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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[221]

Nr. 14.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(13. Fortsetzung.)

Während der Greinwalder und seine Frau noch miteinander redeten, hatte Schweiker die Herdstube betreten. Der niedere Raum zeigte nur armseligen Hausrat, aber der warme Hauch der Wohnlichkeit strömte aus den gebräunten Holzmauern. An den Fenstern waren die Läden vorgeschoben, und nur einzelne Sonnenstrahlen, welche durch die Ritzen fielen, durchspannen wie leuchtende Fäden das in der Stube herrschende Zwielicht. Mit suchenden Augen blickte Schweiker umher. Da klang Hinzulas lispelndes Stimmlein: „Siehst mich nicht?“

Neben dem Herde zeigte sich in der Holzmauer eine Vertiefung, welche einem länglichen Kasten ohne Thür glich. In

Am Weiher.
Nach einer Originalzeichnung von W. Leo Arndt.

[222] dieser Vertiefung lag Hinzula auf dem Heubett, den Schoß bedeckt von einer grauen Kotze, auf welcher die Hände ruhten.

Zögernd näherte sich Schweiker; er wollte sprechen, aber nur wortlos rührten sich seine Lippen. Verwundert, fast erschrocken hingen seine blauen Augen an der Hirtin, die ihm, sauber gewaschen und gestrählt, verwandelt schien wie die verwunschene Jungfrau am guten Ende des Märleins. Sie trug ein ärmelloses Kittelchen aus gelblichem Hanftuch; weiß schimmerte das schmale Gesichtlein unter dem Blondhaar und der blutfleckigen Stirnbinde, und nicht minder weiß die nackten Arme, die der Sonnenbrand unter der grauen Hülle, welche sie getragen, nicht hatte bräunen können. Mit schüchternem Lächeln blickte sie zu Schweiker auf. „Gelt, jetzt bleibst noch ein lützel da? Mußt ja doch rasten!“

„Freilich,“ stotterte er, „freilich!“

„So geh’, thu’ Dich doch niederlassen!“ sagte sie und rückte an die Mauer, damit er Platz hätte auf dem Rand des schmalen Lagers. Er streckte schon die Hand nach der Kante und wollte sich setzen, da klang es leise in den Lüften und quoll durch Thür und Wände mit verschwommenem Hall, kaum hörbar noch, wie ein Ruf aus weiter Ferne.

Schweiker richtete sich auf, und seine Stimme zitterte. „Ich kann nimmer bleiben, Kindl ... das Glöckl ruft!“

Erschrocken hob sich Hinzula aus dem Heu und griff mit der Hand nach ihm. Aber er schüttelte den Kopf, daß der lange Flachsbart wie eine Welle floß. Der Atem schien ihr zu versagen, und es währte eine Weile, bis sie fragen konnte. „Aber gelt, Du kommst bald wieder und suchst mich heim?“

Er starrte vor sich nieder und murmelte. „Ich weiß nicht!“

Hinzulas Augen füllten sich mit Zähren. Scheu blickte er auf, und als er an ihren Lidern die Perlen schimmern sah, zog es ihm den Kopf gegen die Schulter, als hätte er einen Krampf im Nacken bekommen. Langsam streckte er die Hand aus, machte das Kreuzzeichen über Hinzulas wunde Stirn und flüsterte: „Friede sei mit Dir!“ Und als wäre ihm der gewohnte Spruch zu kurz und nicht kräftig genug, so fügte er noch bei: „Der liebe Gott soll Dich hüten und schützen, Kindl!“ Dann wandte er sich ab und schritt der Thür zu. Der Bauer und die Bäuerin traten ihm entgegen. „Ja was ist denn, Gottesmann?“. fragte der Greinwalder, „willst denn schon wieder fort?“ Wortlos schritt der Bruder an ihm vorüber, mit beiden Händen den Rosenkranz umklammernd, der hinter seinem Gürtel steckte. „Ja was hat er denn?“ fragte das Weiblein verwundert und starrte ihm nach.

Als Schweiker die freie Wiese erreichte, zog ein schwüler Windhauch über den sonnigen Wald herauf, und heller tönte die Glocke. Immer rascher wurde Schweikers Gang, und als er den Wald betrat, kam er auf dem steilen Hang ins Laufen. Am Ufer der Ache hielt er tief atmend inne. Eine Weile hingen seine Augen mit verlorenem Blick an den schießenden Wellen, dann hob er die Hände und starrte die leeren Arme an. Da gewahrte er die eingetrockneten Blutflecken. Er bückte sich, schöpfte Wasser mit der Hand und begann zu waschen, bis die letzte Spur des Blutes getilgt war. Als wäre er müde geworden von diesem Werk, so ließ er sich am Ufer niedersinken auf einen Stein, stützte die Arme auf und drückte das Gesicht in die Hände. Vor seinen Füßen ließ sich im Wasser ein leises Plätschern hören. Ohne daß Schweiker es merkte, war der Rosenkranz hinter seinem Gürtel hervorgeglitten und in den Bach gerollt. Die hölzernen Perlen schwammen, ein Wirbel ergriff und drehte sie; hier stießen sie wider einen Stein, dort hafteten sie an einem niederhängenden Ständlein aber eine leuchtende Welle faßte die Perlen und trug sie gaukelnd davon.




17.

In der Mittagssonne ritt Herr Waze über die Schönauer Felder. Auf einzelnen Aeckern schnitten die Leute das Korn, auf anderen lagen schon die gebundenen Garben und harrten des Erntekarrens. Wo Herr Waze ritt, eilten die Knechte und Mägde auf ihn zu und küßten ihm unter scheuem Gruß den Steigbügel. Ritt er weiter und blickte sich um, so sah er, wie sie beieinander standen und die Köpfe zusammensteckten.

Am Gehöft des Kaganhart führte sein Weg vorüber; das Thor war geschlossen, und lautlose Stille lag über dem Hag. Doch als Herr Waze durch einen Hohlweg niederwärts ritt gegen den Thalwald, begegnete ihm die Hausfrau des Kaganhart mit beladener Kraxe. Scheu blickte sie zu dem Reiter auf und trat seitwärts in die Dornbüsche. Herr Waze musterte das Weib, und ein dünnes Lächeln glitt über seine Lippen. „Woher, Hilmtrud?“ fragte er, das Pferd verhaltend.

„Von der Alben, Herr!“

„Wo ist Dein Hauswirt?“

„Der kehrt morgen heim.“

„So? Nächtet er auf der Alben oder“ – wie zei Dolche blitzten die Augen des Reiters auf Hilmtrud – „oder hat er vielleicht einen Weg in der heutigen Nacht?“

„Einen Weg, Herr?“ stotterte das Weib. „Ich weiß nicht, was Ihr meinet.“

Eine Weile schwieg Herr Waze, dann sagte er lächelnd: „Da hast Du aber eine schwere Krax’ voll Zeug. Wenn Du abladest daheim, so vergiß nur nicht, daß mir Dein Hauswirt von Sonnwend’ her noch die halbe Steuer schuldet.“ Hilmtrud erblaßte und schlang die beiden Arme rückwärts um die Kraxe. „Schau’ doch,“ lachte Herr Waze, „meine Mahnung treibt Dir ja alles Blut aus dem Gesicht! Ihr braucht Euer Sach’ wohl selber, gelt? Freilich, das ist ein schlechter Sommer heuer. Und ich möcht’ Deinem Hauswirt die Steuer wohl gern erlassen. Aber ein Dienst, mein’ ich, wär’ des anderen wert.“

„Was müßt’ er denn schaffen dafür?“ fragte die Bäuerin hastig.

„Nicht viel. Nur heimlich müßt’ er mich wissen lassen, für wann er zum Thing auf den Totenmann geladen ist.“

Eine dunkle Röte schoß über Hilmtruds Gesicht. „Aber Herr,“ stammelte sie, „wie kann er denn das? Der Thingbot’ ruft doch unter Schwur!“

„Freilich! Da wirst Du halt die Steuer zahlen müssen! Und heut’ noch, ober ich müßt’ Dich morgen mahnen lassen durch meine Knecht’!“ Freundlich grüßte Herr Waze und ritt davon. Er hatte den Wald noch nicht erreicht, da kam die Bäuerin ihm nachgelaufen, ohne Kraxe. Mit beiden Händen faßte sie den Bügel, und Herr Waze verhielt das Roß. „Was willst Du noch?“

„Euch sagen, was ich weiß – ich hab’s erlauscht!“ raunte das Weib mit bleichen Lippen. „Er ist geladen ... in der heutigen Nacht, wenn Vollmond einsteht!“

„Heut’ schon?“ lachte Herr Waze. „Da hab’ ich Eil’!“ Und er gab dem Pferde den Stachel.

„Herr, Herr!“ keuchte Hilmtrud, klammerte sich an den Bügel und ließ sich vom Rosse schleifen. „Euer Wort, Herr, Euer Wort, daß es heimlich bleibt und daß die Steuer ... die Steuer ...“ Weiter kam sie nicht; um nicht unter die Hufe des sich bäumenden Pferdes zu geraten, mußte sie den Bügel fahren lassen und taumelte rücklings in die Dornbüsche.

In jagender Eile sprengte Herr Waze davon, vor dem niederhängenden Gezweig des Waldes auf den Hals des Pferdes sich bückend. Bald erreichte er die Ache und den breiteren Reitweg, welcher emporführte zu seinem Haus. Bei einer Wendung des Pfades konnte er über die Bäume niederblicken auf das Fischerwesen, von welchem helle Beilschläge zu ihm heraufklangen. Herr Waze verhielt das Pferd und deckte spähend die Hand über die Augen; in Sigenots Hofreut sah er vier Männer bei der Arbeit.

„Er hat seine Sennen gerufen und festet wohl den Hag.“ Lachend trieb er das Pferd wieder an. „Schlag’ nur die Pfähl’ und leg’ die Balken! Sie sollen mir den Weg nicht sperren, wenn Deine Stund’ gekommen ist!“

Als Herr Waze sich dem Burgthor näherte, kam seine Tochter Recka ihm entgegengeritten; bleich wie ein steinernes Bild saß sie auf ihrem Rappen, die beiden weißgefleckten Bracken sprangen ihr voraus, und während sie mit der Linken die Zügel hielt, trug sie auf der Rechten ihren Liebling Edilo, welcher unsicher, mit gesträubtem Gefieder auf dem ledernen Handschuh saß. Finster blickte Herr Waze auf seine Tochter, welche zum Gruß kaum merklich nickte und schweigend vorüberreiten wollte. Dunkle Röte färbte seine Stirn, er riß das Pferd herum und sperrte Reckas Weg. „Betrag’ Dich wider mich, wie Dir die Laun’ steht, das ist mir alles eins! Aber Narrheit im Weidwerk leid’ ich nicht! Unter der heißen Tagsonn’, das ist keine Zeit zum hohen Flug.“

„Ich reite nicht zu meiner Lust,“ erwiderte Recka in mühsam bewahrter Ruhe, „ich reit’ um des Falken willen. Er krankt seit der heutigen Nacht, Flug und Freiheit werden ihm [223] wohlthun.“ Sie hob die Hand mit dem Falken. „Blick’ ihn an, wie er trauert!“

„Was sollt’ ihm fehlen? Er steht in reichem Futter und in guter Pfleg’ und war noch gestern frisch und wohlauf. Nichts fehlt ihm ... aber ich kenn’ den Vogel: stützig ist er, so wie Du!“

Ein müdes Lächeln zuckte um Reckas Lippen; schweigend, mit großen Augen sah sie den Vater an und setzte das Pferd in Gang. Herr Waze starrte ihr nach. „Wie ihre Mutter war! Das gleiche Lächeln und der gleiche Blick!“ Zornig stieß er dem Roß die Stachel in die Flanken und sprengte dem offenen Thor entgegen.

Eine Stunde später zogen zwei berittene Knechte aus Wazemanns Haus. Als hinter ihnen die Fallbrücke sich wieder gehoben hatte, fragte der eine mit leisem Wort: „Wohin, Gesell?“

Ich hol’ den Rimiger im Lok’wald. Wir reiten nach der Salzaburg zum Haunsperger. Und Du?“

„Zum Fuchsloch auf dem Totenmann. Ich hab’ stille Arbeit heut’ nacht.“ Sie lachten und setzten die Pferde in Trab. Als sie zur Achenbrücke kamen. hörten sie vom Fischerhaus die Beilschläge herüberklingen.

„Was die wohl schaffen mögen?“ fragte der eine, und der andere sagte: „Wie Du, so neugierig ist unser Herr auch; ich muß vorbeireiten und Umschau halten.“

Sie trennten sich; während der eine dem Lauf der Ache folgte, ritt der andere über die Brücke und der Lände entgegen; als er unter den Bäumen hervorritt, sah er seitlich neben dem offenen Hagthor eine Grube ausgeworfen. Und Sigenot kam aus der Hofreut, auf seiner Schulter zwei Schwere, zum Kreuz gefügte Balken schleifend; Wicho mit einer Schaufel und die beiden Sennen mit Beilen und kurzen Pfählen folgten ihm. Sigenot ließ den Kreuzstamm in die Grube gleiten und richtete ihn auf; Wicho schaufelte, und die beiden Sennen trieben rings um das Kreuz die Pfähle in den lockeren Grund. Mit verblüfften Augen sah Wazemanns Knecht den Schaffenden zu. „He, Fischer! Bist denn Du ein Ramsauer worden?“ rief er. „Wäs machst denn da?“

Sigenot blickte auf. „Ich leg’ einen Riegel vor mein Thor und stell’ vor meine Hofreut einen Wächter.“

„Hui, Du“ lachte der Knecht, „vor dem werden die Wölf’ aber laufen im Schnee!“

Die Sennen blickten dem Knechte nach, welcher lachend davonritt; der eine, dem der Bart schon grau war, kratzte sich hinter dem Ohr, lugte an dem Kreuz hinauf und fragte leise: „Wicho, was meinst denn?“

„Ich mein’, was mein Herr meint!“ erwiderte Wicho und stampfte mit den Füßen um das Krenz her die Erde fest. „Was der gered’t hat, ist noch allweil Eisen gewesen. Wenn er sagt: das Holz hilft, so hift’s auch!“

Sigenot war über den Hügel emporgestiegen und hatte die Halle betreten. Mutter Mahtilt saß im Lehnstuhl, Edelrot vor ihr auf dem Herdrand, neben dem flackernden Feuer; ihre Gesichter waren bleich und ernst ... seit dem Morgen kannten sie die Gefahr, die über ihren Häuptern schwebte und über dem Dach ihres Hauses. „Mutter, schau’ hinaus durchs Fenster,“ sagte Sigenot, „schau’ nur: es stehet schon!“

Mutter Mahtilt aber schüttelte den Kopf und wandte die Augen zur Herdflamme; sie griff nach einem Bündel dürrer Kräuter, welches neben dem Herd in einer Ecke lag, zog eine Himmelbrandstaude hervor und warf sie in das Feuer, zu stummen Worten die Lippen rührend. Sigenot atmete tief, und Kummer sprach aus seinen Zügen. „Was rufst Du noch die guten Holden, Mutter? Schau’ hinaus ... von allen Guten der Best’ hat seine Kreuzarm’ wehrend ausgestreckt vor meiner Hofreut! Und sein einschichtiger Arm ist stärker als tausend Männer in Wehr und Eisen. Das hat mir einer gesagt, der die Treu’ ist und der nicht Lügen redet.“

Stumm saß Mutter Mahtilt und legte eine neue Staude in die Flammen, während Sigenot zum Steintisch ging, die Eisenhaube über den Scheitel drückte und mit dem Schwertgurt die Hüften umschloß. Zum Herde zurückkehrend, streifte er mit der Hand über das graue Haar der Mutter und küßte ihre Stirne. „Komm, Rötli!“ Er faßte die Hand der Schwester und verließ mit ihr die Halle. Schweigend, Hand in Hand, stiegen Sie über den Hügel hinunter und traten vor das Hagthor.

„Schau’, da steht es!“ sagte Sigenot, die Schwester zum Kreuze führend. „Jetzt leg’ Deine Hand an das Heilholz!“ Edelrot that es, und über die Hand der Schwester drückte Sigenot die seine. „Jetzt schau’ hinauf und sag’: ‚Mein guter Herre, Du mein Gott!‘“

Edelrots Lippen zitterten. „Mein guter Herre, Du mein Gott!“

Aufatmend legte Sigenot den Arm um Rötlis Schulter. „So, Schwesterlieb, jetzt hadt einen festen Hüter! Jetzt geh’ hinein zur Mutter und bleib’ bei ihr – jetzt thu’ ich ohne Sorg’ den Weg, auf den der Schwur mich ruft!“ Er führte die Schwester zum Hagthor, küßte ihr Haar und schritt der Ache zu.

„Wohin geht er?“ fragte der jüngere der Sennen. Und der ältere murmelte: „Ich mein’ wohl, daß ich es rat’.“ Aber Wicho fiel ihm ins Wort: „Wenn Du’s weißt, so schweig’!“ Der Alte nickte, und seine grauen Augen spähten hinaus an die Ferne, in welcher eine dunkle Waldkuppe aus dem Thal emporstieg, der Totemann.

Sigenot folgte dem Pfad am Ufer der Ache und erreichte den Untersteiner Forst. Da hörte er das Gelärm zweier Hunde. Es waren Reckas Bracken, welche die auf weiter Lichtung gelegenen Achensümpfe durchstöberten. Am Rande des Röhrichts hielt die Wazemannstochter auf ihrem Rappen und spähte mit scharfen Augen über das Schilf, auf erhobener Hand den stillen trauernden Falken. Die Hunde jagten; einzelne Stücke Rotwild, die im Sumpfe Kühlung gesucht, flüchteten dem Walde zu, behängt mit Schlamm und triefend von Wasser. Eine Weile war Stille, dann wieder läuteten die Hunde; es rauschte im Schilf, und eine Kette Rohrhühner stob nach allen Seiten auseinander. Recka enthaubte den Falken und schwang ihn unter lautem Ruf: „Holiiih! Holiiih!“ Edilo schlug wohl mit den Schwingen, aber nur, um den Halt nicht zu verlieren und seine Fänge klammerten sich auf dem Handschuh fest. Erschrocken blickte Recka auf ihren Liebling. Er schüttelte das Gefieder, zog den Kopf zwischen die Schwingen, und während er lechzend den Schnabel öffnete, folgte sein unruhiger Blick den entschwindenden Hühnern.

„Edilo! Mein Trautgesell! Was ist Dir?“ stammelte Recka und ihre Augen wurden naß; sie ließ die Zügel sinken, drückte den Falken an ihre Brust und streichelte ihm Kopf und Schwingen; aber so sacht ihre Hand auch glitt, sie schien den Falken zu drücken, denn er sträubte sich wider die Zärtlichkeit seiner Herrin. Die Hunde jagten und mit ängstlichem Kreischen hoben sich zwei Wildenten über das Röhricht. „Holiiih! Holiiih!“ Mit kräftigem Schwung warf Recka den Falken in die Luft. Edilo taumelte, doch er breitete die Schwingen und begann zu schlagen, flatternd hielt er sich einen Augenblick auf der gleichen Stelle, dann klang sein gellender Schrei, und pfeilschnell flog er den kreischenden Enten nach, welche sich über die Baumwipfel erhoben hatten und dem Schönsee entgegenstrebten. „Er gesundet!“ jauchzte Recka, und auf jagendem Roß, durch aufspritzendes Wasser und brechendes Röhricht folgte sie ihrem Trautgesellen.

Im Schatten des Hochwaldes wanderte Sigenot; er hatte den Pfad verlassen, um die Lichtung zu vermeiden, auf welcher er die Bracken läuten hörte. Da klang über ihm in den Lüften das klagende Geschrei einer Wildente; er blickte auf ... es rauschte und knackte in den Wipfeln und wenige Schritte vor ihm stürzten zwei zum Klumpen geballte Vögel mit dumpfem Fall auf den Moosgrund. Die Flügel gespreizt, den Hals mit offenem Schnabel auf die Erde gestreckt, so lag die Ente im Verenden unter dem Falken, der die eine „Hand“ in ihren Rücken, die andere in ihren Hals geschlagen hatte; er hielt die Schwingen steil erhoben und hackte langsam und matt mit dem Schnabel nach dem Kopf der Ente. Festgebissen hing er an seiner toten Beute, sein Gefieder blähte sich auf, seine zitternden Schwingen fielen, und lautlos sank er in das Moos, mit den scharfen „Händen“ noch verkrampft im Fleische seines Opfers.

„Ihr Liebling!“ Sigenot eilte auf den Falken zu. Aber da sprengte Recka zwischen den Bäumen einher, mit dem zornigen Ruf: „Laß Deine Hand von meinem Falken!“

Die Stirn von dunkler Röte übergossen, trat Sigenot zurück, während Recka aus dem Sattel sprang. Nun sah sie den Falken liegen, leblos. „Edilo!“ jammerte sie und warf sich auf die Knie. Mit zitternden Händen löste sie die Fänge des Falken und rüttelte ihn, als könnte sie ihn gewaltsam wieder zum Leben erwecken! „Edilo!“ Aber die Schwingen des Vogels hingen schlaff, sein Kopf baumelte, und über die erloschenen Augen waren halb die dünnen gelben Lider gefallen. Recka ließ den toten Falken sinken und starrte ihn an. „Mein Einziges, mein Letztes und Liebstes!“ Zähren perlten über ihre Wangen.

[224] Ein Zittern befiel den Fischer, als er diese Thränen sah. „Geh’, thu’ nicht weinen!“ sagte er mit schwankender Stimme. „Schau’, wenn ich den Falken wieder lebig machen könnt’, ich weiß nicht, was ich gäb’!“

Recka hörte nicht, was er sagte, nur der Klang seiner Stimme schlug an ihr Ohr; sie hob die funkelnden Augen, ihr Gesicht verzerrte sich im Zorn und mit geballten Fäusten sprang sie auf. „Fischer, was hast Du meinem Falken gethan?“

„Nichts, Recka!“ stammelte Sigenot. „Ich hab’ ihn nicht angerührt.“

„So hat ihn wohl die Ente zu Tod gestochen mit ihrem stumpfen Schnabel? Oder hat sie ihn erwürgt, da sie schon verendet lag? Er flog und lebte ... und Deine Hände haben gegriffen nach ihm!“ Sie trat vor den Fischer hin, bebend vor Zorn und Erregung. „Was hast Du meinem Falken gethan?“

„Nichts, Recka! Ich hab’ es schon einmal gesagt und meine Red’ ist Treu’ und Wahrheit.“

„So treu und wahr, wie daß mein Falk noch lebt!“ fiel Recka dem Fischer mit schriller Stimme ins Wort. „Wenn Du ihn schon erschlagen hast, so hab’ doch den Mut und sag’ mir’s ins Gesicht! So sag’ es doch frei heraus: das ist die Vergeltung für Hennings Pfeil und Stein!“

„Recka!“ Erbleichend war Sigenot zurückgetreten.

„So nimm sie, Deine Buß’!“ Mit zuckender Hand hob sie den Falken von der Erde und schleuderte ihn vor die Füße des Fischers. „Hennings Pfeil hat Dich gefehlt, mich aber hast Du getroffen in meinem Einzigen und Liebsten. Und üble Buß’ hast Du genommen ... Henning hat geschlagen wider einen, der in Wehr und Eisen geht, Du aber hast geschlagen wider mein wehrloses Tier ... noch schlechter als er bist Du!“ Zorn und Zähren erstickten ihre Stimme, sie wandte sich ab und ging ihrem Rosse zu, welches mit schleifendem Zügel zwischen den Baumen graste.

Da vertrat ihr Sigenot den Weg. Fahle Blässe bedeckte seine Züge, seine Augen brannten und seine Stimme klang, als läge eine würgende Hand an seiner Kehle. „Du hast mir gesagt, was keiner, der Mannesnamen hat, mir sagen hätt’ dürfen, ohne daß ich ihn niedergeschlagen hätt’ mit meiner Faust.“ Mit heiserem Lachen richtete sich Recka auf, und ihre Hand griff nach dem Messer am Gürtel. „Laß die Hand von Deiner Wehr! Ich brauch’ nicht denken, daß Du ein Weib bist, ich denk’ nur, was Du gestern gethan hast für meine Schwester ... und der Schimpf, den Du mir angethan, ist wett gemacht. Noch einmal sag’ ich Dir: ich hab’ Deinem Vogel an keine Feder gerührt! Ich hab’ gesehen, wie er fallt und wie ihm das Leben ausgeht ... und mir ist leid gewesen um ihn, denn ich hab’ gewußt, daß der Vogel Dir lieb ist. Hätt’ ich Buß’ gesucht für Hennings Pfeil und Stein, ich hätt’ wohl anderen Weg genommen als zu Dir und Deinem Vogel!“

Recka wollte sprechen, doch wie ein glühender Strom floß Sigenots Rede. „Ich hab’ gar wohl geschieden zwischen Deinem Bruder und Dir! Und hab’ ich ihn gehaßt wie der Tag die Nacht ... Dir bin ich gut gewesen wie der Baum dem Licht. Was schaust mich an? Das Wort ist heraus ... und weil wir schon raiten miteinander, soll geraitet sein bis auf das letzte Wörtl! Dir bin ich gut gewesen, seit ich denk’ ... und hab’ zu Dir aufgeschaut wie die Morgenerd’ zur lieben Sonn’. Ich mein’, Du hätt’st es merken können auf dem Weitsee in derselbigen Sturmnacht, in der ich untreu mein eigen Blut hab’ sinken lassen, weil ich greifen hab’ müssen nach Dir!“

Reckas Gesicht verfärbte sich, und mit tastender Hand griff sie nach einem Baum, als bedürfte sie einer Stütze.

„Und seit ich Dich in derselbigen Nacht gehalten hab’ an meinem Herzen, derzeit hab’ ich hangen müssen an Dir in Weh’ und Lieb’, derzeit hab’ ich denken müssen an Dich in Licht und Finsternis, öfter in jeder Stund’, als der streifende Wolf in der Schneenacht die eigene Fährt’ überläuft!“ Schweratmend verstummte Sigenot und drückte die Fäuste auf seine Brust, als könnte er gewaltsam den Sturm bezwingen, der in seinem Herzen entfesselt war.

„So sprich doch weiter!“ stieß Recka mit versagender Stimme hervor. „Red’ es doch zu End’, was mein Vater begonnen hat in der heutigen Nacht ... es klingt ja Deine Red’ zu der seinigen wie das Echo zum Hall.“ Sie lachte zornig. „So sag’ es doch, daß Du mit ihm eins geworden ... sag’ es doch, daß Du geschachert hast und den Preis bestimmt, für den Du mit ihm gehen willst auf gleichem Weg und zu ihm halten wider die Klosterleut’! Eins aber merk’ Dir: eh’ Du mit Deiner heiß gewordenen Fischhand rühren sollst an mich, eh’ mögen die da draußen beim Lok’stein meines Vaters Dach über mich und meine Brüder werfen!“

Sigenots Arme sanken und seine Augen richteten sich mit festem Blick auf Recka. „Ich weiß nicht, was Du meinst! Doch daß ich zu Deinem Vater und zu Deinen Brüdern halt’, daß ich einen Weg geh’, auf dem ich Treu’ und Recht nicht find’, dafür giebt’s keinen Preis in der Welt, und möcht’ er so schwer auch wiegen, wie Du mir gewogen hast! Ich kann mein Herz nicht umwerfen, wie der Bauer die Erd’ mit seinem Pflug ... aber sterben kann ich an meiner Treu’, die meinem Haus und Blut gehört und dem, was recht und gut ist! Schau’ her!“ Er raffte einen dürren Ast von der Erde. „Schau’ den Stecken an! In aller Not, die Deine Brüder sinnen wider mein Haus, nach allem Schimpf noch, den Du mir angethan, hängt meine Lieb’ an Dir wie Holz an Holz! Aber so“ – mit jähem Ruck zerbrach er den Ast und schleuderte das eine Stück zur Linken, das andere zur Rechten – „so gehen unsere Weg’ auseinander! Ich bin, was ich sein muß ... und Du bist Blut von Wazes Blut! Zwischen Dir und mir ist ein Wasser, das nimmer ausrinnt, zwischen Dir und mir ein Berg, der nimmer fallt und eben wird!“

Mit bleichen Lippen wandte Sigenot sich ab und schritt durch den Wald der Ache zu. Recka stand zitternd, mit fahlem Gesicht und ballte die Faust. „Triff ihn, Henning!“ keuchte sie. „Triff ihn ... und ich will den Streich nicht schelten!“ Stöhnend schlug sie die Hände vor das Gesicht und so stand sie lange, an den Baum gelehnt. Endlich ließ sie die Arme sinken; wie versteinert waren ihre Züge. Sie ging auf den Falken zu, hob ihn von der Erde und bestieg das Roß; langsam ritt sie durch den Wald, keinen Zügel führend, dem Pferde die Sorge um den Weg überlassend. Im Schoße hielt sie ihren toten Liebling, und während sie mit starrem Auge auf ihn niederblickte, suchte ihre zitternde Hand das wirre Gefieder zu glätten.

Um die Wildente, welche vergessen im Moose lag, begannen die Fliegen zu summen ...

Der Abend kam, still und mit goldigem Schimmer. Ein leiser Wind erwachte und von den grünen Buchen flatterte zuweilen ein gelbes Blatt zur Erde; im Sommerleben der Natur erwachte schon die Ahnung des nahenden Winters. Ueber den Feldern der Schönau, hoch in den Lüften, kreiste eine Schwalbenschar, die sich sammelte zur Wanderung in die Ferne.

Im roten Schein der sinkenden Sonne wanderte Sigenot, einem Pfad am Ufer der Ramsauer Ache folgend, über die Halden der Strub, vorüber an kleinen hagumschlossenen Hütten. Von der Höhe des Lokiwaldes klang der Hall der Glocke. Sigenot verhielt die Schritte und seine Augen schweiften mit kummervollem Blick hinauf über das schattige Waldgehänge. „Für alles kann er halt doch nicht helfen!“ murmelte er, streifte mit der Hand über die Stirn und wanderte weiter.

Die Glocke klang. Sie läutete den letzten Feierabend der Woche ein und grüßte mit ihrem Hall die vollendete Klause, auf deren mit Reisig, Moos und Rinden gedecktem Dach neben dem hölzernen Kreuzlein ein grünes Tannenbäumchen ragte.

Bruder Wampo kochte am flackernden Feuer das Abschiedsmahl für die Knechte, welche in der Mondnacht mit den Saumtieren heimziehen sollten nach der Salzaburg. Waldram lag im Zelte, gepeinigt vom Schmerz der schwer heilenden Geißelwunden; Eberwein schaffte noch im Zwielicht des Kirchleins, an der hölzernen Platte schnitzend, die er für den steinernen Altar gefertigt hatte. Vom ragenden Kreuze blickte das farbige Bildnis des Erlösers auf ihn nieder.

Vom Strang der Glocke hinweg war Bruder Schweiker wieder in die Klause getreten, um die kleinen Kammern zur Not für diese erste Nacht noch wohnlich einzurichten. Sein Gesicht war bleich, seine Augen hatten einen verlorenen Blick, und alle Arbeit that er wie ein Träumender.

Die Knechte hatten ihr Mahl genommen und standen zur Heimfahrt bereit, jeder ein Saumtier führend, jeder ausgerüstet mit einer Kienfackel, deren Flammen in der Nacht die Raubtiere verscheuchen und den Weg erleuchten sollten, bis das Licht des Vollmondes niederfiele in das enge Thal. Mit herzlichen Worten gab Eberwein den Knechten Abschied. Schweiker drückte wortlos ihre schwieligen Hände und klopfte die Saumtiere auf den Hals zum Gesellendank für die Arbeit, welche sie redlich mit ihm

[225]

An der Küste von Abbazia.
Nach einer Originalzeichnung von T. Grubhofer.

[226] geteilt hatten in dieser fleißig durchschafften Woche. Seufzend, mit traurigen Augen, blickte Bruder Wampo den abziehenden Knechten nach.

Als sie im Dämmerschein des Abends zwischen den Bäumen verschwanden, sagte Eberwein: „So stehen wir allein und wollen vertrauen auf den Schutz des Himmels. Bruder Schweiker, reiche mir die Stola und das heilige Wasser, daß ich unsere Klause weihe, ehe wir zur ersten Nacht unter ihrem jungen Dach die Häupter bergen!“

Schweiker ging zu den Zelten; als er zurückkehrte, küßte er das weiße goldgestickte Band, bevor er dasselbe um die Schultern Eberweins legte. In sinkender Nacht, umgeben von lautloser Stille, schritten sie um das Kirchlein und die Klause. Mit bewegter Stimme sprach Eberwein die Worte der Weihe und taufte die Klause auf den Namen des heiligen Martin. „So wie Du Martinus, der Du nun wohnest in Gottes Nähe,“ sprach er, aufblickend zum sternhellen Himmel, „so haben auch wir unser frommes Haus errichtet in Wald und Einöd’, zwischen irrenden Menschen und streifendem Getier. Sei diesem Haus, das Deinen Namen trägt, ein Schirm und Schutz!“ Die Brüder sprachen das Amen. Im Kirchlein wurde das ewige Licht entzündet und in der Herdstube das erste flackernde Feuer. Waldram, welcher kaum eines sicheren Schrittes mächtig war, wurde von Eberwein in die Klause geführt. Schweiker brach die Zelte ab und verwahrte das heilige Gerät und die Werkzeuge; Bruder Wampo schleppte das kleine Gebinde mit dem Meßwein und die schmal gewordenen Vorräte in eine der Kammern. Dann saßen Eberwein, Wampo und Schweiker auf niederen Holzklötzen um das flackernde Feuer, dessen Flamme den ersten Ruß an die hölzerne Mauer hauchte. Rot leuchtete der Herdschein in die stille Nacht hinaus, denn Thür und Fenster waren noch unverwahrt. Sie besprachen den kommenden Tag.

„Ich will im Morgengrau die Messe lesen,“ sagte Eberwein, „dann will ich den Stab zur Hand nehmen und hinauswandern über den weiten steinigen Acker, auf dem wir pflügen sollen und Gottes Samen streuen. Unseren Bruder Hiltischalk in der Ramsau will ich grüßen, und von all’ meinen Wegen der erste soll der armen Hirtin gelten, damit ich nach ihrer Wunde sehe.“

Schweiker rückte auf dem Holzpflock und starrte ins Feuer, während Bruder Wampo seufzte: „Jetzt wird das Bartele sobald wohl nimmer kommen! Das ist doch ein schiecher Mensch, der das gethan hat!“

„Er soll es mir sühnen an dem Kinde, so wahr ich Herr dieses Landes bin!“ Eberwein sprang auf. „Herr Waze will nicht kommen, so muß ich ihn rufen zum andernmal!“

„Schicket mich, Herr!“ fuhr es über Schweikers Lippen. „Ich will denselbigen, der Henning heißt, wohl finden in Wazemanns Haus.“

Eberwein schüttelte den Kopf. „Nein, Bruder! Du hast mir zu schnelle Fäuste für solche Botschaft. Ich brauche nur eine Zunge!“

„Dä muß halt die meimge herhalten!“ meinte Wampo. „Schicket mich nur, Herr! Ich will reden mit diesem Waze und seinen Buben – jedes Wörtlein ein Pfeilschuß! Ich fürcht’ mich nicht! Ich will mich schon rüsten mit Kreuz und Rosenkranz, dann sollen sie nur anrücken wider mich!“

Ein freundliches Lächeln ging über Eberweins ernste Züge. „So ziehe morgen hinaus zum Schönsee! Folge nur der Ache, und Du findest den Weg. Und kommst Du in Wazes Haus“ – Eberweins Brauen furchten sich und seine Augen blitzten – „so lad’ ihn im Namen unseres Heiligen, seines Herren, binnen drei Tagen mit seinem Sohne Henning zu erscheinen vor meinem Aug’. Es ist Gericht, das ihn erwartet!“

„In unseres Heiligen Namen, ich lad’ ihn, Herr!“

„Und kommt er nicht,“ murmelte Schweiker, „so will ich ihn holen!“

„Nun wollen wir den Tag beschließen!“ Sie löschten in der Stube das Feuer und gingen zur Ruhe. Eberwein und Waldram schliefen in getrennten Zellen, Schweiker und Wampo gemeinsam in einer Kammer, welche an die Wand des Kirchleins stieß.

(Fortsetzung folgt.)




Unter den Anarchisten Londons.

Ein unheimliches grauenhaftes Gespenst ist es, welches gegen das Ende des Jahrhunderts immer drohender sein von Wahnsinn und Grausamkeit entstelltes Haupt emporhebt: der Anarchismus, die „Weltverbesserung“ durch Mord und Brand und Verbrechen aller Art, durch Vernichtung alles Bestehenden, aller seitherigen Ideale der Menschheit. Der verhängnisvolle Irrwahn, durch eine Aera der brutalen Gewalt könne das Zeitalter der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit heraufgeführt werden, ist allerdings nicht neuesten Datums. Aber bis in die letzte Zeit durfte man glauben, daß immer nur einige Wenige sich zu diesem Irrwahn bekennen oder gar durch die That ihn vertreten würden. Die Ereignisse der letzten Jahre, die mehr und mehr sich häufenden anarchistischen Schandthaten lassen diese Ansicht leider als irrig erscheinen. Wir wissen jetzt, daß wir es nicht mit vereinzelten Fanatikern, sondern mit einer weitverzweigten und wohlorganisierten Gemeinschaft zu thun haben, die ihren Hauptsitz ia London aufgeschlagen hat. –

Es war in den Tagen nach dem Attentat Vaillants in der französischen Abgeordnetenkammer. Der Schrecken, den der empörende Anschlag überall hervorrief, und die politischen Kommentare, die sich daran knüpften, bewogen mich zur Ausführung eines längst gehegten, aber immer wieder in den Hintergrund gedrängten Planes: eines Besuchs an der Centralstelle aller Anarchisterei der Welt, in dem Londoner „Autonomie-Klub“. Ich wollte die Leute einmal von Angesicht zu Angesicht und gleichsam unter sich sehen, die Leute, die verbrecherisch genug sind, der ganzen Welt den Fehdehandschuh in Gestalt von Dynamitbomben hinzuwerfen. Ich erinnerte mich eines kleinen, etwas verwachsenen Franzosen, mit dem mich meine Journlistenlaufbahn einmal in nähere Berührung gebracht hatte und der in dem Rufe stand, mit den Helden des Autonomie-Klubs in Beziehungen zu stehen. Er mußte mir zum Führer dienen. Und in der That war der bewegliche Franke nach einigen Einwendungen auch bereit, mich zu geleiten.

Am folgenden Abend gegen 10 Uhr standen wir vor dem unansehnlichen Hause Nr. 6 der schmutzigen kleinen Windmill- Street, in der Nähe von Tottenham Court Road, jenem Quartiere mitten in London, wo politische Flüchtlinge und ausländische Verschwörer vielfach ihr Heim aufgeschlagen haben. Groß hoben sich von der Glasscheibe über der niederen schmalen Hausthür die Worte ab: „Club Autonomie“; schon in der sprachlichen Form also trug die Aufschrift des Hauses eine gewisse Internationalität zur Schau. Ob man uns wohl einlassen – und wenn, ob und wie man uns wieder herauslassen würde? Ich gestehe, daß mich in diesem Augenblick doch ein Gefühl des Unbehagens beschlich, und ich erschrak heftig über den lauten Klang des die Stelle der Klingel vertretenden Thürklopfers, den mein Gefährte ungeniert und kräftig in Bewegung setzte.

Es dauerte einige Zeit, bis drinnen der Hüter der Thüre erschien. Mißtrauisch musterte er mich, dem er den fremden Eindringling auf den ersten Blick ansehen mochte, und erst nach einigem Parlamentieren mit meinem Begleiter gab er den Weg frei.

Eine kleine Wendeltreppe führt hinauf zu einem ziemlich geräumigen Saale. Trübe erhellen ihn ein paar qualmende Lampen. Im Hintergrunde eine Art Büffett, wie sie in den englischen Kneipen üblich ist.

Wir nehmen an einem der wackligem schmierigen Tische Platz, auf denen ein paar Zeitungen und Broschüren in grellbunten Umschlägen herumliegen. Jeder bestellt sich sein Gläschen Whisky und erhält es auch, aber – nur gegen Vorausbezahlung! Da sitzen wir nun und ich höre und lasse die Eindrücke auf mich wirken.

In einer Ecke eine Gruppe von Deutschen, die englisch radebrechen und aus großen Pfeifen dazu rauchen, uns näher vier abgerissene Gestalten, drei Franzosen und ein Belgier, wie mich mein Genosse belehrt, ungefährliche Gesellen, denen ihr Kartenspiel – im Augenblick jedenfalls – wichtiger ist als die Zukunft des Anarchismus.

Ein junger Mensch mit blondem, schon von grauen Fäden durchzogenem Haar tritt auf uns zu und setzt sich zu uns.

„Kein lustiges Leben für die Genossen in London!“ [227] antwortet er auf eine Frage meines Begleiters, der ihn zu kennen scheint. „Das Elend, das traurigste Elend für die meisten – besonders für die Franzosen. Die Deutschen und die Russen finden noch eher Arbeit, aber uns – man könnte meinen, man habe sich gegen uns verschworen, uns nirgends ankommen zu lassen. Und so müssen wir Hungers sterben.“ Und indem er seine Rede mehr und mehr an mich richtete, fuhr er fort: „Sehen Sie, ich bin Schneider und verdiene zur Not, was ich zum Leben brauche – aber die andern! Man redet ja wohl von den gefüllten Kassen, von den Hilfsquellen der Partei! Ja, guten Morgen, Partei! Es giebt unter den Flüchtlingen kein Gemeinschaftsgefühl. Diese Spaltungen trennen die Parteimitglieder, selbst die, welche zu diesem Klub gehören, der doch angeblich nur Freunde beherbergt. Einer wird am andern zum Spion, und wenn die Polizei eine geschicktere Hand hätte, wahrhaftig, sie hätte mit Leichtigkeit verhindern können, was geschehen ist. Wir sollen von hier Geld nach Frankreich geschickt haben. Wir! Geld! Woher sollen wir es denn haben? Um die fünfzehn Franken zusammenzubringen, die der Druck eines Aufrufs kostet, müssen wir wochenlang überall herumbetteln. Zwanzig Genossen kann man den Geldbeutel umdrehen und findet noch kein Pfund Sterling drin!“

So redete sich der Mann immer tiefer in Eifer. Später habe ich erfahren. daß er Martial Bourdin hieß und kein anderer war als jener Bourdin, der im Park von Greenwich das Opfer seines eigenen Anschlags gegen das astronomische Observatorium wurde.

Unterdessen hatte sich der Saal mehr und mehr gefüllt. Leute jeden Alters, Greise, halbreife Burschen, würdig aussehende Männer und abgefeimte Galgengesichter, alles drängte sich durcheinander. In einem Winkel hatte ein sanft und gutmütig dreinschauender Jüngling ein kleines Kind auf den Knien sitzen; die Genossen hatten es adoptiert, nachdem seine Mutter gestorben war. Armes Würmchen! Welches Los harrt deiner, mit welch schrecklichen Lehren werden sie dein Köpfchen füllen, wenn es kaum zu begreifen anfängt!

Die Gespräche, erst auf kleine Gruppen beschränkt, werden lebhafter und allgemeiner. Eifrige Debatten entspinnen sich. Redner treten auf und folgen sich ohne Unterlaß; aber immer weniger vermögen sie den allgemeinen Lärm zu übertäuben, bald sprechen fünf, zehn zugleich und auch ihre Stimme erstickt in den rauhen Tönen der Revolutionslieder, die schließlich dem tollen Wirrwarr die Krone aufsetzen. Dazu der Qualm der Lampen und Pfeifen, der Geruch von verschüttetem Bier und Schnaps ....

„Kommen Sie, wir wollen gehen,“ mahnte mein Führer, und es bedurfte bei mir keiner weiteren Ueberredung mehr. Mit einiger Ellbogenarbeit gelang es uns, glücklich und wohlbehalten das Freie zu gewinnen.

Es war noch nicht Mitternacht, und da wir einmal auf der „Studienreise“ waren, so erbot sich mein Begleiter, mir noch einen andern „Klub“ zu zeigen, der seit einiger Zeit sich großen Zulaufs erfreue. Ich ging auf den Vorschlag ein, obwohl nach dem eben Erlebten ohne große Begeisterung. Nach einigen Irrfahrten durch die Gassen und Gäßchen der Millionenstadt hielten wir vor dem Hause Nr. 5 der Widfieldstraße. Den Eingang bildete ein großes zweiflügeliges Thor, das fest verschlossen war. Drei Schläge in bestimmt abgemessenen Pausen und die Flügel des Thors thaten sich zu einer schmalen Spalte auf, hinter der ein rotbärtiger Riese erschien. Wieder kostete es einige Verhandlungen, diesmal unter Begleitung eines Schillingstückes, und man ließ uns ein in einen großen düstern Hof, in welchem Wagen und Fahrzeuge aller Art umherstanden. Von beiden Seiten hörte man Pferde wiehern, und der entsprechende Geruch stieg energisch zur Nase. Aus einer breiten verglasten Oeffnung im Hintergrunde drang ein Lichtstrom heraus in das Dunkel des Hofs. Wir befanden uns vor dem Lokale des Klubs „Ecurie“, zu deutsch „Stall“.

Das Innere war denn auch danach! Als wir eintraten, vermochten wir erst rein nichts zu erkennen vor Qualm und Rauch. Ein durchdringender Bier- und Schnapsdunst quoll uns entgegen, und als wir uns ein wenig akklimatisiert hatten, war der erste Anblick, der sich uns bot, ein Paar abscheulicher alter Weiber, die wütend aufeinander losschimpften. Allmählich unterschieden wir noch ein paar Kartenspieler und ein – Billard, an dem eine Gruppe der abgerissensten Gesellen ihre Partie machte. Zahlreiche Deutsche, Russen, Spanier, Holländer, Franzosen und selbstverständlich auch Engländer saßen da oder schoben sich in dem engen Raume durcheinander, eine wahre internationale Lumpengesellschaft, halb betrunken, streitend, brüllend, kreischend – wahrhaftig, der „Stall“ führte seinen Namen mit Recht: es war ein Augiasstall, der einen tüchtigen Besen verdient hätte.

Ich hatte bald genug von diesem „Studienplatz“. Wir drückten uns rasch wieder hinaus aus der entsetzlichen Höhle; und mit wahrer Wonne sog ich draußen den dicken Nebel ein, der auf den Straßen Londons lag.

Wenige Tage darauf wurde der Autonomie-Klub geschlossen. Es geschah nicht eigentlich, wie fälschlich berichtet wurde, durch die Polizei, nur mittelbar hat diese ihre Hand im Spiele gehabt. Als durch die Bourdinsche Bombe im Park von Greenwich die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Londoner Anarchistenherd gelenkt wurde und ein Sturm der Entrüstung sich darüber erhob, daß diese gefährlichsten Feinde aller menschlichen Kultur dort so ungehindert ihr Wesen treiben und ihre Anschläge schmieden durften, glaubte das Ministerium, zum Teil wohl auch einem Druck von seiten der auswärtigen Regierungen gehorchend, wenigstens äußerlich etwas thun zu müssen, was wie ein Vorgehen gegen die Anarchisten aussah. Die Polizei drang am Abend nach jenem Vorfall plötzlich in den Autonomie-Klub ein und erklärte sämtliche Anwesende für verhaftet. Sie hielt dieselben auch wirklich mehrere Stunden lang in den Räumen des Klubs fest, veranstaltete eine sorgfältige Haussuchung, fragte die „Gefangenen“ nach Wohnung und Herkunft und – ließ sie wieder springen. War das alles auch nur ein auf den Eindruck nach außen berechnetes Scheinmanöver, so hatte es doch nebenbei die Wirkung, daß eine Reihe von Mitgliedern, die nicht bloß um ihrer anarchischen Gesinnung willen, sondern auch wegen gewöhnlicher Uebelthaten Grund hatten, der Polizei aus dem Wege zu gehen, den Staub Londons von ihren Füßen schüttelten. Zugleich machte sich in den Volksmassen eine heftige Erregung gegen den Autonomie-Klub geltend; den Bombenwerfern wurde selbst mit Bomben gedroht und einmal auch schon ein Versuch zur Erstürmung des Hauses in der Windmill-Street gemacht, so daß den übrigen Anarchisten der Boden entschieden zu heiß unter den Füßen wurde. Sie blieben plötzlich weg, und so wurde der Autonomie-Klub „geschlossen“.

Uebrigens hatte das Einschreiten der Polizei – oder wohl schon das Ereignis im Greenwichpark – noch eine andere Folge. Es brachte eine völlige Spaltung zwischen den Anarchisten hervor. Die Engländer, von denen immer nur eine ganz geringe Anzahl ihnen zugehörte, sagten sich mit zwei oder drei Ausnahmen von den „entschlosseneren“ Elementen los, die nunmehr in dem südlichen Londoner Vorstädtchen Kennington – nicht zu verwechseln mit dem vornehmen Kensington – ihre geheimen Zusammenkünfte halten. Unter ihnen spielt ein deutscher Schneider eine hervorragende Rolle. Die übrigen sind zumeist Franzosen, Italiener und Tschechen und ein wohlhabender Engländer liefert ihnen manche Mittel. Zu ihnen gehört auch Luise Michell, die in London ein – Mädchenpensionat errichtet hat. Sie sind die gefährlichste Gruppe. Und wie bislang auf dem europäischen Festland kaum ein Gewaltstreich ausgeführt wurde, der nicht von den „Autonomisten“ geplant und ins Werk gesetzt worden, so dürfte die „Förderung“ solcher „Unternehmungen“ jetzt wohl die Sache der allerdings wesentlich zusammengeschrumpften, aber vielleicht um so entschlosseneren Schar in Kennington werden.

Die Engländer blicken mit Stolz darauf zurück, daß ihr Vaterland seit langem die Zufluchtsstätte politischer Flüchtlinge aus allen möglichen Ländern und allen möglichen Schichten der Bevölkerung gewesen ist. Fürsten haben hier ein ebenso freies Asyl gefunden wie Revolutionäre. Der Ruhm soll England ungeschmälert bleiben. Aber dies Land der Freiheit kann doch nicht die Anarchisten, die Feinde aller Kultur, als eine politische Partei respektieren, kann doch nicht Leute unter den Schutz eines besonderen Asylrechts stellen, die selbst jedem Rechte Hohn sprechen! Eine schärfere Ueberwachung der Anarchisten ist das Allermindeste, was man von der englischen Regierung verlangen muß. Das dürfte vorläufig doch noch praktischer sein als etwa eine Unterstützung jener Bewegung, die jetzt in Frankreich so viel von sich reden macht und die darauf hinausgeht, „den Anarchisten Gelegenheit zu geben, ihre Ideen zu verwirklichen“, indem man sie allesamt – – nach irgend einer fernen Insel sich einschiffen ließe, wo sie dann nach ihren Idealen eine Gesellschaft ohne Gott, Herrscher und Gesetz begründen könnten. B. L.     


[228]
Nur ein Baum.
Ein Nachruf.
Von Ernst Lenbach.0 Mit Zeichnungen von G. Buchner.

Wenn einer weiß, daß er zum Tode verurteilt ist, so geht er in sich und stellt sich recht still und bußfertig dar. Man sollte es meinen. Den ich aber heut’ abend gesehen habe, der schaute überaus fröhlich aus. Sein bestes Festgewand hatte er angelegt, gab große Gesellschaft, und seine Gäste lärmten und sangen, als sollte die Freude gar kein Ende nehmen.

Es war aber freilich kein Mensch, es war nur ein Baum. „Nur ein Baum!“ sagen wir Menschen. Wir sollten billig bedenken, daß so ein armes Gewächs mit dem Tode noch ganz anders hin ist als unsereins. Für uns ist der Tod nur ein Uebergang, ein Umsteigen, wenn wir auch über die Richtung des nächsten Zuges nicht ganz einig sind. Aber solch ein Baum – der ist wirklich tot, wenn er gestorben ist. Ganz tot. Und er war doch einst so lebendig, als ich ihn zuerst sah. Das ist jetzt erst vier Jahre her. Damals war er schöner als der schönste Apfelbaum, den sich manche Eva denken könnte. Er stand auf dem „Zuckerweck“, und das ist das Merckwürdigste. Denn der „Zuckerweck“ trug gewiß mancherlei seltsame Blüten, aber Apfelblüten hätte dort keiner gesucht.

Der „Zuckerweck“ war die schmalste, krummste und bauplanwidrigste Gasse der Stadt. Eine alte Festungsmauer war nach und nach so weit verwittert und eingestürzt, daß sie mit ihren Trümmern den dazugehörigen Graben notdürftig ausfüllte. Darüber hatte sich von den zerbröckelnden Steinen etwas Erdreich angesetzt, eilfertige Füße hatten einen Pfad getreten: nach links den Berg hinauf, nach rechts den Berg hinunter, und beiderseits an diesem Pfad hatten arme Leute ihre Hüttchen gebaut, bis allmählich eine ordentliche Straße im Westentaschen-Format daraus geworden war – bergauf, bergab, krumm wie ein Zuckerweck.

Es waren nur sechs oder sieben Häuschen auf jeder Seite. Die in der Mitte standen so hoch, daß man von der Hausthür aus den Bewohnern der untersten aufs Dach husten konnte. Es that’s aber keiner, denn die hier wohnten, hielten Frieden. Sie hatten meist gar keine Zeit, sich mit anderen Leunten zu zanken.

Ziemlich zu unterst am inneren Ende, da wo es zur Altstadt hin ging, lag das kleinste Häuschen, und daneben, auf einem neun Quadratfuß großen Gärtchen, wuchs der Apfelbaum. Weiß der Himmel, wer ihn dorthin gepflanzt hatte. Gewiß war es nicht mit Willen geschehen. Auch sah der Baum krumm und krüpplig aus, ganz als ob er um Entschuldigung für sein Dasein bitten wollte. Aber er blühte trotzdem sehr schön und reichlich.

Als ich ihn zuerst sah – ich war gewiß nicht um seinetwillen den „Zuckerweck“ hinauf und hinab gestiegen und wußte überhaupt nicht, daß hier ein Baum stand – da that er es mir sogleich dermaßen an, daß ich nicht vorbei mochte. Ein unwiderstehliches Gelüst befiel mich, einen von seinen Zweigen mit den rötlichweißen süßduftenden Blüten mitzunehmen. Also ging ich hinein in den sogenannten Garten, den außer dem Baum ein Tischlein mit zwei Schemeln völlig ausfüllte, und bat um ein blühendes Reis. An dem Tischlein saßen die zwei Bewohnerinnen des Häuschens, eine bucklige Näherin und ihre junge Nichte, das war ein schlankes Mädchen, kaum aus den Kinderschuhen heraus, mit dicken blonden Flechten, blassen zarten Wangen und zwei großen fragenden Augen, von einer Farbe wie Syringenblüten, die lange in der Sonne gestanden haben. Sommersonne bei Frühlingsblüten und dumpfe enge Dämmerung der Armut bei Menschenblumen haben das miteinander gemeinsam, daß sie alles ungeduldige Keimen und Leben in eine trügerische Blässe kleiden. Was im Keller treibt, wird blaß. Es treibt aber doch.

Das ältere Fräulein nickte geschmeichelt, als ich ihren Baum lobte und um ein Zweiglein bat. Die Nichte sollte mir eins abschneiden. Unterdes mußte ich auf dem verlassenen Schemel Platz nehmen. Die Tante erzählte dann, wie still und friedlich sie hier lebten, wie sie gar nichts merkten von der Welt draußen, und wie ihr das besonders lieb sei um ihrer jungen Nichte willen. Denn da draußen lauerten ja tausend Gefahren für ein unerfahrenes Mädchen. Sie trug das alles mit ziemlich klangloser Stimme vor, eintönig und überzeugt, wie ein langgewohntes Gebet, und nähte unterdessen eifrig weiter.

Die Nichte stand derweil hinter dem Stuhl der Redenden, suchte prüfend mit ihrer Schere in der Hand den Zweig für mich aus und ein paarmal bewegte sie die Hand mit der Schere zierlich lebhaft hin und her. Ich dachte, es geschehe, um die Fliegen und Käfer abzuwehren, die sich’s in dieser Oase von Blüten wohl sein ließen. Dann sah ich aber jenseit der Maner in der sonnigen Stadtgrabenstraße einen Studenten mit bunter Mütze stehen, der lächelte und winkte auch herüber. Es war eine wunderliche Erläuterung zu dem Vortrag der Alten. Ich nahm meinen Zweig in Empfang, dankte und ging.

Seitdem haben die Bäume schon viermal wieder Blüten angesetzt und die alte Stadt hat sich merkwürdig rasch verändert. Es ist ein neuer Trieb in sie gefahren, ich habe sie kaum wieder erkannt, als ich aus dem eben erbauten Bahnhof heraustrat. Der Bahnhof liegt diesseit des „Zuckerwecks“, in der Neustadt, das alte Sträßlein mit seinem Auf und Ab von baufälligen Hütten hemmte den mächtig anschwellenden Verkehr zwischen Bahn und Stadt. Sonach hat man die Häuslein angekauft und weggerissen, der Hügel wird abgetragen, es soll eine neue, breite, stolze Straße werden.

Einstweilen ist von der neuen Straße noch nicht viel Rühmliches zu sagen: es ist ein lehmiger unebener Pfad zwischen Kalkpfützen und Haufen von Ziegelsteinen. Aber der Durchgang ist schon frei, und von der Bahnhofseite aus sind sogar schon die ersten Geschäftshäuser erbaut und besiedelt. Trockenwohner nennt man in den großen Städten die armen Leute, die um ein Geringes die neuen Villen zuerst ein halbes Jahr einnehmen dürfen, um die Feuchtigkeit und sonstige Krankheitsträger wegzuwohnen. Was sich jetzt zunächst in den ersten Häusern der neuen Geschäftsstraße breitmacht, könnte man Trockenläden nennen. Später kommen dann die wahren Läden nach, mit glänzender Einrichtung, [229] festen Preisen, lächelnden Ladennymphen und den „neuesten Nouveautés der Saison“.

Gerade bis zu dem alten krüppligen Apfelbaum sind die Neubauten schon vorgerückt. Neben ihm, dort, wo einst das Häuschen der Näherin stand, wird schon der Grund für die Kellermauern eines umfangreichen Geschäftshauses ausgeworfen. Der graue verwitterte Stamm ist von Kalkspritzern entstellt, und als ich heut’ abend vorüberging, sah ich, wie ein Polier mit dem Finger an ihm vorbeistrich und sagte: „Morgen muß er dran glauben!“

Der alte Baum aber stand in voller Frühlingspracht. Seine unzähligen duftenden Blüten leuchteten, als wäre ein Teil der rosigen Abendwolken droben vom Himmel auf ihn herabgesunken. Und die Sperlinge und Buchfinken in den Zweigen sangen und zwitscherten, als müßte das ewig so wiederkehren, als wären sie überzeugt, daß die Menschen, wenn sie ihre Städte verschönern wollen, vor allem die Bäume als schönste Zier der Städte stehen und blühen lassen.

Mir machte dies alles einen überaus traurigen Eindruck, und als ich draußen vorm Thor meinen eigenen schönen Garten erreicht hatte, wo in den blühenden Büschen die Nachtigall sang, mußte ich immer wieder an den armen verlorenen Posten drinnen in der Stadt denken. Es trieb mich, ihm ein kleines Wort der Erinnerung zu weihen. Das habe ich denn hiermit gethan, viel eilfertiger als es einem Dichter geziemt. Wie manches hätte ich noch hinzu erfanden können von dem Geschick und Ende der alten Näherin und ihrer jungen Nichte, die in ihrer weltabgeschiedenen Stille doch auch schon die Frucht vom Baume der Erkenntnis zu kosten gewußt! Es ist aber am Ende viel alltäglicher und begreiflicher, daß ein Mägdlein, wo immer es leben mag, Liebe weckt und erwidert, als daß ein Apfelbaum auf dem „Zuckerweck“ stand und blühte jahrzehntelang.

Wenn es erlaubt ist, einem Baume zu wünschen, was wir alle uns einander zudenken, so möchte ich sagen: Gott geb’ ihm einen sanften und schnellen Tod! Mir und manchem anderen, der vorüberschritt, war er in trübseliger Umgebung ein liebliches Bild, armen und redlichen Leuten bot er jahraus jahrein vielleicht die einzige blühende Frühlingsfreude. Er ist gefallen als ein Opfer dessen, was wir die Kultur unserer Zeit nennen, als ein Opfer des Zeitalters des Verkehrs. Behüte der Himmel, daß ich diesen Verkehr, diese Kultur schelte! Wir alle sind ihre Kinder, und wir würden uns sehr unglücklich fühlen in jedem andern Zeitalter, auch in den gepriesensten unter allen Jahrhunderten, die gewesen sind. Ob nicht wieder andere, stillere, rückfällige Zeiten folgen, wer mag das wissen! Aber gewiß, ob und wie die Sitten sich ändern mögen, auch in allen kommenden Zeiten wird mit der Blütezeit jedes Jahres der Lenz in jungen Menschenherzen neu erwachen. Unter den blühenden Bäumen wird sich auch die Blüte der Jünglinge und Mädchen vereinen und mit scheuen Lippen den Schaum vom Kelch der Seligkeiten schlürfen. Und wenn sich dann zwei unter einem duftenden Wipfel zusammenfinden, dessen Ahnenkette zu dem bescheidenen Baume im Armengärtchen auf dem „Zuckerweck“ zurückführt, so sei ihnen im voraus mein Segen gespendet.




Ein Blick auf die Küste von Abbazia.
Von Heinrich Noë.0 (Mit dem Bilde S. 225.)

In früheren Tagen hatte ich, wenn mein Weg mich die istrische und dalmatische Küste entlang führte, oft im stillen bedauert, daß unsere Deutschen, wenn der Zug nach Süden sie über das große Gebirge und zum blauen Südmeere treibt, immerwährend nach Welschland pilgern, während sie doch in dem stammverwandten Oesterreich unter gleicher Gunst des Himmels sich von mancherlei freundlicher angemutet fühlen müßten als dort, wo sie in den Bannkreis einer zwar uralten, aber doch fremden Kultur und eines völlig verschiedenen Gesellschaftswesens eintreten. Schon der Umstand, daß hier auf österreichischem Boden die Behörden des Deutschen als Amtssprache sich bedienen, daß auch im Verkehr neben der landesüblichen die deutsche Sprache gepflogen wird, daß die Post und so manches andere, was man zur Aufrechthaltung des Zusammenhanges mit der Heimat braucht, deutsch sind, mußte solche Gedanken nahe legen. Die Südlandfahrten sind, wie wir wissen, heutzutage so im Schwange, daß man sich eine Hochzeitsreise ohne Lagunen kaum mehr denken kann und, in Süddeutschland wenigstens, kaum einen wohlhabenderen ehrsamen Bürger findet, der nicht schon den Vesun rauchen gesehen hat.

Die schöne Landschaft, der milde Himmel, die fremdartige Pflanzenwelt, das blaue Meer, das alles besaß auch die österreichische Adriaküste – aber es fehlte an Gaststätten, denen man die Leute mit den Gepflogenheiten, die sie nun einmal haben, anvertrauen konnte.

Mit den Jahren kam mir allgemach die Lust, bei Gelegenheit von all diesen schönen Dingen zu erzählen. Lange Zeit blieb das ohne Erfolg. Einmal aber – es sind jetzt zwölf Jahre her – traf es sich, daß ich von einer weitverbreiteten Zeitung aufgefordert wurde, eine Uebersicht über die Ziele der Frühlingsreisen zusammenzustellen. In dieser Arbeit kam folgende Stelle vor:

„Jetzt gerate ich auf mein wahres Leib- und Steckenpferd, das ich mir immer wieder hervorhole, wenn von schönen Orten und milden Lüften in Oesterreich die Rede ist. Jeder Aufsatz über diesen Gegenstand muß mit einem Ceterum censeo abschließen. Ceterum censeo, Abbazia am Quarnero sei das Zukunftsziel für Reisen, welche unter dem von wir aufgestellten Zeichen unternommen werden. Dort, in den Lorbeerwäldern, an der Flut am Strande, wo die mächtige Eiche sich zum Oelbaum gesellt, wird einst das Brighton Wiens erstehen. Im Frühling unterscheidet sich die Wärme jener Bucht wenig von der des

[230] ligurischen Strandes. Während man aber dorthin eine fast dreitägige Reise zurückzulegen hat, erreicht der Reisende, der Wien morgens mit denn Eilzuge verläßt, noch am Abend des nämlichen Tages den Strand von Abbazia.“

Diese Zeilen kamen einem Manne zu Gesicht, der sich schon vielfache Verdienste um das Verkehrswesen in den deutschen Alpen erworben hatte; er war auch im Besitz jener Machtfülle, die nötig ist, um eine Kolonie, die den Bedürfnissen und Wünschen nordischer Reisender entspricht, ins Leben zu rufen. Es war dies der Generaldirektor der österreichischen Südbahngesellschaft, Friedrich Julius Schüler.

Alsbald wurden zwei große Gasthöfe, nach und nach verschiedene Villen gebaut. Sofort bemächtigte sich auch die Privatspekulation des grünen Strandes. Denn nach dem Vorgange der Südbahn fing man an, alle die Vorzüge dieser Küste einzusehen, von denen früher niemand etwas bemerkt hatte. Villa auf Villa, Pension auf Pension entstand, und seufzend mußten die Dryaden, die so manchen Wipfel des heiligen Lorbeers hüteten, zu Boden steigen, wenn die rodende Axt kam, um den braunrindigen Stamm zu fällen.

Abbazia verschönerte sich. Vielleicht giebt es jedoch manchen, der da glaubt, es sei schöner gewesen, als es noch nicht so schön war. Indessen, derlei ist überall an ähnlichen Orten zu sehen – der Fortschritt will seine Opfer haben. Und Fortschritte sind ja in der That zu verzeichnen. Abbazia ist auf dem besten Wege, sich zum Weltbad zu gestalten, das auf immer weitere Kreise seine Anziehungskraft erstreckt. Der Besuch des deutschen Kaiserpaares in diesem Frühjahr bildet den voräufigen Höhepunkt dieser Entwicklung.

Das Glück war und ist, daß der große Park eines Herrn Scarpa, in welchem schon damals die Villa Angiolina stand – in ihr sind die Kinder des deutschen Kaiserpaares untergebracht – die erste Erwerbung der Südbahn bildete. Damit ist die größte und in ihrer Pflanzengestaltung schönste Fläche den Baumfällern, Ziegelwagen und Maurern entrückt. Mit größter Sorgfalt werden hier die herrlichen Bäume, die schattendunkeln Gänge und blumengeschmückten Rasen erhalten, und auch sonst ist die Südbahngesellschaft mit Erfolg darauf bedacht, die Wald- und Gartenzierde vor Zerstörung zu bewahren. In dieser Hinsicht hat die Thätigkeit der Gesellschaft Aehnlichkeit mit der Wirksamkeit der geistlichen Herren, denen einst dieser Strand gehörte. Die „Abtei“ (Abbazia) hat ihre Hand schützend über den Wald von Lorbeer, Erdbeer- und Myrtenbäumen gehalten, sonst hätte wohl die südländische Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit gegenüber dem wilden Baumwuchs es so weit gebracht, daß es niemals jemand im Traum eingefallen wäre, dort eine so stolze Kolonie erstehen zu lassen.

Die Villa Amalia (so genannt nach der Gemahlin des Generaldirektors Schüler), der Wohnsitz des deutschen Kaiserpaares, ist etwa dreißig Schritte von der erwähnten Villa Angiolina entfernt, steht aber etwas erhöht über dem Grunde, der sich vor der letzteren ausdehnt. Ringsum ist sie von Baumgrün und Blumen umdrängt, gegen Südsüdost aber, in der Entfernung von fünf oder sechs Metern, schlägt das Meer gegen den Felsenstrand. Hier wachsen am Küstensaum in den schmalen Mulden des Geklipps die hohen Pfriemen des Spartium oder Besenginsters, so daß an manchen Stellen mitten zwischen den von Salzstaub überhauchten Felsblöcken das Meerufer sich grün umsäumt anschaut gleich einem Fluß, der zwischen Schilf dahinfließt. Am freundlichsten muten uns aber, gerade den Fenstern der Villa gegenüber, die neben dem niedrigen Badehaus aufragenden hohen Schäfte des Schalmeien- oder Flötenrohrs an. Diese sind eines der sichersten Merkzeichen des Südens. Wir denken dabei an die Idyllendichter der Alten und die Hirtenpfeifen, welche ihre Schäfer aus solchem Röhricht anfertigten.

Die Villa Amalia ist weit stattlicher und prunkvoller als ihre bescheidene Nachbarin, doch gefällt mir die Umgebung dieser letzteren besser. Von den im Erdgeschoß gegen das Meer hin angebrachten großen Flügelthüren begiebt man sich über ein paar Stufen auf eine halbkreisförmige Terrasse, die auf zwei Seiten von dichtem Gebüsch aus Lorbeer, Oleander und Lebensbäumen eingeschlossen ist, während die südöstliche Seite sich in das Meer hinaus vordrängt. Dort, auf dem rundlichen Vorsprung, erhebt sich eine Agave von einer Mächtigkeit wie in den südlicher gelegenen Ländern des Mittelmeerbeckens. Die See bricht sich dort nicht breit und seicht, in stets niedriger werdenden Schaumlinien über der sanft gerippten Dünung einer Schlamm- oder Sandfläche sich verflachend, sondern ihre Wogen arbeiten an Blöcken und Felsstücken, an Riffen und kantigen Steinwällen. Die Salzflut übersprüht dieselben, zwängt sich schäumend zwischen sie hinein, fließt wie ein eiliger Bach gurgelnd wieder zurück, schlägt sich glatte Tunnels durch, verwandelt die Felsen in narbige Kegel, die mit lauter tiefen, nur durch dünne Scheidewände voneinander getrennten Höhlungen bedeckt sind.

Die Adria, wenigstens ihr nördlicher Teil, ist wohl das jüngste und auch eines der flachsten Meere Europas, da die Ueberflutung ihres Grundes erst nach der Eiszeit von der Jonischen See aus erfolgte, von dem früheren Zustand sind heute noch einerseits der Monte Gargano in Apulien und die Tremiti- Inseln, anderseits die äußersten Felseninseln von Dalmatien übrig, gleichsam als Brückenköpfe, zwischen welchen sich eine besonders seichte Stelle hinzieht. Bringt man diese Thatsache in Rechnung, so kann man staunen über die Macht des Wellenschlags, die sich da oft fühlbar macht. Sie läßt sich dadurch erklären, daß man die ganze Längenachse der Adria vor sich hat. Eine gegen Süden gezogene Linie würde, von den Inseln im Quarnero selbst abgesehen, erst in Apulien wieder Festland erreichen. So wurde der Uferrand eben jener Terrasse, hinter welcher den kaiserlichen Kindern ein Spielplatz vorbehalten ist, in einer stürmischen Herbstnacht des Jahres 1881 von den Wellen teilweise überflutet und zerstört.

Hier befindet sich auch, wenige Schritte von der Villa entfernt, jene berühmte Eiche, die man deshalb als ein einziges Schaustück bezeichnen darf, weil es nirgends wieder an den Rändern jenes südlichen Meeres einen mächtigen Waldbaum giebt, der sich in solcher Weise über die Flut hinausbeugt. Unten sind die vom klaren Wasser überwallten Felsen, bedeckt von Algen, namentlich von den grünen Blättern der Ulven. Auf dem Sande treiben sich die apfelgroßen Gestalten der roten Meerigel herum, fünfarmige Seesterne kleben zwischen den Ritzen des Gesteins, die fleischigen Blätter des Meersalates werden vom Salzschaum besprüht – und zwei oder drei Fuß darüber die nordische Eiche! Ein solches Zusammentreffen ist wohl nirgends mehr an der Adria oder am Mittelmeer zu sehen.

Wenige Schritte von den Wurzeln dieser Eiche entfernt ist die Kante eines großen Netzes angebracht, das über die ganze Einbuchtung hingespannt ist und die Badegäste gegen die Besuche der Haifische schützen soll – eine Vorrichtung, die man wohl in der Hauptsache als unnötig und nur auf überängstliche Gemüter berechnet bezeichnen darf, weil sich jene Tiere nicht an so seichte Uferstellen hinwagen. Daß eine deutsche Eiche und ein Haifischnetz nur ein paar Schritte auseinander liegen, das kann man gleichfalls nur in Abbazia sehen.

Wenn man unter dieser Eiche sitzt und ins Meer hinausblickt, so bemerkt man rundliche Schwellungen und Wülste, welche da und dort die glatte Oberfläche unterbrechen. Man macht hier Bekanntschaft mit der Art und Weise, in welcher so viele Wasser des über den Strand aufragenden Hochgebirges ins Meer einströmen. Richt wie sonstwo als murmelnde Bäche, in Stürzen, als Schleier, die über Felswände niederwehen, kommen diese von den grünen Hängen herab, sondern auf nächtlichen Schleichwegen. Dort unten, tief in der Nacht der Felsen geborgen, finden sie endlich irgendwo eine Schlucht, durch welche sie sich in die Heimat aller Wasser hinein oder hinaufdrängen können. Mancher dieser Ausbruchsschachte oder dieser emporsteigenden Quellen ist fast so groß und breit wie der dreiarmige Fluß Timavus, der bei Triest hervorströmt und schon von Virgil besungen worden ist, andere aber sind klein und unscheinbar; kaum daß sie hier und da einmal weit draußen im Meere den Füßen eines Badenden sich fühlbar machen. Das ganze Ufer entlang steigen diese Quellen im Meere empor. Wäre all ihr Wasser in einem Bette vereinigt, so würde wohl ein großartiger Sturz über die Steilküste herabbrausen. Aber in Wirklichkeit mündet das Bergwasser nicht als Fluß ein, sondern wie durch eine Gießkanne in zahllosen kleinen und vom Meere verdeckten Oeffnungen.

Das Klima ist in Abbazia nicht wärmer als am Gardasee, welch letzteren man als einen über die italienische Ebene hinaus vorgeschobenen Vorposten des Mittelmeerklimas bezeichnen kann. [231] Selbstverständlich hat die Uebertreibung, die mit allem Neugefundenen zusammenzuhängen pflegt, auch in Bezug auf Abbazia ihr Wesen getrieben. Die Orangengärten, die in den meisten Berichten ihre unvermeidliche Rolle spielen, wird man mit der schärfsten Brille nirgends zu erspähen vermögen. Der Citronenbaum dagegen kommt noch ungeschützt vor, und selbst der Johannisbrotbaum erscheint in nächster Nähe, als nördlichster Vertreter seiner Sippe. Unwahrheiten, welche auf der Absicht der Täuschung oder auch auf Selbsttäuschung beruhen, bewirken meist das Gegenteil von dem, was von ihnen erhofft wird. Darum wird man gut thun, gewisse Ueberschwenglichkeiten abzulehnen und sich zu vergegenwärtigen, daß man sich nur um zwei und nicht um fünfzehn oder zwanzig Breitegrade südlicher als Innsbruck oder Graz befindet. Der Winter liefert (wie dies übrigens in ganz Italien der Fall ist) dem vordringenden Frühling nicht selten noch das eine und andere höchst unwillkommene und unvorhergesehene Rückzugsgefecht – ganz im Stile der Riviera.

Wenn unter ähnlichen klimatischen Verhältnissen, wie sie etwa Gries bei Bozen oder Gardone-Riviera am Gardasee bieten, Abbazia immerhin an Zuspruch gewinnt und mit einer jedes Jahr sich steigernden Vorliebe aufgesucht wird, so muß man das vornehmlich dem Meere zuschreiben. Und dies nicht nur deshalb, weil es dem Auge so viel bietet, sondern auch wegen des Salzhauches, wegen der Brandung, die eine natürliche Inhalationsvorrichtung darstellt, wegen der mannigfachen Anregung, die von dem Treiben auf dem Wasser ausgeht, wegen der zerstreuenden Wirkung, die dem Spiel der Wellen zukommt.

Und hiermit berühren wir den vornehmsten Schatz von Abbazia. Das ist der Strandweg. Er ist das Ideal eines staublosen Weges. Nur Fußgänger können ihn benutzen. Er zieht sich in einer Länge von etwa fünf Kilometern hart am Ufer hin. An vielen Stellen hat man ihn durch Sprengen den Felsen abgewinnen müssen. Der dichte Pflanzenwuchs auf der einen, das Geflüster der Wellen und der hin und her rollenden Kiesel auf der anderen Seite reden den einsamen Wanderer in einer eigentümlichen Sprache an. Man denkt dabei an jene Verse im „Fegefeuer“ von Dante:

„So klingt’s, wenn Zweig um Zweige sich bewegen
Im Pinienwalde an Chiassis Meergestad’,
Sobald sich des Scirocco Schwingen regen.“

Dieser Weg heißt zu Ehren des eingangs erwähnten verdienstvollen Mannes „Friedrich Schüler-Strandweg“. Es sei durch diese Bemerkung dem abfälligen Urteil jenes Ungarn entgegengetreten, welcher beim Anblick der betreffenden Wegtafel höhnisch meinte, die „dummen Schwaben“ wüßten nicht einmal den Namen ihres größten Dichters orthographisch zu schreiben.

Wer es versteht, sich mit dem Meere zu beschäftigen – ein Verständnis, welches übrigens nicht jeder ohne weiteres mitbringt – kann da, in eine der kleinen Buchtungen zwischen den Klippen hinabsteigend, manche Stunde auf eine Weise hinbringen, die ihn reichlich entschädigt für vieles andere, was an belebteren binnenländischen Kurorten zu sehen ist.

Schon der wechselnden Beleuchtung wegen ist das Meer, ein ewig sich verändernder Spiegel, für den Beobachter ein Gegenstand unerschöpflicher Anregung. Nach einem Scirocco findet sich da auch Gelegenheit, Einblicke in die Wunderwelt des niederen Tierlebens der See zu gewinnen. Abgerissene Aeste vielstrahliger Sternkorallen schauen aus dem angeschwemmten Seegras heraus. Auf smaragdgrünen Polstern liegt die echte Seedattel, auf Sand, der von den winzigen Bruchstücken zerschmetterter Muschelschalen glitzert, der Feigenwulst einer lichtgrünen Actinie. Wo eine Süßwasserquelle aus einer Felsenritze ins Meer hinein vorbricht, halten sich gern Fische auf. Hier haftet auf dem Felsen eine von der Brandung ausgeworfene Hutqualle. Als sie sich, einem aufgespannten Schirme gleich, durch das Wasser dahintrieb, schillerte sie in Seidenglanz, jetzt, ihrem Element entrissen, hängt sie da, ein sulzartiger Fetzen. Wieder an anderer Stelle kleben die kleinen einschaligen Muscheln, „Patelle“ genannt. Sie sitzen so fest am Felsen, daß man sie mittels eines Messers nur mühsam losbringt. Die ansprühende Traufe hält sie am Leben. Bei diesem Anblick mag man sich eines Volksliedes dieser Küste erinnern, in dem es heißt:

„Träumt der rauhe Fels, ihn küß’ die Welle,
Schlägt mit Inbrunst dran die weiche Meerflut.
Nicht die fremden Felsen liebt die Welle,
Deckt die Kinder nur vor heißen Strahlen,
Helle Muscheln, eingeborne Kinder.“

Am südlichen Ufer fortschreitend hat man zur Rechten meist Oelwälder, hier und dort deuten hohe dunkle Cypressen ein Landhaus an. Ungefähr dort, wo eine bescheidene Schenke auf einem ins Meer vorspringenden Felsen steht, thut sich ein Blick auf, den man fast mit einer Aussicht am Gestade von Sorrent vergleichen könnte. Ueberhaupt läßt sich sagen, daß, vom landschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, die Lage von Abbazia nicht gerade die günstigste an diesem Küstenstriche ist. Unzweifelhaft schöner ist die des sechs Kilometer weiter südlichen Lovrana. Wie erwähnt, mußte jedoch die den Vätern der ehemaligen Abtei zuzuschreibende treffliche Erhaltung des Lorbeerwaldes bei der Auswahl den Ausschlag geben. Schon jetzt macht sich indessen das Bestreben geltend, die Ansiedlung von Abbazia nach jener südlichen Richtung hin auszudehnen, und in Lovrana selbst ist bereits eine vielbesuchte Gaststätte entstanden. Am Wege nach Lovrana liegt auch das kühn am Felsgestade klebende Dörfchen Ika mit seiner hübschen Hafenstraße.

Bei einer Küstengestaltung, die zwischen dem Abfall des Gebirges und dem Meere nur einen sehr schmalen Streifen flachen Landes übrig läßt, ist es begreiflich, daß sich die Gäste die vor ihnen ausgebreitete blaue Wasserfläche zum vornehmsten Tummelplatze ihrer Ausflüge ersehen. In der That nimmt man wahr, daß schon nach wenigen Tagen, wenn die Uferstrecke einigemal flüchtig abgegangen worden ist, entweder die Unruhe, welche die modernen Reisenden kennzeichnet, oder die Wißbegierde oder der Drang, vom Deck eines Dampfers aus Meerluft einzuatmen, die Ankömmlinge veranlaßt, den gegenüberliegenden Küstenstrichen und Inseln einen Besuch abzustatten. Zunächst kommt die Stadt Fiume dran, in deren Hafen man jedes einzelne Schiff von Abbazia aus mit freiem Auge unterscheiden kann. Von Fiume aus führt auch ein schöner Fahrweg am Meere entlang über das malerische, terrassenförmig sich aufbauende Volosca nach Abbazia.

Sodann wendet man sich dem hammerförmigen Fjord von Buccari zu (die Enge, durch welche derselbe mit dem offenen Meere in Verbindung steht, bildet den Stiel des Hammers) und befindet sich alsbald in einer der seltsamsten Landschaften des Mittelmeergebietes. Die Umrandung dieser Bucht, die in ihrer scheinbar vollständigen Abschließung vom Meere einem Bergsee ähnlich ist, sucht an Wildheit ihresgleichen.

Bände ließen sich schreiben über die Schaustücke, welche weiterhin die kroatische Küste, dann die Inseln Veglia, Cherso darbieten. Es ist uns nicht der Raum hierzu gegeben. Doch sei noch eines merkwürdigen Verhältnisses gedacht, welches sonst im ganzen Süden nicht wieder vorkommt.

In vierzehnhundert Meter Höhe gerade über Abbazia steigt der Monte Maggiore, der bis nahe an seine höchste Kuppe hin bewaldet ist. Vierhundert Meter unter seinem Gipfel steht an der Straße, die über den Paß nach dem westlichen Istrien führt, ein trefflich bewirtschaftetes Schutzhaus. Sowohl in der Nähe dieses Hauses, als auch anderweitig auf gleicher Höhe, lehnen sich an den Berg buchenbeschattete Halden an, Flächen mit Quellen, kühlen Lüften und wundervoller Fernsicht über Land und Meer. Eine Zahnradbahn, welche von einer dieser Hochflächen an das Meer hinuntergeführt wäre, würde es ermöglichen, in einer halben Stunde die Entfernung zurückzulegen. Es wäre also die Möglichkeit gegeben, sich in der frischen Luft eines sogenannten Höhenortes aufzuhalten, dort im Walde oder auf Bergwiesen herumzugehen, und – eine halbe Stunde später in den Wellen des Meeres zu baden.

Diese Ansiedlung in der Höhe und das laue Meerbad in der Tiefe würden zusammen einen Kurort bilden, wie es in der Welt keinen zweiten mehr giebt, weil anderwärts entweder die eine oder die andere Bedingung fehlt. Vielleicht daß doch noch einmal sich die Mittel finden werden, diesen Gedanken zum Heile vieler Menschen zu verwirklichen.




[232]

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Belauschte Werbung.
Nach einem Gemälde von B. Vautier.

[233] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[234]
Nachdruck verboten. Copright 1893/94
by Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig.

Die Perle.

Roman von Marie Bernhard.

     (13. Fortsetzung.)

Als Baron Doßberg Clémence verabschiedet hatte und zu seiner Tochter zurückkehrte, saß diese inmitten der Blumenpracht des Vorzimmers, das Gesicht in die Hände gedrückt, und weinte.

„Kind, um Gotteswillen, was ist denn? Wie kann ein Geschenk, das doch im Grunde nur freundlich gemeint ist und obendrein in wirklich zarter Weise gegeben –“

Ilse richtete sich auf, ihre Augen und Lippen brannten. „Ich will nichts von ihm haben! Ich nehm’ es nicht an! Du mußt es ihm zurückgeben Papa!“

Ihr Vater sah sie befremdet an. „Wie kann ich das, Ilse? Das hieße Herrn von Montrose absichtlich beleidigen, und dazu liegt doch kein Grund vor! Auch wäre meine Stellung hier damit zu Ende! Ich verstehe Deine Erregung gar nicht. Du wirst doch nicht so kindisch sein wie Armin, der sich in einen ganz ungerechtfertigten Haß gegen Herrn von Montrose hineingearbeitet hat?“

„Quäle mich nicht, Papa! Ich kann kein Geschenk von ihm annehmen! Ich kann nicht hingehen und mich bei ihm bedanken! Er soll sich nicht um mich kümmern, ich will keinen Schmuck tragen, der von ihm stammt!“

„Ilse, wenn dies Stolz ist –“

„Nenn’ es so!“ rief sie leidenschaftlich. „Denk’ von mir, was Du willst – aber ich kann nicht, kann nicht!“

Herr von Doßberg nahm die Hand des Mädchens in die seine. „Was wäre mit mir geschehen, mit uns allen, wenn auch ich hätte sagen wollen: ich kann nicht? Was alles hab’ ich lernen, überwinden müssen in dieser letzten Zeit! Aber ich hab’ es ertragen um Euretwillen!“

Ilse sah in sein vergrämtes Gesicht, sie küßte die Hand, die die ihre umschlossen hielt, und schwieg.

„Sei verständig, Kind,“ begann Doßberg nach einer kleinen Pause von neuem, „es liegt in diesem Geschenk wirklich nichts, das Dich verletzen könnte. Herr von Montrose ist reich – selbst wenn er Dir ein sehr kostbares Geschenk gemacht hat, wie ich ohne weiteres annehme, so darf Dich das nicht in Verlegenheit setzen. Im übrigen aber – ist Montrose nicht alt genug, um Dein Vater sein zu können?“

Ilse sah an dem Redenden vorüber, ohne zu antworten; ihr Blick hing wie gebannt an den weißen Fliederdolden, die dort in der Ecke des Zimmers so träumerisch von den Stielen herabnickten, aber sie dachte nicht an den Flieder. Sie sah den glutroten Sonnenball langsam ins Meer tauchen, sah die düsteren zusammengeballten Wolkenmassen, die darüber hingen, hörte den Sturmwind in den Bäumen brausen und die Brandung toben – ihr Herz war zusammengeschnürt von unsäglicher Angst wie damals im Herbst, und sie dachte immer dasselbe: „Albrecht, hilf mir!“

Indessen löste der Baron die Siegel, die das Papier festhielten, und öffnete behutsam das schmale Kästchen, eine Schnur vollkommen ebenmäßiger weißer Perlen, tadellos schön in ihrem matten Glanz, kam zum Vorschein – eine Kette, die eine Fürstin hätte tragen können. Doßberg ließ sie bewundernd durch die Finger gleiten und hielt sie Ilse vor die Augen. Sie warf aber nur einen raschen Seitenblick darauf und wandte sich scheu wieder ab.




13.

In der Christnacht war wieder harter Frost eingefallen, Baum und Strauch hatte glitzerndes Silbergeschmeide übergeworfen, nun die Sonne drüber herkam, that es den Augen weh, in die funkelnde Herrlichkeit zu sehen.

Oben auf der Zinne des alten Schlosses zu „Perle“ stieg eine Fahne auf, eine Fahne, die Clémence eigens zu diesem Zweck hatte anfertigen lassen … natürlich mit dem Wappen der Montroses, der weißen Rose im blutroten Felde. Stolz stieg die große Flagge an ihrem Mast empor, majestätisch rauschend dehnte sie sich im kalten Dezemberwind, und Clémence schlüpfte in ihren Pelz, zog Botho an der Hand nach sich und lief über den Anger, wo ehemals die Zugbrücke gestanden hatte, um sich die Wirkung zu besehen. Sie war zufrieden, es machte sich gut. Papa wußte nichts von der Fahne – mutmaßlich würde er sie gar nicht bemerken, und that er es dennoch – nun gut! Sie selbst würde schon die Folgen ihres Einfalls tragen! Sie war ungeheuer geschäftig heute – eilig mußte sie zurück, um mit eigenen Augen die angerichteten Ehrenpforten mit den Tannengewinden und den flatternden bunten Wimpeln, unter denen die Gäste ihren Einzug halten sollten, zu mustern; dann mußte sie die Vorbereitungen für die Fackelbeleuchtung besichtigen, in der das alte Schloß am Abend erstrahlen sollte, mußte die Unterbringung des Musikcorps aus St., die Aufstellung des Büffetts leiten – kurz, sie war heute ganz Schloßherrin, fühlte sich ungeheuer verantwortlich und war nur empfindlich darüber, daß Botho den oberflächlichsten Anteil an dem ganzen Fest nahm, das doch seiner Braut eigenstes Werk war. Er ließ sich zwar geduldig überall hinführen, sagte pflichtschuldigst: „Sehr schön!“ und „Wunderhübsch!“ aber sein Blick war zerstreut, er nahm nervös den Schnurrbart zwischen die Lippen, und wenn Clémence ihm zärtlich den Arm drückte, so schien er das gar nicht zu bemerken.

Georges von Montrose war heiter und gutlaunig und machte schlechte Witze auf Kosten des Brautpaars. Er neckte Clémence unbarmherzig mit ihrer Zärtlichkeit für Botho und fragte diesen freundschaftlich, wo ihn denn der Schuh drücke, da er so gar kein Bräutigamsgesicht aufsetze. Dazu ein verschmitztes Augenzwinkern, das deutlich bewies, Georges wisse ganz genau Bescheid über des schönen Botho Verlegenheiten und könne, wenn er wolle, jederzeit über die unangenehmsten Dinge Farbe bekennen.

Herr von Montrose war in seinem kleinen Jagdschlitten nach Belten hinüber gefahren und hatte gebeten, ohne ihn zu frühstücken; zurückgekehrt, ließ er sich das Menu vorlegen und bestimmte selbst noch ein paar Weinsorten, bei deren Namen Georges mit der Zunge schnalzte und seinen Vater, was nicht oft vorkam, mit einer gewissen Ehrerbietung ansah. Kenner war der Alte, man mußte es ihm lassen, er zeigte es selten, aber er verstand die Sache! Zwischen das alles hinein griff Georges zu seinem Krimstecher und musterte das Verwalterhaus. Einmal erschien drüben ein hübscher blonder Jünglingskopf an einem der Fenster – entschiedene Aehnlichkeit mit dieser „entzückenden Ilse“! Schwacher Trost! Daß er sie übrigens heute abend auffallend auszeichnen würde, verstand sich von selbst, schon um die Regimentskameraden, die, zum Teil mit ihren Damen, aus St. kamen, vor Neid wütend zu machen und besagten Damen ein kleines Licht aufzustecken, wie man aussehen müsse, um Herrn Georges von Montrose zu gefallen. Auch für Clémence, die immer auf die schöne Ilse stichelte, konnte ein tüchtiger Aerger nur gut sein.

Um vier Uhr sollten die Gäste eintreffen, eine Stunde später wollte man zu Tisch gehen. Der kurze Wintertag ging rasch zur Neige, es fiel schon die Dämmerung ein, als die ersten Schlitten anfuhren. Wie der Himmel dunkler wurde, traten nach und nach die Sterne in goldenem Glanz hervor, unten aber flammte das Schloß mit einem Schlag in märchenhaftem Glanz auf. Geschickte Feuerwerker, die Clémence aus St. verschrieben, hatten die Linien des massigen alten Baus mit farbigen Lichtern umgrenzt, dazu gleißten die Magnesiumfackeln in ihrem weißen Licht, und die düsterrot auflodernden Pechpfannen tauchten das Ganze in eine beinahe drohende Glut. Im weiten Umkreise färbte sich der Schnee mit dem wechselnden Schein. Wie gierige rote Zungen leckte es am Schneeboden hin, hier wieder troff es von den Zweigen der Bäume wie fließendes Gold, dort huschte es bläulich matt wie Mondlicht über die weiße Fläche – jeden Augenblick änderte sich das Bild. Nur das Schloß stand regungslos wie ein bunter funkelnder Würfel in der bleichen Winterlandschaft. Und mitten in das feintönige Klingeln der Schlittenglocken klangen Ausrufe der Bewunderung. Wenn die Dinge da drinnen diesem ersten Eindruck entsprachen – alle Achtung!

Und sie entsprachen! Schon die riesige Halle mit ihrem farbenprächtigen und doch so geschmackvollen Schmuck, mit den beiden schöngewundenen Treppen im Hintergrund, den funkelnden Waffentrophäen, den bunten Teppichen und den Prachtgeweihen an den Wänden, alles überflutet von intensiv rotem Licht, das durch gefärbte Gläser fiel, machte einen prächtigen Eindruck, selbst die Damen, denen es eilte, in die Garderobezimmer und in die mitgebrachten Abendtoiletten zu kommen, blieben staunend [235] unter dem Eingang stehen und ließen bewundernde Blicke umherschweifen. Und nun gar der weite pomphafte Festsaal selbst, vom Goldglanz zahlloser Wachskerzen erhellt, mit schönen alten Gobelins geschmückt, die Decke in Felder von Weiß und Gold geteilt! Im Musiksaal prachtvolle Fresken an den Wänden, der Fußboden in kunstreicher Mosaik ausgelegt, die Decke mit reizenden Genien bevölkert, die Geigen, Klarinetten und Flöten in den kleinen Händen hielten und Miene machten, lachenden Gesichts an den Wänden herabzuklettern, sich unter die Menschen zu mischen, die dort unten froh sein sollten. Wohl war es schön im alten Schloß zu „Perle“, und Clémence hatte die Genugthuung, immer von neuem staunende Blicke aufzufangen, bewundernde Worte zu vernehmen. Sie hatte ein kostbares bläulich schimmerndes Brokatkleid, mit Silber durchwirkt, angelegt, die schwere Schleppe rauschte anspruchsvoll hinter ihr her, im Haar funkelte ein Brillantstern; an einer feinen Spirale angebracht, wiegte er sich wie launisch in dem Blondhaar hin und her, tauchte bei einer Kopfbewegung unter, kam neckend wieder zum Vorschein und warf verschwenderisch seine Strahlengarben hierhin und dorthin. Clémence kam sich überaus reizvoll vor in dieser Toilette; auf regelmäßige Schönheit erhob sie keine Ansprüche, aber sie fand sich apart und pikant – war das nicht mehr wert? Sie hielt ihren Botho fest am Arm und rauschte von einem zum andern, verbindliche Anreden und Begrüßungen austeilend.

Herr von Montrose bewillkommnete seine Gäste mit der ihm eigenen stattlichen Würde. Etwas von der „überfrorenen Höflichkeit“, deren Clémence einmal Erwähnung gethan, kam auch heute wieder zum Vorschein – es durfte sich aber niemand über ihn beklagen. Er wußte anteilvoll zu fragen, verbindlich zuzuhören, neue Ankömmlinge gut unterzubringen, die Gäste untereinander bekannt zu machen, mit einem Wort, er wurde allen gerecht, und Georges, wie er einmal neben Botho vörüberschlüpfte, murmelte diesem ins Ohr, daß „der Alte sich über Erwarten gut mache“.

Er hatte viel zu thun, der Sohn des Hauses. Ueberall sah man seine glänzende Uniform auftauchen, in der die geschmeidige Figur sich so wohlig bewegte. Hier einem Kameraden die Hand drücken. dort einer jungen Dame mit vertraulichem Lächeln ein Kompliment, ein Witzwort zuflüstern, sich da vor irgend einer gebietenden Mama tief verbeugen, die Hacken zusammengenommen, und die Hand der Dame ehrfurchtsvoll an seinen kleinen Schnurrbart führen – dies alles vollbrachte er binnen wenigen Minuten, behielt auch noch Zeit, mit Blicken Unheil anzurichten ... recht, wie ein Fisch in seinem Element bewegte er sich, und es gefiel ihm gar nicht schlecht, sich von verschiedenen Seiten als künftigen Besitzer von „Perle“ beglückwünschen zu lassen. Es war am Ende doch kein so ganz übler Einfall von Papa gewesen, das Ding zu kaufen! Aber dazwischen quälte ihn immer wieder die prickelnde Ungeduld: wo bleibt „sie“? Die Stunde rückte vor, Gast auf Gast stellte sich ein, und Ilse, die nur wenige Minuten zu gehen hatte, kam immer noch nicht! Schützte sie am Ende im letzten Augenblick wieder die kranke Mutter vor und erschien gar nicht? Nein, diese Beleidigung konnte man dem „Haus Montrose“ nicht anthun, daran war nicht zu denken!

„Ich meine, Georges, es wäre nachgerade Zeit, zu Tisch zu gehen,“ sagte Clémence leise zu ihrem Bruder, als er wieder einmal in ihre Nähe kam.

„Ach, kein Gedanke! Ist ja noch viel zu früh! Fehlen ja noch - hm - allerlei Leute! Ich bitt’ Dich, Kind, gieb den Botho endlich frei, er kann sich wirklich nicht ein bißchen entfalten, Deine Schleppe wickelt sich ihm fortgesetzt um die Füße, er kann noch der Länge nach darüber stürzen.“

„Wird auch beim Tanzen später ungeheuer hinderlich sein!“ murmelte Botho gereizt und zerrte an seinem Bart.

„Ich dachte, mein Anzug gefiele Dir!“ Clémence sah kleinlaut auf ihre brokatene Pracht hinunter.

„Bis auf die Schleppe, gewiß! Aber wenn man doch tanzen will –“

„Den Walzer und den Kotillon mit Dir!“ flüsterte sie, sich zärtlich an ihn schmiegend; dann wieder zu Georges gewendet: „Wer fehlt denn noch? Botho und ich haben eben Rundschau gehalten und sind der Meinung, es sei alles von Belang versammelt.“

„So? Botho ist auch dieser Meinung? Muß mich wunder nehmen. Ich finde - ah!“ Georges hatte den Eingang des Saales im Auge behalten und sah jetzt einen vornehm aussehenden grauhaarigen Herrn eintreten, der ein weißgekleidetes Mädchen am Arm führte. Er war aber nicht der einzige, der das bemerkt hatte. Diejenigen von den Gutsnachbarn der Doßbergs, die heute hier anwesend waren – viel waren es nicht, die meisten hatten abgesagt – hatten teils mit Schadenfreude, teils mit Neugier, einige auch in wirklichem Mitgefühl des Augenblicks geharrt, da der ehemalige Besitzer von „Perle“ samt seiner Tochter hier im Schloß als Gast, als Fremder, als Untergebener erscheinen würde, hier, wo er noch vor kurzem Herr und Gebieter gewesen war. Georges von Montrose flog den beiden entgegen, jeder Zoll liebenswürdiger Kavalier. Wie das „süße Geschöpf“ nur wieder aussah in dem weißen Seidenkleid, das, im Rücken ausgeschnitten, den herrlichen Nacken frei ließ! Nur kleine Maiblumensträuße trug sie an der Brust und im Haar, aber wie dieses Goldgelock geordnet war, wie es im Kerzenlicht schimmerte – da „hörte einfach alles auf“!

Baron Doßberg sah blaß aus, aber er schritt hocherhobenen Hauptes, in stolzer, beinahe etwas herausfordernder Haltung vorwärts wie jemand, der sich kräftig gewappnet hat gegen alles, was über ihn kommen könnte. Seine Augen gingen im Kreise umher – Ilse hielt die ihrigen gesenkt. „Alles auf den Effekt berechnet,“ sagte sich Clémence voller Ingrimm; „sie weiß recht gut, daß sie lange dunkle Wimpern hat und daß die zu dem strahlenden goldblonden Haar einen auffallenden Gegensatz bilden!“ Schwer geärgert blickte sie zu Botho auf, aber Botho sah nicht so aus, als ob er ihre Empfindungen teilte. Und nun mußte auch sie, Clémence, noch die Zuvorkommende spielen und über die Maßen erfreut thun, daß Papas bezahlter Verwalter und dessen Tochter ihnen die große Ehre erwiesen, bei dem heutigen Fest ihre Gäste zu sein! Als Dame des Hauses kam es ihr zu, und überdies trug ihres Vaters Antlitz einen Ausdruck, da er jetzt mit Ilse vor sie trat, den sie nur zu genau kannte: mit diesem Ausdruck in den Augen hatte er seiner Tochter störrische und eigenwillige Natur bis jetzt noch jedesmal gemeistert, so sehr Clémence auch geneigt war, ihm Widerstand zu leisten.

„Willkommen, Baroneß Doßberg!“ sagte sie verbindlich und streckte Ilse die rechte Hand entgegen; mit der linken hielt sie ihren Botho fest.

„Darf ich mich Ihnen in Erinnerung bringen, Gnädigste?“ begann dieser und verbeugte sich so tief, daß die Angeredete seinen tadellosen Scheitel zu bewundern imstande war. „Ich habe nur äußerst selten den Vorzug gehabt und in letzter Zeit so ganz darauf verzichten müssen, Baroneß zu sehen, daß ich mich nicht beklagen dürfte, vollständig in Vergessenheit geraten zu sein!“

„Bewahre, Herr von Jagemann! Sie trauen mir ein schlechtes Gedächtnis zu. Es ist noch gar nicht so lange Zeit her –“

„Mir erscheint es so!“ warf Botho geschickt dazwischen; Clémence sah unruhig zu ihm auf.

„Du gestattest, Clémence! Ich möchte Baroneß Doßberg noch einigen Bekannten und Fremden zuführen – dann giebst Du wohl das Zeichen zu Tisch!“ sagte Herr von Montrose.

„Also richtig! Nur auf die haben wir gewartet!“ flüsterte Clémence, sobald ihr Vater mit Ilse außer Gehörweite war. „Daß die beiden so spät kamen, unser freiherrlicher Verwalter und sein gnädiges Fräulein Tochter, hatte wohl seinen guten Grund – man wollte Aufsehen erregen um jeden Preis! Das ist ihnen ja auch gelungen – sieh nur, sieh, wie sie alle sie angaffen, diesen Doßberg. der hier auftritt, als sei er Reichsfürst, und diese Ilse mit ihren Maiblümchen, die vielleicht andeuten sollen. daß sie all ihren Schmuck zum Wohl des edlen Hauses, dem sie entstammt, geopfert habe! Wenn mir etwas in tiefster Seele zuwider ist, dann ist es dieser Bettelstolz! Und sieh, wie sie alle lachen und freundlich sind! Excellenz Sonneberg katzenbuckelt bedenklich. und der junge Graf Röstem küßt ihr gar die Hand!“

„Sie sind Jugendgespielen!“

„So? Ich möchte doch wissen, woher Du das weißt! Was Dich das wohl angeht! – Wie mütterlich die Baronin Brobant sie umarmt! Ob der Landrat überhaupt noch einmal ihre Hand losläßt! Und Georges macht sich geradezu lächerlich, daß er den beiden auf Schritt und Tritt nachläuft!“

Herr von Jagemann hörte kaum hin. „Kind, weißt Du die Tischordnung?“ fragte er mitten in Clémences gereizte Auseinandersetzungen hinein.

[236] „Nur zum Teil! Was mich besonders interessierte, die Jugend und die Offiziere aus der Stadt, deren Plätze hab’ ich bestimmt – das übrige hat Papa sich nicht nehmen lassen, war mir auch gleichgültig!“

„Wo wird Baroneß Doßberg sitzen?“

„Warum?“ Des jungen Mädchens Stimme klang scharf und hart.

„Warum? Sonderbare Frage! Georges’ wegen, er ist ja doch offenbar im besten Fahrwasser!“

„Und Du billigst das vielleicht?“

„Meine Billigung oder Mißbilligung würde ihn ohne allen Zweifel ganz kalt lassen. Er wird doch in der Nähe seiner Angebeteten sein wollen.“

„Ist mir gleichgültig. Mir genügt es, zu wissen daß wir beide, Du und ich, nebeneinander sitzen.“ Ob dies Botho gleichfalls genügte, blieb dahingestellt, jedenfalls antwortete er nicht.

Indessen hatte Ilse sich von Herrn von Montroses Arm frei gemacht und ihre alten Bekannten begrüßt – sie konnte es aber nicht hindern, daß der Herr des Hauses in ihrer Nähe blieb. Unterwegs hatte sie ihrem Vater gelobt, ganz ruhig zu sein – aber sofort, da sie am Arm Montroses einherging, hatte sie wieder dies innerliche Zittern, diese Machtlosigkeit gespürt wie immer in seiner Nähe. Sie gab es auf, darüber zu grübeln, sie nahm es hin wie etwas, dem sie sich eben unterwerfen mußte. Den Begrüßungen mit den alten Bekannten hielt sie tapfer stand. Faft alle waren freundlich und zuvorkommend gegen sie wie gegen ihren Vater – Ilse war freilich klug genug, zu wissen, daß dies bei vielen nur Maske war, daß sie ihr die Demütigung gönnten. Am besten kam sie mit der Herrenwelt zurecht, die bei soviel Jugend und Schönheit jederzeit liebenswürdig zu sein pflegt und es auch heute war. Ihr alter Freund, Landrat Melchior, stand Ilse treu zur Seite, er hatte ihren Vater bereits mehrfach im Verwalterhause besucht, war auf dem Laufenden mit allen Verhältnissen der Doßbergschen Familie und quälte Ilse weder mit taktlosen Fragen, noch mit mitleidigen Blicken, wie es wohl von anderen geschah. Nur nahm der wackere Herr zu seinem ungemessenen Staunen wahr, daß sein Liebling, seine Ilse, die heute das Aussehen und die Haltung einer jungen Königin hatte, merkwürdig unsicher und befangen in Ausdruck und Gebärde wurde, sobald der Herr des Hauses ihr nahe kam oder das Wort an sie richtete. Es fiel dem Landrat ein, daß Ilse sich schon damals so sonderbar betragen hatte, als er sie zu jener Bitte Herrn von Montrose gegenüber veranlassen wollte ... sollte es denn möglich sein? Aber es war ja nicht zu denken – ein Mann, der erwachsene Kinder hatte, und die schöne junge Ilse, die dieses Mannes Tochter sein könnte! Freilich, der Fall wäre nicht der erste – Ilse war arm, ganz arm, und für Doßberg würden mit einem Schlage alle Schwierigkeiten gelöst sein.

Unbehaglich schob der Landrat seine Schultern hin und her – was ihm auch für ungemütliche Gedanken kamen! Sicher war er der einzige hier, der solch wunderlichen Einfällen nachhing. Anstatt sich der glänzenden Versammlung zu freuen, das Auge an der wirklich großartiger Pracht ringsum zu weiden und im voraus das wahrscheinlich auserlesene Mahl zu würdigen, machte er allerlei gewagte Gedankensprünge. Augenblicklich bot die Situation ja doch gar nichts Bedenkliches! Die Offiziere aus St. umstanden Baroneß Doßberg und baten schon zum voraus um diesen Tanz und jenen Tanz; aber sie zogen lange Gesichter. Wie – Baroneß wollte gar nicht zum Tanz bleiben, wollte gleich nach dem Essen fort, da die Mutter sie entbehre? Das war ja undenkbar, war einfach unmöglich, man gedachte, sich hier bis tief in die Nacht hinein zu amüsieren, und dabei sollte Baroneß fehlen? Da mußte Kamerad Montrose herbei, er mußte helfen bitten, die Gnädige umstimmen! Man wollte eine Massenpetition zur gnädigen Frau Mama hinüberschicken, Mütter seien immer selbstlos, und da doch Baroneß einmal hier sei – – sie redeten einzeln, sie redeten im Chor, aber Ilse schüttelte standhaft den Kopf und blieb bei ihrem Entschluß. Wie sollte sie es diesen Herren begreiflich machen, daß ihre arme Mutter gar nichts von der Existenz eines Hauses Montrose, von einem Besitzwechsel der „Perle“ ahnte und daß Ilse unter dem Vorwand heftiger Kopfschmerzen heute für einige Stunden vom Krankenbett fern blieb?

Horch! Ein Trompetenstoß! Das Zeichen, sich zur Tafel zu begeben! Feierlich wurden die alten schweren Flügelthüren zurückgeschlagen. Oben in der Eingangshalle auf der vergoldeten Galerie, welche die beiden Treppen verband, standen vier in mittelalterliche Tracht gekleidete Herolde und luden die Gäste zu den Freuden der Tafel. Langsam wand sich der bunt gleißende Zug aufwärts und glitt rechts in den Bankettsaal. Hier hatten die hohen Bogenfenster die berühmte Glasmalerei, Wände und Decke waren von kundiger Künstlerhand mit Kindergruppen geschmückt, die Wildbret und Geflügel herbeischleppten, einander ganze Traubenlasten und leuchtende Fruchtgewinde reichten und aus riesigen Humpen Wein einschenkten. Die freudig brausenden Klänge der Musik empfingen die Eintretenden, und Blumen, Blumen grüßten überall; wer mochte an den Winter glauben, an Kälte und Schnee bei solchem Anblick!

Als Ilse von Doßberg, die den jungen Grafen Röstem, ihren Jugendgespielen, zum Tischnachbar hatte, sich nach dem Herrn an ihrer anderen Seite umsah, fand sie – den Gastgeber. Wieder ganz in seine Nähe gebannt und zwar stundenlang! Seine Stimme hören, in seine Augen sehen ... welche Qual! Und was sie bisher, umringt von so viel Fremden, nicht hatte thun können, sie mußte es jetzt thun: ihm ihren Dank aussprechen für die Gabe, die er ihr gestern gesandt!

Der junge Graf Röstem war ein angenehmer, aber ziemlich unbedeutender junger Mann, kaum zwei Jahre älter als Ilse, der er schon als kleiner Knabe sich blindlings untergeordnet hatte. Das geistig wie körperlich ungewöhnlich kräftig entwickelte Mädchen hatte den etwas unbeholfenen gutmütigen Jungen tüchtig herumkommandiert, was er sich gern gefallen ließ, da Ilse ihn bei alledem gern mochte und gut behandelte. Er hatte keine eigenen Gedanken, „ihm fiel nie etwas ein^, wie Ilse schon als achtjähriges Kind klagte, um so lieber fügte er sich in all’ die Rollen, die seine Gespielin ihm zuteilte, mit mehr gutem Willen als Geschick; kurz, im großen und ganzen hatten sich die beiden stets vortrefflich miteinander vertragen. Daß sie an Guido keinen sehr beredten Kavalier haben würde, wußte Ilse genau, und richtig, als die üblichen Fragen. „Wie geht es Deiner Mama, Ilse?“ „Ist Deine verheiratete Schwester schon nach dem Süden gegangen, Guido?“ „Ist denn Armin zu den Ferien nicht hergekommen?“ „Geht Dein neues Reitpferd gut?“ und derartige Dinge durchgesprochen waren, geriet die Unterhaltung ins Stocken.

(Fortsetzung folgt.)




Ludwig Kossuth.


Am 20. März 1894 ist zu Turin der einstige Diktator von Ungarn, der berühmte Führer der magyarischen Unabhängigkeitspartei, als ein 92jähriger Greis gestorben. Obwohl im Jahre 1867 auch ihm Amnestie zu teil wurde, obwohl wiederholt Abordnungen ihn zur Rückkehr nach Ungarn aufforderten und obwohl sein Herz heiß nach dem geliebten Vaterlande verlangte, hat er es doch nicht über sich vermocht, von der Gnade Gebrauch zu machen, die ihm angeboten wurde.

Ludwig Kossuth wurde am 16. September 1802 in Monok im Zempliner Komitat geboren. Sein Vater war ein in geordneten Verhältnissen lebender ungarischer Adliger, seine Mutter, eine Deutsche, war eine edle gemütvolle Frau, und Briefe Kossuths an sie bezeugen, daß er eine innige, ja schwärmerische Verehrung für sie hegte. In den Tagen der Trauer und in den Stunden des Glückes schrieb er ihr, denn sie liebte ihren Sohn über die Maßen und war das einzige Wesen auf Erden, das immer zu seiner Sache hielt.

In seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahre kam Kossuth nach der ungarischen Hauptstadt, um hier die Rechte zu hören. Er wurde bald ein gesuchter Advokat in Sátoralja-Ujhely, doch bekam er die kleinen Chicanem denen er ausgesetzt war, satt und siedelte nach Pest über. Seine glänzenden Fähigkeiten wurden bald bemerkt und er wurde vom Baron Wesselényi nach Preßburg gerufen, wo ihm die Redaktion eines kleinen Blättchens, der „Landtagszeitung“, übertragen wurde. Obwohl dieses „Organ“ in kaum hundert Exemplaren erschien und, nebenbei bemerkt, geschrieben wurde, erregten doch die kurzen politischen Betrachtungen desselben großes Aufsehen. Diese Aufsätze vertraten die liberalen Ideen und waren geistvoll und mutig geschrieben. Die Regierung unterdrückte das kleine Blatt, Kossuth wurde des Hochverrats beschuldigt, 1837 angeklagt und nach einer langwierigen Untersuchung 1839 zu vier Jahren Kerker verurteilt. Fast zwei Jahre blieb er in der Festung Munkacs eingekerkert, und in dieser Zeit mag sich wohl der Haß in ihm festgesetzt haben, der ihn Zeit seines Lebens nicht mehr verließ. Schon 1841 begann Kossuth in dem von ihm gegründeten ersten ungarischeu Tageblatte „Pesti Hirlap“ [237] den erbitterten Kampf gegen Oesterreich. Sein glänzender Stil, das Pathos seiner Worte gewannen ihm einen großen Anhang, die Jugend des Landes stand hinter ihm, und es war ihm ein Leichtes, auch im Reichstage, in den er 1847 als Vertreter des Pester Komitates eintrat, eine führende Rolle zu erlangen. Seine Reden waren Ereignisse, Zeitgenossen erzählen Wunder von der außerordentlichen Macht seiner Beredsamkeit. Er begeisterte die Kühlsten, veranlaßte die Besonnensten zu Ausschreitungen und ermutigte Tausende zu Tollkühnheiten.

Am 3. März 1848 hielt er in Preßburg eine denkwürdige Rede, welche auch den ersten Erfolg seiner Politik bedeutete. Infolge seines Antrages wurde eine Abordnung des ungarischen Reichstages nach Wien entsendet, welche vom Kaiser ein selbständiges ungarisches Ministerium verlangte. Der Kaiser erfüllte den Wunsch und schon am 17. März 1848 war das erste unabhängige ungarische Ministerium gebildet, dessen Finanzportefeuille Kossuth übertragen wurde. Aber diese Zeit des Entgegenkommens war bald vorüber. Im September 1848 löste die Wiener Regierung den ungarischen Reichstag auf, eine tiefe Erregung bemächtigte sich des Landes jenseit der Leitha, Krawalle entstanden hier und dort, dann brach der helle Aufruhr aus. Kossuth trat an die Spitze des „Landesverteidigungsausschusses“ und war schon im Oktober 1848 thatsächlich Gouverneur von Ungarn, obwohl dies erst später förmlich ausgesprochen wurde.

Das ungarische Heer erlitt Niederlagen, die Hauptstadt wurde erobert und der Reichstag setzte seine Sitzungen in Debreczin fort. Kossuth zwang den Reichstag mit Gewalt nach seinem Willen. Er ließ keine fremden Zeitungen in die Stadt gelangen und der Taumel einer falschen Siegesnachricht, doch noch mehr eine überwältigende Rede Kossuths bewogen den Reichstag von Debreczin am 14. April 1849 auszusprechen, daß Ungarn unabhängig und das Haus Habsburg des ungarischen Thrones verlustig sei. Kossuth wurde Gouverneur und hielt am 5. Juni seinen Einzug in die vom General Görgey wiedereroberte Hauptstadt. Dieser Tag war wohl der glänzendste seines Lebens. Die Straßen waren bekränzt, von Fenstern und Balkonen ergoß sich ein Blumenregen auf ihn herab und aus allen Kehlen tönten dem Liebling des Volkes jauchzende „Eljen“ zu.

Ludwig Kossuth.
Nach einer Photographie von M. Schemböhe in Turin.

Kossuth vertraute auf die Kraft des magyarischen Volkes und auf die Fähigkeiten seiner Generale. Das Volk blieb ihm treu, die Generale verließen ihn, eine Niederlage folgte der anderen und Kossuth – flüchtete. Am 11. August 1849 übertrug er Görgey seine Würde als Gouverneur, vergrub einige Tage später die ungarische Krone und die Kroninsignien in der Nähe won Orsova und ging hinüber in die Türkei, von wo er nach England flüchten wollte. Doch er wurde erkannt, verhaftet und in Widdin, später in der Festung Schumla eingeschlossen. Im August 1851 brachte man ihn mach Kutahia in Kleinasien, woselbst er mit seiner ganzen Familie lebte. Oesterreich forderte seine Auslieferung, doch Frankreich und Nordamerika traten für ihn ein, und schließlich mußte die Türkei infolge eines Drucks von seiten der letztgenannten Mächte Kossuth freilassen, welcher wohl im September 1851 in Pest in effigie gehenkt wurde, doch zur selben Zeit wohlbehalten in England eintraf.

Nun beginnnen die Kossuthschen Wanderpredigten. Er traf in England ein, ohne englisch sprechen zu können. Doch in wenigen Wochen hatte er die Sprache in seiner Gewalt und seine Reden begeisterten die Briten, welche sonst nicht allzuleicht zu erregen sind. Die Engländer rühmten nicht nur die makellose Aussprache Kossuths, sondern auch seine poetische Ausdrucksweise, die bei Politikern in England nicht häufig anzutreffen war. In Nordamerika fand Kossuth noch glühendere Verehrer. Es ist Thatsache, daß in zahlreichen Städten der Union dem Verbannten Kinder mit der Bitte entgegengetragen wurden, er möchte sie segnen. 1853 kehrte er nach England zurück und war hier als Schriftsteller für die hervorragendsten englischen Zeitschriften thätig. Kossuth schildert in seinen „Memoiren“ den Aufenthalt in London als wenig erfreulich. Seine Freunde behaupten sogar, er habe mit Nahrungssorgen kämpfen müssen. Das letztere ist freilich eine Uebertreibung, die sich aus den Berichten über Kossuths Londoner Aufenthalt im Jahrgang 1868 der „Gartenlaube“ leicht widerlegen läßt.

Auch von London aus war Kossuth bemüht, seinen Plänen im Ungarn zur Durchführung zu verhelfen. Er unterhielt Verbindungen mit hervorragenden Persönlichkeiten, sandte Briefe ins Land und suchte auch Verbündete im Ausland. Sowohl Napoleon III. als auch später Viktor Emanuel versprachen ihm Hilfe – doch beide Monarchen wußten ihre Versprechungen rechtzeitig zurückzuziehen.

Seit einer Reihe von Jahren lebte Kossuth in Turin. In seiner Heimat hat sein Name immer einen romantischen Klang behalten. Die Alten erzählen noch heute den Kindern von der glanzvollen Erscheinung des ehemaligen Diktators, seiner bestrickenden Beredsamkeit und von der Begeisterung, die er allenthalben hervorzurufen verstand, und die Bilder Kossuths, welche in den ungarischen Bauernstuben neben den Heiligenbildern hängen, umgiebt wie diese ein Glorienschein. W.     



Eiserne Rennpferde.
Eisenbahntechnische Skizze von W. Berdrow.

Es gab selbst in den riesenhaften Ausstellungshallen der „Weißen Stadt“ von Chicago, auf der größten jemals veranstalteten Schaustellung der Welt, wenige Gegenstände technisch-industrieller Gattung, welche dem Beschauer den Unterschied von „Einst“ und „Heute“ so eindrucksvoll gezeigt hätten wie die im Verkehrspalast aufgestellte Sammlung von Lokomotiven aller Länder und Zeiten. Hier „Rocket“, die Lokomotive Georg Stephensons, welche im Oktober 1829 bei dem berühmten Lokomotiven-Wettstreit der Liverpool-Manchesterbahn den Sieg errang und von derselben Eisenbahn mit 10000 Mark bezahlt wurde – und ihr gegenüber eine der riesigen Schnellzugslokomotiven der Vereinigten Staaten, wie sie heute gebaut werden, Kolosse, deren sechs Treibräder höher sind als der ganze Aufbau jenes alten Vorfahren der heutigen Dampfrenner. Hier ein dürres winziges Kesselchen über dem sich zwei lange schmale Cylinder aufrichten und durch allerhand umständliches Gestänge ihre Kraft auf die beiden kleinen Treibräder übertragen; mit neun Schritten mißt man die ganze Länge von Maschine und Tender ab – letzterer besteht aus einem kleinen Holzkarren mit ein paar Centnern Steinkohle und einer Wassertonne – 20 Kilometer in der Stunde war die Geschwindigkeit, 15 bis 20 Tonnen die Last, welche „Rocket“, zum Staunen der Zeitgenossen, bewältigte. Und dort die vierfache Länge, die doppelte Breite und Höhe; das Eigengewicht einer neuen Schnellzugsmaschine beträgt viermal mehr, als „Rocket“ mit sich zu schleppen vermochte, ihre Leistung aber, wenn man Schnelligkeit und Zugkraft gleichzeitig berücksichtigt, das Fünfzigfache!

Und ist man damit am Ende? Keineswegs! Stand doch nicht weit von jenen Dampfkolossen entfernt bereits das Modell

[238] der elektrischen Eilwagen, die künftig den Verkehr zwischen volkreichen Großstädten mit einer stündlichen Geschwindigkeit von 160 Kilometern vermitteln sollen und die in ihrer Gestalt mit den heutigen Lokomotiven nicht viel mehr Ähnlichkeit haben als diese mit denen der dreißiger Jahre! Vorerst freilich behaupten die Dampfrenner im Fernverkehr noch fast unangefochten ihren Platz, und die kräftigen Anstrengungen, welche unausgesetzt gemacht werden, um ihre Leistungsfähigkeit noch zu erhöhen, machen es sogar wahrscheinlich, daß ihnen dieser Platz noch auf Jahrzehnte gesichert bleibe.

Man glaubt im allgemeinen, daß die Geschwindigkeiten der berühmtesten Kurierzüge, wie sie heute z. B. vom „Flying Scotchman“ zwischen London und Edinburg, vom „State Empire Express“ zwischen New York und Buffalo, von den Aehnliches leistenden Kurierzügen zwischen Berlin und Köln, Berlin und Hamburg, Wien und Bodenbach erzielt werden, annähernd die höchsten Leistungen der Dampflokomotive darstellen; besonders von den Verfechtern der elektrischen Eilbahnen wird der Stand der Eilzugsfrage oft in diesem Sinne dargestellt. Indessen sind solche Leistungen schon vor vielen Jahren erreicht worden, und höhere zählen, wenn man die Geschichte des Eisenbahnwesens der letzten zehn Jahre durchblättert, keineswegs zu den Seltenheiten. Die Durchschnittsgeschwindigkeit jener oben aufgezählten berühmten Züge, 70 bis 80 Kilometer in der Stunde, entspricht einer reinen Geschwindigkeit auf freier Strecke von 90, ja von 100 Kilometern; auch die europäischen Orient-Expreßzüge laufen streckenweise mit dieser Schnelligkeit, aber ihre Lokomotiven, deren 230 Centimeter hohe Treibräder bei jedem Kolbenspiel einen Weg von siebeneinviertel Meter zurücklegen, würden ohne Ueberanstrengung auch 120 Kilometcr in der Stunde leisten können. Und daß damit die Schnelligkeit der Dampflokomotive ihr Ende noch nicht erreicht hat, zeigen vielfache Versuche.

Die 702 Kilometer lange Strecke zwischen New York und Buffalo, welche die besseren Personenzüge in 12 bis 14 Stunden zurücklegen, wurde am 14. September 1891 von einem aus drei Pullmannwagen bestehenden Schnellzuge in sieben Stunden zwei Minuten gefahren, was eine mittlere Geschwindigkeit von 100, eine absolute Schnelligkeit von 123 Kilometern in der Stunde bedeutet. Ein Probezug zwischen New York und Philadelphia brachte es gleichzeitig auf 145 Kilometer in der Stunde. Ein Probezug der französischen Mittelmeerbahn fuhr später auf einer besonders verstärkten Geleisstrecke 140 Kilometer, und ganz neuerdings legte wieder auf der Philadelphia-Readingbahn eine Lokomotive in sechs Minuten 14½ Kilometer zurück, was eine Stundenleistung von 145 Kilometern ergiebt. Um endlich noch einen Fall aus älterer Zeit vorzuführen, erwähnen wir die im Jahre 1847 für die englische Nordwestbahn gebaute Schnellzugslokomotive „Cornwall“, welche in einer von der heutigen durchaus abweichenden Bauart zwei ungeheure Treibräder von mehr als acht Fuß Höhe besaß und bisweilen Fahrgeschwindigkeiten von 127 Kilometern erreichte.

Als gewichtigster Einwand gegen so hohe Geschwindigkeiten der Dampflokomotiven wurde stets der „oscillierende“ Mechanismus ihrer Maschine betrachtet; ihre beständig hin und hergehenden Teile verursachen fortwährend Stöße, die bei sehr hohen Geschwindigkeiten sowohl die Lokomotive wie den Bahnkörper in heftige Erschütterungen versetzen können. Daß darin ein bedenklicher Uebelstand liegt, ist leicht einzusehen. Eine mit 120 Kilometern in der Stunde fahrende Lokomotive erhält durch das Spiel ihrer beiden Dampfkolben in jeder Sekunde 25 gewaltige Stöße, siebenhundertmal in jeder Minute saust beim Umschwung der Treibräder das mächtige Gegengewicht, welches den Kurbelstangen die Wage hält, auf die Geleise nieder, um ebenso oft mit rasender Geschwindigkeit wieder um zwei Meter emporgerissen zu werden.

Daß solche Erschütterungen auf Maschinen und Bahnkörper nicht gerade in günstiger Weise einwirken, läßt sich denken; doch ist soviel bereits erwiesen, daß die oben angeführten Versuche, obwohl sie meistenteils mit Maschinen veranstaltet wurden, welche gar nicht für so hohe Geschwindigkeiten gebaut waren, noch durchaus keine gefahrdrohenden Ergebnisse zeigten. Daß es demnach Lokomotiven, die von vornherein in allen Einzelheiten für den neueren Eilzugsverkehr zugerichtet werden, noch weiter bringen können, erscheint zweifellos.

Der Leser wird nun fragen, weshalb die Bahnen, wenn die Möglichkeit erheblich größerer Fahrgeschwindigkeit bereits seit so langer Zeit festgestellt ist, noch nicht an die Verwirklichung dieses Fortschrittes gegangen sind. Und in der That muß es auffallen, daß die Mehrzahl der in- und ausländischen Schnellzüge eine Durchschnittsleistung von 60, ja der größte Teil der Personenzüge eine solche von 40 Kilometern in der Stunde noch immer nicht übersteigt, während eine Leistung von 80 Kilometern und mehr – wenigstens auf gut gebauten Strecken – als gefahrlos angesehen werden darf. Die Hauptursache liegt wohl darin, daß das Bedürfnis nach erheblicher Vermehrung der Geschwindigkeit noch nicht dringend genug ist, um die höheren Betriebskosten, welche jene mit sich bringen würde, zu rechtfertigen, und daß überdies in den meisten Ländern, wo die Eisenbahnen Staatseigentum sind, der scharfe Wettbewerb fehlt, welcher anderwärts auf Steigerung der Leistungen hindrängt. In England und Amerika, wo der Wettbewerb allerdings im Uebermaß besteht, werden freilich unsere schnellsten Züge auch nicht oder doch nur um wenig übertroffen, doch dürfte es dort immerhin eine größere Anzahl von schnellfahrenden Zügen geben. Amerika scheint es im besonderen vorbehalten zu sein, diese Einrichtung auch für sehr ausgedehnte Strecken in Anwendung zu bringen.

Die großen, fast ohne Wagenwechsel das ganze nordamerikanische Festland durchschneidenden Züge der Pacifischen Eisenbahnen gebrauchten vor wenig Jahren noch sechs Tage, um von New York über Chicago oder St. Louis nach San Francisco zu gelangen – heute vollbringen einige von ihnen die Reise in viereinhalb Tagen und bieten dabei in ihren gewaltigen Palastwagen soviel Bequemlichkeit, daß selbst eine Dame – mögen auch die Phrasen von förmlichcn Erholungsreisen auf den amerikanischen Bahnen stark übertrieben sein – die ununterbrochene Fahrt vom Atlantischen zum Stillen Ocean ohne besondere Anstrengung unternehmen kann. Die Durchschnittsgeschwindigkeit bei diesen weit über 5000 Kilometer durchlaufenden Zügen würde dabei immer erst 50 Kilometcr in der Stunde betragen, sie sinkt aber für das bedeutendere Stück der Reise noch tiefer, da die Verbindung zwischen New York und Chicago weit über diesem Durchschnitt steht, während die rund 4000 Kilometer lange Fahrt zwischen Chicago und San Francisco selbst mit den schnellsten Zügen dreieinhalb Tage dauert und eine Durchschnittsgeschwindigkeit von nur etwa 47 Kilometern aufweist. Dabei halten diese Züge in den Prairien und Felsengebirgen äußerst selten, haben aber freilich hier auf die gewaltigen Steigungen und auf die nicht immer mustergültige Ausführung des Bahnkörpers Rücksicht zu nehmen. Daß eine schnellere Durchquerung des nordamerikanischen Festlands mittels der Lokomotive möglich ist, lehrte bereits im Jahre 1876 die Reise der Theatergesellschaft von Jarret und Palmer, welche auf besonderem Extrazuge am 1. Juni gegen 1 Uhr nachts New York verließ und am 4. Juni früh neuneinhalb Uhr in San Francisco eintraf, deren Zug also in etwa 81 Stunden einen Weg zurücklegte, der damals für gewöhnlich das Doppelte erforderte und zu welchem auch heute die schnellsten Züge noch fast 30 Stunden mehr brauchen. Die damals erreichte Durchschnittsgeschwindigkeit von 68 Kilometern ist auf so ausgedehnte Entfernungen schwerlich jemals wieder erreicht worden. Bedenkt man aber vollends, daß mehr als 1000 Kilometer dieser gesamten Strecke in den scharfen Steigungen der Alleghanies, der Felsengebirge und der Sierra Nevada liegen und nur äußerst langsam befahren werden können, so erklärt es sich, daß die Stundengeschwindigkeit auf Abschnitten von mittlerer Schwierigkeit auf 100 Kilometer stieg, während sie auf freier Strecke stellenweise 120 Kilometer erreicht hat. Zu längeren Aufenthalten, wie sie die Wasser und Kohlenaufnahme der Lokomotiven erfordert, war natürlich bei einer solchen Gewaltfahrt selten Zeit genug vorhanden, weshalb dieser denkwürdige Extrazug nicht weniger als achtzehn einander ablösende Lokomotiven mit durchschnittlich vier bis fünfstündiger Dienstzeit erforderte. Im Anfang der Reise versah eine Maschine der Pennsylvaniabahn einen zehnstündigen Dienst und leistete dabei ohne einen einzigen Aufenthalt 733 Kilometer, eine seither schwerlich wiederholte Leistung. Der Kohlenbedarf wurde dabei dem Tender aus einem besonders angehängten Wagen zugetragen, das Wasser dagegen von der Maschine aus jenen langen Schöpfkanälen eingebogen, welche als eine Eigentümlichkeit der amerikanischen Bahnen den Wasserersatz bei voller Fahrt gestatten.

Als Glanzleistung des amerikanischen Schnellzugwesens wurden seit Jahren die Expreßzüge zwischen New York und Chicago angesehen, der Stolz des Amerikaners, der fest davon überzeugt ist, daß eine solche Reisegelegenheit – die „Limited [239] Expreß“ machen die 1600 Kilometer betragende Fahrt in 24 Stunden - in der ganzen Welt nicht noch einmal zu finden sei. Nun beträgt allerdings die Durchschnittsleistung nur etwa 67 Kilometer auf die Stunde, aber der Umstand, daß sie auf eine Strecke eingehalten wird, welche diejenige von Wien bis Konstantinopel noch übertrifft, macht diese Fahrt doch zu einer außerordentlichen. Daß sie nicht unübertrefflich war, bewiesen die Amerikaner plötzlich im Sommer vorigen Jahres gelegentlich der Weltausstellung. Am 28. Mai nämlich ließ die New York-Centralbahn ohne viele Ankündigungen urplötzlich einen Zug ab, der die vielbefahrene Route New York-Chicago in kaum 20 Stunden, die Rückfahrt dagegen am nächsten Tage in noch etwas kürzerer Zeit bewältigte und von da ab in regelmäßiger Folge als zwanzigstündiger „Exposition Flyer“ - fliegender Ausstellungszug - seine Fahrten an jedem Nachmittage in den beiden Weltstädten antrat. Seine Leistung, 80 Kilometer im Durchschnitt während 20 Stunden, ist seit dieser Zeit der unbestritten höchste Dauerrekord, der von eisernen Rennpferden je erreicht wurde. Seine Geschwindigkeit erreicht nicht ganz die des schnellsten deutschen Zuges, Berlin-Hamburg, aber sie erstreckt sich über eine fast sechsmal längere Frist. Dabei soll der Zug während der ganzen Fahrt so ruhig über die Geleise gegangen sein, daß ein Unterschied gegen die früheren Fahrten kaum festzustellen war.

Die äußerste Schnelligkeit der Züge wird auch mit diesem Fortschritt noch nicht erreicht sein, wiewohl in der That für den Weltverkehr viel erreicht wäre, wenn es allenthalben Schnellzüge von gleicher Leistungsfähigkeit gäbe. In 70 Stunden würde man alsdann, anstatt in 108 Stunden, von New York nach San Francisco fahren können; von Berlin nach Paris könnte man in 14, nach Wien in 8, nach Petersburg endlich, wohin jetzt die Fahrt 35 Stunden währt, in 21 Stunden gelangen. Aber schon jetzt drängt der Wettbewerb zwischen den Eisenbahnen auf weitere Steigerung hin. Daß sie ausführbar, ja bis 140 und 150 Kilometer bereits ausgeführt ist, wurde im vorstehenden gezeigt, um sie aber in die Alltagspraxis zu übersetzen, sind nicht nur starke Lokomotiven und sichere Geleise, sondern auch, besonders in den Vereinigten Staaten, noch erhebliche Verbesserungen der Signalvorrichtungen nötig. Man hat es dort zwar mit Hilfe vorzüglicher Bremsen soweit gebracht, daß ein mäßig langer Zug von 80 Kilometern Geschwindigkeit auf die geringe Entfernung von 300 Metern zum Stehen gebracht werden kann, doch würde sich diese Strecke bei Geschwindigkeiten von 100 oder 110 Kilometern sicherlich schon auf das Doppelte bis Dreifache erhöhen, und in demselben Maße würde natürlich auch die Gefahr eines Zusammenstoßes wachsen.

Kehren wir nun noch einmal zu den Ausstellungshallen der „Weißen Stadt“ zurück. Was dort am Bau dieser gewaltigen amerikanischen Stahlrenner am meisten auffiel, war die vor kurzem noch ganz unbekannte, heute aber bereits von mehreren Fabriken geübte Anwendung der „Compound“- oder „Verbund“-maschinen auf die Lokomotiven. Nicht mehr zwei, sondern vier Cylinder führen diesen ehernen Riesen ihre Kraft zu, von denen die beiden größeren nur den Dampf nochmals zu verarbeiten haben, welchen die kleineren bereits teilweise ausnutzten. Die Maschinen sollen etwa um 5 Prozent weniger Kohlen verbrauchen als die älteren, was bei den hoch in die Millionen gehenden Kohlenkosten großer Gesellschaften schon recht hübsche Ersparnisse ermöglicht. Die größte bisher auf dem ganzen Erdenrund erreichte Geschwindigkeit hat, wenn wir dem Bericht des amerikanischen Fachblattes „Scientific American“ glauben dürfen, die Lokomotive Nr. 999 der New York-Centralbahn erzielt. 112½ englische Meilen oder einhundertachtzig Kilometer in der Stunde. Und das mit einem vollen Zuge hinter sich! Die Erbauer hoffen es noch auf 120 Meilen oder 193 Kilometer zu bringen. Derartige Maschinen würden also das Kunststück der geplanten elektrischen Eilbahn von Chicago nach St. Louis, 160 Kilometer im Durchschnitt zu fahren, mit Leichtigkeit ebenfalls vollführen.

Was das Gewicht betrifft, so ist jene Ideallokomotive Nr. 999 trotz ihrer Räder von zweieinviertel Meter Durchmesser noch geradezu leicht zu nennen: sie wiegt nur 57 Tonnen (zu 1000 Kilo). Zum höchsten Gewicht bringen es durchweg nicht die Renner der Eisenwelt, sondern die Gebirgs- und Güterzugslokomotiven. In Europa waren bis vor kurzem die 86 Tonnen schweren Maschinen der Semmeringbahn, in Amerika die 88½ Tonnen-Maschinen der berühmten Baldwinschen Werke in Philadelphia die schwersten Maschinen. Neuerdings erhielten die Hydepark-Werke zu Glasgow den Auftrag, für die gewaltigen Steigungen der mexikanischen Vera Cruz-Bahn eine Anzahl von sechsachsigen Maschinen zu bauen, deren Gewicht im Dienst bereits über 90 Tonnen, deren Preis allerdings auch runde 90000 Mark betragen sol. Und auch damit noch nicht zufrieden, haben in der jüngsten Zeit die Rhode-Island-Werke in Amerika für den Frachtendienst der mexikanischen Centralbahn Maschinen von 130 Tonnen oder 130000 Kilogramm Dienstgewicht gebaut; das ist bis jetzt der schwerste Lokomotivtypus und dürfte es vorerst auch bleiben, denn solche Kolosse nehmen den Unterbau ihrer Geleise selbst bei langsamer Fahrt entschieden stärker in Ansprnch als Lokomotiven von 60 Tonnen bei Geschwindigkeiten von 140 Kilometern und mehr.

Das wären die Fortschritte des eisernen Rennpferdes in 60 Jahren: Hier „Rocket“, ein Gewicht von 4500 Kilogramm, eine Schnelligkeit von 20 Kilometern in der Stunde - dort Renner, die 160 Kilometer laufen und von denen noch mehr verlangt wird, Riesen, welche 130000 Kilogramm wiegen und eine Last von 800000 Kilo, das Vierzigfache der Leistung von Stephensons Maschine, spielend über das Erdenrund befördern.



BLÄTTER UND BLÜTEN.

Zum Schutz der Waldschnepfe. Die Weidmannspoesie findet ihre schönste Blüte keineswegs in der Erlegung von Hirsch, Reh und Hase, im Kampf mit Bär und Sau, ja nicht einmal in der Ueberlistung Reinekes, sondern zweifellos in der Schnepfenjagd. Im Frühling, wenn die Natur ihre Festfeier begeht, wenn das frischgrüne Land sich zu entfalten beginnt und die bunten Blüten von Tag zu Tag mannigfaltiger und reicher sich erschließen, dann eilt der Jäger hinaus, um des köstlichsten Genusses teilhaftig zu werden, den sein Beruf mit sich bringt. Und für viele, ja für die meisten Grünröcke steht jetzt der Naturgenuß höher als die Jagd an sich.

Der Naturfreund und mit ihm der „edle“ Jäger, der seine Tiere liebt und hegt, der nicht bloß ein Töter, ein Schlächter, sondern ein Beschützer und gleichsam Züchter der Jagdtiere ist - muß er nun aber nicht unwillkürlich an das harte Los gerade des Vogels denken, dem er die schönste Jagd verdankt, der Waldschnepfe? Als Gast, als Wanderer auf dem Durchzuge erliegt sie einer rücksichtslosen Verfolgung!

An verschiedenen Stellen hat man es längst mit schmerzlichem Bedauern wahrgenommen, daß die Anzahl der durchwandernden Schnepfen sowohl auf dem Frühjahrs- wie auf dem Herbstzuge von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sich erheblich verringert hat. Bei derartigen Feststellungen läßt sich allerdings nur schwierig eine gewisse Sicherheit erreichen, da ja der Zug infolge wechselnder Witterung außerordentlich unregelmäßig ist. Da aber die Stimmen der Sachverständigen, welche die Abnahme behaupten, immer zahlreicher werden, so läßt sich an der leidigen Thatsache wohl keinesfalls mehr zweifeln.

Doch ganz abgesehen davon – welche unmenschliche Härte liegt doch gerade darin, daß die Waldschnepfe allenthalben dann massenhaft abgeschossen wird, wenn sie unmittelbar vor der Brut steht! Dem harmlosen und überaus wertvollen Vogel gegenüber übt man ein Verfahren, das man sonst nur den schädlichsten Tieren gegenüber anzuwenden pflegt! Und es ist nicht bloß hart, es ist auch unwirtschaftlich, so und so viele dieser kostbaren Vögel unmittelbar vor der beginnenden Brut, überaus häufig sogar mit Eiern im Leibe, zu töten. Die Stimmen der Sachverständigen weisen darauf hin, daß dieser Zugvogel bei entsprechender Schonung bald in vielen Strichen unseres weiten deutschen Vaterlandes ein zahlreich nistender Brutvogel sein würde, da er ja bereits jetzt, trotz der Verfolgung, nicht selten bei uns nistet. Darum ist es ein berechtigtes Verlangen, es möchte der Waldschnepfe und zugleich auch unsern anderen Schnepfen eine Schonzeit vom Beginn ihres Nistens an gewährt werden. Möge man immerhin der Schnepfenjagd den Herbst hindurch freien Spielraum gönnen und meinethalben auch im Frühjahr, hier jedoch nur so lange, bis in jeder einzelnen Gegend festgestellt werden kann, daß die Schnepfen zu nisten oder zu legen beginnen. Dies müßte jedesmal, in ähnlicher Weise wie der Anfang der Hasen- und Rebhühnerjagd, durch eine Kommission von Sachverständigen geschehen, und der Zeitpunkt würde natürtich je nach der Lage eines Landstrichs verschieden sein.

Hätte ich einen bedeutenden Einfluß auf die maßgebenden weiteren Kreise unserer deutschen Jägerschaft, so würde ich sie noch um etwas Größeres bitten, nämlich darum, dem herrlichen Jagdvogel im Frühling einen vollen [240] Schutz zu gönnen, wenigstens bis auf weiteres, während die Herbstjagd gänzlich unbehindert und frei bleiben könnte. Erst dann, wenn wir keine Schnepfen zur Brutzeit erlegen, keine Kibitzeier aus den Nestern rauben, keine Lerchen und keine Drosseln (Krammetsvögel) mehr verspeisen, erst dann können wir mit vollem Recht verlangen, daß in den Ländern am Mittelmeer auch nicht mehr unsere Nachtigallen, Rotkehlchen, Schwalben u. a. zu Hunderttausenden alljährlich im Frühjahr und Herbst weggefangen und verzehrt werden. Dr. Karl Ruß.     

„Ausgeblasene“ Kinder. Nach alter Sitte zieht der Berliner am Sonntagnachmittag mit Kind und Kegel aus, um in irgend einem Biergarten seine Erholung zu suchen. Trotz aller elterlicher Warnungen liebt es das kleine Volk, der unmittelbaren Aufsicht zu entwischen, um irgend einem reizvolleren Vergnügen nachzuspüren, als es darin liegt, Vater und Mutter beim Austrinken ihrer Biergläser zuzuschauen. Da lockt ein Hausierer als moderner Rattenfänger von Hameln mit allerlei wunderbarem Tand, dort springen an einer Schießbude geheimnisvolle Thore auf, große Glaskugeln blitzen in der Sonne, kurz, es ist des Neuen und Entzückenden zu viel, als daß ein Kinderherz widerstehen könnte. Weiter strebt es und weiter und „taumelt von Begierde zum Genuß“, bis eines schönen Augenblicks doch das kleine Gewissen schlägt und zur Heimkehr an den elterlichen Stammsitz mahnt. Aber o weh! Grausame Ernüchterung! Ringsum viele Tische mit vielen vielen Menschen, aber lauter fremde Gesichter, ein brausendes Meer ohne Weg und Steg! Dem armen Flüchtling wird wind und weh, und in jammerwürdigem Geheul macht er seinem gepreßten Herzen Luft. Doch der Retter naht. Irgend ein in solchen Zwischenfällen erfahrener Stammgast nimmt den verirrten Mitbürger väterlich auf seine starken Arme und trägt ihn sicher dahin, wo die Musik spielt. Ein schmetterndes Signal – aller Augen wenden sich der Musiktribüne zu: auf den Schranken steht, von einem kräftigen Hoboisten der Menge präsentiert, der heulende Findling, und nicht lange dauert es, da windet sich eine Gestalt mit flatternden Hutbändern eilig durch die Menge – es ist die Mutter, die sich lange schon um den ungetreuen Liebling geängstigt. Mit Thränen in den Augen zieht sie den auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege wiedergefundenen Sohn an ihr Mutterherz: Ob ihn freilich der Vater mit ebenso „zärtlichem Liebesblick“ empfangen wird, das ist nicht so ganz sicher; jedenfalls giebt es sehr viele Väter, deren Erziehungsgrundsätzen dies unbedingt zuwiderlaufen würde.

„Ausgeblasene“ Kinder.
Originalzeichnung von E. Thiel.


Vom Werte der Seide. „Was das Gold unter den Metallen, der Diamant unter den Edelsteinen, das ist die Seide unter den Textilstoffen: der kostbarste, weil der schönste, glänzendste, widerstandsfähigste. Deshalb ist auch die Seide die Königin unter den Fasern. Die Seide bildet ein Glied in jener Trias, welche den begehrtesten Schmuck der Frauen aller Stände und Weltteile abgiebt.“ So rühmt ein Sachverständiger, Professor W. F. Exner, den kostbaren Stoff, den uns der Seidenwurm schenkt. Aber wie alles in der Welt, so schwankt auch die Seide in ihrem Werte. Das wissen namentlich die älteren von unseren Leserinnen aus eigener Erfahrung, und es wird für sie gewiß nicht ohne Interesse sein, die Gestaltung der Seidenpreise im Laufe unseres Jahrhunderts kennenzulernen. Franz Bujatti in Wien, der Verfasser der Schrift „Die Geschichte der Seidenindustrie Oesterreichs“, die als vierte unter den Abhandlungen des „Museums für Geschichte der österreichischen Arbeit“ soeben erschienen ist, hat darin eine sehr lehrreiche Zusammenstellung der Seidenpreise seit dem Jahre 1800 bis zum Jahre 1892 gegeben. Es wurden dabei als Maßstab die Durchschnittspreise der von den besten Cocons gewonnenen Organsinseide in „sublimer Qualität“ gewählt. Ein Kilogramm dieser Seide kostete im Jahre 1800 im Durchschnitt 45 Mark: im Laufe des ersten Jahrzehntes stieg der Preis bis auf 60 Mark und schwankte, einige wenige Ausnahmen abgerechnet, zwischen den beiden Grenzen. Dann kam eine Zeit, wo der Seidenwert durch verschiedene Ereignisse stark beeinflußt wurde. Die Seide ist ein Luxusartikel und wird als solcher in unruhigen und kriegerischen Zeiten weniger begehrt, was ein Sinken des Preises zur Folge hat. So sehen wir auch, daß die Revolutionsjahre 1830 und 1848 die niedrigsten Seidenpreise von 40 Mark mit sich brachten. Die Krisis wurde aber bald überwunden, und schon im Jahre 1853 betrug der Preis 73 Mark.

Da kam 1854 der Krimkrieg und die Preise sanken wieder auf 50 Mark. Bald darauf, im Jahre 1856, trat eine Katastrophe in der Seidenerzeugung ein, die Raupen wurden von einer epidemischen Krankheit, der Pebrine, ergriffen, die Seide wurde seltener und infolgedessen teurer. 1857 kostete ein Kilo Organsin bereits 88 bis 90 Mark, auch in den folgenden Jahren mehr als 80 Mark, und der Krieg in Amerika vermochte diesen Satz nur bis auf 60 Mark herabzudrücken. Nach dem Friedensschluß im Jahr 1865 wurden aber bereits 94 Mark notiert, und auch im Kriegsjahr 1866 gingen die Preise nur bis 80 Mark hinunter. Im Jahre 1868 aber wurde der höchste Preis dieses Jahrhunderts erreicht. Das Kilo Organsin kostete 112 Mark, fast dreimal soviel wie in den Jahren 1830 und 1848.

Bald jedoch wurden die Preise durch den deutsch-französischen Krieg auf 75 und 72 Mark herabgedrückt. Im Jahre 1872 begannen sie zwar wieder zu steigen, aber sie konnten die frühere Höhe nicht mehr erreichen, denn inzwischen war es dem berühmten Bakteriologen Pasteur gelungen, Mittel zur Bekämpfung der Seidenraupenkrankheit zu entdecken, die alsbald die allgemeinste Verbreitung unter den Seidezüchtern fanden. So bezahlte man im Jahre 1875 nicht mehr als 56 Mark. Im Jahre 1876 stieg der Marktwert noch einmal infolge geringer Ernten in Italien auf 96 Mark, aber von da an wurde ein stetiges Fallen verzeichnet. Im Jahre 1885 wurde mit 37 Mark der niedrigste Preis des Jahrhunderts erzielt und von da an schwankten die Preise bis auf die Gegenwart zwischen 40 und 50 Mark. Nach vielen Wandlungen kostet die Seide am Ende des 19. Jahrhunderts annähernd ebensoviel in Mark ausgedrückt wie am Anfang des Jahrhunderts, aber im Laufe der neunzig Jahre ist der Wert des Geldes ein geringerer geworden, und so können wir mit Recht sagen, daß die Seide billiger geworden ist. *      

Belauschte Werbung. (Zu dem Bilde S. 232 und 233.) Soweit wäre alles in Ordnung bei den beiden, die in der alten Schwarzwälderstube am Fenster sitzen – ihre Hände haben sich gefunden wie schon längst ihre Herzen, die Werbung ist geglückt, und die hübsche Braut wäre gern bereit, mit einem Kuß die Sache „richtig zu machen“. Aber die Geschwister! Ihr ist der Eifer verdächtig, mit dem sich die kleine Schwester ins Stricken vertieft, was sonst gar nicht ihre Sache ist, die Versunkenheit, mit der sich der Bruder der alten Bilderbibel widmet. Offenbar sehen sich die Plagegeister als die berechtigten Vertreter der Familie an, die an Stelle der abwesenden Eltern entschieden dabei sein müssen, denn auch durch die verlockendsten Vorschläge haben sie sich nicht bewegen lassen, zu verschwinden. Da heißt es also, vorsichtig sein vor diesen Lauschern und auf etwas so Gewagtes wie einen Kuß verzichten. Es giebt aber ein tröstliches Sprichwort für solche Fälle: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!“

Maiglöckchen. (Zu unserer Kunstbeilage.) Ein Maiglöckchen trägt sie im Gürtel, die holdselige Mädchengestalt, die des Künstlers Pinsel uns vor Augen zaubert. Aber eine Frühlingsblüte ist auch sie selbst, so frisch und rein und duftig wie die zarten Glöckchen des Wonnemonds, ein Maiglöckchen ist sie selbst, dazu geschaffen, Lust und Entzücken rings um sich zu verbreiten. Die Blume an der Brust ist ihr Schmuck und Sinnbild zugleich: sie erhöht den Reiz ihrer Schönheit und giebt zugleich dem Geiste die Richtung auf eine anmutige Deutung. Künstlerischer und symbolischer Zweck vereinigen sich so zu einem harmonischen Ganzen.


manicula 0 Hierzu die farbige Kunstbeilage IV: Maiglöckchen. Von Paul Heydel.

Inhalt:


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. 0Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 0Druck von A. Wiede in Leipzig.