzer ineinander, dann sagte der Hanetzer mit heiser klingender Stimme: „Du, Richtmann?“

„Wohl wohl. Guten Weg auf den Abend!“ Der Schönauer wollte vorübergehen.

Da vertrat ihm der andere den Weg. „Schau’ doch, Richtmann, schau’ doch! Einer, der beim Thing gewesen, hat mich merken lassen, Du wärst für die Wazemannsleut’! Mußt Dich aber doch wohl anders besonnen haben, oder hast am End’ gar aus lauter Lieb’ und Freundschaft einem von denen da droben zur letzten Ruh’ verholfen?“

Der Schönauer wankte und stammelnd streckte er die beiden Hände nach den Lippen des Bauern. „Schweig’ … schweig’!“

„So? Gelt? Jetzt soll ich Maul und Wort halten? Aber ich bin ja keiner von den Wortfesten. Das mußt Du doch selber wissen … hast mich ja nicht zum Thing gerufen!“ Ehe der [374] „Bruder! Bruder!“ stammelte Edelrot und streckte die Arme nach ihm. Er küßte ihren Mund. „Jetzt muß geschieden sein!“ Die Samme brach ihm; hastig löste er sich aus Rütlis Armen, sprang in die Hofreut und schloß das Thor. Schluchzend warf sich Edelrot gegen die Bohlen; doch Ruedlieb umschlang sie, und zitternd hing sie an ihm, der sie unter zärtlichen Worten hinauszog auf den finsteren Weg.

Der Richtmann stand noch und starrte über den schwarzen See hinweg zur Höhe der Falkenwand. An Wazemanns Haus leuchteten alle Fenster. Die Hunde rumorten, und Stimmenlärm klang aus der Halle.

Herr Waze saß bei der Tafel, fünf seiner Söhne um ihn her; er trug wohl noch die kalte Binde um den Kopf, doch hatte er das Grausen vor dem Met schon überwunden. „Wo bleiben die beiden Buben?“ schrie er in zorniger Ungeduld. „Ich hab' zu reden mit Euch. Wir müssen beschließen, was morgen geschehen soll. Sie sollen kommen . . . wo sind sie?“

„Noch alleweil’ sitzen sie über den Spielbrett,“ lachte Rimiger, „einer rauschiger als der andere!“

„Hol’ sie! Und wenn sie nicht kommen wollen . . .“

Da klang Geschrei aus der Kammer, das Klappern des fallenden Spielbretts und das Poltern eines umgeworfenen Sessels. Henning taumelte in den Saal, und Eilbert stürzte hinter ihm her, die zinnerne Metkanne nach ihm schleudernd. Lärmend warfen sich die anderen zwischen die beiden. „Laßt mich, laßt mich!“ lallte Eilbert. „Ich muß ihm an den Hals! Er hat betrogen im Spiel . . . hat mir den Becher gereicht und mit dem Ellbogen einen Stein geschoben!“

„Das lügst Du!“ kreischte Henning. „Komm nur, komm, ich will Dir das Hirmdach dreschen!“

Mit Mühe konnten die Brüder die Berauschten voneinander halten. Recka war auf der Schwelle ihrer Kammer erschienen, hatte sich wieder abgewandt und die Thüre zugeworfen.

In keifendem Zorn schalt Herr Waze auf die Berauschten los. „Laß ihnen den Pfaffen heraufholen!“ lachte Rimiger. „Der soll ihnen eine Predigt halten über Bruderlieb’ und Ehrlichkeit!“

Lautes Gelächter erhob sich und Herr Waze nickte. „Recht hast, Bub’, so hat der Pfaff’ doch einen Zmeck.“ Er löste den Schlüssel von seinem Gürtel. „Hol’ ihn, und will er mucksen, so fahr’ ihm an die Rippen.“

Rimiger und Otloh eilten davon, während Herr Waze wieder sein Schelten begann. Die Stimme wurde ihm heiser, stöhnend griff er nach seinem Kopf, trat zur Tafel und hob die Bitsche. Da stürzte Otloh in den Saal. „Vater, Vater! Die Thür’ war gut geschlossen, aber das Loch ist leer gewesen.“

Herr Waze spuckte den Trunk wieder aus, den er genommen hatte, und starrte den Boten an. Dann schüttelte er den Kopf, riß eine flackernde Kerze vom Lichtreif und sprang zur Thüre. Wie ein Rudel Wölfe rannten die Söhne hinter ihm her, auch Henning und Eilbert, als wären sie jählings nüchtern geworden. Sie erreichten den Kerkerbau. In der offenen Thür des Bußloches stand Rimiger, bleich, und stotterte. „Der Pfaff’ und der Bub’ . . . all’ beid’ sind fort, wie durch die Wänd’ geflogen!“

Herr Waze stieß ihn beiseite und leuchtete in den Raum; doch er sah nur die kahlen Wände und das faule Stroh. „Sein Heiliger,“ lallte er, „sein Heiliger hat ihm geholfen!“ Und das Wunder machte ihn zittern.

Ein dumpfes Rauschen ging um das Haus. War es ein Windstoß, oder war es der Regen der zu fallen begann? Ueber Thal und See, über alle Berge fiel es nieder durch die Nacht in unsichtbaren Strömen. Ein rauher Wind, bald stockend, bald wieder im Wirbel jagend, peitschte den gießenden Regen.

Auf einem Karrenweg, der über den Halden der Schönau am Saum des Bergwaldes hinführte, wanderten die vier Menschen, welche das Fischerhaus verlassen hatten. Wicho schritt voran. Ruedlieb hatte sein Lodenwams abgenommen und das warme Tuch um Rütlis Haupt und Schultern geschlungen; sie schien den Regen nicht zu fühlen, im Schrecken lag sie an Ruedlieb angeschmiegt, der sie hob und stützte bei jeder rauhen Stelle des Weges. Der Schönauer war zurückgeblieben; durch die Finsternis spähte er über die schwarzen Halden hinunter nach seinem Hag und Haus. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, und seufzend wandte er sich ab. „Du mein liebes Heim, schier muß ich fürchten, ich seh’ Dich nimmer wieder!“

Als sie den Schapbacher Forst erreichten, zündete Wicho die Fackel an, die er mitgenommen. Nun hatten sie ein besseres Wandern; sie waren geschützt wider Wind und Regen, doch häufig mußten sie durch Bäche waten, welche den Pfad überrannen. Der Weg begann zu steigen, und eine Stunde ging es bergan. Als sie eine weite Blöße überschritten, hörten sie von den Alben herunter das Gebrüll der Rinder. „Droben muß der Schnee schon fallen,“ meinte der Schönauer, „die Küh’ begehren auf.“

„Wohl wohl,“ nickte Wicho, „morgen wird mancher an den Heimtrieb denken.“ Schweigend stiegen sie weiter. Durch ein langes Waldthal ging der Weg, dann quer über einen steilen Berghang. Da hörten sie aus den Lüflen einen seltsamen Klang, mächtig und doch wie klagend fast ... als wäre eine baumdicke Saite gesprungen. Lauschend standen sie still, aber sie hörten nichts mehr; nur der Regen plätscherte, und rauschend fuhr der Wind durch die Wipfel der Bäume.

„Was muß denn das gewesen sein?“ fragte Wicho. Und der Schönauer sagte langsam: „Ich mein’, es hat ein Berg geschrieen; das hab’ ich einmal gehört als Bub’ . . . selbigsmal hat sich über dem Göhl eine Fragel[1] aufgethan, und eine ganze Wand ist niedergegangen über die schönsten Alben.“

Sie stiegen weiter. Nach einer Weile senkte sich der Pfad und führte hinunter in das stundenlange Thal, zwischen dessen Felswänden der Windacher See gebettet lag. In murrendem Wellengang schwankle das öde unheimliche Wasser. Mit schneidender Kälte blies der Wind, und die Nacht wurde grau, denn Flocken begannen sich in den fallenden Regen zu mischen. Zwei Stunden dauerte die Wanderung am See entlang. Als der Pfad dann wieder stieg und über Steingeländ emporführte, begann der Grund unter den Füßen der Wandernden sich licht zu färben, und bald umhüllte sie gleich einem Schleier das Gewirbel der weißen Flocken.




26.

Spät erwachte über dem Lokiwald der Morgen. Kaum auf Steinwurfweite drang der Blick, alle Luft war grau vom strömenden Regen, schattenhaft zog sich der Waldsaum mit seinen Bäumen um die Rodung her, und während der kalte Wind den Regen durch Thür und Fensterluken in die Klause peitschte, rauschten auf allen Berggehängen ringsumher die angeschwollenen Bäche. Zuweilen klang durch das dichte Gewölk ein dumpfes Rollen von den Höhen nieder – dort oben lösten sich Massen des Gesteins, welche das Erdbeben gelockert hatte und das strömende, in alle Fugen und Risse sich zwängende Wasser ihres letzten Haltes beraubte. Schwieg für kurze Weile der sausende Wind und dämpfte sich das Rauschen des Regens und der Bäche, so tönte bald von hier und bald von dort aus steilem Bergwald nieder das Gebrüll der Rinder, ein verschwommenes Geläut der Schellen und das ferne Geschrei der Hirten, welche unter Gefahr und Not vor dem auf den Alben fallenden Schnee mit ihren Herden in die Thäler flüchteten.

Am Waldsaum der Rodung mischte sich Beilschlag und das Knirschen einer Säge in das Geplätscher des Regens. Eberwein und Schweiker, im Arbeitskleid und triefend vor Nässe, zimmerten die Läden für die Fensterluken und die Thüren für das Kirchlein und die Klause. Sie wechselten nur ab und zu ein paar Worte, welche die Arbeil erforderte. Schweiker führte jeden Hieb, als schlüge er nicht auf wehrlose Blöcke los, sondern in Zorn und Ingrimm auf einen verhaßten Feind. Die von ihm gespaltenen Bohlen fügte Eberwein mit Querlatten und Holznägeln aneinander; rastlos zog er die Säge und schwang den Hammer; von seinem blonden Haarkranz rann das Wasser wie von einer Traufe, und naß klebte ihm der lichte Bart an der Brust. Die schwere Arbeit schien ihm Erquickung und Trost zu sein, denn gesunde Röte brannte auf seinen Wangen und seine Augen blickten ruhig. Und er hatte doch in der Nacht, an dem Lager des Knaben sitzend, kaum für eine Stunde die Lider geschlossen.

Stunden vergingen; gegen Mittag standen die Thüren gezimmert und die Läden gefügt. Noch einmal prüfte Eberwein seine Arbeit, dann legte er den Hammer nieder. „Bedarfst Du meiner Hände noch?“

„Nein, Herr! Mit allem anderen komm’ ich schon allein so weit, daß Thüren und Fenster gut verwahrt sind bis zur Nacht. Vergönn’ Dir ein Stündlein Ruh’!“

„Ruhe?“ Eberwein schüttelte den Kopf. „Ich ende die Arbeit, weil ein Weg mich ruft.“ Er schritt der Klause zu, um das Gewand zu tauschen.

(Fortsetzung folgt.)


[375] Eberwein schrieb die Botschaft an den Bayernherzog, welche der Jungsenn’ tragen sollte. Doch häufig stockte ihm die gleitende Feder. Wie hätte seine Hand die drückende Schwere nicht fühlen sollen, die auf seinem Herzen lag, doppelt drückend, da ihm der Trost versagt war, seine Sorge auszusprechen. Wenn er die Brüder nicht entmutigen wollte, mußte er verschweigen, was ihm in Wazemanns Haus widerfahren. Ohne zu wissen, wie auf dem Totenmann das Thing gesprochen, ahnte er, daß nur die Furcht vor Waze alle Thore vor ihm schloß und alle Ohren taub machte für den Hall der Glocke. Böse Tage sah er kommen für seine junge Klause – und unter dem Druck dieser Sorge, bangend und schwankend, hatte er sich entschlossen, die Hilfe seines herzoglichen Freundes anzurufen. Er schrieb – und zögerte nach jedem Wort. Denn jeder Laut seiner Klage erschien ihm wie ein Zweifel an der Gerechtigkeit des Himmels und an Gottes Macht. „Unrecht thust Du, jage den Zweifel und das Bangen aus Deinem Herzen, halte fest an Gott und an Dir selbst!“ so schrie eine Stimme in seiner gemarterten Seele – und dennoch mußte er schreiben. Er sah die Hütten mit den geschlossenen Thoren, hörte Seufzer aus jedem Hag, laute Klage von allen Lippen – und eine andere Stimme in seinem Innern rief: „Nicht mir die Hilfe, nur diesen Armen und Gedrückten!“ Er schrieb und schrieb . . . und zögerte wieder. Zu all dieser Sorge redete noch eine andere. Das stille Pfarrhaus in der Ramsau stieg vor seinen Blicken auf – er hatte das Wort nicht lösen können, das er gegeben, und er wußte: Waldram hatte, als die Brüder nach dem Vermißten suchten, die Richtung gegen die Ramsau genommen! Eine quälende Ahnung beschlich ihn . . . wäre er ledig gewesen der Pflicht, die ihn festhielt in der Klause, er hätte inmitten der finsteren Nacht den Stab gefaßt und wäre ausgezogen, um die Wunde zu schließen, die er wider Willen einem frommen gottesfreudigen Glück geschlagen. Hier hielt ihn eine Pflicht . . . dort zog ihn eine andere! Welche mußte ihm heiliger sein? Er wollte aufspringen und saß doch wie gelähmt; es rieselte ihm heiß und kalt durch alle Glieder; ihm war, als stiegen aus seinem Herzen die quälenden Bilder heraus an die Luft: nebelhaft verschwommen standen Hiltischalk und Hiltidiu vor ihm, mit verschlungenen Händen, mit stummen Lippen und redenden Augen. Er streckte die Arme nach ihnen; da versank ihr Bild in grauer Nacht. Doch ein anderes stieg vor ihm auf, in weißem Mantel und mit wehendem Rothaar – und ob er auch die Hände vor die Augen schlug – er konnte dieses Bild nicht scheuchen.

Erschrocken richtete sich Huze vom Lager auf. „Guter Herre, was ist Dir denn?“ Eberwein ließ Pergament und Schreibrohr fallen, eilte auf den Knaben zu und umschlang ihn mit beiden Armen.

Bruder Wampo trat in die Zelle. „Herr, ein Bursch’ ist draußen, den der Fischer geschickt hat.“

„Laß ihn warten beim Feuer!“ Aufatmend strich Eberwein mit der Hand über das struppige Haar des Knaben. „Du solltest schlafen, Huze!“

„Weißt, ich hab’ Dich halt so viel gern angeschaut. Jetzt mach’ ich aber gleich die Augen zu, wohl wohl!“ Der Bub’ streckte sich und schloß die Lider. Sorglich hüllte ihn Eberwein in die warme Kotze; dann nahm er das Pergament wieder auf und begann zu schreiben.

In der Herdstube saß der Jungsenn’ neben dem Feuer; er hörte nicht, was Bruder Wampo leise jammerte und schwatzte – seine Gedanken weilten im Fischerhaus, an der trauten Stätte, die er so bald nicht wieder sehen sollte. Dort saßen sie wohl alle jetzt beim Herdschein um den steinernen Tisch, mit ernsten Reden und freundlichem Zutrunk. So meinte der junge Senn’; doch die Wirklichkeit zeigte ein anderes Bild. Wohl erfüllte die flackernde Herdflamme die Halle mit ihrem zuckenden Licht und ernste Worte wurden gesprochen; aber niemand dachte des abendlicheu Umtrunks. Wicho, Hilmtrud und Kaganhart standen vor dem Steintisch und beludeu zwei Kraxen mit Kleidungsstücken, mit Gerät und Zehrung. Eigel stand bei der offenen Thür und lauschte hinaus in die Nacht, während der Richtmann auf dem Herdrand saß und wortlos immer wieder mit schwerer Hand das Haar in die Stirne strich. Mutter Mahtilt saß wie versteinert in ihrem Lehnstuhl, die Hände im Schoß, schimmernde Zähren auf ihren bleichen Wangen; mit Schmerz und Sorge hingen ihre Augen an Rötli, welche schluchzend ihren Buben umfangen hielt. Sigenot legte die Hand auf die Schulter des Mädchens. „Hör’ mich an, Schwester! Schau’, mit Weinen ist nichts gethan! Jetzt mußt Du reden. Der arme Bub’ steht unter Blutschuld aus Lieb’ zu Dir. Jetzt sag’ es frei heraus: soll er ziehen allein . . . oder willst stehen bei ihm und aushalten an seiner Seit’ in Not und Gefahr?“

„Alleweil’, alleweil’! Und nimmer lassen von ihm!“ Enger noch klammerten sich Rötlis Arme um den Hals Ruedliebs.

„So geh’, Bub’“ – Sigenots Stimme schwankte – „bitt’ die Mutter um ihr Kind!“

Der Richtmann erhob sich, und während die anderen herbeitraten, fielen Ruedlieb und Rötli vor Mutter Mahtilt nieder. Lallend umschlang sie die Kinder, drückte sie an ihre Brust und neigte das Gesicht auf ihre Häupter; nach einer stummen Weile richtete sie sich auf, streifte einen silbernen Reif von ihrem Finger und reichte ihn Ruedlieb. Der Richtmann zog das Messer und gab es in die Hand des Sohnes. Auf die blanke Klinge legte Ruedlieb den Reif und bot ihn seiner Braut, während Thränen seine Stimme fast erstickten.

„So nimm von meiner Lieb’ und Treu’ den Reif als Pfand;
Den sollft Du tragen an Deiner lieben Hand.
Fest und ohne End’, wie der Reif gewunden,
Ist Treu’ an Treu’ in guter Eh’ gebunden.
Fest muß sie halten in Glück und Freuden,
Hundertmal fester noch in Not und Leiden.
Des müssen wir gedenken in aller Zeit:
Treu’ haben wir gelobt über scharfer Schneid’!“

Während Ruedlieb sprach, hob Mutter Mahtilt eine Staude aus dem Herdwinkel, streifte das dürre Laub ins Feuer, brach zwei Stäbe von der Gerte und warf sie auf die Steine; Seite an Seite kamen sie zu liegen, nach dem Herd gerichtet. Ein freudiges Lächeln glitt über die thränenfeuchten Lippen der stummen Mutter . . . freundlich hatten die Lose für ihres Kindes Glück gesprochen. Sigenot hob die Schwester von der Erde. „Schwesterliebl Deine Mutter hat nimmer Sprach’, Dein Vater weilet, ich weiß nicht, wo. So muß Dir der Bruder das letzte Heimwort sagen. Bist eine brave Tochter und Magd gewesen . . . sei kein schlechtes Weib! So zieh’ halt fort vom Mutterherd . . .“ die Stimme versagte ihm, und unter gepreßtem Schluchzen hing die Schwester an seinem Hals. Es währte lange, bis Sigenot wieder sprechen konnte. Zärtlich streichelte er das zuckende Gesicht des Mädchens und flüsterte: „Ich muß Dir eine trübe Hochzeit rüsten, gelt? Kann Dir kein Veiglein ins Haar legen, Blutblumen müssen Dein Kränzl sein; kann Dir die Kunkel nicht wickeln mit rotem Band. Hast keinen lustigen Brautlauf in lichter Sonn’, über Halden und Blumenklee . . . Dein Brautlauf geht in schiecher Nacht über Blut und Not, über Stein’ und tiefe Gründ’. Aber schau’, rechte Lieb’ hat einen lichten Schein in aller Nacht, und feste Treu’ macht alle Weg’ und Gruben eben. Jetzt thu’ nimmer weinen, Schätzel! Wir müssen ein End’ machen. So komm halt her, Bub’, und nimm Dein Bräutlein! Viel nimmst uns weg, aber halt’ mir nur die Schwester gut, nachher ist alles recht. Und eins versprich mir! Kommt wieder sonnscheinige Zeit, daß Ihr heimkehren dürft und hausen an gutem Herd – versprich mir’s, Bub’: so geh’ in der ersten Stund’ mit Deinem Weib hinaus zum Lok’stein, daß der gute Herr Eure Händ’ ineinanderlegt.“

„Wohl wohl!“ Mehr brachte Ruedlieb nicht über die Lippen.

„So, und jetzt gehet miteinander! Einer, der starke Arm’ hat, wird schauen auf Euch!“

Unter heißen Thränen warf sich Rötli zum Abschied an der Mutter Hals. Der Richtmann legte die Hände auf die Schultern seines Buben, sah ihm in die Augen und rüttelte ihn, sprechen konnte er nicht. Dann kamen die anderen der Reihe nach und drückten Ruedliebs Hand. Sigenot mußte die Schwester aus den Armen der Mutter lösen und führte die Wankende zur Thüre. „Wicho! Schwing’ der Haustochter den Herdbrand.“

Mit feierlichem Ernst zog der Knecht ein flackerndes Scheit aus dem Feuer und trug es vor der scheidenden Braut hinaus in die finstere Nacht. Prasselnd loderte die Flamme im kalt ziehenden Wind. Dreimal umschritt der Knecht die Braut, den Brand über ihrem Haupte schwingend, dann warf er das brennende Scheit auf ihren Weg. Edelrot faßte Ruedliebs Hand und stieß den Brand mit dem Fuß beiseite; sie war gelöst vom elterlichen Herd. Sigenot brachte ihnen die Grießbeile, welche sie nötig hatten auf ihrem Weg, und öffnete vor ihnen das Hagthor. Der Richtmann und Wicho folgten mit den beladenen Kraxen.

„Gieb mir Dein Messer und nimm das meine,“ sagte der Richtmann zum Fischer, „zeig’ es meinen Leuten, und sie hören auf Dein Wort!“ Sie tauschten die Messer.

[376] Richtmann noch erwidern konnte, hatte der Hanetzer den Steg überschritten und war im Dunkel des Abends verschwunden ...

Um die gleiche Zeit trat Sigenot mit dem Jungsennen aus der Thür des Fischerhauses, schritt mit ihm über die Hofreut hinunter und öffnete das Thor. „Jetzt geh’ halt, Bub’,“ sagte er und legte die Hände auf die Schultern des Burschen, „und thu’ Dich nicht fürchten. Einer geht mit Dir, bei dem die Hilf’ ist und die Stärk’! Einen weiten Weg mußt laufen, und tief wird der Schnee schon auf den Bergen liegen, bis Du heimkehrst. Aber denk’: an Deinen Füßen hängt unser aller Wohl und Weh! So geh’ halt und zeig’, daß Du der Bub’ bist, für den ich Dich gehalten hab’.“

„Wohl wohl, da wird nichts fehlen!“

„Und halt’ dem Herren, von dem Du Botschaft tragst, so feste Treu’, wie Du allzeit meinem Haus gehalten!“

„Fest wie Eisen! Da soll kommen, was mag!“

Sigenot faßte die Hand des Burschen und trat mit ihm vor das Kreuz. „Mein guter Herre, Du mein Gott! Thu’ mir den Buben hüten, gelt?“

Scheu zog der junge Senn’ das lederne Käpplein von seinem Flachshaar und hob die Augen zum Kreuz, dann schied er von seinem Herrn mit wortlosem Händedruck. Sigenot wollte in den Hag zurückkehren, da sah er die Schwester mit Ruedlieb von der Ache kommen. „Schau’ nur, nicht erwarten hat sie’s können! Lieb’ geht durch geschlossene Thor’ und springt über jeden Hag.“ Lächelnd ging er dem Paar entgegen und streckte die Hände. Doch der Anblick ihrer Gesichter und die Sprache ihrer Augen jagte ihm kalten Schreck in das Herz. Mit scheuer Frage faßte er den Arm der Schwester, aber die Stimme versagte ihr; auch Ruedlieb brachte keinen Laut über die Lippen, er hob nur die Faust und ließ sie fallen, als hielte seine Hand noch das Messer. Keuchend kam der Schönauer unter den Bäumen hervorgesprungen, drängte sie alle in den Hag, warf das Thor zu und legte den Balken ein.

Nun hörte Sigenot, was geschehen war. Der Atem stockte ihm doch als er den Richtmann jammern und klagen hörte, sagte er mit fester Stimme: Rait’ nicht wider Deinen Buben! Ich steh’ zu ihm, er hat’s gethan um meine Schwester. Wär’ ich an seiner Stell’ gewesen – mein Messer wär’ rot geworden wie das seinig’! Laß das Klagen, Richtmann! Alle Klag’ lauft hinter dem Unheil her, wir aber müssen den Vorsprung haben mit der Hilf’.“ Laut rief er: „Wicho!“

Der Knecht kam von der Scheune gelaufen. „Was giebt’s?“

„Wachsende Not! Führ’ die Kinder in Deine Kammer – die Mutter soll nichts erfahren, eh’ wir nicht wissen, was geschehen muß. Dann hol’ den Kohlmann aus der Stub’ und komm mit ihm zur Tenn’!“

Eine Weile später saßen die vier Männer in der Scheune, hinter geschlossenem Thor, durch dessen Fugen nur noch ein matter Dämmerschein des Abends flimmerte. Wicho hielt die Butterlampe auf dem Schoß und wahrte mit hohler Hand das kleine flackernde Licht, dessen rötliche Helle über die bleichen Gesichter zuckte. Der Richtmann erzählte mit schwankender Stimme, wie alles gekommen. Schweigend hörten sie ihn an; doch als der Schönauer von der Begegnung mit dem Hanetzer sprach, stotterte Wicho: „Das ist von allem noch das Leidigst’! Den kenn’ ich! Laßt ihm Herr Waze nur einen einzigen Käs von der Stener nach, so wird er das Maul nicht halten und verkauft uns alle!“

„Und den Kerl hab’ ich so gut verbinden müssen, daß er heut’ schon wieder lauft!“ schalt der Kohlmann. „Aber was jetzt? Morgen müssen sie den Knecht vermissen und die Hatz geht an. Wo wird sie ein End’ haben?“

„Wo mein Elend anfangt!“ klang die tonlose Stimme des Richtmanns. „Sie werden den Blutbann werfen auf mein Haus . . . wie soll ihm mein armer Bub’ entrinnen!“

Sigenot legte ihm die Hand auf die Schulter. „Sei gutes Muts! Ich führ’ ihn zu unserem Herrn hinaus in den Lokiwald . . .“

Der Richtmann schüttelte den Kopf. „Der Weg zur Klaus’ ist meinem Buben verlegt. Ich hab’ geschworen im Thing!“

Die Scheune hallte wieder von Eigels zornigem Gelächter. „Richtmann, Richtmann – merkst Du’s jetzt am eigenen Löffel, was Du für eine Supp’ hast kochen helfen auf dem Totenmann? Wären wir all’ vom Thingfeuer weg zur Klaus’ gezogen, wohin uns das Recht gerufen hat . . . die Wazemannsleut’ hätten ihre Köpf’ gar tief geduckt und ihre Fäng’ wohl eingezogen wie die Katz’ vor dem Igel ... und Dein Bub’ hätt’ heut’ das Messer nicht schwingen müssen für die Ehr’ seiner Liebgesellin. Richtmann! Richtmann! Ich sag’ Dir . . .“

Sigenot unterbrach den Kohlmann: „Laß gut sein, Eigel, mach’ ihm das Herz nicht schwerer noch!“

Der Schönauer strich mit der zitternden Hand über die Stirn. „Ich hab’ gethan, wie ich thun hab’ müssen aus Lieb’ zu meinem Buben. Ein jeder kennt nur die Stund’, in der man schnauft . . . keiner mißt den Tag aus, den die schwarze Mutter Nacht im Schoß tragt. Thu’ das Gute, thu’ das Schlechte, geh’ zur Rechten, geh’ zur Linken . . . keiner weiß, wo der Weg ihn hinführt . . . alles kommt, wie’s mag!“ Stöhnend schlug er die Hände vor das bleiche Gesicht. „Gobl, Gobl! Ich fürcht’, ich muß noch sitzen unter Deinem Apfelbaum!“

„Ich denk’ wohl anders,“ sagte der Fischer und zog ihm die Hände nieder, „aber ich will nicht raiten wider Deine Angst. Wir wollen denken auf Hilf’. Dein Bub’ muß fort, und Du mit ihm!“

„Fort? Mein Haus verlassen? Wer hütet meines Buben Haus, wenn sie kommen?“

„Laß Dein Haus fahren, halt’ Deinen Buben fest!“

Der Richtmann griff mit den Händen ins Leere und nickte vor sich hin. „Fort! Wohin aber? Ueberall wird er ihn finden!“

„So birg’ ihn, wo er ihn am letzten sucht – auf Wazemanns Bannberg! Droben wird Schnee fallen in der heutigen Nacht . . . da hat’s mit dem Gejaid ein End’, und es steigt sobald wohl keiner hinauf. In der verlassenen Albhütt’ hinter dem Eismann habt Ihr ein gutes Weilen. Holz zum Feuer steht nicht weit, und Zehrung laß ich Euch tragen in jeder vierten Nacht. Hätt’ ich die Mutter nicht ... ich selber ging’ mit Euch.“

Die Männer hatten den Kopf geschüttelt zu diesem Rat; nach allem Reden aber fanden sie, daß es der beste war. „Jetzt harret eine Weil’,“ sagte Sigenot, „bis ich mit meiner armen Mutter geredet hab’. Denn ich mein’ schier, das Rötli wird den Buben allein nicht ziehen lassen. Feste Lieb’ hat feste Ketten!“ Er drückte die Fäuste auf seine Brust, als spräche ihm das eigene Herz zu laut, und verließ die Scheune.

Graue Nacht lag über dem Hag, und ein kalter Wind kam von den Bergen niedergezogen. Während Sigenot dem Haus entgegenschritt, blickte er der Richtung zu, die der junge Senn’ genommen. „Lauf’, Bub’, lauf’!“ –

Finster ragte in der Ferne der Untersberg, und wie ein schwarzer See lag ihm der Lokiwald zu Füßen. Aus der offenen Thür der Klause strahlte der Herdschein über die Lichtung. Bruder Wampo schaffte beim Feuer, neben welchem die über Stangen gespreizte Wolfshaut zum Trocknen aufgestellt war. Schweiker saß in einem Winkel, mit hängendem Kopf, die Hände im Schoß. Als er bei seiner Rückkehr Eberwein in der Klause gefunden, war er vor ihm niedergefallen, mit Zähren in den Augen, und hatte den Saum seines Gewandes geküßt. „Herr, Herr! Ich hab’ Dich schlecht gesucht!“ Dann war kein Wort mehr über Schweikers Lippen gekommen. Auch Pater Waldrams Heimkehr rüttelte ihn nicht auf aus seinem dnmpfen Brüten. Bruder Wampo aber brach in hellen Jammer aus bei Waldrams Anblick: kaum trugen ihn die Füße noch; sein Gesicht und seine Hände bluteten, und in Fetzen hing das Gewand von ihm nieder. Eberwein kam aus seiner Zelle, in welcher er den Knaben auf dem eigenen Lager gebettet hatte, und eilte erschrocken auf Waldram zu. Der Mönch aber streckte den dürren Stecken vor und rief mit halb erloschener Stimme: „Du lebst noch? Weiche von mir, Meineidiger, der Du dem Himmel die Treue brachst!“ Eine brennende Röte flog über Eberweins Gesicht, und während Waldram an ihm vorüber in das Kirchlein wankte, stand er und blickte mit irrenden Augen ins Leere. Aus seiner Versunkenheit weckte ihn Bruder Wampos Stimme; als er dem Rufe folgte, fand er Waldram bewußtlos zu Füßen des Kreuzes hingestreckt. Sie trugen ihn zu seinem Lager, und mit zitternden Händen wusch ihm Eberwein das Blut vom Antlitz; dann mußte er für Huze sorgen, der seit Waldrams Heimkehr mit halbgelöstem Verbande lag.

So war die Nacht gekommen. Aus Waldrams Zelle klangen von Zeit zu Zeit die lallenden Worte, mit denen der unruhig Schlummernde in Traum und Fieber redete. Eine Kienfackel erleuchtete die Zelle Eberweins; Huze lag, die gefalteten Hände unter der Wange, und blickte lächelnd, mit glänzenden Augen auf den Mönch, der bei der Fackel auf niederem Holzpflock saß, das Schreibrohr in der Hand, ein Pergamentblatt auf dem Schoß.

[377]

Ansichten von Halle a. d. Saale.
Nach einer Originalzeichnung von O. Günther-Naumburg.

[378]

     Halle vom neuen Wasserturm aus gesehen.


Die Jubelfeier der Universität Halle.

Von 0Rudolf von Gottschall.0 Mit Zeichnungen von 0O. Günther-Naumburg.

Welchen Anteil die deutschen Hochschulen an der Entwicklung unserer Kultur und des öffentlichen Geistes gehabt haben, darüber erteilt besonders die Geschichte unseres Jahrhunderts Auskunft. Und wenn dieser Anteil in der neuesten Zeit, in welcher Handel, Wirtschaft und vor allem der Krieg das entscheidende Gewicht in die Wagschale der nationalen Entwicklung warfen, etwas geringer geworden ist, so bleibt sich doch unsere Nation stets mit Stolz der hohen Bedeutung ihrer Universitäten bewußt. So erscheint bei uns die Jubelfeier einer Universität nicht als ein Fest, das nur in abgeschlossenen Kreisen gefeiert zu werden verdient; sie gewinnt mehr oder weniger das Gepräge eines volkstümlichen Festes, und wenn auch im Laufe der Jahrhunderte in den Universitätshallen viel Staub und Moder aufgewühlt worden ist und viele gelehrte Perücken auf unfähigen Köpfen gesessen haben, so berichtet doch auch die Chronik der Hochschulen davon, wie lebhaft die Geister hier aufeinander geplatzt sind im Kampf um die höchsten Güter der Menschheit und wie die Leuchten der Wissenschaft weit hinein ins Volk ein segensreiches Licht getragen haben.

Die Hallenser Universität, die am 12. Juli dieses Jahres ihr zweihundertjähriges Jubiläum feiert, hat stets zu denen gehört, an welchen sich ein reges geistiges Leben entfaltet hat; schon ihre Gründer zählten zu den freien Geistern deutscher Nation, die ihre eigenen Wege gingen und von der strengen Gelehrsamkeit, die besonders an der Pleiße ihren Sitz hatte, in Acht und Bann gethan worden waren. Thomasius und Francke bauten die Universität Halle auf im Kampfe mit der engherzigen Fakultätsweisheit, die sie von Leipzig vertrieben hatte.

Christian Thomasius, der Sohn des Rektors der Leipziger Thomasschule, geboren am 1. Januar 1655, studierte anfangs Philosophie, später die Rechte. Er erregte Anstoß durch die von ihm verfolgte freiere Richtung, durch seine Vorlesung über den damals in Sachsen verbotenen Pufendorf, durch die deutsche Ankündigung seiner Vorlesung 1687, durch die Herausgabe deutscher Monatsgespräche, „Freimütige, Lustige und Ernsthaffte, jedoch Vernunfft- und Gesetzmäßige Gedanken“ und durch seine rückhaltlose Verurteilung des verzopften Universitätswesens. „Es herrschte,“ sagte er später einmal, „auf denen evangelischen Universitäten folgender Zustand des Vorurtheils menschlicher Autorität: z. E. in der Philosophie anstatt der Logik eine grobe Zankkunst, anstatt der natürlichen Gotteslehre tumme, aber dabey tollkühne und ketzermacherische Grillen; anstatt einer ächten Sitten- und Regimentslehre unnütze Pedantereyen, damit man nicht einen Hund hätte aus dem Ofen locken können, oder handgreifliche Jesuitische Lehren, die denen Regenten zwar schmeichelten, aber ihnen das Regiment aus der Hand zu drehen trachteten.“ Ueberall bezeichnete er die Mängel der Universitäten in rückhaltloser Weise. Seine Hauptgegner waren der Leipziger Theologe Joh. Ben. Carpzow und dessen Bruder, der Oberhofprediger Samuel H. Carpzow; der letztere nannte ihn in einem Schreiben an den Kurfürsten einen „bösen Menschen“, ja einen „notorischen Erzbösewicht“. Thomasius wurden anfangs die Privatvorlesungen, dann die öffentlichen untersagt, und als er die lutherisch-reformierte Mischehe des Herzogs Moritz Wilhelm von Sachsen mit Maria Amalie, der Tochter des Großen Kurfürsten von Brandenburg, verteidigt hatte gegen lutherische Unduldsamkeit, wurde er beim sächsischen Hofe in hohem Maße mißliebig. Es wurde ihm verboten, in Sachsen zu lehren und zu schreiben, ja er sollte verhaftet und vor Gericht gestellt werden, aber durch schleunige Abreise von Leipzig entzog er sich der Untersuchung. Er begab sich nach Berlin, um die schon schriftlich nachgesuchte Aufnahme in den brandenburgischen Dienst durchzusetzen. Dort war er seiner Richtung wegen sehr willkommen und wurde 1690 zum kurfürstlichen Rat und Professor des gesamten Rechts an der 1688 umgestalteten Ritterakademie nach Halle berufen.

Auch einem anderen jungen Docenten war die Berechtigung, in Leipzig Vorlesungen zu halten, entzogen worden, es war dies August Hermann Francke, geboren am 22. März 1663 zu Lübeck, der 1685 in Leipzig Magister geworden war. Ein Jünger des damals in Dresden lebenden Theologen Spener, stellte er der engherzigen Glaubenslehre, die an den Universitäten herrschte, den lebendigen Glauben entgegen, der im religiösen Gefühl wurzelt und dessen Früchte Demut, Geduld und alle christlichen Tugenden seien. Er fand indes eine ebenso erbitterte Gegnerschaft wie Thomasius, der, als gegen Francke ein Verhör und Untersuchung stattfand, in einem gründlichen Gutachten die Rechtswidrigkeit des ganzen Verfahrens nachwies. Gleichwohl wurden Francke die Vorlesungen verboten. Nach kurzem geistlichen Wirken in Erfurt, von wo ihn wiedernm die Gegner seiner religiösen Richtung vertrieben, begab auch er sich nach Berlin, und der damalige Minister von Danckelmann stellte ihn 1692 in Glaucha bei Halle als Pfarrer und zugleich als Professor der hebräischen und griechischen Sprache für Halle an.

Das waren die beiden Männer, die gleichsam an der Wiege der Haller Universität standen, und diese erschien von Hause aus [379] als eine Freistatt der von Leipzig Verbannten; an der Saale erstand das Heim einer freieren Wissenschaft, die an der Pleiße in Acht erklärt worden war.

Unmerklich wuchs aus der Ritterakademie, zu welcher außer Thomasius und Francke auch andere Lehrkräfte herangezogen wurden, die Universität heraus. Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, nachher als Friedrich I. erster König von Preußen, Gemahl der geistvollen Königin Sophie Charlotte, war bei aller körperlichen Schwächlichkeit doch ein geistig hochstrebender Fürst, der nicht bloß nach äußerem Prunk und Glanz, sondern auch nach dem Ruhm strebte, ein Förderer der Wissenschaft zu sein. Die Gründung einer Universität in Halle lag schon längere Zeit in der Luft; der Große Kurfürst dachte wenigstens an die Errichtung einer allgemeinen Landesschule; als Friedrich III. mit dem Plane Ernst machte, kam ihm die bestehende Ritterakademie, die einen Stamm von Lehrern und Schülern hatte, sehr zu statten. Als Friedrich 1691, von Karlsbad zurückkehrend, von berittenen Zöglingen der Akademie eingeholt wurde, bestärkte ihn dies in seinem Vorhaben und er sprach alsbald in einem Erlaß seine Absicht aus. Zur Seite stand ihm dabei der später mit so schnödem Undank belohnte Minister Eberhard von Danckelmann, ein stolzer düsterer Herr, aber hochverdient um den Staat durch die eifrige Fürsorge für alle wichtigen Angelegenheiten, auch die wissenschaftlichen Anstalten. Ein zweiter Erlaß bestimmte die ersten Berufungen der Professoren, ihre Gehälter sowie die Summe zur Unterstützung bedürftiger Studenten, die Einrichtung eines theologischen Seminars; er setzte ferner fest, daß den juristischen Studenten zu ihrer praktischen Ausbildung der Zutritt zu den dortigen Gerichts- und Verwaltungsbehörden gestattet werden solle. Die allgemeine Leitung übertrug Friedrich dem zum Kanzler ernannten Veit Ludwig von Seckendorff, einem durch Gelehrsamkeit und edle Gesinnung gleich ausgezeichneten Manne, der aber schon gegen Ende desselben Jahres 1692, in welchem er sein Amt angetreten hatte, verstarb. Kleinliche Intriguen traten der Gründung der Universität und den Anfängen ihres Wirkens entgegen; die Konsistorien nahmen die Bevormundung der Theologen, der Professoren und Studenten, für sich in Anspruch; merkwürdigerweise begrüßte auch die Stadt Halle die Anlage der Universität keineswegs mit freudiger Zustimmung. Schon 1690 hatte sie über die Hergabe städtischer Gebäude, namentlich des geräumigen und für öffentliche Feste benutzten Wagehauses, zu Lehrzwecken heftigen Streit geführt; sie fürchtete die Kosten, welche die neue Anstalt verursachen würde, und legte im November 1693 Einspruch gegen deren Sonderrechte ein. Doch Friedrich ließ sich durch keinerlei Widerstand beirren; es gelang ihm, am 19. Oktober 1693 die kaiserliche Bestätigung für seine Stiftung zu erhalten und am 1. Juli[2] 1694 fand die feierliche Einweihung derselben statt.

Christian Thomasius.   Aug. Herm. Francke.   Christian Wolff.

Derartige Feste waren ganz nach dem Geschmack des Kurfürsten: noch auf ihrem Sterbebette tröstete die geniale Kurfürstin sich und andere mit dem Gedanken, daß sie ihrem Gatten Gelegenheit gebe, ein prunkvolles Leichenbegängnis zu veranstalten und mitanzusehen. So lag ihm auch eine glänzende Feier bei der Einweihung der Halleschen Universität besonders am Herzen. Die Stände des Herzogtums Magdeburg, die fremden und die übrigen inländischen Universitäten wurden besonders eingeladen. Der Kurfürst traf am 30. Juni in Trotha bei Halle ein, der schon in der Stadt weilende Hofstaat zog ihm entgegen, ebenso 150 Studenten zu Pferde und die Halloren. Dreyhaupt liefert in seinen ehrwürdigen Folianten, welche die Geschichte des Saalkreises behandeln, von dem Einzug in die Stadt, sowie von allen darauffolgenden Feierlichkeiten eine genaue Beschreibung, welche uns von der Prachtliebe des Fürsten und den geschickten Anordnungen seines Ceremonienmeisters von Besser ein anschauliches Bild giebt. Den Einzug eröffneten Jäger zu Pferde, dann folgten zwei Kompagnien Halloren und drei Kompagnien kurfürstlicher Trabanten in ihren prächtigen Röcken, die eine auf weißen, die andere auf schwarzen, die dritte auf braunen Pferden; dann kamen die Kutschen der Landstände, dreißig an der Zahl, die Pagen, die Studenten, wohlgekleidet und wohlberitten, die Degen in der Hand, die Pauker und Trompeter, die Hofkavaliere; der Stadtrat schloß sich am Thor der äußeren Vorstadt dem Zuge an, die Professoren am innern Stadtthor; der Kurfürst und sein Bruder, Markgraf Philipp, der Statthalter von Magdeburg, fuhren in einer über und über vergoldeten Chaise, von sechs isabellenfarbenen Pferden gezogen und von Trabanten mit vergoldeten Hellebarden umgeben. Die Bürgerschaft der drei Städte Halle, Glaucha und Neumarkt stand vom äußersten Thor bis an die Residenz im Gewehr. An einer prachtvollen Ehrenpforte, reich mit Sinnbildern und Statuen und den Bildnissen der vier Kurfürsten geschmückt, welche die vier brandenburgischen Universitäten Halle, Duisburg, Frankfurt an der Oder und Königsberg gegründet hatten, hielt der Student v. Rochow die Begrüßungsrede. Am Tage der Einweihung selbst begab sich der Kurfürst mit seinem Gefolge in die „Alte Wage“ auf den Marktplatze, übergab den Professoren den mit Bildern geschmückten, für akademische Feierlichkeiten bestimmten Festsaal und die Hörsäle. Von hier bewegte sich der Festzug nach der Domkirche; es beteiligten sich daran etwa 2000 Studenten, von denen 700 damals in Halle studierten. Die Professoren erschienen in langen Talaren oder Chorröcken von verschiedenfarbigem Tuch je nach den Fakultäten; der Hut und Mantel des Rektors waren von feinstem Sammet, mit goldnen Posamenten besetzt. Die Professoren wurden an diesem Ehrentage der jungen Universität von je zwei kurfürstlichen Räten begleitet. Acht Grafen, welche auf der Universität studierten, trugen die Insignien derselben auf acht karmoisinroten, mit goldenen Franzen besetzten Sammetkissen; die zahlreichen Herolde, welche die einzelnen Gruppen des Zuges leiteten, waren Hallesche Bürger von ansehnlicher, gleicher Größe, in gold- und silbergestickten Wappenröcken, auf jedem das Wappen einer Provinz, mit gekrönten, silbernen achtpfündigen Heroldstäben in den Händen und Federbüschen auf den Hüten. Bürger in Waffen bildeten Spalier und alle Glocken läuteten; zudem waren Einrichtungen getroffen, um auf den Estraden allen Abstufungen des Ranges von den Fürstlichkeiten abwärts gerecht zu werden. Nach der Predigt hielt der Geheime Rat von Fuchs die lateinische Festrede und verkündete die Namen der neuangestellten Professoren der „Friedrichsuniversität“, denen dann von dem Staatssekretär Ilgen der Eid abgenommen wurde. Volksbelustigungen beschlossen den festlichen Tag.

Fast alle, welche über die Geschichte der deutschen Wissenschaften geschrieben haben, heben die Bedeutung der Halleschen Universität hervor, die, nach einen Ausspruch Giesebrechts, einen Einfluß auf die Nation ausgeübt, wie man ihn seit der Blütezeit Wittenbergs keiner anderen Universität habe nachrühmen können. [380] Einen unschätzbaren Dienst hat besonders Thomasius den deutschen Universitäten erwiesen, indem durch ihn nicht allein die deutsche Sprache in der gelehrten Litteratur wieder in Uebung gebracht, sondern auch die alleinige Geltung des Lateins auf dem Katheder beseitigt worden ist. Unvergängliche Verdienste hat er sich auch durch seinen Kampf gegen die Folter und die empörenden Hexenprozesse erworben, Verdienste, die auch Friedrich der Große anerkannte, wenn er Thomasius und Leibniz zu den Gelehrten rechnete, welche der deutschen Nation zur Zierde gereichten. Mit dem andern Opfer der Leipziger Achterklärung, mit Francke, geriet Thomasius in Streitigkeiten, denn die geächtete Gefühlsreligion des letzteren verwandelte sich, wenigstens bei seinen Anhängern, immer mehr in Unduldsamkeit und Kopfhängerei. Franckes Verdienste liegen weniger im Bereich der Fakultät, als auf dem Gebiete menschenfreundlicher und erzieherischer Thätigkeit. Die Gründung des Waisenhauses, des Pädagogiums, der Bürgerschule und Lateinischen Schule, des Missionsinstituts für Ostindien sind seine großen Ruhmestitel. Von allen Seiten liefen ihm Unterstützungen für diese jetzt noch blühenden Stiftungen zu, und er selbst wußte durch allerlei geschäftliche Unternehmungen, wie eine Apotheke und eine Buchhandlung, die Mittel für seine guten Zwecke zu vermehren. Neben Thomasius wirkte Stryk als gerühmter Lehrer des römischen Rechts, während jener mehr Naturrecht und Staatsrecht vortrug.

J. A. L. Wegscheider.   August Tholuck.


Wesentlich zum Aufschwung der Universität trug es aber bei, daß sie in Christian Wolff eine bedentende geistige Kraft gewann, welche dem Zeitalter ihr Gepräge fast in gleichem Maße aufzudrücken verstand wie später Hegel dem seinigen. Christian Wolff, am 24. Januar 1679 als Sohn eines Gerbers in Breslau geboren, zeigte schon auf dem Gymnasium das Bestreben, Mathematik und Theologie zu vereinigen. In Jena und Leipzig hat er noch gepredigt, sich aber dann der Philosophie und Mathematik zugewendet, 1706 wurde er ordentlicher Professor beider Fächer in Halle. Sein klarer freier Vortrag in deutscher Sprache sicherte ihm eine stets wachsende Hörerschaft; seine Schriften, in denen er besonders im Anschluß an Leibniz die ganze Weltweisheit in ein System brachte, verschafften ihm einen großen Ruf in den weitesten Kreisen, er gehörte zu den anerkannten Leuchten der deutschen Wissenschaft. Doch dies entwaffnete nicht den Haß seiner Gegner. Die Schüler Franckes waren allmählich eine mächtige und herrschende Partei geworden, und einer derselben, Professor Joachim Lange, wandte sich an zwei Generale in der Umgebung des Königs Friedrich Wilhelm I. und klagte Wolff des Atheismus an. Diese gaben den Rat, Wolff von Halle zu entfernen; sie kannten die empfindlichste Seite des Soldatenkönigs und stellten ihm vor, daß die Wolffsche Lehre vom Fatum, dem Verhängnis, die großen Grenadiere in Potsdam durchzugehen zwinge. Wolff bewiese, daß sie dem Fatum nicht widerstehen könnten und der König also unrecht thue, sie deshalb zu bestrafen. Weil diesem nun damals eben viele seiner blauen Riesen durchgegangen waren, so unterzeichnete er die berühmte strenge Ordre vom 8. November 1723, wonach Wolff als ein Unchrist binnen achtundvierzig Stunden bei Strafe des Stranges Halle zu verlassen habe. Wolffs Bücher wurden wegen ihrer Gottlosigkeit bei Karrenstrafe verboten.

Als der König bei einer Hoftafel die lieblose Gesinnung des Anklägers Lange kennenlernte, ließ er die Schriften Wolffs durch einen Ausschuß von vier lutherischen und reformierten Theologen prüfen; diese erklärten, die gefährlichen Irrtümer, welche Lange darin gefunden, ständen nicht in Wolffs Schriften. Nun bot er Wolff 1739 eine Professur und später das Vicekanzleramt der Universität in Halle an. Doch Wolff, der inzwischen eine Stellung an der Universität in Marburg gefunden hatte, lehnte ab und folgte erst 1740 einem Rufe Friedrichs II., der ihn gleich nach seiner Thronbesteigung als Geheimen Rat und Vicekanzler wieder an der Halleschen Universität anstellte. Später wurde er noch Kanzler (1743) und in den Reichsfreiherrnstand erhoben. Er starb 1754.

Richard Volkmann.   Karl Alfred Gräfe.
Hermann Ulrici.

Gleichen Ruhm hat kein nachfolgender Lehrer der Halleschen Hochschule errungen; aber die Geschichte der deutschen Gelehrsamkeit hat noch eine lange Reihe von Namen in dem vorigen Jahrhundert und in diesem zu verzeichnen, welche der Friedrichsuniversität zur Zierde gereichten; nur waren es großenteils Fachgelehrte, von denen nicht unmittelbar eine große Wirkung auf die allgemeine Bildung ausging. In unserer klassischen Epoche war es besonders der große Altertumsforscher Friedrich August Wolf, seit 1783 Professor in Halle, der mit Goethe in Beziehungen stand, damals der ausgezeichnetste unter seinen Fachgenossen. Nicht bloß durch die meisterhafte Kritik, die er bei Herausgabe der Klassiker übte, nicht bloß durch seine bahnbrechende, wenn auch vielfach angegriffene Theorie von den Homeriden, nach welcher die Homerischen Gesänge „Ilias“ und „Odyssee“ nicht das Werk eines Dichters, sondern Sammlungen von Gesängen mehrerer Rhapsoden darstellen sollten – mehr noch durch seine hohe Auffassung der Altertumswissenschaft überhaupt, die sich nicht auf die Betrachtung der Sprache und der Sprachdenkmäler der Griechen und Römer beschränken, sondern alle Thaten ihres Lebens im Zusammenhang und als ein lebendiges Ganze erfassen solle, kann er als der Schöpfer einer neuen echt wissenschaftlichen Philologie betrachtet werden. Halle wurde durch Friedrich August Wolf auf diesem Gebiete ebenso tonangebend wie durch Christian Wolff auf dem Gebiete der Philosophie. Daneben her gingen die Kämpfe innerhalb der Theologie; die pietistische Richtung vermochte sich gegen den von Johann Semler und den beiden Niemeyer vertretenen Rationalismus nicht zu behaupten, wenn auch einer der flachsten Aufklärer, Bahrdt „mit der eisernen Stirne“, eine Zeit lang in diesen Hallen der Wissenschaft sein Wesen trieb, eine durch litterarischen und sonstigen Skandal berüchtigte Persönlichkeit. [381] Das Wöllnersche Religionsedikt vom Jahre 1788, das jede Abweichung von den Lehren der Symbolischen Bücher mit bürgerlichen Strafen und Amtsentsetzung bedrohte und der akademischen Lehr- und Lernfreiheit den schwersten Schaden bereitete, stieß in Halle auf den heftigsten Widerstand; mit seinen Maßregelungen anders denkender Professoren vermochte der derbe und herrschsüchtige Gewalthaber nicht durchzudringen.

Verhängnisvoller als das innere engherzige Zwangsregiment Wöllners wurde für die Universität die Herrschaft des siegreichen äußeren Feindes, diejenige Napoleons, als er durch die Schlacht bei Jena die Macht Preußens niedergeworfen hatte. Sein Haß richtete sich mit besonderer Heftigkeit gegen die Universitäten als die Brutstätten des rebellischen Geistes. Die milden Anordnungen Bernadottes betreffs der Universität Halle hob Napoleon selbst 1806 auf. Die Universität wurde geschlossen, aber nach Begründung des Westfälischen Königtums wieder eröffnet und der Staatsverwaltung Jeromes unterstellt. Von namhaften Lehrern wanderte Schleiermacher damals nach Berlin aus. Steffens aber, dem glänzenden Beispiel Fichtes in Berlin nacheifernd, blieb und hielt patriotische Vorträge, durch welche die vaterländische Gesinnung, der sittliche Ernst der studierenden Jugend mächtig erregt wurde, ohne daß sie der Staatsgewalt Anlaß zum Einschreiten gegeben hätten. Abermals im Jahre 1813 wurde die Universität auf Napoleons Geheiß geschlossen, doch nach dessen Sturz vom König von Preußen wieder eröffnet und am 6. März 1816 mit der Universität Wittenberg vereinigt unter dem Namen „Vereinigte Friedrichsuniversität Halle-Wittenberg“.

 Anatomiegebäude.

 Universität.
Physiologisches Institut.

Was die äußeren Schicksale derselben im Laufe dieses Jahrhunderts betrifft, so ist das wichtigste wohl die Uebersiedlung aus der „Alten Wage“ in das neuerbaute Universitätsgebäude, dessen Einweihung am 31. Oktober 1834 vollzogen wurde. Dies neue Gebäude ist auf dem Platze errichtet, wo früher das Schauspielhaus stand und der städtische Trockenplatz sich befand. Die Wissenschaft hatte bisher fast nur zur Miete gewohnt – jetzt war ihr ein neues selbständiges Heim gegründet; doch wurde der ursprüngliche von Schinkel entworfene Plan nur unvollständig ausgeführt, denn die beiden Seitenflügel, welche dem Hauptbau beigefügt werden sollten, fehlen bis heute; sie waren für die Bibliothek und die Verwaltung der Universität bestimmt und für beides mußte durch selbständige Bauten gesorgt werden. Im Jahre 1842 wurde eine allen wissenschaftlichen Anforderungen genügende Klinik errichtet; doch erst in den Jahren 1874 bis 1886 erstanden auf der von der Regierung angekauften sogenannten Maillenbreite jene Kliniken, welche zusammen mit anderen wissenschaftlichen Anlagen ein großartiges Gebäudeviertel bilden: die chirurgische Klinik mit fünf, die medizinische mit vier Blocks und einem Isolierhause, die geburtshilfliche Klinik, die Augen- und Ohrenklinik, die Anatomie, die physiologische und pathologische Anstalt. Abgesondert von diesen wurde 1892 eine Pflegestätte für die Nerven- und Geisteskranken geschaffen, ein aufs reichlichste ausgestatteter Bau wie kaum ein anderer an den preußischen Universitäten. Ein neues Bibliothekgebäude wurde 1878 bis 1882 gebaut. Das seit 1865 bestehende landwirtschaftliche Institut wurde 1876 bis 1879 durch neue Wirtschaftsgebäude erweitert; zahlreiche andere Bauten für Sammlungen und Verwaltungszwecke schlossen sich an.

Mit dieser äußeren glanzvollen Entwicklung, durch welche gerade in den letzten Jahrzehnten die Hallesche Universität vor mancher Schwesterakademie den Vorsprung gewann, ging Hand in Hand ein reges geistiges Leben. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts waren es die theologischen Kämpfe, welche die Geister aufs lebhafteste bewegten: auf der einen Seite freisinnige Professoren, ein Wegscheider und Gesenius, wenn auch zum Teil auf dem Standpunkte einer beschränkten Aufklärung stehend, auf der anderen Seite ein Tholuck als Vertreter „gläubiger“ Anschauungen, die er mit Geist und Ironie verfocht. Heinrich Leo, der Geschichtschreiber der italienischen Freistaaten, der eine Weltgeschichte verfaßte vom Standpunkte der äußersten Rechten, war ein Poltergeist, der jahrzehntelang durch seine Kraftausdrücke und neuerfundenen Stichwörter Aufsehen erregte. Im schroffsten Gegensatz zu ihm stand der junge Privatdocent Arnold Ruge, der hier 1838 die einflußreichen „Halleschen Jahrbücher“ gründete. Auch die ältere Hegelsche Richtung gab bis in die neueste Zeit hervorragende Vertreter in Hinrichs, Schaller, Erdmann und Haym, einem geistvollen Litterarhistoriker. Abseits stand Ulrici, der Erläuterer Shakespeares, Kunsthistoriker und Schöpfer einer Philosophie, deren Hauptwerk „Gott und die Natur“ in weiten Kreisen Anklang fand.

Alle Fakultäten hatten bis in die neueste Zeit in Halle ausgezeichnete Kräfte: wir nennen den vor wenigen Jahren verstorbenen Chirurgen Volkmann, der sich als Richard Leander auch als Dichter einen Namen gemacht hat; den Vetter des berühmten Albrecht von Gräfe, den vortrefflichen Augenarzt Karl Alfred Gräfe, der sich allerdings seit Jahren von der Universität zurückgezogen hat; den hervorragenden Strafrechtslehrer v. Liszt, den trefflichen Pandektisten Fitting – wir müßten tiefer eingreifen in die Geschichte der Wissenschaften, als es uns hier möglich ist, um alle die Namen aufzuführen, die der Friedrichsuniversität, deren Frequenz in diesem Semester 1528 Studierende beträgt, zur Zierde gereichten und noch gereichen.

Allen denen aber, die einst an den Quellen der Alma mater Fridericiana ihren Wissensdurst gestillt haben, wird in den Jubeltagen dieses Sommers[3] das Bild der lieben alten Saalestadt in besonderem Glanze vor der Seele schweben, und gerne werden sie bei den Ausschnitten aus diesem Bilde verweilen, welche die „Gartenlaube“ ihnen vor Augen führt (S. 377). Da thut er sich auf, der geräumige Marktplatz mit der schon genannten „Alten Wage“ und dem Rathaus, mit den kühn zum Himmel emporstrebenden Markttürmen; es sind dies die Türme der Marienkirche und dann der „Rote Turm“, an dessen Fuß das alte Sinnbild der Marktfreiheit und des Gerichtsbanns, eine Rolandsäule, über den weiten Platz [382] mit seinem Siegesbrunnen und seinem Händeldenkmal hinwegschaut. Da erscheinen sie wieder, die reizenden Ansichten am Strom entlang, die Bergschenke gegenüber Giebichenstein, das Saaleschlößchen, die Felsenburg bei den Saalefelsen und wie die lieblichen, meist auch „trinkbaren“ Stätten alle heißen. Als eine Erinnerung aus alten Tagen ragt der „runde“ oder „Leipziger Turm“ in die Gegenwart herein; ein besonders stattliches Denkmal der Vergangenheit aber, die künstlerisch und geschichtlich gleich bedeutsame Moritzburg, wird nicht nur bei der Jubelfeier selbst von festlichem Getriebe widerhallen, sie ist auch berufen, künftig mehr als bisher in den Dienst der akademischen Jugend gezogen zu werden. Die Magdalenenkapelle, die alte Burgkirche, wird zu einem Universitätsgotteshause hergerichtet und innerhalb der Burg sollen Reit-, Turn- und Fechthallen angelegt werden, dem ganzen Bau zugleich Sicherheit für seine würdige Erhaltung gewährend. So wird die heilige Elisabeth mit den Rosen, deren Bild über dem Haupteingang zur Moritzburg thront, wieder wie einst dem Klingen und Klirren ritterlicher Spiele lauschen.

Der Halleschen Hochschule aber wünschen wir, daß sie noch lange blühen möge als ein Hort deutschen Geisteslebens, als eine jener befruchtenden Quellen, von denen der Segen ausströmt auf die jüngeren und älteren Zeitgenossen und die kommenden Geschlechter.




Das Trinken auf Ausflügen.


In dem Steuerjahre 1892/93 haben die Deutschen 5 Milliarden 456 Millionen Liter Bier getrunken. Gegen das Vorjahr hat der Bierverbrauch zugenommen, und diese Zunahme war in einigen Staaten recht bedeutend, betrug sie doch in Württemberg 14,3 und in Bayern 7,9 Liter auf den Kopf der Bevölkerung. Wir haben keinen Grund, über diese Erfolge des Königs Gambrinus uns zu freuen. Als im vorigen Herbste die deutschen Naturforscher und Aerzte in Nürnberg tagten, hielt Professor Adolf Strümpell einen überaus lehrreichen Vortrag über die Alkoholfrage und wies dabei mit besonderem Nachdruck auf die Gefahren hin, welche ein übermäßiger Biergenuß der Gesundheit bereitet.

Nichts ist vom ärztlichen Standpunkt aus falscher, so etwa lauteten die Ausführungen des erfahrenen Arztes, als zu glauben, daß die zunehmende Verdrängung anderer alkoholischer Getränke durch das Bier den verderblichen Einfluß des Alkoholismus vermindern werde, daß letzterer seine Opfer vorzugsweise nur in denjenigen Ländern finde, wo der Branntwein einem auf niedriger Kulturstufe stehenden Volke helfen soll, seine Armut und seine Not zu vergessen. Nein, unter der täuschenden Maske eines scheinbar wohlschmeckenden und dabei noch nahrhaften Genußmittels hat der Alkohol seinen verderblichen Eingang gefunden in Kreise, die ihm sonst vielleicht ganz verschlossen geblieben wären.

Während schon das Wort „Schnaps“ in guter Gesellschaft ungern genannt wird, während man mit dem Begriff eines Branntweintrinkers überall den Gedanken an einen sittlich verkommenen, seinem geistigen und körperlichen Verfall sich unaufhaltsam nähernden Menschen verbindet, herrschen über den Biergenuß fast allgemein Ansichten, welche jeder vernünftigen und vorurteilslosen ärztlichen Ansicht zuwiderlaufen.

Was einen überreichlichen Biergenuß gesundheitsschädlich macht, ist nicht allein die dem Körper zugeführte Menge des Alkoholgiftes. Durch das Biertrinken wird der Körper mit verhältnismäßig großen Massen von Flüssigkeit überschwemmt. Die Blutmenge eines gesunden Erwachsenen beträgt etwa 5 kg oder 5 Liter; daraus erhellt aber, wie ungemein der Körper bei einem Biergelage mit überflüssigen Wassermassen belastet wird. Zwei Organe müssen vor allem das gestörte Gleichgewicht wiederherstellen, das Herz und die Niere, und beide sind auf die Dauer nicht imstande, die ihnen zugemutete Arbeitsleistung ohne Schaden zu bewältigen; beide erkranken, und „Bierherzen“ sowie „Biernieren“ kommen leider unter der biertrinkenden Bevölkerung immer häufiger vor.

Namentlich die Belastung des Herzens muß zu ernsten Besorgnissen Anlaß geben, denn immer mehr wird es klar, daß unser Kulturleben die Entstehung von Herzleiden, namentlich aber die krankhafte Herzvergrößerung ungemein begünstigt. Schon die angestrengte körperliche Arbeit, die Aufregungen, die mit dem scharfen Kampfe ums Dasein verbunden sind, legen den Grund zu diesem schlimmen Leiden, und ebenso wird es durch das Gegenteil, durch zu viel Ruhe des Körpers, durch sitzende Lebensweise gefördert. Darum werden von der Krankheit alle Stände des Volkes befallen und mit Recht hat man sie auf dem jüngsten medizinischen Kongreß in Rom eine „Kulturkrankheit unserer Zeit“ genannt.

Es ist schwierig, ja oft unmöglich, ein krankes Herz wieder gesund zu machen; wir sollten darum mit aller Kraft dafür sorgen, daß die Herzschwächung nicht eintritt oder wenigstens keine weiteren Fortschritte macht. Allerdings ist auf diesem Gebiete in wissenschaftlicher Beziehung noch viel nachzuholen, denn die Hygieine des Herzens ist gegenüber derjenigen anderer Organe wie z. B. der Lungen und der Sinneswerkzeuge noch sehr vernachlässigt. Um so wichtiger ist es deshalb, daß die bereits bekannt gewordenen Schädigungen des Herzens vermieden werden.

Für die große Zahl der Stadtmenschen, die mehr oder weniger zur sitzenden Lebensweise verurteilt sind, bilden körperliche Uebungen und Ausflüge ein treffliches Mittel zur Beseitigung aller Blutstockungen und zur Stärkung des Herzens. Leider aber werden kürzere Spaziergänge und längere Ausflüge nur zu häufig mit einem unmäßigen Trinken verbunden, gestalten sich zu Bierreisen in die umliegenden Dörfer. Das Bier bildet bei dieser Gelegenheit nicht allein ein Genußmittel, sondern es ist einfach als Mittel zum Löschen des Durstes an Stelle des Wassers getreten. Durch die Verbreitung der bakteriologischen Lehren über die Uebertragung verschiedener Krankheiten durch schlechtes Trinkwasser sind viele Menschen geradezu wasserscheu geworden und hüten sich wohl, namentlich in kleinen Ortschaften, Wasser aus fremden Brunnen zu trinken. So sehen sie sich auf Ausflügen nach einem anderen Getränk um, und überall drängt sich ihnen das Bier auf. Bier ist überall, selbst in der kleinsten Dorfschenke, zu haben, während der Kaffee nicht immer bereit dasteht und auf Bestellung nur zu oft in recht unzulänglicher Beschaffenheit verabreicht wird, Mineralwässer dagegen infolge ihres Gehaltes an Kohlensäure nicht immer gut bekommen und außerdem verhältnismäßig teuer sind. Es ist nicht anders: man ist auf Ausflügen geradezu auf das Bier angewiesen.

Dabei löscht das Bier den Durst sehr unvollkommen; man könnte eher sagen, daß es ihn erregt, und so sieht man sich genötigt, wenn man einmal angefangen hat, dem einen Glase ein zweites und diesem ein drittes oder noch weitere folgen zu lassen. Bei einer derartigen fortgesetzten Ueberschwemmung des Körpers mit Flüssigkeit wird jede Entlastung und Stärkung des Herzens durch die Bewegung im Freien wieder völlig aufgewogen. Leider schließt sich auch die Jugend dem Beispiel der Erwachsenen an, und sommerliche Ausflüge werden für sie zur Vorschule des Biertrinkens.

Und doch giebt es ein einfaches Mittel, durch das wir uns von der Tyrannei des Bieres auf längeren Ausflügen befreien können. Man führt eben eine Feldflasche mit, die zu Hause mit gutem Trinkwasser, das mit etwas Citronensäure versetzt ist, oder mit leichtem Kaffee gefüllt wird. Das sind Getränke, die in ausgezeichneter Weise den Durst löschen; oft genügt ja auch eine Ausspülung des Mundes mit Wasser, um das Durstgefühl für lange Zeit zu bannen. Kehrt man alsdann im Wirtshaus oder Biergarten ein, so trinkt man sein Glas Bier als Genußmittel, fühlt aber kein Bedürfnis, seinen Körper unmäßig mit Flüssigkeit zu beladen.

Leider erscheint das Mittel vielen zu einfach, so daß sie davon keinen Gebrauch zu machen belieben. Wer aber ein wenig nachdenkt, der wird auf Ausflügen sicher weniger trinken, um durch die Bewegung im Freien nicht nur den Stoffwechsel anzuregen, der Lunge frische Luft zuzuführen, sondern auch das fleißige, Tag und Nacht arbeitende Herz zu entlasten. C. F.     




Die verlorene Tochter.

Humoreske von Ernst Wichert.
(Schluß.)


Schöneberg ahnte nicht, wie sehr er seinen Schwager und Frau Ida durch seine Zeitungsneuigkeiten störte. „Wieder in einer Woche fünf Selbstmorde,“ rief er. „Die reine Epidemie!“

Opitz nickte nur. Dann seufzte er. „Man wird das Junggesellenleben satt. Alles muß seine Zeit haben. Können Sie mir das verdenken?“

„Was, Herr Opitz?“ fragte Ida.

„Ich sagte es ja. Die Freiheit ist ganz schön, aber immer allein … und ich bin im Grunde ein Mensch, der sich gern anschließt. Fragen Sie meine Schwester!“

„Ach – Sie denken wirklich ans Heiraten?“

„In der Hagenbeckschen Menagerie ist ein Löwe ausgebrochen,“ teilte Schöneberg mit. „Sie haben ihn aber wieder,“ fügte er zur Beruhigung hinzu.

„Freut mich,“ bemerkte Opitz ärgerlich. „Nicht so wild ’rein, Frau Ida, wie ein jünger Sausewind, sondern nach gehöriger Erwägung und Herzensprüfung.“

„So haben Sie schon eine Wahl getroffen? Da bin ich doch neugierig.“

„Werde Ihnen schwerlich ’was Neues erzählen, Frau Ida – ha ha!“

Sie sah lächelnd von der Arbeit auf. „Neulich standen Sie so lange vor meinem Schaufenster. Da suchten Sie wohl schon etwas für die Künftige aus.“

[383] „Das macht meine Künftige sich selbst,“ schmunzelte er. „Ein reizendes Schaufenster, das muß wahr sein. Alle die allerliebsten Sächelchen, aus Gaze, Spitzen, Federn und Blumen wie zusammengehaucht! Ich bleibe da allemal gern stehen, wenn ich zu meinem Schwager gehe, und denke an die zierlichen Fingerchen, die so wundersam geschickt sind, und bemühe mich auch, durch das große Spiegelglas zu gucken, ob ich einen Blick von den schönen Augen erhasche –“

„Aber Herr Opitz!“ fiel sie verschämt ein.

„Wieder zwei Häuser eingestürzt!“ rief Schöneberg. „Das kommt von dem unsoliden Bauen her.“

Ida wendete das Köpfchen ein wenig zurück. „Sie scheinen sich nur für Unglücksfälle zu interessieren, Herr Schöneberg,“ bemerkte sie spitzig.

„Pah! Wenn einem so wohl ist!“ erklärte er.

„Lassen Sie ihn,“ bat Opitz. „Was geht es uns an! Hier handelt es sich um einen Glücksfall, Frau Ida. Nämlich, wenn Sie … ich glaube, es wäre ein ganz solider Bau.“

Sie lächelte ihre Handarbeit an. „Wovon sprechen Sie?“ fragte sie sehr hold.

Er bemühte sich, ihr das auf allerhand Umwegen zu erklären, und rückte endlich näher. „Ich habe zum Beispiel an eine junge Witwe gedacht – verstehen Sie?“

„Ich weiß nicht …“

„Und wenn sie mir etwa ein kleines Mädel mitbrächte, das sollt’ es bei mir nicht schlecht haben.“

„Herr Opitz!“ Sie ließ jetzt ein Weilchen die Hände ruhen und schenkte ihm einen dankbaren Blick.

„Ja, ja, ja!“ zischelte er ganz entzückt, „das ist meine Meinung, Frau Ida, so ein Mensch bin ich nun einmal.“

Es schien nur noch ein ganz kleiner allerletzter Schritt zu gegenseitigem vollen Verständnis zu fehlen. Hätte Schöneberg seinem Schwager noch eine Minute Zeit gelassen! Aber da fiel sein Auge gerade auf eine ihn besonders interessierende Nachricht, die ihm denn auch die schläfrigen Lider nochmals hob. „Du, Hermann,“ sagte er, „das ist ’was für Dich.“

„Will ich meinen,“ antwortete Opitz, der in diesem Augenblick nur an Ida dachte.

„Soldatenschinderei! Natürlich freigesprochen! Du bist ja auch Unteroffizier gewesen und verstehst etwas davon.“

„Laß die dummen Witze!“

„Du hast wohl auch immer ohne Schmerzgefühl gehauen?“

„Ich dachte, Du schliefest lange.“

Schöneberg gähnte. „Das könnte Dir gefallen. Ich muß doch auf Dich aufpassen. Mit einer schönen jungen Frau – man kennt Dich.“ Wieder ein herzliches Gähnen. „Aber wahrhaftig wenn mir ’was Menschliches begegnen sollte … nehmen Sie mir’s nicht übel, Frau Döbler – nur ein Viertelstündchen!“

„Sie waren Soldat?“ fragte Ida.

„Bei der Feldartillerie,“ antwortete er. „Aber Schöneberg zieht mich auf: ich hab’s bloß bis zum Gefreiten gebracht. Wozu hätt’ ich auch länger dienen sollen? Ich konnte ja mein eigenes Brot essen. Und das reicht auch für zwei und drei, Frau Ida. Was Sie aus dem Putzgeschäft erübrigen, wenn Sie’s nicht eingehen lassen wollen – na, das ist für sich. Sie müssen sich doch auch manchmal recht einsam fühlen, nicht wahr?“

Ida seufzte kaum hörbar. „Natürlich – wie es sein könnte … Man muß vorlieb nehmen.“

„Aber das haben Sie doch nicht nötig, Frau Ida!“ Er schielte nach seinem Schwager hin. Dem war die Zeitung über das Gesicht gefallen, und die schnarchenden Töne, die darunter vordrangen, lieferten den vollen Beweis, daß er endlich eingeschlafen war. Diese Gewißheit gab Opitz den Mut, der jungen Witwe die Hand über den Tisch hinzustrecken.

„Ja, was wollen Sie denn?“ fragte sie verschämt.

„Ihre Hand.“

„Sie sind närrisch.“

„Schlankweg Ihre Hand, Frau Ida.“

„Wenn man uns beobachtet –“

„Das thut nichts. Ich mein’s ganz reell.“ Er blickte sie bittend an. „Na – geben Sie mir Ihre Hand!“

Sie that’s, aber mit der schalkhaften Frage: „Können Sie besser wahrsagen als der Zigeuner?“

„Ja, Frau Ida. Einen jungen schönen feinen Mann kann ich Ihnen nicht versprechen, aber …“ Er wendete ihre Hand, streckte sie auf der seinen aus und streichelte sie. „Ach Gott, eine so allerliebste weiche kleine Hand!“ Aufstehend beugte er sich über den Tisch und küßte sie eifrig. Dann blickte er auf. „Kann ich die nun behalten?“

Ida suchte sich loszumachen, ohne doch viel Kraft anzuwenden. „Ach gehen Sie!“

„Wenn ich Ihnen aber sage, Frau Ida, daß ich ganz toll verliebt in Sie bin –“

„Es ist ja dummes Zeug.“

„Wozu aber? Wenn Sie wollen, ist es ganz vernünftiges Zeug. Und so ganz gleichgültig bin ich Ihnen doch auch nicht gewesen. Bekennen Sie nur!“

„Lassen Sie mich los!“

„Nun erst recht nicht!“ Er schwang sich über den Tisch und setzte sich zu ihr.

„Was soll Herr Schöneberg davon denken?“

„Ach, der schläft.“ Er umfaßte sie. „Frau Ida!“

„Sie sind so stürmisch.“

„Heut’ oder nie! Sehen Sie mir ’mal in die Augen! Da liegt Herz drin – was? Fest in die Augen!“

Sie that ihm den Gefallen. „Ich kann noch immer nicht glauben –“

„Geben Sie mir einen Kuß, Idachen, und die Sache ist abgemacht.“ Er zog sie an sich.

Sie wehrte sich schwach. „Nein, nein –“

„Ja, ja!“ Er küßte sie. „Abgemacht!“

Sie hatten nicht bemerkt, daß Frau Schöneberg und Frau Streckebein sich vom Hause her näherten und jetzt verwundert zuschauten. „Was geht hier vor?“ riefen die beiden Damen wie aus einem Munde, und die Frau Sekretär fügte ein vorwurfsvolles „Ida!“ hinzu.

Ida war aufgesprungen. „Ach – Herr Opitz ist ganz närrisch,“ sagte sie.

„Mein schüchterner Bruder scheint sich endlich ein Herz gefaßt zu haben,“ bemerkte Frau Schöneberg. „Na, seid Ihr einig?“

„Einig? Was soll das heißen?“

Opitz trat heran. „Frau Sekretär, wenn Sie nichts dagegen haben …“ Er faßte Idas Hand.

Sie ließ es geschehen. „Was sagst Du nun dazu, Mama?“ fragte sie.

Frau Streckebein begriff endlich. Sie wurde sehr gerührt. „Kinder,“ wisperte sie, „mir kann’s ja schon recht sein. Aber so überraschend … wenn nur nichts nachkommt!“

„Und mein Alter schläft den Schlaf des Gerechten,“ rief Rosine, die Hände zusammenschlagend. Sie nahm ihm das Zeitungsblatt vom Gesicht und rüttelte ihn am Arm. „Du, Schöneberg, wach auf! Du verschläfst die Verlobung!“

Er raffte sich auf. „Die Verlobung – was, was, was?“ Eben hatte er etwas sehr Schreckhaftes von seiner Tochter geträumt. „Aber da soll doch –“

„Zieh’ den Rock an und gratuliere,“ sagte seine Frau, über seine Verschlafenheit lachend. Sie half ihm. Schöneberg sah Opitz und Ida Hand in Hand stehen. Nun erst wachte er recht auf. „Ach, Ihr beide. Ich dachte schon … Seht doch einmal! Man kann Euch nicht zehn Minuten aus den Augen lassen. Na – meinen Segen habt Ihr.“

Frau Streckebein hatte sich indessen überall umgesehen. „Wo ist denn Lieschen?“ fragte sie.

Nun blickte auch Ida nach allen Seiten. „Lieschen?“

„Ja, die geht’s doch eigentlich auch an. Wenn das Kind einen neuen Vater bekommen soll …“ Sie rief nach dem Hause hin: „Lieschen!“

„Die Kleine war doch eben noch hier,“ meinte Schöneberg.

Seine Frau gab ihm einen Schlag auf die Schulter. „Du hast ja geschlafen.“

Die Frau Sekretär wurde sichtlich unruhiger. „Ihr müßt doch aber von dem Kinde wissen,“ wendete sie sich zu dem Paar.

„Ich glaubte, Lieschen sei mit Dir ins Haus gegangen,“ entschuldigte sich Ida.

„I, Gott im Himmel,“ rief die alte Dame, „wie kann man so etwas glauben! Man hat doch Augen, zu sehen. Vielleicht ist sie im Stall bei den Pferden – oder am Brunnen … man kann’s gar nicht ausdenken.“ Sie hielt denn auch die Hand vor die Augen und rief wieder: „Lieschen!“

[384] „So lange wir hier am Tisch sitzen –“ sagte Opitz, der eigentlich nicht recht wußte, was er sagen sollte.

„Ich kann mir ja ungefähr denken,“ fiel sie ihm erregt ins Wort, „daß Sie Ihre Gedanken anderswo gehabt haben. Aber daß eine Mutter so ganz und gar ihr Kind außer acht läßt ...“

Opitz war schon fortgeeilt. Er öffnete die Stallthür und sah am Brunnen nach. Vergeblich. Als er zurückkam, gingen die Wogen schon hoch. Die Frau Sekretär lief hin und her. „Aber wo ist Lieschen nur? Lieschen! Lieschen!“

„Aengstige Dich doch nicht,“ bat Ida.

„Nicht ängstigen! Mich wundert, daß Du Dich nicht ängstigst. So ein unmündiges Kind! Lieschen ist ja doch nirgends zu sehen, und auf meinen Ruf antwortet sie nicht. Lieschen!“

Opitz erbot sich, ein Stück in den Wald hineinzugehen und nach ihr zu suchen. Die Frau Sekretär wollte wissen, daß er eine Meile lang und breit sei. „Wenn das Kind sich verlaufen hat, weiß man ja gar nicht, in welcher Richtung! Ach das arme Dingelchen!“

„Aber Liese wird sich doch nicht so weit entfernen,“ meinte Frau Schöneberg. „Gewiß pflückt sie mit Martha Blumen.“

Frau Streckebein hörte nur das letzte Wort. „Blumen! Und ein paar Minuten von hier ist ein Sumpf, wie mir die Wirtin erzählt hat. Wer da hineingerät, ist verloren. Und weiter der Schwarze See, ganz auf Moorgrund! An Sümpfen wachsen die schönsten Blumen, das weiß jedes Kind – die Vergißmeinnicht stehen immer halb im Wasser. Wenn man mit den Füßen einsinkt, kann man nicht mehr heraus. Sie mag auch beim Bücken mit dem Kopf …“ Ein kalter Schauer überlief sie. „O, mein Himmel!“

„Das sind doch aber alles bloß Vermutungen,“ meinte Schöneberg. „Und wenn Martha mit ist –“

„Wenn!“

„Wo liegt denn der schreckliche Sumpf?“ fragte Rosine. „Jetzt im Sommer ist er gewiß auch ausgetrocknet.“

„Solche Waldsümpfe trocknen niemals aus,“ versicherte die Frau Sekretär. „Es bildet sich aber eine Moosdecke darüber, die man für ganz vertrausam hält. Und was hat so ein Würmchen für Erfahrung! Wenn sie eingesunken ist und Martha hat ihr helfen wollen, können sie beide … o, Herr Opitz, laufen Sie und schreien Sie fortwährend! Ich möchte ja selbst, aber mir zittern die Knie.“ Sie ließ sich ganz aufgelöst auf die Bank nieder. „Ich weiß gar nicht mehr, wo ich meine Gedanken habe.“

Opitz wollte sich nur noch bei der Wirtin genauer nach der Richtung erkundigen. Das that er und eilte dann in den Wald. Ida, die nun auch unruhig geworden war, suchte das Gebüsch ab.

„Neulich war so ein Fall mitgeteilt,“ wimmerte Frau Streckebein, „wo eine Schule spazieren geht und ein Mädchen bleibt zurück und pflückt Blumen am Teich, und wie sich die andern umsehen, ist es verschwunden.“

Schöneberg schlug mit der Hand in die Luft. „In der nächsten Nummer stand ja, daß kein Wort davon wahr gewesen sei!“

„Aber es hätte doch können …“ Plötzlich sprang die alte Dame auf und stieß einen Schrei aus.

„Na?“ knurrte Schöneberg. „Man wird ganz nervös.“

„Der Zigeuner! Es sind Zigeuner im Walde. Sie haben das Kind gestohlen.“

„Aber ich bitte Sie –“

„Ist das etwa nicht möglich? Man liest alle Tage in den Zeitungen von gestohlenen Kindern. Die Zigeuner verstecken sie, bis sie weit fort sind, und richten sie dann zu Kunststücken und zum Betteln ab. Der Kerl, der sich erst hier herumtrieb, sah ganz so aus. Gewiß hat er das hübsche Kind bemerkt und in den Wald gelockt. Mein Lieschen auf dem Seil – ach Gott, ach Gott!“ Ida wollte etwas einwenden aber ihre Mutter fuhr sie gleich an: „Du rede nur gar nicht! Wenn ich so wenig auf Dich aufgepaßt hätte, als mir mein letzter seliger Mann einen Antrag machte –“

„Mama!“

„Man muß sogleich zur Polizei. Sie soll den Wald absperren, das Zigeunervolk nicht herauslassen. Wenn unser Kutscher sich aufs Pferd setzt und nachreitet, holt er vielleicht die Räuber noch ein. Ganz nüchtern freilich war er nicht mehr.“

Inzwischen war die Wirtin aus dem Hause gekommen und herangetreten. Das Lamentieren der alten Dame machte ihr sichtlich Spaß. „Aber meine Herrschaften,“ sagte sie nun lachend, „machen Sie sich doch des Kindes wegen nur gar keine bange Gedanken. Als ich das Geschirr abräumte, sah ich das kleine Fräulein mit dem großen Fräulein dort in den Wald gehen.“

„Na, da haben wir’s,“ rief Schöneberg. „Vielleicht ist unsre Martha auch von den Zigeunern gestohlen.“

Frau Streckebein fühlte sich ein klein wenig erleichtert. „Spotten Sie nur,“ sagte sie, sich mit dem Tuch Kühlung zufächelnd. „Man kann noch nicht wissen –“

„Wo Martha sich mit dem Kinde eigentlich herumtreibt,“ fiel Frau Schöneberg ein. „Um Erlaubnis, fortgehen zu dürfen, hat sie mich nicht gebeten.“

Die Wirtin kicherte. „I, wo wird sie auch! Der junge Herr, der mit dem Zweirad angekommen ist, hat ihr ja so lange gewinkt, bis sie ihm auf dem Wege dort nachgegangen ist.“

„Was, was? Herr Vanhusen?“

„Ich weiß nicht, wie er heißt.“

„Aber er empfahl sich doch längst,“ sagte Schöneberg ganz verblüfft.

„Unerhört!“ rief seine Frau. „Ist das Mädel toll? Mit einem wildfremden Menschen!“

Schöneberg richtete sich auf. „Glaubst Du mir nun, daß der anbandelt, Rosine?“

Er imponierte ihr aber gar nicht. „Das kommt von Deinem unzeitigen Schlafen her,“ schalt sie. „Wenn Du hübsch aufgepaßt hättest –“

Er duckte den Kopf. „Nun geht’s gegen mich los!“

Frau Streckebein trocknete den Schweiß von der Stirn. „Mir ist doch ganz wohl, daß wenigstens ein Mann dabei war,“ sagte sie.

Nun war aber Frau Schöneberg ganz aufgeregt. „Du mußt ihnen sogleich nachgehen,“ rief sie ihrem Mann zu, „so etwas schickt sich doch nicht. Ich bin gewiß nachsichtig – aber so etwas schickt sich doch nicht.“

Darin stand die Frau Sekretär ganz auf ihrer Seite. „J[...] junge Leute miteinander allein zu lassen, ist immer bedenklich[,“] meinte sie. „Meine Cousine Fritze hatte eine Tochter –“

„Geh doch nur,“ sagte die besorgte Mutter. „Es ist ja Unsinn, aber –“

„Da kommen sie schon wieder,“ zischelte die Wirtin, d[ie] hinter das Gebüsch getreten war und ein wenig ausgespäht hatte. „Na, die Schelte!“

Vanhusen und Martha schlenderten wirklich Arm in Arm den Waldweg entlang. Er trug um den Hut einen Kranz von zusammengesteckten Lindenblättern, eine ebensolche Schärpe über der Schulter. Auch Martha hatte sich mit Laub geschmückt und sah wunderhübsch aus. Das verkannte der junge Maler gewiß nicht, der seine Hand anf die ihrige gelegt hatte – der Handschuh war abgezogen – und sie von der Seite her aus möglichster Nähe mit verliebten Blicken betrachtete. Seine kühnsten Erwartungen hatten sich erfüllt; es war ihm gelungen, Martha zu überzeugen, daß man sich keinen größeren Gefallen thun könne, als den Schatten einer alten Linde aufzusuchen, die nicht weit vom Wege und doch durch Gebüsch gegen denselben gedeckt auf einer kleinen Waldwiese stand. Er hatte für sie von den tief herabreichenden Aesten Laub gepflückt und sie durch die Arbeit des Kranzflechtens seßhaft gemacht. Er konnte sich dann neben ihr ins Gras niederlassen und sein Herz erleichtern. Sie lauschte mit willigem Ohr und glaubte nur zu gern seinen Liebesbeteuerungen: wie es ihm gleich bei der ersten Begegnung zur Gewißheit geworden sei, sie oder keine andere, und wie er nun nicht ruhen wolle, bis er sie ganz sein eigen nennen dürfe. Sie hatte ihm gestehen müssen, daß sie ihm sehr gut sei und sich das Leben ohne ihn gar nicht mehr recht denken könne. Und als sie dann seinen Hut bekränzte, war sie kaum sehr erschrocken darüber gewesen, daß er nicht nur ihre Hände, sondern auch ihren Mund küßte und sie in die Arme schloß und gar nicht mehr freigeben wollte. Dann waren sie einig geworden, daß ihre Liebe nicht länger Geheimnis bleiben dürfe; Martha wollte sich noch denselben Abend der Mama entdecken, und Albrecht sollte am andern Tage mit dem Papa sprechen. Der Himmel hing ihnen voller Geigen; am liebsten hätten sie noch ein paar Stunden unter der alten Linde gesessen und der wundersamen Musik zugehört. Nun hatten sie nur zu bedauern, daß der Heimweg so gar kurz sei. Schon wurde das Dach des „Eulenkruges“ zwischen den Stämmen sichtbar. Martha versuchte ihre Hand fortzuziehen. Mit einem zärtlichen Blick sagte sie: „Ich kann Dir meinen Arm nicht länger lassen – wir sind gleich am Hause.“

[385]

Original im Besitz von J. Wild in München.

Das verlassene Mägdlein.
Nach einem Gemälde von F. Leeke.

[386] Er seufzte. „Wir sollten noch einmal umkehren –“

„Nein, nein! Wir sind gewiß schon sehr lange fortgeblieben. Die Zeit vergeht so rasch . . .“

Er umfaßte sie. „Dann schnell noch eine herzliche Umarmung –“

Sie wehrte nicht ernstlich ab. „Aber Du versprachst ja, ganz artig zu sein, bis die Eltern von allem wüßten.“

„Meinetwegen können sie sogleich erfahren –“

„Das geht doch nicht – der andern wegen. Es ist vielleicht besser, wir trennen uns jetzt, und Du – und Sie gehen von der anderen Seite um das Haus herum, damit man gar nicht merkt –“

Zu spät! Eben traten Schöneberg und Frau mit erhitzten Gesichtern hinter dem Gebüsch hervor und auf das Paar zu.

„Aber Martha!“

„Bombenelement! Was soll das bedeuten?“

Sie hatte sich erschrocken losgemacht und stand nun ganz feuerrot da, den Blick zur Erde senkend; der Maler faßte sich rasch. Eigentlich war es ihm ganz lieb, daß diese Ueberraschung zu einem Aussprechen auf der Stelle nötigte. Er lächelte, zupfte das Bärtchen, nickte Martha vergnügt zu und verbeugte sich vor den beiden Alten. „Herr Schöneberg –“

„Papperlapapp! Herr Schöneberg!“ fiel der aber zornig ein. „Sie sind ein hinterlistiger Mensch, Sie! Ich lasse meine Frau nicht malen und meine Tochter nicht umarmen – verstehen Sie?“

Vanhusen ließ sich nicht einschüchtern. „Aber wenn ich Ihnen sage –“

„Schweigen Sie und schämen Sie sich!“ rief der Rentier, indem er seine weiße Weste ruckweise über das runde Bäuchlein hinabzog. „Wie kommen Sie dazu, meine Tochter in den Wald zu entführen?“

„Das will ich Ihnen ja eben erklären, mein werter Herr.“

„Erklären! Sie wollen mir erklären? Sie mir? Das ist impertinent. Was sagst Du dazu, Rosine? Er will mir erklären –“

„Aber so schrei’ doch nicht so!“ mahnte sie. Es war ihr, als ob die spitze Nase der Frau Sekretär schon um das Gebüsch lugte.

Martha warf sich an ihre Brust. „Ach, Mama, wir lieben einander so sehr,“ rief sie.

Vanhusen trat vor. „Ja, Herr Schöneberg,“ bestätigte er, „ich liebe Fräulein Martha.“

„Das sollen Sie nicht, Herr!“ schrie der Alte ihn an. „Verstehen Sie mich? Lieben! Das kann jeder. Sie brauchen wohl zu Ihrem verlorenen Sohn noch eine verlorene Tochter? Was? Ist hier nicht zu haben – können Sie sich auch malen!“

Martha brach in Thränen aus. „Aber wir wollen uns doch heiraten,“ schluchzte sie.

Schöneberg faßte sie am Arm und schüttelte sie, als ob er sie aufwecken wollte. Dabei grinste er höhnisch. „Wollt Ihr? Das ist hübsch von Euch. Dazu gehör’ ich gewissermaßen aber doch auch noch, und die Mutter –“

„Na ja, ja!“ bedeutete die kluge Frau, „aber lärme doch nicht! Man kann’s ja in aller Ruhe . . .“ Martha streichelte ihr fortwährend das Kinn und die Schulter.

„Es war meine Absicht, Herr Schöneberg,“ sagte der Maler, „morgen bei Ihnen feierlich um die Hand Ihres Fräulein Tochter anzuhalten. Meine Verhältnisse –“

„Das werden nette Verhältnisse sein,“ unterbrach Schöneberg ihn, leiser, aber nicht weniger grimmig. „Ein Maler, ein –“

Es kam nicht zur weiteren Auseinandersetzung, denn in diesem Augenblick rief Frau Streckebein, die sich neugierig genähert hatte: „Aber wo ist denn nun Lieschen?“

Martha zuckte merklich zusammen. „Lieschen?“

Auch Vanhusen sah sich ganz verblüfft um. „Lieschen?“

„Herr Gott, ja! Wo ist denn Lieschen?“ wiederholte die Frau Sekretär dringlicher. „Man wird von alledem so baff . . .“

„Wo ist Lieschen?“ fragte nun auch Frau Schöneberg.

„Sie haben das Kind in den Wald mitgenommen,“ sagte Ida, die sich nun ebenfalls herangefunden hatte.

Martha stand ganz verwirrt da. „Ich – ich – ich –“ stotterte sie. Lieschen war wirklich nirgends zu sehen.

„Leugnen Sie nicht!“ donnerte die alte Dame. „Die Frau Wirtin hat es bemerkt. Mein Gott, und wir hofften schon –“

„Ja, ja – ich bat Lieschen, weil ich doch nicht allein –“

„Wo ist sie nun?“ riefen Schönebergs wie aus einem Munde.

„Ach – sie kam mit uns, und ich hatte sie eine Weile an der Hand, bis Albrecht –“

„Wer ist Albrecht?“ schrie Schöneberg sie wieder an.

„Herr Vanhusen, wollt’ ich sagen. Und dann setzten wir uns unter die alte Linde und flochten Kränze, und Lieschen pflückte Blumen –“

„Am Sumpf?“ fiel Frau Streckebein ein.

„Nein, auf der Wiese dicht nebenan. Und ich habe sie doch noch ganz zuletzt gesehen –“

„Ja, sie konnte sich gar nicht weit entfernt haben,“ versicherte der Maler. „Uebrigens dürfen wir ja nur die paar Hundert Schritte –“

„Wir haben unser Lieschen verloren“ jammerte Frau Streckbein. „Jetzt ist sie wirklich fort!“ Sie stützte sich auf Ida, die schon gar nicht mehr einen Einwand wagte.

In den nächsten Minuten herrschte eine beklommene Stimmung. Endlich rief Ida: „Da kommt Herr Opitz zurück.“

„Hat er sie?“ fragte ihre Mutter.

Ida zögerte mit der Antwort. „Nein – er kommt allein.“

„Allein?“

„Leider.“

Opitz kam ganz außer Atem angelaufen. Er hatte Lieschens Strohhut in der Hand. „Alles Suchen – in der Nähe – vergeblich,“ keuchte er. „Aber eine Spur wenigstens –“

Ida ging ihm entgegen. „Lieschens Hut!“

„Lieschens Hut . . .“ wiederholte die alte Dame fast tonlos. Jakob konnte nicht erschrockener gewesen sein, als man ihm Josephs bunten Rock brachte. Sie war einer Ohnmacht nahe.

„Wo fanden Sie den Hut?“ fragte Ida.

Opitz atmete stark. „Unter einer alten Linde. Es waren viele Blätter abgerissen und auf dem Grase verstreut. Lassen Sie mich nur erst – zu Atem kommen – ich bin so gelaufen, Ihnen die Nachricht zu bringen. Man weiß nun doch, in welcher Richtung ... Ich gehe gleich wieder – und ruhe nicht eher, als bis ich“ – er sah Ida zärtlich an – „bis ich unsere Tochter gefunden habe.“

„Sie guter Mensch!“ lohnte ihm’s Ida.

Er legte die Hand aufs Herz. „Ach, Frau Ida! Was mir beim Suchen so alles durch den Kopf gegangen ist – und durchs Herz . . .“

„Wir können ja mitgehen“ meinte Vanhusen, „und von der Linde aus nachforschen.“ Er wendete sich an Schöneberg. „Wenn Sie erlauben, daß Fräulein Martha mich begleitet –“

Der aber fauchte: „So eine Dreistigkeit – da hört alles auf! Nein, Martha bleibt hier und nimmt das Grünkraut ab. Wenn Sie damit nach der Stadt radfahren wollen, hab’ ich nichts dagegen. Gar nichts! Aber kommen Sie keinem Schutzmann zu nahe, rate ich Ihnen.“

Martha schluchzte laut: „Ach Gott! Ich habe das ganze Unheil angerichtet.“

„Ja,“ sagte Schöneberg, „mir ist das Kremservergnügen gründlich verdorben.“

Eben hatten die Männer einen Plan festgestellt, wie man den Wald absuchen wollte, als die Wirtin vom Hause her rief: „Der Zigeuner!“

Dieses Wort versetzte Frau Streckebein wieder in die schlimmste Aufregung. Sie eilte der Fraü entgegen. „Der Zigeuner? Wo? Haltet ihn, bindet ihn! Er soll sagen –“

„Aber er bringt ja das Kind,“ beruhigte die Wirtin.

„Er bringt das Kind – der Zigeuner ...“ Alles atmete auf.

Vom Walde her kam wirklich der Zigeuner. Er hatte Lieschen an der Hand. Frau Streckebein, Ida, Opitz, Frau Schöneberg liefen auf ihn zu und nahmen ihm das Kind ab. „Lieschen, bist Du’s wirklich – wo hast Du gesteckt – Lieschen, mein liebes Lieschen!“ Die Kleine flog aus einem Arm in den andern und wurde so lange stürmisch geherzt und geküßt, bis sie zu weinen anfing.

„Bring’ ich gnädige Herrschaften wieder kleines Fräulein,“ sagte der Zigeuner, mit dem ganzen Gesicht lachend. „Hat sich verlaufen in Wald und sehr geängstigen. Bin ich gekommen vorbei ganz zufällik und haben gleich gemerken, daß gehören hierher. Hat kleines Fräulein nicht wollen mitkommen, weil sich fürchten vor häßliches Zigeuner, aber gut zugereden und genommen an Hand und bringen hierher zu gnädige Herrschaften.“

Ida reichte ihm bewegt die Hand. „Dank, tausend Dank, braver Mann!“

Der Zigeuner hatte erwartet, daß sie ihm etwas zustecken [387] würde, und fand sich getäuscht. „Hatt’ ich gehofft, daß einiges Nickel . . .“ schmunzelte er.

„Ein Wunder, daß er das Kiud nicht gestohlen hat,“ rief die Frau Sekretär.

„Ja, seine Ehrlichkeit soll belohnt werden,“ sagte Opitz und zog seine Börse heraus.

„Ach, mein gnädigstes Frau Madam,“ grinste der Zigeuner, sich mit aufgehaltenem Hut nähernd, „was soll armes Zigeuner anfangen mit so großes Gör? Hat selbst knapp zu essen. Ja, wenn gewesen wär’ eine ganz kleine Kind, wo noch nicht kann sprechen . . .“ Einige Münzen fielen in seinen Hut. „Danke schön, danke. Armes Zigeuner immer ehrlich.“ Von allen Seiten regnete es Geldmünzen. „Danke, danke, meine gnädigsten Herrschaften. Bin ich so glücklich.“ Er hielt immer wieder den Hut auf, endlich auch vor Frau Streckebein, die noch im Rückstande war. Sie hatte ein Markstück aus ihrem Täschchen genommen, hielt sich aber in einiger Entfernung und wich jetzt zurück. „Geben Sie ihm das, lieber Opitz,“ flüsterte sie, „es ist mir so ängstlich . . . Lieschen, komm hierher!“ Sie nahm die Kleine an die Hand.

Der Zigeuner ließ das Geld im Hut tanzen. „Nun seien armes Zigeuner reich,“ rief er. „Hoiaho! Wann ’mal wieder kommen in Wald – können ruhig Kind verlieren – bringen immer zurück. Hoiaho!“ Lustig sprang er fort.

Man kehrte an den Tisch zurück. „Sie sollten doch gleich anspannen lassen, Herr Schöneberg,“ sagte Frau Streckebein nach einer kleinen Weile. „Wer weiß . . .“

„Aber nun ist ja alles gut,“ meinte er wieder bei besserem Humor.

Alles, Herr Schöneberg?“ fragte Vanhusen pfiffig. Er hatte mit der künftigen Schwiegermama viel gezischelt.

„Ach, die verlorene Tochter ist wieder da, das genügt.“

„Und wir können nun doch die Verlobung feiern,“ bemerkte Opitz.

Martha fiel ihm um den Hals. „Die Verlobung – ach ja!“

„Du weißt ja noch gar nicht –“

Sie nickte dem Maler zu und wollte ihm die Hand reichen. Der Papa trat aber dazwischen „Willst Du wohl! Vom Onkel Opitz und Frau Ida ist die Rede.“

Martha zog ein Mäulchen. „Ach so . . . Onkel Hermann und . . .“ sie nickte Ida wehmütig freundlich zu. „Ich gönn’s Ihnen von Herzen, aber ich hätte doch auch so gern . . . Und was die Feier betrifft, es wäre schon in Einem hin gegangen!“

Frau Schöneberg sprach davon, daß sie ins Haus gehen und die Bowle bereiten wollte. Nach all dem Schreck und Aerger werde ein Gläschen von dem kühlen süßen Wein gewiß schmecken. Vanhusen bot ihr seine Dienste an – „Wahrhaftig, ganz uneigennützig,“ versicherte er. „Ich bin heute Egoist; wenn ich nicht auf mein eigenes Wohl anstoßen kann, trinke ich keinen Tropfen.“ Er behauptete, sich auf das Brauen von Bowlen zu verstehen. Frau Schöneberg meinte zwar, es sei nicht nötig, daß er sich bemühe, wies ihn jedoch so sanft ab, daß er’s wohl meinte wagen zu dürfen, ihr ins Haus nachzugehen. Sie litt dann auch, daß er die Flaschen entkorkte und zusammengoß, während sie den Zucker auflöste. Dabei fiel denn ein Wörtchen hier und ein Wörtchen da und nach kurzer Zeit war man bei dem Thema, das beide nun doch am nächsten anging.

„Ihr Herr Gemahl scheint mir wirklich recht böse zu sein.“

„Na – Sie haben es auch ehrlich verdient.“

„Wirklich?“ fragte er und sah sie dabei bittend an.

„Es müssen da schon allerhand Heimlichkeiten vorangegangen sein.“

„Ja, wie soll man denn dahinter kommen, ob man Hoffnung hat –“

„In einem gut bürgerlichen Hause macht sich so etwas doch anders.“

„Ich bin ein Künstler, verehrteste Frau, und habe heißes Blut, dem Sie schon etwas zu gute halten müssen. Ich würde mir sehr lächerlich vorgekommen sein, wenn ich in Frack und weißer Binde angetreten wäre, mich den lieben Eltern als Heiratskandidaten vorzustellen und gehorsamst anzufragen, ob ich’s nach den Umständen wagen dürfe, mich um des Fräuleins Neigung zu bemühen. Erst mußte ich sicher sein, des Mädchens Herz zu besitzen, das ich liebe. Jetzt weiß ich’s. Worauf sonst hätte ich auch meine Werbung stützen können, als auf das Einverständnis gegenseitiger Neigung?“

„Na ja, das läßt sich ja hören,“ gab sie unwirsch zu. „Aber so ein junges Ding verleiten, sich gleich hinter dem Rücken der Eltern zu versprechen . . .“

„Es ist nun einmal geschehen. Wollen Sie wirklich so grausam sein, gnädige Frau, uns zu trennen? Und gewaltsam trennen müßten Sie uns jetzt. Ich will Ihre Güte nicht für mich anrufen, aber daß Sie es übers Herz bringen könnten, Ihr Kind unglücklich zu machen, werde ich nicht glauben.“

„Ach, das geht bei Martha nicht so tief.“

„Es geht so tief, verlassen Sie sich darauf.“

Frau Schöneberg rührte die Bowle um. „Aber es ist doch keine Vernunft darin. Worauf wollen Sie heiraten?“

„Es braucht ja nicht gleich in sechs Wochen die Hochzeit zu sein. Wir sind beide noch jung –“

„Ja, sehr jung, Martha wenigstens. Ein langer Brautstand ist gar nicht nach unseren Wünschen. Und wenn wir allenfalls auch vermögend genug wären – hm, hm . . . so ein Maler steht doch eigentlich nie auf eigenen Füßen.“

Er klopfte die Ananas aus dem langen Glase. „Erlauben Sie, meine verehrte Frau Schöneberg, auch die Kunst nährt unter Umständen ihren Mann, und nach dem Aufsehen zu schließen, das mein ‚Verlorener Sohn‘ erregt . . . Sie sollten sich’s wirklich doch überlegen. Eine so ganz verächtliche Partie bin ich am Ende nicht.“

Frau Schöneberg goß aus dem großen Löffel in ein Glas ein, schmeckte und reichte es ihrem Gehilfen. „Ich denke, wir können mit unserem Gebräu zufrieden sein.“

Er leerte das Glas. „Auf Ihr Wohl, gnädige Frau!“

Sie nickte ganz freundlich und rief die Wirtin herbei, um von ihr die Terrine mit dem edlen Naß hinaustragen zu lassen. Sie selbst folgte ihr auf dem Fuße, ohne sich um den Maler weiter zu bekümmern. Vanhusen sah ihr durchs Fenster nach. Er bemerkte, daß sie, am Tisch angelangt, sehr bald ihren Mann beiseite nahm und eifrig auf ihn einredete. Aha! dachte er, das gilt mir. Er meinte, jedenfalls nicht ohne Abschied wegfahren zu dürfen, und begab sich deshalb nochmals zur Gesellschaft zurück.

Er hatte richtig vermutet. Frau Schöneberg führte ihm bei ihrem noch immer sehr bocksteifen Manne das Wort. „Was kommt da heraus, wenn wir uns auf die Hinterbeine setzen?“ meinte sie. „Etwas Vernünftiges schwerlich. Einsperren können wir Martha doch nicht. Und wer weiß, was da weiter heimlich geschieht. Herr Vanhusen ist ja auch immer ein Mensch, mit dem sich rechnen läßt. Hat er ein bißchen Glück, so kann er’s zum Professor bringen. Einmal muß man ja doch seine Tochter verlieren. Und weil Martha doch unser einziges Kind ist – und es uns aufs Geld nicht ankommt . . . Na, was meinst Du, Alter? Zu bedenken wär’s am Ende.“

„So schwach sind die Weiber,“ seufzte er, doch eigentlich ganz froh, nachgeben zu dürfen. Er konnte es ja schon gar nicht mehr ansehen, daß Martha abseits an einem Tisch saß, die Arme aufgestützt hatte und in ihr Tuch weinte.

Als nun Vanhusen kam, sich zu verabschieden, sah er ihn prüfend von oben bis unten an, gab seinem Kopf eine wackelnde Bewegung, zog den Mund schief und wieder gerade und prustete. „So ein Maler ist doch ein kurioser Kerl,“ sagte er. „Sie denken also wirklich in allem Ernst daran ... na, still jetzt! Wir wollen nächstens ’mal Ihre – Verhältnisse besprechen. Heute trinken wir in aller Gemütlichkeit unsere Bowle. Du hast doch nichts dagegen, Opitz?“

„Und ich darf mittrinken?“ fragte Vanhusen rasch.

„Meinetwegen,“ sagte Schöneberg, „aber –“ Martha war aufgesprungen und hatte sich genähert – „par distance, wenn ich bitten darf.“ Martha flog ihm an den Hals und drohte ihn mit ihren Küssen zu ersticken. „Schon gut – schon gut – schon gut,“ wehrte er ab.

„Und abends fährt Albrecht mit auf unserm Wagen nach Hause,“ schmeichelte sie. „Das Zweirad kann ja aufgebunden werden. Nicht wahr, Papachen?“

„Das wollen wir uns noch überlegen“ antwortete er schmunzelnd.

Opitz hatte auf einen Wink seiner Schwester die Gläser gefüllt.

„Also – an die Gewehre!“ rief Schöneberg wieder bei bester Laune. „Kinder – ich will keine Rede halten, aber so eine Kremserfahrt ist doch etwas. Und wenn auch ... na, trinken wir erst ’mal auf die ‚verlorene Tochter‘!“

„Du rührst Dich nicht von meinem Schoß, Lieschen,“ sagte Frau Sekretär Streckebein, sie fest im Arm haltend.




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Blätter und Blüten.

[Schloß Ritzebüttel]

An der Elbemündung. (Mit Zeichnungen von H. Amberg.) Hart am äußersten südlichen Ende der Elbemündung liegt die aufblühende hamburgische Stadt Cuxhaven. Mächtig streckt sich die „Alte Liebe“, die Landestelle für die aus- und einfahrenden Dampfer, mit ihrem Holzbau ins Wasser vor und bei Nacht wirft neben ihr der Leuchtturm seine glänzenden Strahlengarben hinaus über die Strommündung und das Meer. Durch die Vereinigung mit dem nahen landeinwärts gelegenen Ritzebüttel, die 1872 erfolgte, ist Cuxhaven mit einer großen geschichtlichen Vergangenheit zusammengewachsen, denn Schloß und Amt Ritzebüttel haben schon vor fünf Jahrhunderten eine Rolle in der Politik der benachbarten Fürsten und vor allem in der Hamburgs gespielt. Gerade für die Hamburger und ihren Handel war der Besitz der Elbemündung von größter Wichtigkeit; schon zu einer Zeit, da das Amt Ritzebüttel noch im selbständigen Besitz der Herren von Lappe war, errichteten sie daher auf der Insel Neuwerk einen steinernen Leuchtturm, der zugleich als Bollwerk dienen mußte. Den Herren von Lappe war wegen ihrer Räubereien diese Nachbarschaft sehr ungemütlich und sie suchten sich durch allerlei Uebergriffe und Streitigkeiten davon zu befreien. Allein Geldverlegenheiten zwangen sie bald, klein beizugeben und sogar Pfandverträge auf ihre Besitzung mit den Hamburgern abzuschließen.

Bei Cuxhaven.

Im Jahre 1393 kam es zu neuen Zwistigkeiten, in deren Verlauf Schloß Ritzebüttel von den Hamburgern erstürmt wurde. Nun war es mit der Herrschaft derer von Lappe vorbei; sie mußten 1394 mit Hamburg einen Vertrag schließen, durch den gegen eine Abfindung in Geld Schloß und Dorfschaften in den Besitz der Hansestadt übergingen. Diese hielt fest, was ihr gehörte. Zwar war sie genötigt, ihr Eigentum noch lange Zeit gegen die Freibeutereien der Nachbarn mit dem Schwerte zu verteidigen, zwar ließen die Stürme des 30jährigen Kriegs auch diesen Fleck der deutschen Erde nicht unbehelligt und zu Anfang unseres Jahrhunderts herrschte hier ein Jahrzehnt lang französische Willkür – aber durch alle diese Fährlichkeiten hindurch wußten die Hamburger das Wohl dieses ihres Besitzes immer wieder zu fördern. So blühten die beiden nun zusammengehörigen Orte Ritzebüttel und Cuxhaven fröhlich empor, und wenn dort heuer am 14. und 15. Juli das Gedenkfest der 500jäbrigen Vereinigung Ritzebüttels mit Hamburg gefeiert wird, so mag das in dem Gefühl geschehen, daß für die aufstrebende Stadt an eine tüchtige Gegenwart eine schönere Zukuust sich knüpfen wird. Möge das Schloß von Ritzebüttel, das, im 14. Jahrhundert entstanden, eine der ältesten weltlichen Bauten im nördlichen Deutschland ist, noch lange mit seinen hohen Giebeln in diese Zukunft hineinschauen!

Das verlassene Mägdlein. (Zu dem Bilde S. 385.) Es ist ein herzergreifendes Gedicht Eduard Mörikes, das unsrem Künstler die Anregung zu seinem Bilde gegeben hat, ein Gedicht, in welchem Mörike den keuschen Reiz des Volkslieds mit künstlerisch vollendeter Form zu einem köstlichen Ganzen zu verbinden gewußt hat. Wir lassen die Strophen hier folgen:

„Früh, wann die Hähne krähn,
Eh’ die Sternlein verschwinden,
Muß ich am Herde stehn,
Muß Feuer zünden.

Schön ist der Flammen Schein,
Es springen die Funken;
Ich schaue so drein,
In Leid versunken.

Plötzlich, da kommt es mir,
Treuloser Knabe,
Daß ich die Nacht von dir
Geträumet habe.

Thräne auf Thräne dann
Stürzet hernieder;
So kommt der Tag heran
O ging’ er wieder!“

Gegen die Rußplage wird seit Jahrzehnten mit verschiedene Mitteln angekämpft. Wie viele Apparate aber auch ersonnen wurden, keiner derselben kann den Anspruch erheben, eine volle Abhilfe zu schaffen. So muß man sich damit begnügen, Mittel anzuwenden, welche den Uebelstand wenigstens in erheblicher Weise mildern. Wie die Erfahrung gelehrt hat, verdient unter anderm „Löfflers selbstthätiger Ruß- und Funkenfänger“, der von der Firma Paul Lechler in Stuttgart vertrieben wird, eine besondere Beachtung. Er zählt zur Klasse derjenigen Apparate, in welchen die Rauchgase innerhalb eines geschlossenen Raumes über eine möglichst große Ablagerungsfläche geleitet werden. Dabei entledigen sie sich ihrer schweren festen Bestandteile, wie grober Rußflocken und Funken. Dem Löfflerschen Rußfänger wird nachgerühmt, daß er eine Verminderung des Zuges der Feuerung nicht bewirke, was bei anderen ähnlichen Apparaten der Fall war. Der Rußfänger wird auf den Schornstein aufgesetzt. Der Rauch muß infolgedessen durch eine Anzahl von Blechabschnitten kreisen, an welchen er seine schwersten Bestandteile absetzt, so daß er in gereinigtem Zustande ins Freie gelangt. Der auf den Wellblechen abgelagerte Ruß fällt indessen in einen Trichter und von diesem in ein unten am Schornstein angebrachtes Sammelgefäß, aus dem er in regelmäßigen Fristen entfernt wird. Der Apparat kann auf jedem Schornstein angebracht werden, und als Funkenfänger ist er auch geeignet, die Feuersgefahr zu vermindern, vor allem bei Lokomobilen und Lokomotiven im Dienst der Landwirtschaft und bei Feuerungen der Sägewerke, wo vielfach mit Sägespänen geheizt wird. Selbstverständlich kann durch eine solche Einrichtung nur eine Milderung der Rauch- und Rußplage erzielt werden, die aber bei stark qualmenden Schloten von der nächsten Umgebung schon als eine große Wohlthat empfunden werden wird. Derselbe Erfolg kann jedoch auch ohne besondere Apparate und bei den verschiedensten Rostkonstruktionen durch eine zweckentsprechende Heizung erreicht werden. Durch sachgemäßes Nachlegen des frischen Brennmaterials und dessen entsprechende Verteilung kann der Heizer die Rauchbildung in hohem Maße verhüten. Es dürfte sich darum empfehlen, mehr als dies bis jetzt der Fall war, für eine sachgemäße Ausbildung der Heizer zu sorgen, die Fabrikschornsteine zu beobachten und die Heizer, deren Feuerungen nur einen leichten Rauch zeigen, zu belohnen. Die Erfahrungen, die man bei einem solchen Vorgehen in Leipzig seitens der dortigen Polytechnischen Gesellschaft gesammelt hat, sind sehr erfreulich gewesen. Wünschenswert wäre es nur, daß weitere Kreise einem derartigen gemeinnützigen Vorgehen sich anschließen möchten. *     

Liebes ornithologische Schriften. Ein Werk, welches nicht nur die Ornithologen, sondern auch die Freunde der Natur, insbesondere der Vogelwelt, mit Freuden begrüßten, liegt nun in seiner Vollendung vor. (Leipzig, W. Malende.) Der Herausgeber, Dr. med. Karl Honnicke, ging bei der Sammlung von Liebes zerstreut erschienenen Aufsätzen von der richtigen Ueberzeugung aus, daß diese Schriften wahre Perlen der Forschung und Beobachtung enthalten, die eine weite Verbreitung verdienen. Liebe tritt uns in dem Buche als ein Mann entgegen, der mit strengem Berufsernst alles sachlich abwägt, der erst seiner Sache gewiß sein will, ehe er sein Urteil feststellt. Er verfügt über eine ganz vorzügliche Beobachtungsgabe und über ein kritisches Sichtungsvermögen, welches fast instinktiv das Wahre trifft. Freilich wäre dies nicht möglich ohne tiefe und weitgehende Kenntnis des Lebens, der Eigentümlichkeiten, Bedürfnisse und Ernährungsweisen der Vögel, ihres nützlichen oder schädlichen Verhältnisses im Haushalte der Natur. Man darf dem Herausgeber aufrichtig dankbar sein für den Dienst, den er den Freunden der Vogelwelt, den Forschern und dem Autor erwiesen hat. Adolf und Karl Müller.     


Kleiner Briefkasten.

J. G. in Venlo. Die Torgauer „Geharnischten“, welche dieses Jahr ihre 550jährige Jubelfeier begangen haben, finden Sie im Jahrgang 1884 der „Gartenlaube“ ausführlich in Wort und Bild behandelt.



Inhalt: Abend am See. Gedicht von B. Del-Pero. Mit Bild. S. 373. – Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (22. Fortsetzung). S. 373. – Die Jubelfeier der Universität Halle. Von Rudolf von Gottschall. S. 378. Mit Abbiidungen S. 377, 378, 379, 380 und 381. – Das Trinken auf Ausflügen. S. 382. – Die verlorene Tochter. Humoreske von Ernst Wichert (Schluß). S. 382. – Das verlassene Mägdlein. Bild. S. 385. – Blätter und Blüten: An der Elbemündung. Mit Abbildungen. S. 388. – Das verlassene Mägdlein. S. 388. (Zu dem Bilde S. 385.) – Gegen die Rußplage. S. 388. – Liebes ornithologische Schriften. S. 388. – Kleiner Briefkasten. S. 388.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Spalte, Erdriß.
  2. Alten Stils. Der Gregorianische Kalender wurde im evangelischen Deutschland erst 1700 eingeführt. Auf den neuen Stil berechnet ist es der 12. Juli.
  3. Die öffentlichen Festlichkeiten zur Feier des Jubiläums finden in den ersten Tagen des August statt.