Die Gartenlaube (1893)/Heft 39
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Nr. 39. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
„Um meinetwillen!“
Annaliesens Großmutter,“ fuhr Claassen nach einer Weile fort, „ist ja wohl eine Verwandte von Dir – sag’ ’mal, die ist doch offenbar verrückt?“
Gregory mußte lachen. Wenn die alte Excellenz dies Urtheil gehört hätte! „Verrückt? Erlaube ’mal, das ist ein bißchen stark –“
„Aber Mensch, wie willst Du sonst diese Art von Erziehung erklären? Nicht einen blanken Heller im Vermögen, lediglich auf ihre Pension angewiesen – das deutet die Kleine wenigstens so an – und läßt dies Geschöpf aufwachsen wie eine Blume des Feldes, in der naiven Zuversicht, der himmlische Vater werde sie schon ernähren. Es ist ja ein bildhübsches Ding, und als ich sie neulich fragte, ob sie schon ’mal hätte heirathen können, da blitzten ihr die Augen vor solchem Uebermuth, daß ich denken mußte: holla, dahinter steckt etwas, wenn sie auch nicht mit der Sprache herauswollte. Aber sie hat viel Besonderes an sich, den ersten Besten, der nach ihrem reizenden Persönchen die Hand ausstreckt, nimmt die noch lange nicht, bloß weil sie arm und ohne Zukunftsaussichten ist. Also, was soll werden. Mit der Malerei ist das nichts, sie pinselt ganz niedliche Sächelchen zusammen, wie es all die Mädel thaten, die wir bei uns hatten, aber Broterwerb, Beruf – kein Gedanke dran! Von praktischer Thätigkeit sonst keine Ahnung! Sie ist ja riesig gefällig und will überall beispringen, aber dabei kommt es dann heraus: sie weiß nicht, wie kochendes Wasser aussieht und wie man Kartoffeln behandelt, sie kann keine Naht nähen und keinen Strumpf stricken, sie muß sich das Haar in einen herunterhängenden Zopf flechten, weil sie es nicht gelernt hat, sich selbst zu frisieren. Nun bitte ich Dich! Ein armes Mädchen zu erziehen wie eine Prinzessin, und nach dem Tode der Großmutter kann sie sehen, wo sie unterschlüpft! Unverantwortlich ist das, und bei der Alten ist ’ne Schraube los, dabei bleib’ ich! Klug ist die Kleine, scheint auch ganz hübsch gelernt zu haben, namentlich in Sprachen – deshalb machte ich ihr vor einigen Tagen den Vorschlag, ob sie nicht ein Seminar besuchen und das Lehrerinnenexamen machen wolle … hat sie mich ausgelacht! Sie ließ mich gar kein Wort weiter dazusetzen … immer gelacht und gelacht, beinah’ bis zu Thränen – ich bin ganz verdutzt gewesen, sag’ ich Dir! Und jetzt lachst Du auch! Was in aller Welt –“
„Entschuldige!“ Paul suchte sich zu sammeln. „Es kommt mir nur so wunderlich vor – Annaliese von Guttenberg als Lehrerin!“
„Herrgott, ja, mir scheint sie auch die geborene Salondame, aber damit ist es doch nun einmal nichts! Die Kinder lieben sie, hängen sich an sie wie Kletten; man hat seine Noth, sie von ihr abzuwehren. Würde hat sie freilich keine, aber sie ist noch so jung, und das kann ich aus Erfahrung sagen: mit der Würde allein kommt man auch nicht weit. Die Kinder müssen ein Herz für uns haben, wie wir
[650] für sie – da steckt das Geheimniß! Meiner Ansicht nach wäre der Lehrerinnenberuf das Beste für sie – red’ Du ihr nur auch noch tüchtig zu!“
„Ich?“
„Du, gewiß! Du machst ein Gesicht, als hätt’ ich Dir gerathen, sie umzubringen. Ist denn ein Beruf wie der meine etwa eine Herabwürdigung für irgend einen Menschen, sei er, wer er wolle?“
„Aber, alter Kerl, sei doch nicht so empfindlich! Wer spricht denn davon? Es ist ja nett von Dir, Dich so um die Zukunft des Mädchens zu kümmern, aber –“
„Aber – was: aber? Willst Du sie vielleicht heirathen?“
„Ich?“
„Schon wieder dies Gesicht des blassen Schreckens! Ist denn das so unerhört? Könntest Du nicht eine Frau ganz gut ernähren?“
„Ernähren schon! Ob aber auch ganz gut kleiden –“
„Ach, hör’ mit den schlechten Witzen auf! Wenn Du keinen Mann für sie weißt, dann bleibt doch schließlich wieder bloß die Hoffnung mit den Lilien des Feldes –“
„Ganz recht!“
„Und das scheint mir eine heillos unsichere Karte zu sein – sieh da, ich glaube, es rückt eine Deputation gegen uns vor!“
Wirklich kamen zwei kleine Mädchen und Claassens ältester Junge Kurt als Abgesandte der übrigen Gesellschaft: es sollten Pfänderspiele vorgenommen werden, ob die Herren nicht mit dabei sein wollten. „Nämlich, Papa hat sonst immer mitgespielt,“ erklärte Kurt dem Onkel, für den er sofort eine große Freundschaft gefaßt hatte, „und jetzt sagt Annaliese, wir müßten uns abkühlen, denn beim Thalerwandern haben wir uns natürlich alle ganz furchtbar gebalgt. Prachtvoll ist das gewesen, Onkel – denk’ Dir bloß, Annaliese kannte kein einziges Spiel, alles mußten wir ihr zeigen!“
„Habt Ihr sie lieb?“
„Die? Aber ja! Am liebsten von allen! Du kennst sie doch, Onkel Paul? Du hast sie doch selbst lieb?“
Onkel Paul nickte und strich dem harmlosen Fragesteller über das kurzgeschorene harte Blondhaar. Dann folgte er mit seinem Freund den Kindern ins Wohnzimmer, wohin sich die Gesellschaft zurückgezogen hatte.
„Jetzt giebt sich jedes einen Blumennamen –“
„Nein – Gott, es sind doch Herren dabei! Die können doch keine Blumen sein!“
„Also Küchengeräthschaften –“
„Nein, Speisen! Allerlei zu essen!“
Der Streit war in vollem Gang. Und währenddessen fand Gregory Zeit, Annaliese von Guttenberg endlich regelrecht zu begrüßen. Sie standen ein wenig abseits von den anderen, und der Professor schüttelte warm die schmale Hand, die sich ihm hastig entzog.
„Also doch böse?“ fragte er leise.
Sie schüttelte mit gesenkten Wimpern den Kopf. „Nein, böse nicht!“
„Also was sonst? Warum sehen Sie mich nicht an?“
Einen Augenblick schaute sie in das männliche treuherzige Gesicht mit den zärtlich bittenden Augen; sie war ärgerlich auf sich selbst, aber ableugnen konnte sie sich’s nicht: sie fühlte sich verlegen.
„Ich habe Ihnen so viel zu sagen.“
„Und ich Ihnen.“
„Aber jetzt wird das schwerlich gehen.“
„Doch, doch, es muß! Kinder, fangt ohne uns beide an, Herr Professor soll mir etwas von zuhause erzählen!“
Das gab einen großen Sturm der Entrüstung. Ohne Annaliese ginge es nicht – und sie wollten dann lieber warten, und eines von den jungen Mädchen erklärte trotzig, dann spiele sie auch nicht mit. Sie alle umringten Annaliese, und wenn diese gleich in der ersten halben Stunde ihrem Gevatter einen Beweis ihrer Beliebtheit hätte geben wollen, so würde sie das nicht günstiger haben treffen können. Kleine derbe Händchen klammerten sich an ihr Kleid, zärtliche Arme umschlangen ihre Taille, bittende Gesichter wandten sich zu ihr empor – sie wurde geküßt, gedrückt, gestreichelt und gequält – und über die hellen und dunklen Kinderköpfe weg flog ein halb lachender, halb gerührter Blick zu Gregory hinüber, der ihm deutlich sagte: sieh, hier hast Du nun ein Beispiel! Diese Kinder, all diese unschuldigen kleinen Herzen, lieben mich „um meinetwillen!“
Es half den beiden nichts, sie mußten sich zu dem Kreise gesellen und Pfänderspiele spielen. Zwar setzten sie sich nebeneinander, aber es dauerte keine Minute, so waren sie geschieden, und das bewegte Spiel wirbelte sie gleich losen Blättern hierhin und dorthin. Annaliese war ganz Kind mit den Kindern. Wie herzlich konnte sie lachen, wenn ein drolliges Mißverständniß vorkam, wie sich ängstigen, wenn eines den richtigen Platz nicht fand, wie triumphieren, sobald die Kinder durch eine treffende Antwort ihren Scharfsinn bewiesen! Während der Professor den Blick nicht von ihr ließ und sich an dieser jugendlichen Frische erbaute, war auch sie mit ihrem Freunde zufrieden. Er hatte weder etwas Ironisches noch Ueberlegenes heute – ungezwungen und verguügt schwamm er im Strom der Lustbarkeit mit, erkundigte sich mit Eifer nach den Regeln des Spieles und ließ sich gutmüthig auslachen, wenn er irgend eine Dummheit machte. Die jungen Mädchen, Aunaliesens Pensionsgefährtinnen, fanden ihn „reizend“ und erkundigten sich angelegentlich, ob er lange hier bleibe – er war zwar schon ein bißchen alt, aber eigentlich schwärmten sie insgesamt für reife Männer und behandelten „ungeschickte Jungen“ von achtzehn bis vierundzwanzig Jahren mit Verachtung, Der Professor sprach auch so hübsch fremd, ähnlich wie Annaliese von Guttenberg, die ihr weibliches Ideal war; er sagte „Grüß’ Gott“ statt „Guten Tag“ – das klang so nett, und dann sah er recht gut aus und hatte so sprechende Augen; vor allem aber war er unverheirathet, und das war die Hauptsache. –
„Jetzt ist die rechte Stunde,“ sagte Gregory nach Tisch mit einem tiefen Aufathmen zu Annaliese, als die Kinder nach einem mehr oder weniger wortreichen Abschied gegangen waren und die übrigen Hausgenossen eine Gruppe für sich bildeten. So hatte der Hausherr selbst es haben wollen; er hatte bei Tisch seinen Gast ein bißchen ausgefragt, noch mehr ihn von seiner lieben Frau ausfragen lassen, er hatte ihm dies und das von sich selbst, seinem Beruf, seinem Familienleben erzählt – nun war die erste Wißbegier gestillt, das „Woher?“ und „Wohin?“ erörtert worden, nun mußte man doch endlich die beiden „Verwandten“ eine Weile allein lassen, damit sie Gelegenheit hatten, sich auszusprechen.
Die Hausfrau kramte geschäftig in den etwas wüst aussehenden Zimmern umher – Kindergesellschaften sind kein Spaß – der Oberlehrer spielte mit den drei jungen Mädchen in seinem Arbeitszimmer Karten, und in dem kleinen Eckstübchen Frau Melanies, einem gemüthlichen, nur durch eine rosig verschleierte Lampe erhellten Winkel, saßen die beiden „Verwandten“ einander gegenüber.
„Sagen Sie, erzählen Sie, bitte – wie geht’s Großmama? Was denkt sie, was sagt sie von mir?“
„Das will ich Ihnen nicht vorenthalten. Sie sagt, aus Ihren Briefen sei nicht klug zu werden, sie behandelten Nebensächliches und verschwiegen das Wichtige. Ich habe daher die Aufgabe, Sie genau zu beobachten und über Sie Bericht abzustatten!“
Annaliese lachte hell auf. „Also mein Spion! Eine würdige Aufgabe für einen Professor der alten Sprachen! Und dazu geben Sie sich her?“
„Dazu gab ich mich her – ich kann ja meine eigenen dunklen Nebenwege dabei verfolgen! Hauptfrage der Großmama-Excellenz ist übrigens die: wie ist es mit den Empfehlungsbriefen bei den verschiedenen Offiziersfamilien geworden, an die man Sie gewiesen hat?“
„Sehr einfach, ich hab’ sie gar nicht abgegeben!“
„Wirklich nicht?“
„Was ist dabei Verwunderliches? Ich bitte Sie, hätt’ ich das gethan, so wäre mein ganzes Inkognito dahingewesen. Man hätte mich eingeladen, mir Besuche gemacht – all meine Beziehungen und Verhältnisse wären ans Tageslicht gekommen, und das will ich doch nicht. Es ist ohnehin schon schwer genug, einen solchen Plan, wie ich ihn mir in den Kopf gesetzt habe, durchzuführen.“
„Sehen Sie, ich prophezeite es Ihnen gleich, Sie würden auf Schwierigkeiten stoßen.“
[651] „Daran hab’ ich oft denken müssen! Und dabei sind Sie ein Mann und haben von vielen Dingen, die uns Damen wichtig sind, kaum eine Vorstellung. Gleich mein Haar! Daheim frisierte mich natürlich die Kanapé, in knapp zehn Minuten war’s fertig. Sie hätten den Bau sehen sollen, den ich mir hier am ersten, zweiten Tage auf den Kopf setzte! Und wie lange das dauerte und wie ich mich zausen mußte – entsetzlich! Dabei war natürlich allgemeines Erstaunen, daß ich etwas so Selbstverständliches nicht konnte, daß ich nicht einmal mit meinem Anzug allein zurechtkam. Meine arme Großmama muß hier jeder für geistesgestört halten, daß sie sich in ihren beschränkten Verhältnissen eine so verwöhnte Enkelin großziehen konnte. Auch meine Kleider scheinen immer noch nicht einfach genug zu sein, obgleich ich wahrhaftig schon in Sack und Asche gehe. Meinen sämtlichen schönen Schmuck habe ich zu Hause gelassen, auch die Straußenfederboa, die Sie so kostbar fanden, und meinen Blaufuchspelz – dennoch sieht mich Frau Claassen bei allem und jedem, was ich kaufen möchte, warnend an und fragt, ob das nicht meine Verhältnisse übersteige. Haben Sie denn damals geschrieben, ich sei so arm wie eine Kirchenmaus?“
„Kirchenmaus? Ich kann mich nicht entsinnen, diesen Ausdruck gebraucht zu haben. Sie wollten, ich solle Ihre Armuth betonen –“
„Mein Gott, ja, gewiß wollte ich das, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie es thaten – aber – aber – ich muß deswegen so viele Freuden entbehren, und das ist doch hart!“
Gregory zuckte die Achseln. „Das läßt sich ja alles später doppelt und dreifach nachholen!“ Es klang ein wenig scharf – sie war doch ein gefallsüchtiges, genußdurstiges Persönchen!
„Ja, was für Freuden meinen Sie denn? Bälle und Theater und ähnliches? Das meine ich nicht! Es sind ganz andere Dinge, um die mich meine Vermummung bringt – meine selbstgewollte Vermummung, ich weiß es wohl, Sie brauchen mich nicht so grimmig anzusehen! Also gleich Weihnachten! Welch ein reizendes Fest gab es hier! Besinnen Sie sich vielleicht, wie ich mich beklagte, bei Großmama sei alles so förmlich und kalt, und wie ich mir alles anders wünschte? Ja? Nun, hier gab es ein Fest nach meinem Herzen. Sie hätten die Kinder sehen sollen, wie sie um den Baum tanzten und aufschrieen vor Jubel und von einem zum andern liefen und alle umarmten – und wie das Gretchen seine Puppe küßte und jedem von uns zum Küssen hinhielt und sie dann in den Schlaf sang – und wie die Jungen ihre Soldaten exercieren ließen und der Kleinste glückstrahlend sein erstes Schaukelpferd bestieg . . . stundenlang könnte ich davon erzählen, ich hab’ immer durcheinander lachen und weinen müssen wie ein Kind, ich hatte ja das noch nie gesehen! Und vorher wurden arme Kinder beschenkt, kleine elende Geschöpfe, die Röcke und Schuhe bekamen und Aepfel und Nüsse. Wie die mit gefalteten Händen dastanden und vor lauter Entzücken zu danken vergaßen und ihre Gedichtchen aufzusagen! Daß ich da nicht geben konnte, viel, viel, mit vollen Händen, wie ich’s für mein Leben gerne wollte, das hat mir bitter weh gethan. Mein Nadelgeld ist so überreichlich, und wieviel gebe ich daheim für hübsche Nichtigkeiten und dummes Zeug aus! Als ich aber hier etwas schenkte, den kleinen Claassens ein paar Spielsachen und so weiter – mir kam alles lächerlich wenig vor – da sah ich große Augen und mißbilligende Mienen. Frau Oberlehrer sagte, ich würde es nie im Leben zu etwas bringen, wenn ich so verschwenderisch sei, und was ich mir eigentlich dabei denke, soviel Geld hinzugeben, ich müsse doch wissen, daß ich ein armes Mädchen und in Zukunft auf den eigenen Erwerb angewiesen sei! Und er, der Doktor – er ist ja sonst eine Seele von einem Mann – hat mir eine lange Rede gehalten: daß die Mildthätigkeit eine der schönsten Eigenschaften des weiblichen Gemüths sei und daß sie ihn bei mir rühre und erfreue – sie dürfe aber nicht in völliges Selbstvergessen übergehen, man habe auch Pflichten gegen sich selbst und so weiter und so weiter. Mußte ich mich noch in den Himmel heben lassen wegen meines Edelmuthes und hatte doch nichts weiter gethan, als von meinem Ueberfluß ein winziges Scherflein abgegeben! Ich bitte Sie – es war eine beschämende Lage!“
Der Professor sah gerührt in das aufgeregt zuckende Gesichtchen; er fühlte die stärkste Versuchung, es sanft zwischen seine Hände zu nehmen und zu küssen, zärtlich und leidenschaftlich, aber er nahm sich zusammen. „Sie werden mich entsetzlich pedantisch finden, Fräulein Annaliese, aber ich muß Ihnen wiederholen: das sind eben die Folgen Ihres Handelns, tragen Sie sie in Geduld! Uebrigens kann ich Sie ein wenig beruhigen: die Kinder meines Freundes Gustav sind wenig verwöhnt und sicher überglücklich mit Ihren Geschenken gewesen – sie mit Kostbarkeiten zu überschütten, wäre gar nicht richtig, sogar bedenklich gewesen, und bei den armen Kindern ist es ähnlich – vom pädagogischen Standpunkt!“
„Ach, gehen Sie mir mit dem pädagogischen Standpunkt! Ich will Freude bereiten und vergnügte Gesichter sehen! Sie glauben nicht, wie schrecklich viel Armuth hier in Königsberg herrscht. Die Stadt ist arm, heißt es immer, sie hat zu Napoleons des Ersten Zeiten gar zu sehr bluten müssen. Das muß wohl wahr sein. Claassens sind sehr gut, sie helfen, soviel sie können. Ich bin auch mit Frau Oberlehrer in die Wohnungen armer Leute gegangen – Großmama würde schön schelten, wenn sie das wüßte! Aber sie weiß es nicht!“ Annaliese nickte siegesgewiß vor sich hin. „Und Ihr Freund, der gute Doktor, ist damit auch ganz einverstanden, er findet es egoistisch, sich vor dem Elend und der Armuth zu verstecken, und meint, ich könne eine solche Thätigkeit gut für mein künftiges Leben brauchen. – Wissen Sie, daß er mich alles Ernstes fragte, ob ich denn noch nie in meinem Leben einen Heirathsantrag bekommen hätte?“
„Und was haben Sie ihm geantwortet?“
„Ich konnte gar nicht antworten, es war so drollig! Denken Sie ’mal, zu Hause nannten sie mich immer die Turandot, und nun kommt dieser Oberlehrer daher und fragt, ob ich denn noch nie einen einzigen Heirathsantrag gehabt hätte! Und als ich diese Gewissensfrage unbeantwortet ließ, da hat er mich so recht treu und väterlich besorgt angesehen und hat mir gerathen, ich möchte das Lehrerinnenexamen machen und Gouvernante werden!“
Das junge Mädchen kam bei der Erwähnung dieses Vorschlags aufs neue so ins Lachen, daß sie den Professor mit ansteckte – ihr Lachen hatte etwas Unwiderstehliches. Sie wollte fortfahren, zu erzählen, er wollte allerlei bemerken, fragen . . . umsonst. Sowie sie einander ansahen, brach das Lachen aufs neue hervor – Annaliese warf nur zuweilen ein halb ersticktes: „Gouvernante! Ich – Gouvernante!“ dazwischen.
„Gustav hat es mir auch schon erzählt, und er fügte hinzu, daß Sie seinen Gedanken schon damals mit strahlender Heiterkeit begrüßt hätten!“
„Ja, der Doktor muß mich für verrückt gehalten haben, aber ich konnte mir nicht helfen! Er meinte, da es doch mit dem Malen nichts sei –“
„Aber warum denn nicht?“
Annaliese sah mit einem Mal ernsthaft aus. „Weil ich im Recht war mit meinem Verdacht, man könnte der reichen Erbin, der Enkeltochter der alten Excellenz Guttenberg, auch das Maltalent gutgeschrieben haben! Wissen Sie noch, wie Sie mich damals in meinem Salon auslachten, als ich davon sprach, und es meine fixe Idee nannten, daß ich alles und alles damit in Verbindung brachte? Nun, als ich frank und frei mit meinen Bildern und Studien zum hiesigen Vorstand der Kunstakademie ging – ein reizender alter Herr und berühmter Maler – und ihn bat, mir aufrichtig, aber ganz aufrichtig seine Meinnug zu sagen, da guckte er mich aus seinen scharfen geistreichen Augen durchdringend an und sagte wörtlich: ‚Mein liebes Fräulein, wenn Sie Lampenglocken und Briefmappen und Fruchtteller machen wollen, nur zu, ich habe nichts dawider! Sie werden solche Dinge, die ja auch zu brauchen sind, ganz niedlich herstellen. Aber um Bilder zu malen, wirkliche Bilder, die etwas bedeuten wollen, dazu gehört mehr, und wer Ihnen zu Hause gesagt hat, Sie hätten dieses Mehr, der hat Ihnen eine Unwahrheit gesagt . . . wenigstens ich kann nicht finden, daß aus diesen Proben irgend welcher schöpferische Geist spricht. Es ist etwas sehr Ernstes um die Wahl eines Berufes, und wenn Sie mich fragen, ob Sie Ihre Zukunft auf die Kunst gründen sollen, so sage ich Ihnen, nach meiner ehrlichen Ueberzeugung: nein! Es wäre schade um die Kunst und auch schade um Sie!‘ Dann haben die klugen Augen des prächtigen alten Herrn schelmisch zu zwinkern angefangen, und er hat mit einem recht wohlwollenden Ton hinzugefügt: ‚Sollte denn für eine Erscheinung wie Sie wirklich nur der dornenvolle Weg der Kunst vorhanden sein? Besinnen Sie sich einmal! Es braucht ja nicht ein Pinsel zu sein – für solche junge Damen giebt es doch auch noch andere Chancen!‘ Ich mußte [652] natürlich lachen, klappte meine Talentproben zusammen und ging davon. Um den Schein zu wahren, nehme ich mit einigen anderen jungen Mädchen Malunterricht, aber ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß es mir Vergnügen macht.“
„Hm!“ Gregory zupfte nachdenklich an seinem dichten Schnurrbart. „Und giebt es sonst irgend etwas, das Ihnen hier Vergnügen macht, wenn man fragen darf?“
„Natürlich giebt es – sogar sehr viel, beinah’ alles! Schon die Häuslichkeit hier! Dieser Ton der Liebe, des Vertrauens, die Genügsamkeit, die Freude an allem, die geistigen Interessen! Abends wird vorgelesen – Ihr Freund liest wunderhübsch – die Klassiker wechseln mit modernen Schriftstellern ab. Und dann die Kinder! Ich komme ja zu Hause nie mit Kindern in Berührung – wie ist es doch etwas Herrliches um solch kleine unverbildete Menschenpflänzchen! Darauf, daß die Kinder mich so lieben, bin ich unsäglich stolz. Aber nicht nur die Kleinen – gottlob, auch die andern haben mir’s bewiesen, daß man mich liebhaben kann um meinetwillen, daß man keine Excellenzen zu Verwandten haben muß und keine Erbin zu sein braucht, um zu gefallen, um Zuneigung zu erwecken. Und endlich das Klima! Hier schelten sie alle darüber, aber ich schelte nicht mit. Hier weiß man doch, daß Winter ist! Bei uns zu Hause hat man kaum ein paar Tage Eis, und hier hab’ ich all diese Wochen hindurch die schönste Schlittschuhbahn gehabt!“
„Sie waren beim ,Klub‘? Allein?“ fragte Gregory lebhaft.
„Bewahre! Allein! Was Sie denken! Frau Claassen ist die sorgsamste Pensionsmutter von der Welt. Entweder kommt sie selbst mit uns oder sie schickt Tante Sophiechen mit, eine ältliche Kousine des Doktors, ein sehr gutes gemüthliches Wesen, dem es ein Vergnügen ist, sogar die Eismutter zu spielen. Die drei jungen Mädchen haben schon allerlei Bekanntschaften hier, da bin ich natürlich vorgestellt, und ich kann nicht anders sagen –“ Annaliese stockte.
„Nun?“ forschte der Professor gespannt.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein! Nichts! Es war dummes Zeug, was ich sagen wollte.“
Er konnte sich das „dumme Zeug“ ohne Mühe zusammenreimen. Sie gefiel auch dort, gefiel ohne Zweifel sehr – sie konnte auch bei dieser Gelegenheit sehen, daß man sie gern hatte „um ihretwillen.“
„Warum sehen Sie denn mit einmal so ärgerlich aus?“ fragte Annaliese in die plötzlich eingetretene Stille hinein.
„That ich das?“
„Gewiß, und zwar sehr!“ betonte sie nachdrücklich. „Kann ich Sie beleidigt haben?“
„Behüte der Himmel! Mir ging nur die Prophezeiung von Tante Excellenz durch den Sinn.“
„Welche denn?“
„Sie würden trotz allem und allem doch schließlich den Lieutenant von Steinhausen heiraten, sie habe sich das in den Kopf gesetzt, und sie pflege ihre Pläne auch durchzuführen.“
„Ich die meinigen auch!“ Der kleine dunkle Kopf hob sich sehr muthig und siegesgewiß. Nach einem Weilchen klang es etwas beklommen hinterdrein: „Wissen Sie nicht, was Großmama im Schilde führt?“
„Keine Ahnung! Sie erging sich in geheimnißvollen Andeutungen, das war alles. Im ganzen schien sie es zu bereuen, Sie hierher nach Königsberg geschickt zu haben – vielleicht werden Sie bald zurück befohlen.“
„Als ob ich mich so ohne weiteres hin und her befehlen ließe!“ Annaliesens Augen flammten. „Ich bleibe. In Person wird sie mich ja nicht holen, und wenn sie mir schreibt, ich soll zurückkehren, dann –“
„Dann?“
„Bleibe ich erst recht hier! Was soll ich zu Hause?“
„Und was sollen Sie hier?“
„Lernen, an mich selbst glauben – es hat bis jetzt so gut damit angefangen. Wenn Sie mir weiter getreulich beistehen –“
Hier erschien Claassen, von seiner Gattin und den drei jungen Mädchen begleitet, auf der Thürschwelle.
„Elf Uhr, meine Herrschaften! Es wird höflichst gebeten, Ihre zweifellos sehr interessante Unterhaltung morgen am Tage fortzusetzen. Solide Leute wie wir müssen zur Ruhe gehen!“
Ein eiliger Aufbruch des Gastes, ein fröhliches Durcheinander von Stimmen, ein Händeschütteln hier und dort – der Abend war zu Ende.
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Es hatte aufgehört zu schneien. Ein schneidender Wind hatte die tiefhängenden Schneewolken am nächtlichen Himmel auseinandergefegt, nun funkelte es in voller Sternenpracht da oben, und die frostklare Winternacht breitete sich rings umher in ihrer kalten weißglitzernden Herrlichkeit.
Hinter Paul Gregory fiel dröhnend die Hausthüre ins Schloß – es gab einen dumpfen Ton; ihm war’s, als hätte er einen heftigen Schlag bekommen. Und den hatte es heute abend wirklich für ihn gegeben . . . wie ein Schlag hatte ihn die Erkenntniß getroffen, daß er das reizende Mädchen liebe, daß er nur um ihretwillen seine ostpreußische Reise beschleunigt, nur um ihretwillen diese Unruhe und Aufregung, die gewaltsame Störung in seinem Arbeitsleben empfunden habe. So – er wußte jetzt, woran er war, er konnte sich danach richten! Nicht daß er von übermäßiger Bescheidenheit beseelt, überhaupt eine zaghafte Natur gewesen wäre! Warum sollte ein Mann in seiner Stellung, mit seinem Charakter und Wesen, es nicht wagen dürfen, um ein junges hübsches Mädchen aus guter Familie zu werben, warum sollte er sich für zu gering achten, von ihr geliebt zu werden, wenn er ihr sein Herz entgegenbrachte? Er hatte nicht mehr ans Heirathen gedacht – gut! Aber wenn er jetzt daran dachte, so hatte er ebensoviel Gründe dazu wie tausend andere Männer auch, die wahrlich nicht mehr in die Wagschale zu werfen hatten als er. Und wenn er so lieben konnte, wie er sich dessen heute bewußt geworden war, dann würde er auch einen guten Ehemann abgeben, das hoffte er! Aber nun gerade Annaliese von Guttenberg! Das verwöhnte Prinzeßchen, die umworbene Salondame, die „Turandot“, wie sie sich heute selbst ihm gegenüber genannt hatte! Wenn sie auch gescheit war und ein warmes unverbildetes Herz besaß, in welches er heute wieder einmal manchen entzückten Blick hatte thun dürfen – wer konnte ihm sagen, ob sie nicht doch mit allen Fasern ihres Seins in dem verfeinerten Boden des Reichthums, des Müßiggangs, der spielenden Eleganz wurzelte? Und das würde er ihr nicht bieten können, auch nicht bieten wollen. Seine künftige Frau sollte eben seine Frau sein, in allem und jedem. Er konnte ihr eine behagliche bürgerliche Existenz bieten, aber sie würde auch Pflichten zu erfüllen haben – er wollte sie nicht wie eine reizende Nippsache hinstellen und anstaunen, für sich wollte er sie haben, zum täglichen Leben, zum gemüthlichen Verkehr, sie sollte ihm seine Häuslichkeit lieb und schön gestalten. Ob eine Annaliese von Guttenberg das konnte und wollte? Gewiß würde sie es können, er traute ihr alles Gute und Liebenswerthe zu, aber wollen würde sie es doch nur, wenn sie ihn liebte, und eben diese Hauptsache schien ihm ganz unmöglich. Sie war begeistert von Freund Claassens schlichter Häuslichkeit, sie schwärmte für das gemüthliche Familienleben und fand sich gut hinein, das sah man, und ihre Freude daran war echt – wer aber stand dem Professor dafür, daß das alles nicht nur der Reiz der Neuheit war, des Ungewohnten, das dem verzärtelten Enkelkinde der alten Excellenz vielleicht so wundervoll und so – kurz mundete wie den Großstädtern das derbe Schwarzbrot auf dem Lande? Wohl war ihre Begeisterung keine gemachte, aber wer stand dafür, daß nicht bald der Rückschlag kam! Das alles sagte sich der Professor Paul Gregory überaus klug und vernünftig, während er langsam, als habe er sehr schwer an diesen verständigen Gedanken zu tragen, über die unter seinen Tritten knirschende Schneedecke dahinwandelte. Und plötzlich trat Annaliese vor seine Augen in ihrem einfachen weißen Wollkleidchen, wie sie ihn erfreut und beschämt unter den langen Wimpern hervor anblinzelte, als er ihr die Binde von den Augen genommen hatte, und ihm schoß heiß, ungestüm das Blut zum Herzen – er fühlte, es gehe um sein ganzes, ganzes Lebensglück.
Nie hatte Paul das Wort „verliebt“ leiden können. Es hatte ihn immer im stillen geärgert, wenn seine Freunde es so selbstverständlich anwendeten: „Er ist ganz rasend verliebt.“ „Sie hat sich wie toll in ihn verliebt!“ – klang es nicht, als handelte sich’s um einen Rausch und um nichts weiter? Warum konnten die Leute nicht sagen: „Er liebt sie!“ „Sie hat ihn lieb!“ Was blieb denn übrig, wenn der Rausch des Veraebtseins verflog? – O ja, er hatte Annaliese lieb! Sie besaß Eigenschaften, die ihn entzückten, auf die sich bauen ließ. Sie war klug, ehrlich gegen sich selbst und andere, sie hatte ein warmfühlendes Herz, sie liebte die Wahrheit und haßte den Schein. Es mußte köstlich sein, diese schönen Eigenschaften im goldenen Sonnenlicht der Liebe
[653][654] voll sich entfalten zu sehen, mit schonender behutsamer Hand, leise und zart die kleinen Schlacken, die das Weltleben um das Kleinod gelegt, nach und nach zu entfernen und glücklich, glücklich zu sein! . . .
Aber wenn Gregory gegen sich selbst ehrlich sein wollte – und das wollte er doch – dann mußte er sich’s zugestehen, er liebte Annaliese nicht nur mit Geist und Seele, er war auch verliebt in sie, ganz hilflos verliebt. Das süße Gesichtchen! Und wie wonnig es sein mußte, beide Arme um die feine schlanke Mädchengestalt zu legen, sie fest an sich zu ziehen und den weichen kleinen Mund, dessen kurze Oberlippe dem Antlitz etwas so Kindliches gab, mit brennenden Küssen zu schließen! Es durchrieselte ihn heiß, wenn er daran dachte. Schon heute abend hatte ihn ein ähnliches Gefühl erfaßt, wenn er während des Spiels in ihre Nähe kam, wenn ihr Kleid ihn streifte oder seine Hand zufällig an die ihrige rührte. Also liebend und verliebt! Es war heiliger Ernst; er wußte es – es war um ihn geschehen!
Und sie? Freundlich und vertraulich war sie gegen ihn, das stand fest, aber das bewies nichts, gar nichts. Gegen wen konnte man denn nicht freundlich sein? Das war eine so wohlfeile Eigenschaft, die gab ein liebenswürdiges junges Mädchen täglich hundertmal drein wie die landläufigste Münze. Und das Vertrauen? Damit stand es erst recht bedenklich. Wäre er Annaliese im mindesten gefährlich gewesen, sie hätte ihm sicher nicht so offen gebeichtet. Zu wem haben junge Damen Vertrauen? Zu alten Onkeln, zu harmlosen Vettern und ähnlichen Sorten von Menschen. Nein, nein, die Sache war aussichtslos, das mußte er sich eindringlich sagen. Und gesetzt auch, das reizende Geschöpf hätte wirklich Gefallen an ihm gefunden . . . wie konnte er es wagen, ihr jemals sein Gefühl zu offenbaren? Sie hatte es immer wieder betont, jeder Bewerber, der ihre Verhältnisse kenne, wähle sie nur, weil sie eine reiche Erbin, die Enkeltochter der alten Excellenz Guttenberg sei – das war ihre fixe Idee, mit der man zu rechnen hatte, um deretwillen sie jetzt hier in Königsberg „armes Mädchen“ spielte. Und wenn nun auch der Professor kein militärischer Streber war und von den hochgestellten Verwandten des jungen Mädchens nicht das geringste erwartete, so wußte er doch immerhin um die zweite, noch gewichtigere Thatsache, um ihre bedeutende Mitgift und sie konnte, sie mußte denken, er sei kühn genug, mit all den ehrgeizigen Lieutenants in die Schranken zu treten, um den „Goldfisch“ zu erobern. Das aber durfte er nie und nimmer veranlassen! Hundert Männer würden sich über diesen Punkt weiter keine Bedenken gemacht haben, aber Paul Gregory war anders geartet und that es.
So würde er denn sein Herz zu bezwingen und sich mit seiner geliebten Wissenschaft zu trösten haben! Er hatte so oft von seiner „geliebten“ Wissenschaft gesprochen – jetzt wollte es ihm plötzlich scheinen, als sei diese ganze Liebe ungeheuer platonisch und laufe schließlich nur auf die bekannte Hochachtung hinaus. Und Hochachtung ist zwar ein sehr edles und schätzenswerthes Gefühl, aber man wird nicht recht warm dabei, und das Herz findet nicht seine Rechnung. Bei dem Gedanken, ein Haufen dicker toter Bücher sollte ihm das entzückende lebendige Geschöpf ersetzen, dessen Anblick, dessen Stimme allein sein Herz höher schlagen ließ . . . bei diesem Gedanken wurde dem Professor Gregory ganz elend zumuth.
Alle Rechte vorbehalten.
Eine Idylle der Mark.
Das große, noch immer in pilzartig schnellem Wachsthum begriffene Berlin mit seinen mächtigen Vorstädten und Vordörfern wird bald auch die letzten Reste ehemaliger Ländlichkeit, die unter dem Schatten seiner Mauern sich erhielten, verschlungen, wird bald alle Waldung, alles Wiesenland in seinem Machtbereich vernichtet und mit Miethkasernen bepflanzt haben. Wo unsere Großeltern noch unter hochwipfligen Bäumen, auf Moos und Gras lachend sich ergingen, breitet sich jetzt grauer Straßenasphalt, und an den Orten, die heute noch Ziele sonntäglicher Landpartien sind, werden die Enkel siebenstöckige Häuser aufthürmen. Der Grunewald, die letzte Lunge Berlins, ist geldbedürftigen Landspekulanten längst ein Gegenstand zärtlichster Sorge; nicht mehr an der Spree, an der Havel soll das Berlin der Zukunft liegen. Der Entwicklungsgang der Großstadt kann, wie die Dinge sich einmal gestaltet haben, durch das Bedauern der Naturfreunde und die Warnungen der Hygieiniker nicht mehr aufgehalten werden. Aber es ist schade um alle die Erholungsplätze, die so vom Erdboden verschwinden. Nicht allein, weil gerade der Großstädter die Schönheit der freien Gotteswelt nur schwer zu entbehren vermag, weil das Versenken in sie für die Seele so wichtig ist wie das tägliche Brot, nein, auch deshalb, weil der Boden um Berlin herum historisch geheiligt ist und fast überall große Erinnerungen birgt, die ausgelöscht werden, wenn man die Erde verwüstet, worin sie wurzelten.
Das Dorf Tegel ist ein solcher Ort. Noch hat der Oger Berlin ihn nicht in seinen Krallen, aber die Zeit rückt unaufhaltsam näher. Und während früher, ehe an die Pferdeeisenbahn oder gar an die Nordbahn gedacht wurde, Wagenfahrten, Spazierritte nach Tegel schon als achtunggebietende Leistungen erschienen, streift heute der Berliner ozondurstige Wanderfreund um viele Meilen weiter nordwärts in die Ferne, und Tegel ist ihm am Abend die letzte Etappe zur Heimkehr.
So kommen auch wir von der nördlichen Havel her durchqueren die schönen harzduftenden Kiefernwaldungen und langen dann bei Sonnenuntergang in dem berühmten Dorfe an. Abendschein liegt auf den Dachfirsten der schmucken Häuschen, Abendgold blinkt in den Wipfeln der Bäume, zwischen denen sich Tegel versteckt. Von mächtigen uralten Linden, Ulmen und Kastanien umstanden, grüßt uns das bescheidene Kirchlein, und seine Fenster glühen noch einmal purpurn auf. Die breite stille Dorfstraße durchmessend, an freundlichen Gärten, Villen und Hütten vorbei, kommen wir zum Stolz des ganzen Tegeler Ländchens, zu seinem See.
In violettem Licht schimmernd, von Dunstschleiern umzogen, breitet sich die herrliche Wasserfläche vor uns aus. Wohl hat durch Fabrikgebäude aller Art, durch kuriose Wohnhäuser, durch Wasserwerksanlagen im Berliner Magistratsstil die Gegend viel von ihrem altberühmten Zauber verloren; poesieloses Menschenwerk drängt sich anmaßlich zwischen die bescheidenen Reize märkischer Natur, und dem Fremdling, der im Sonnenbrande des Weges gezogen kommt, huscht leicht das geflügelte Wort von „des Römischen Reiches Streusandbüchse“ über die Lippen. Der Blick auf das liebliche, romantische Gewässer aber söhnt auch verwöhntere Menschenkinder mit den Mühsalen der Wanderschaft aus. Es ist ein moderner deutscher Poet, der seinen vom Comer See zurückgekehrten Helden allen Ernstes einen Vergleich ziehen läßt zwischen der fichtenumkränzten Havelbucht und dem italienischen Seejuwel, einen Vergleich, aus dem jene nicht allzu beschämt hervorgeht. Ein geistreicher Franzose, Luc Gersal, der seinen Pariser Landsleuten in seinem Buche „Spree-Athen“ von der neuerwachten Liebe zu den landschaftlichen Schönheiten der Mark Brandenburg erzählt und der die Güte hat, mich ihren Stanley zu nennen, spricht bei aller Neigung zur Kritik vom Tegeler See mit warmer Begeisterung. Und wer an seinen Ufern eine Frühlingsmorgenstunde lang verweilt hat, den Blick auf die ernsten Waldriesen gerichtet, welche ihn umsäumen, auf die Rohr-Eilande und die schimmernde blaue Fluth, wer der leisen, traumhaften Musik der kurzen Wellchen gelauscht hat, dem wird der Sinn aufgegangen sein für die schlichte Anmuth der sandigen Mark. Aus der innigen Verbindung von Wasser und Wald ergeben sich immer und immer wieder Brandenburgs natürliche Vorzüge; ohne seine Seen wäre es in der That die finstere Wüste, als welche man es noch heute fast allenthalben schildern hört.
Tegel, in nächster Nähe der Hauptstadt gelegen, mußte von jeher dazu dienen, manchen ungläubigen, spottsüchtigen Thomas zu bekehren, und von jeher hat der Berliner eine fast sentimentale [655] Zuneigung für dies Dörfchen an den Tag gelegt. Nach Tegel richteten sich vor hundert Jahren lieber noch als heute die Familienausflüge; man zeigte es seinen Gästen, und selbst Goethe konnte 1778 nicht umhin, dem berühmten Orte und gleichzeitig den Humboldts einen Besuch abzustatten, welche im Jahre 1757 das ehemalige Jagdschloß des Großen Kurfürsten erworben und zu ihrem Edelsitz gemacht hatten. Märkische Dichter jener Zeit (und es fehlt keineswegs an strebsamen Enkeln) besangen das Haveldorf und priesen seine idyllische Lage, seine „Ländlichkeit“ und sein treffliches Mittagsbrot.
Und heute noch, wo der Ausflüglerstrom, dem Zug nach Westen folgend, sich breit in den bequemer zu erreichenden Grunewald ergießt, heute noch geht den Leuten aus dem Norden Berlins nichts über Tegel. Im Schloßrestaurant, wo man unter hochwipfligen Buchen und Linden lauschige Erholungsplätzchen findet, ist an schönen Sonntagen kein Stuhl frei; hier entfaltet sich dann das gemächliche Familienleben früherer Tage. Die Besucher, Kleinbürger und Arbeiter allesamt, prunken im feinsten Sonntagsstaate, und die Mädchen gar putzen sich nach der neuesten Mode heraus; das harte Wochenwerk hat seine Runen auf ihre Gesichter gegraben, nicht selten sehen die Männer abgearbeitet, die Frauen bleich und verhärmt aus, und mit herzlicher Theilnahme freut man sich darum, daß es diesen Wackeren immer noch leicht gemacht ist, wenigstens Sonntags durch ein paar Atemzüge reiner See- und Kiefernwaldluft die angestrengten Lungen zu kräftigen. Hier wird Kaffee in erstaunlichen Mengen getrunken und, wenn Mutter nichts dagegen hat, ein strammer „Schafskopf“ gespielt; das junge Volk, alles, was ein Tänzchen im Freien oder ein Haschespiel liebt, zieht mit Gesang „in die Heide“, und die junge, blitzsaubere Berlinerin feiert ihre Triumphe. Ach, es giebt Nachtigallen in der Lindenallee und Nachtigallen in den Bäumen und Büschen am Wasser. Bei ihrem Schlag schlagen auch die Herzen der jungen Menschenkinder höher – das ist nun ’mal hierzulande so der Brauch.
An ländlichen Genüssen und ländlicher Poesie fehlt es also dem Dörflein noch immer nicht. So verwüstend auch die Zeit und die Nähe Berlins hier eingewirkt, so viel sie von dem friedlichen bescheidenen Zauber der Gegend geraubt haben – wer zur rechten Stunde kommt, findet immer noch, was er sucht. Geschichte und Sage sind heimisch in diesen Bezirken und hausen nebeneinander wie Geschwister.
Von den Abenteuern der unermüdlichen Quitzows, die auf Burg Bötzow bei Oranienburg saßen (auch sie ist jetzt zerstört wie fast alle geschichtlichen Denkmäler der Mark), erzählt uns die schmucke epheubesponnene Wassermühle zu Tegel; hier nahmen die Schnapphähne, nachdem sie wieder einmal Berlins Schafherden fortgetrieben hatten, den Rathsherrn Nikolaus Wins an der Spitze seiner wackeren Mannen gefangen und schleppten ihn in ihr festgemauertes Nest.
In Tegel auch stand das später von den Franzosen zerstörte Forsthaus, darin zu Ende des vergangenen Jahrhunderts der große Spuk geschah und den hochberühmten Aufklärer Nicolai so über die Maßen erschreckte. Das Gerücht nämlich drang nach Berlin, ein Gespenst gehe in besagtem Forsthaus um; niemand könne es bannen und mit jedem Tage würde es zudringlicher. Da diese Angaben von „autoritativer Seite“ Bestätigung fanden, beschäftigten sich alle Berliner Theekränzchen mit dem seltsamen Vorkommniß, das für die gerechterweise hochgepriesene Aufklärung ein Schlag ins Gesicht war; immer heftiger und erregter wurde der Meinungsstreit, und endlich entschloß sich Nicolai selbst, nach dem Rechten zu sehen. Das Gespenst im Forsthause aber, ein verliebter Jägerbursch, fürchtete den großen Mann nicht und jagte ihm ein so heilloses Entsetzen ein, daß er totenbleich den Spukort verließ und der Weimarer Excellenz Goethe, die ihm schon lange unhold war, Gelegenheit zu einigen recht bissigen Spottversen gab.
Seine eigentliche geschichtliche Weihe aber empfing das Dorf durch die Humboldts, welche ihm europäischen Ruf verschafften. Ich habe schon gesagt, daß im Jahre 1757 die Besitzung an die Familie gelangte; 1802 ging sie dann in das alleinige Eigenthum Wilhelms von Humboldt über. Der feinsinnige Mann weilte und schuf lange Jahre, bis zu seinem Tode, an dieser idyllischen Stätte, und seine stimmungsvollen Gedichte, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, gewähren tiefe Einblicke in das Geistesleben, das er hier führte. Tegel war so recht geeignet für ein beschauliches, von der Welt abgeschiedenes und doch ihren Eindrücken nicht ganz entzogenes Dasein.
Schinkel hat das Schloß auf Anordnung Wilhelms von Humboldt völlig umgebaut und nur die Erkerthürmchen des alten Jagdschlosses nebst dem größeren Seitenthurm beibehalten. Aber man merkt dem schlichten hellgelben Gebäude noch immer die frühere Bestimmung, den Dienst Sankti Huberti, an; es ist trotz äußerer Stattlichkeit verhältnismäßig klein in den Abmessungen geblieben.
Von den Kunstwerken, mit denen Wilhelms Liebe das Haus schmückte und durch deren erstaunlichen Reichthum es einzig dasteht unter den Edelsitzen der Mark, seien hier nur die hervorragendsten erwähnt. Im Hausflur, der als römisches Atrium gedacht und mit kurzen dorischen Säulen verziert ist, stehen zwei prächtige athenische Torsen aus parischem Marmor, die offenbar einer Gruppe der Grazien entstammen und das Entzücken aller Kunstkenner sind; daneben finden sich zahlreiche Werke Rauchs und Thorwaldsens. Sehr interessant ist eine Säule aus orientalischem Granit, mit dem in grünem Porphyr ausgeführten Kopfe der Medusa – ein Geschenk des Papstes Pius VII., dem Wilhelm von Humboldt zur Wiedererlangung der von Napoleon aus den vatikanischen Staaten nach Paris geschleppten Kunstwerke behilflich war.
Die aus dem Schlosse Heraustretenden ladet der schöne Park ein, unter seinen Wipfeln dem Andenken Wilhelms und seines nicht minder berühmten Bruders Alexander nachzusinnen. Wir wandern die freundliche Lindenallee hinauf, biegen da und dort in anmuthvolle, schattige Gänge ein, kommen an der mächtigen, dicht mit Epheu besponnenen Humboldt-Eiche vorbei und stehen plötzlich auf geheiligtem Lande, auf der Stätte, wo die Leiber der Humboldts ruhen.
Nicht in Kirchengrüften und gemauerten Erbbegräbnissen, unter Gottes freiem Himmel, im Sande der Heimath wollten die Großen schlafen, und wahrlich, nicht so leicht findet Ihr einen poesievolleren Friedhof als diesen stillen Erdenfleck. Ihr schweigt wie gebannt still, wenn der Pfad mit leiser Windung zu den Gräbern hinaufführt – es ist, als klinge ein volltönender Choral Euch entgegen, als wehe der Odem vornehmem edlen Geistes Euch an. Ernste Schwarztannen umstehen ein weites Rechteck und schließen es von der Munterkeit des Parkes ab. Gegenüber einem schmalen Thor in der Baumwand, das vom Schlößchen einen freien Blick auf diesen Platz gestattet, erhebt sich eine zehn Meter hohe, stolze Säule aus grauem Granit, von der eine schöne Nachbildung der Thorwaldsenschen „Hoffnung“ auf die Grüfte zu ihren Füßen niederblickt. Zum Theil auf den Quadern des Säulensockels eingemeißelt, zum Theil auf Marmortäfelchen liest man die Namen der hier bestatteten Familienmitglieder. Ein einziges Plätzchen ist noch frei . . .
Ein stolzes Geschlecht fürwahr, das hier schlafen ging, das edelste der Mark in mancher Beziehung. Der Ruf der Humboldts ist weit über die Grenze unserer Heimath gedrungen; ihr Name bedeutete lange Zeit hindurch eine Weltanschauung und glänzte unter den ersten in den geistigen Kämpfen dieses Jahrhunderts. Wie die Dichterheroen der Blütezeit unserer Litteratur, versenkten die ihnen befreundeten Humboldts sich freudig in den Geist des Alterthums und nahmen einen tiefen Trunk aus seinem lautern Brunnen; wie Schiller und Goethe standen sie auf einsamer Höhe, bemüht, die Welträthsel zu gestalten. Ein Märkerpaar, das sich ehrlich zu dem durchrang, was ihm das Letzte und Höchste zu sein schien, das nicht mit tändelndem Leichtsinn über Steine hinwegsprang, sondern sie aus dem Wege zu räumen suchte, für sich und andere; gewaltige Geistesarbeiter und doch voll herzlicher Demuth und Einfachheit!
Ganz in der Nähe beider Brüder ruht auf einem Hügel auch ihr verdienter Erzieher, Staatsrath Kunth, der 1829 verschied.
Andächtige Scheu im Herzen und doch voll stolzer Freude darüber, daß wir diese Großen, daß wir die Humboldts zu den Unsern zählen dürfen – so verlassen wir den stillen Edelsitz. Wunderbar erhöht die anspruchslose Schönheit des freundlichen Erdenwinkels das Gefühl dankbarer Bewunderung vor denen, die hier sannen und schufen.
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Ein „psychologisches Museum“.
Seit mehreren Jahren ist auf die Anregung hin und unter der Leitung des italienischen Forschers Paolo Mantegazza, der ja auch in Deutschland durch seine zahlreichen Schriften in weiteren Kreisen bekannt geworden ist, in Florenz ein „psychologisches Museum“ in der Entstehung begriffen. Dasselbe soll, neben der reichen ethnographischen und anthropologischen Sammlung, welche die Stadt der Medicäer ebenfalls dem genannten Forscher verdankt, gleichsam eine methodisch geordnete Uebersicht über alle nur möglichen Zeugnisse der menschlichen Gefühle und Leidenschaften geben, und es bildet damit seinem Grundgedanken nach einen neuen Ausdruck des in unserer Zeit immer vielgestaltiger auftretenden Museums- und Sammlungseifers.
Mantegazza ging, als er vor einer Reihe von Jahren vor der Italienischen Anthropologischen Gesellschaft zum ersten Male den Gedanken einer derartigen Museumsgründung entwickelte, von dem gewiß ganz richtigen Grundsatz aus, daß die bisher bestehenden ethnographischen Sammlungen lediglich die geistige und kulturelle Entwicklung der einzelnen Völker ins Auge fassen und untereinander zur Vergleichung bringen, daß aber die verschiedenartigen Entwicklungslinien und Entwicklungsgrenzen der einzelnen Individuen selten
zu einer planmäßigen, augenfälligen Darstellung gelangen. Es handelt sich, will man eine solcheerreichen, im wesentlichen darum, die menschlichen Bedürfnisse, Gewohnheiten, Gefühle und Leidenschaften und besonders die Ausartungen derselben durch Gegenstände zu beleuchten und außerdem durch Beispiele die verschiedenen „Suchten“ und „Manien“ zu belegen, zu denen eine einseitig gepflegte Liebhaberei oder auch die allgemeine Mode einzelne Individuen führen kann.
Eine solche übersichtliche Darlegung würde, wie leicht zu begreifen, eigentlich nur auf eine andere Anordnung der in den ethnographischen und anthropologischen Sammlungen niedergelegten Bestände hinauslaufen. Und in der That will Mantegazza eigentlich auch nichts anderes anempfehlen, als für bestimmte Gegenstände eine veränderte Art der Aufstellung. Jedoch schon die Methode bedeutet in der Wissenschaft viel, und sicher würden alle Gegenstände einer ethnographischen Sammlung, wenn sie zum Versuch einmal nach psychologischen Grundsätzen anstatt nach ethnologischen aufgestellt würden, ganz anders zu uns sprechen als vorher.
Man nehme beispielsweise an, ein Museum ginge davon ab, uns in einer besonderen Abtheilung alle auf die Einwohner Australiens bezüglichen Gegenstände zu zeigen, darunter auch alle die, welche ihre Art zu essen und zu schlafen veranschaulichen, es stellte uns vielmehr dar, wie die Art zu essen und zu schlafen sich bei den verschiedensten Völkern gestaltet, so würde damit unser Augenmerk sofort auf das aller menschlichen Entwicklung Gemeinsame hingelenkt werden. Und die Gegensätze zu diesem Gemeinsamen, die Ausartungen, müßten folgerichtigerweise ebenso nicht nur unter einem ethnologischen, sondern auch unter einem individuellen Gesichtspunkt betrachtet werden. Jedoch war es nicht etwa Mantegazzas Absicht, die Schätze seines ganzen reichen ethnographischen Museums einer solchen veränderten Anordnung zu unterziehen; er würdigt sehr wohl die Vortheile, welche die ältere Aufstellung hat. Nur meint er, daß das eine das andere nicht gänzlich ausschließe, und daß es viele Gegenstände gebe, welche sich in die üblichen Fächer nicht bequem einfügen lassen, sondern insofern über ihnen stehen, als sie Zeugniß von ganz allgemeinen, nicht die Völker, sondern nur die Individuen unterscheidenden Gebräuchen, Gewohnheiten, Gefühlen und Leidenschaften ablege. Jede allgemeine Aeußerung des menschlichen Fühlens und Denkens, die Liebe und der Haß, der Stolz, die Rachsucht, das religiöse Gefühl in seinen verschiedenen Ausartungen, die Eitelkeit, wie sie sich in den Ausschreitungen der Mode kund thut, die Grausamkeit, die z. B. in den mittelalterlichen Folterungen zu Tage tritt, die Sammelsucht und Sammelwuth etc., psychologische Erscheinungen, die überall in mehr oder weniger veränderter Gestalt zum Ausdruck kommen, müßten in dem idealen psychologischen Museum, wie es sich Mantegazza denkt, ihre besondere Darstellung finden.
Auf Einzelheiten eingehend, entwirft Mantegazza die Grundzüge eines solche Museums dahin, daß z. B. die Abtheilung für den Stolz die Abzeichen der Herrscherwürde, der Kasten und sozialen Unterschiede, die Orden etc., die Abtheilung für das religiöse Gefühl die Gegenstände der verschiedenen Kulte, die Götzenbilder, die Amulette etc., die Abtheilung für die Eitelkeit alle Mittel und Werkzeuge, um den menschlichen Körper zu verschönern, beziehungsweise zu entstellen, umfassen müßte. Der Stoff für diese einzelnen Abtheilungen würde sich natürlich schon reichlich hier und da aufgespeichert finden und es käme wirklich oft nur auf den richtigen, durchdachten Plan in der Aufstellung an, um auch in anderen Orten psychologische Museen von vielleicht größerem Umfang und größerer Bedeutung, als es vorläufig das Florentiner ist, erstehen zu lassen.
Dieses letztere, gänzlich die Schöpfung des Professors Mantegazza und eines freigebigen Privatmannes, des Kommendatore Borg de Balzan, steht noch sehr in den Anfängen; nur drei nicht allzugeräumige Zimmer sind in den schönen, einst einem fürstlichen Haushalt dienenden Räumen des anthropologischen Museums (hinter der Kirche Santissima Annunziata) zunächst dafür bereitgestellt und mit den nöthigen Schränken versehen wordeu, und diese Schränke sind erst zum geringsten Theile angefüllt. Aber diese Anfänge sind immerhin bedeutsam genug, um den Gedanken Mantegazzas klar hervortreten zu lassen und vielleicht auch an anderen Orten den Anstoß zu ähnliche, mit größeren Mitteln und reicherem Material zu unternehmenden Sammlungen zu geben. Wir finden unter anderem schon treffliche Ansätze zu einer nach den Berufsarten der Urheber [657] geordneten großen Autographensammlung, sowie zu einer Karikaturenzusammenstellung, ferner viele das Nationalgefühl veranschaulichende Gegenstände, darunter auch die erste italienische Trikolore, eine Zusammenstellung weiblicher Moden verschiedenster Zeiten und der Tätowierungsarten der verschiedensten Völker, manche die Blutrache, die mittelalterliche gerichtliche Grausamkeit und das Femwesen betreffende Stücke und besonders eine schon ziemlich umfassende auf das religiöse Bedürfniß und den Aberglauben sich beziehende Sammlung von Amuletten, von geschichtlich oder kunstgewerblich interessanten Rosenkränzen, Zaubersprüchen und Zauberbüchern, Schutzmitteln gegen Kriegsgefahren oder gegen den bösen Blick und ähnlichen Dingen.
Zu dieser letzteren bis jetzt vollständigsten Abtheilung des Florentiner psychologischen Museums, aber zugleich auch in die der Eitelkeit gewidmete Klasse gehört eine höchst merkwürdige Zusammenstellung von Mustern für religiöse Tätowierungem wie sie heute noch in Loreto ausgeführt werden und in jener Gegend Italiens allgemein üblich sind; und es dürfte vielleicht den deutschen Lesern willkommen sein, bei dieser Gelegenheit etwas über eine an heidnische Gebräuche oder an die Sitten wilder Völkerschaften erinnernde Gepflogenheit zu erfahren, die zu Ehren der christlichen Madonna und ihres heiligen Hauses in Loreto noch im neunzehnten Jahrhundert in voller Blüthe steht.
In der antiken Landschaft Picenum, die von den Abruzzen, von Umbrien, vom Tronto und vom Adriatischen Meere eingeschlossen wird und heute einen Theil der italienischen Marken bildet, ist unter der bäuerlichen, aus umbrischen und etruskischen Elementen gemischten Bevölkerung ganz allgemein die Sitte der Tätowierung verbreitet, und zwar einer religiösen Tätowierung, die sich sonst wohl in keinem anderen gesitteten Lande mehr findet. Der Reisende begegnet kaum einem Bauern, auf dessen zur Arbeit entblößtem Vorderarm nicht wenigstens ein Kreuz oder die Symbole der Passion oder auch ein religiöses Motto in blauer Punktierung zu sehen wäre. Eine geistvolle neuere Schriststellerin, die über das Volksleben in den italienischen Marken ein treffliches Buch geschrieben hat, Frau Caterina Pigorini-Beri, ist nicht nur dem Ursprung dieses halb barbarischen Gebrauches nachgegangen, sondern hat auch einige Hunderte der Clichés, mit denen die Zeichnung für die Tätowierung auf die Haut aufgedruckt, und einige der Grabstichel, mit denen alsdann die Punktierung vollzogen wird, sammeln können. Es ist dieselbe Sammlung, welche jetzt im Psychologischen Museum in Florenz zu sehen ist und von der wir hier einige Proben vorführen.
Diese Tätowierungen werden fast stets bei Gelegenheit der häufigen Wallfahrten nach Loreto vorgenommen und meist von den Sakristanen, Kirchendienern, Totengräbern und sonstigen, mit der berühmten Kirche im Zusammenhang stehenben Personen ausgeführt, die eben jene seit Jahrhunderten im Gebrauch befindlichen Clichés besitzen. Das Verfahren ist sehr einfach: das in Holz geschnittene, leicht gefärbte Muster wird auf die straff angezogene Haut aufgedrückt, und die Umrißlinien der Zeichnung werden alsdann mit der „Feder“, einem mit drei Stahlnadeln versehenen Grabstichel (siehe Fig. 14), punktiert; in die blutenden Stiche wird schließlich eine blaue Tlnte eingerieben, die sich unauslöschlich in der Haut festsetzt. Die Behandlung ist natürlich schmerzhaft, jedoch sind meist schon nach 24 Stunden die kleinen Wunden wieder zugeheilt.
Diese Tätowierungen von Loreto sind äußerst mannigfacher Art und umfassen außer den rein religiösen Symbolen auch profane Liebeszeichen, so besonders zwei aneinander gekettete Herzen (Fig. 1) oder das von einem Pfeile durchbohrte Herz. Die Friedenstaube in verschiedener Form (Fig. 2) und der Hoffnungsanker (Fig. 3) oder der Glücksstern (Fig. 4) leiten auf die Engelsdarstellungen (Fig. 5) und auf die eigentlichen religiösen Muster über. Von diesen ist es besonders der heilige Franziskus mit den Stigmatisierungen und dem Rosenkranz (Fig. 8) oder die heilige Klara mit Palme und Büchse (Fig. 7), die am häufigsten wiederkehren, daneben stehen die Attribute des Franziskanerordens, die Wahrzeichen der Passion, diese in besonders reicher Darstellung (Fig. 6), und das Kreuz Christi. Aber auch die Abzeichen der Gesellschaft Jesu fehlen nicht; ebenso finden sich die Madonna des heiligen Hauses von Loreto (Fig. 9) und das wunderthätige Kruzifix von Sirolo (Fig. 10), eines anderen berühmten Wallfahrtsortes jener Gegend. Weitere Muster sind die Madonna di Genazzano, die sogenannte Madonna del Buon Consiglio, die Madonna del Carmine, der Erzengel Michael, der den Drachen tötet (Fig. 11) und das memento mori der Franziskaner (Fig. 12).
Es ist wohl kaum anzunehmen, daß diese Tätowierungen heidnischen Ursprung haben; im
Gegentheil scheint ihre Grundlage durchaus mystischer Art zu sein und mit einer kirchlichen
Einrichtung zusammenzuhängen. Es ist nämlich wahrscheinlich, daß sie eine Nachahmung der
Stigmatisierungen des heiligen Franziskus sind, dessen Wirksamkeit in jenen Gegenden besonders fühlbar war und der dort die ältere und neben Loreto bedeutendste Kultusstätte, das Kloster von Sirolo, gründete. Vielleicht waren die Tätowierungen, die jetzt bisweilen in verschiedenen Mustern beide Vorderarme vollständig bedecken, zunächst Abzeichen der Cavalieri Lauretani oder der Angehörigen des privilegierten Collegio Illirico, denen Papst Sixtus V. die Vertheidigung des heiligen Hauses von Loreto gegen die Einfälle der Türken und Korsaren übertragen hatte, und wurden erst später von der Landbevölkerung, aber immer als ein Zeichen kirchlichen Ritterthums, weniger als ein Talisman, angenommen. Hierauf deutet das besonders häufig wiederkehrende Muster (Fig. 13) hin,
welches das von Sixtus V. geschaffene Wappen von Loreto (eine Madonna zwischen zwei mit Früchten behangenen Zweigen eines Birnbaums) in roher Darstellung wiederholt. Auf jeden Fall
verdiente eine Zusammenstellung dieser Muster wohl in einem psychologischen Museum als
Beleg für die auch in modernster Zeit fast heidnische Formen annehmende religiöse Inbrunst
niedergelegt zu werden. O. B.
Villa Borghese.
So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage,“ pfiff der „Privatarchitekt“ Arnold vor sich hin, während er den auf einem Reißbrett ausgespannten Entwurf zu einer Kapelle farbig austuschte.
Nach diesen frohen Tönen und den lustigen Farben zu urtheilen, die sein Pinsel hervorzauberte, hätte man Eduard Arnold für einen Menschen halten sollen, der so recht in behaglicher Glücksfülle sein Dasein genoß und doch lehnte an dem Thürpfosten des ärmlichen Zimmers seine junge Frau mit Thränen im Auge und doch zog sich sein Herz in tiefem Schmerz zusammen. „Sie soll’s nicht merken!“ dachte er und pfiff weiter.
Ach, sie merkte es doch! Und wie schnitt ihr seine erheuchelte tapfere Lustigkeit in die Seele! Durch den kleinen Raum irrte ihr Blick zu dem einzigen Prachtstück, einem schön polierten Pianino. Es war ihr Heiligthum. Ihr Gatte hatte es ihr am ersten Weihnachtsfest nach der Hochzeit geschenkt. Wie viele frohe Stunden hatte ihnen die gemeinsame Hausmusik verschafft! Allein was half’s? Es war am werthvollsten und zugleich am entbehrlichsten – die fällige Miete konnte nur so gedeckt werden. O, dieser Mensch, dieser Gumprecht! So schmählich seinen besten Freund im Stich zu lassen! Wer würde das von ihm gedacht haben!
Plötzlich richtete sie sich mit einem Ruck auf und wischte sich die Thränen von den Wimpern. „Vielleicht kommt Gumprecht doch noch, Eduard. Ich kann nicht glauben, daß er sein Wort bricht.“
Arnolb schüttelte den blondgelockten Künstlerkopf. Er fand sich genöthigt, erst ein wenig zu schlucken, ehe er fest zu reden vermochte. Dann brummte er, sich tiefer über das Brett neigend: „Schreiben wir’s in den Rauch, Magda! Wenn er hätte zahlen können, wäre er längst hier gewesen. Im übrigen – bring’ mir ein Butterbrot! Aber nicht zu sehr aufstreichen; ich kann das übermäßig Fette nicht vertragen!“
Das war ihr zu viel, daß er nun schon anfangen wollte, sich den Pfennig am Munde abzusparen. Schluchzend stürzte sie auf ihn zu und umschlang seinen Hals. „O Gott, daß es so weit mit uns kommen mußte! Es ist mir ja nicht meinetwegen. Aber Du, der Unermüdliche, Du hast es anders verdient! Und Toni, unsere süße kleine Toni! Wenn sie nun wirklich hungern müßte! Welch ein schauerlicher Gedanke!“
„Und das alles wegen eines Butterbrots?“ entgegnete ihr Mann lachend, während auch ihm eine Thräne über die Wange rollte. „Geh’, Magda, Du bist doch sonst so tapfer! Unsere dicke Toni und verhungern! Ich bitte Dich um alles in der Welt, kannst Du Dir das vorstellen? Wir werden einfach Vegetarianer, Kind. Das Gemüse ist augenblicklich riesig billig. Der Himmel wird mir jede Zwiebel segnen, die ich ohne verwerfliches Beefsteak verzehren werde!“
Mitten in ihrem Kummer mußte Magda lächeln. Ein wenig beruhigter fragte sie: „Aber die Miete, Schatz – wie bringen wir die zusammen?“
Ein Schatten flog über sein gutes Gesicht. „Hm, ja, die Miethe! Eigentlich sollte den Gumprecht doch der Teufel holen! Wenn es noch ein Darlehen von zwanzig Mark gewesen wäre, aber meine sämtlichen Ersparnisse, fünftausend Mark! Und das in meiner Lage! Dabei soll ein Christenmensch sich nun seine Ideale bewahren! Fortan pfeife ich auf die Freundschaft!“
„Ach Mann, das soll Dir gelingen, Dir mit Deiner grenzenlosen Gutmüthigkeit? Ich will Dir freilich nichts vorwerfen, ich hab’ dem Gumprecht auch vertraut. Und wie er damals so herzbewegend bat, uns so heilig der pünktlichen Rückzahlung versicherte und wir das Geld gar nicht nöthig zu haben glaubten, da freute ich mich ja mit Dir, daß wir ihm helfen konnten. Mein Gott, was giebt es doch für schlechte Menschen in der Welt!“
„Nein, Kind, schlecht ist er nicht, nur bodenlos leichtsinnig, und ich bin eben ein Esel gewesen, daß ich es für unanständig hielt, von jemand, der mir brüderlich nahestand, eine hypothekarische Sicherheit zu verlangen. Immerhin stecke ich lieber in meiner Haut als in der seinigen. Ich hab’ mein reines Gewissen und einen Schatz – einen Schatz, wie ihn kein König hat!“
„Aber Eduard, so hör’ doch auf mit dem Küssen! Horch nur – Toni ist schon darüber aufgewacht! Laß mich, damit ich Dir erst Dein Brot schneiden kann!“
Nach einer Weile kam sie wieder aus der Küche zurück.
Mißbilligend schüttelte er die Locken. „Nennst Du das die Butter sparen?“ fragte er vorwurfsvoll.
„Nun sie einmal da ist, muß sie doch gegessen werden,“ entgegnete Magda und ging zu ihrem Kind ins Nebenzimmer, wo sie ihr verstecktes trockenes Brot hervorzog.
Arnold arbeitete pfeifend weiter, rastlos, rastlos.
Abends, nach dem bescheidenen Nachtessen, überlegten Eduard und Magda, was sie zu thun hätten, aber guter Rath war theuer. Magda suchte Erholung auf der glücklichen Insel Erinnerung.
„War das eine schöne Zeit, Eduard, als Du an der Baugewerkschule angestellt warst! Wie reich fühlten wir uns mit dem kleinen Gehalt! Weißt Du noch, wie Papa endlich ‚ja‘ sagte, als Du die Stelle bekamst?“
„Ich hielt ihn eigentlich bis dahin für einen Barbaren, Kind. Unter uns gesagt, ein wenig war er’s auch. Und doch – wer weiß, ob es nicht vorsichtiger von ihm gewesen wäre, wenn er einen solchen Schwiegersohn einfach zum Tempel hinausgeworfen hätte. So einen Hans Ungeschick, wie ich es bin!“
„Eduard, so redest Du? Du, den seine Schüler fast vergöttert haben!“
„Und den sein Direktor an die Luft setzte.“
„Weil er ein eifersüchtiger einfältiger Mensch war! Die Leute sind alle auf Deiner Seite gewesen!“
„Aber keiner hat mich wieder in eine Stellung gebracht.“
„Aus eigener Kraft hast Du Dir dann den Posten als Zeichner verschafft.“
„Der nicht einmal ausreicht, um uns vor Nahrungssorgen zu schützen. Und nun ist der letzte Rettungsanker entzwei! O dieser Gumprecht!“ Sich in die Ecke des kleinen Sofas zurückwerfend, auf dem er mit seiner Frau saß, fuhr Arnold mit allen zehn Fingern durch seinen wallenden Haarschmuck.
„So, jetzt spielen wir verkehrte Welt, Eduard! Nun verzweifelst Du und ich tröste. Soll ich Dir jetzt etwas vorpfeifen?“
„Soweit braucht Dein Edelmuth nicht gerade zu gehen. Aber mit der Musik hast Du recht, die macht uns wieder flott. Komm’ ans Klavier, wir wollen etwas Fideles singen! Den Rodensteiner heraus!
,Pfaffenbeerfurt ist hin, Pfaffenbeerfurt ist fort,
Pfaffenbeerkurt, der fromme, der züchtige Ort,
Pfaffenbeerfurt ist vertrunken!‘“
Etwas Fideles! Du lieber Gott! Heimlich streichelte Magda über die glatte Politur des geliebten Instruments. Wenn Eduard eine Ahnung davon hätte, daß sie es für die Miethe opfern wollte! Aber sie begann tapfer zu spielen und bald darauf erklang es im launigen Baß:
„Pfaffenbeerfurt ist hin, ist hin,
Pfaffenbeerfurt ist fort, ist fort,
Pfaffenbeerfurt ist vertrunken!“
„Höre nur, wie die Arnolds oben wieder singen; ich denke, es soll ihnen so schlecht gehen,“ bemerkte einen Stock tiefer die Steuerräthin Hinkeldey zu ihrem behäbigen Gatten.
„Und immer Kneiplieder!“ knurrte der Steuerrath.
„Das läßt tief blicken. Natürlich alles durch die Gurgel gegangen! Solche Leute kann man wahrhaftig nicht bedauern.“
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Am nächsten Morgen – Arnold hatte eben einen Brief erhalten – stellte er sich mit aufgeblasenen Backen, die Hände ungeheuer wohlhabend in die leeren Taschen versenkt, vor seine Frau hin. „Wie sehe ich aus, Magda?“
„Abscheulich großspurig!“
„Bin ich auch! Du kannst es ebenfalls sein! Toni als Erbin dito! Schneiden Sie nicht ein so verblüfftes Gesicht, Madame, sondern bemächtigen Sie sich jenes Schreibens. Lesen Sie es und bestätigen Sie mir, daß ich alle Ursache habe, mich für einen Oberprotzen zu halten. Ich bin Großgrundbesitzer geworden!“
Während Magda las, wandelte ihr Mann, sie scharf beobachtend, in unnachahmlicher Würde auf und ab.
[659] Das Schreiben lautete:
„Lieber Eduard! Du wirst mich für ehrlos halten, daß
ich Dich im Stich ließ. Aber wenn man von schlechten Menschen
gehetzt wird wie ein Stück Wild, muß auch der Beste zum
Schuft werden. Wer’s nicht erlebt hat, kann nicht mitreden.
Doch, um es kurz zu sagen: es ist mir rein unmöglich, Dir die
5000 Mark zurückzustellen. Komm’ zu mir, sieh’ selbst in meine
Bücher! Ich will aber nicht, daß Dein Edelmuth Dich in Schaden
bringt. Ich besitze an der Landstraße nach Pappelfelde eine
Baustelle von 250 Quadratruthen. Die Ruthe kostet zur Zeit in
jener Gegend ungefähr zwanzig Mark, das Grundstück wird also
Deine Forderung gerade decken. Wenn Du damit einverstanden
bist, überlasse ich es Dir und wir betrachten uns dann als quitt.
Bricht der Krach über mich herein, was, unter uns gesagt,
demnächst der Fall sein wird, so könnte ich keinen Pfennig für
Dich retten, Also entscheide Dich schleunig! Ich selbst würde
das Grundstück freiwillig unter keinen Umständen veräußern und
kann Dir nur rathen, das auch nicht zu thun. Ich weiß sicher,
daß in Pappelfelde eine Villenkolonie angelegt werden soll, durch
die der Bodenwerth gehörig steigen wird; ich stehe Dir für den
dreifachen Werth binnen zwei Jahren.
Verzeihe mir und, wie bemerkt, laß mich Deine Antwort sofort wissen! Dein alter Freund G.“
„Nun, Magda, was sagst Du nun?“
„Gott sei Lob und Dank, daß doch nicht alles verloren zu sein scheint,“ stammelte sie. „Ich kann freilich nicht beurtheilen, wie es mit solchen Grundstücken ist. Ich denke, Du solltest erst Onkel Meinhard fragen, dann aber Gumprecht heute noch aufsuchen.“
Arnold hatte seine scherzhafte Aufgeblasenheit abgelegt und wieder ein ernsteres Gesicht aufgesetzt. „Das meine ich auch, Magda. Die Vormittagsstunden müssen zu diesem Zweck geopfert werden. Kind, Du sollst sehen, es wird noch alles gut!“
Also Aruold ließ Reißbrett Reißbrett sein, da er die Kapelle für die Firma, die ihn beschäftigte, dennoch rechtzeitig fertig zu stellen hoffte, und fort war er. Bei Steuerraths unten besaß man keine Ahnung, daß es ein Großgrundbesitzer sei, der so vergnügt auf der Treppe pfiff. – –
„Toni, lauf’ doch nicht immer an die Thür, Papa kommt ja gleich! – Aber so bleib’ doch endlich einmal bei Deiner Puppe! – Himmel, was hast Du nun da wieder? Willst Du Dich denn mit Gewalt vergiften?“ Mit diesen Worten entriß Magda dem quecksilberigen Stolz der Familie den blaugefärbten Pinsel, den Toni auf einem Stuhl gefunden und sofort auf seine Schmackhaftigkeit untersucht hatte.
„Gar nicht gut, gar nicht gut!“ meinte sie, den Kopf schüttelnd und mit dem Ausdruck äußersten Abscheus in den entrüsteten Mienen.
„Also! Warum steckst Du ihn dann in den Mund? Balg, Du! Schau, hier hast Du eine warme Kartoffel, die schmeckt besser!“
Endlich kehrte Arnold wieder zurück, den Spitzhut schief auf den Locken, zu jeder lustigen Dummheit geneigt. Wahrscheinlich würden Magda und Toni diesen hohen Barometerstand der väterlichen Stimmung in allerlei Streichen zu spüren bekommen haben, wenn nicht Onkel Meinhard ihn begleitet hätte.
Onkel Meinhard, übrigens nur ein Onkel „honoris causa“, war ebenfalls Baubeflissener und zwar auch ein herzlich wenig begüterter. Sein Aeußeres war mehr auffällig als berückend. Er zeigte sich so kahlköpfig, wie nur ein Mensch werden kann, besaß ein Paar kleiner treuer Augen, eine Vertrauen erweckende rothe Stülpnase und als besonderes Kennzeichen einen ergrauenden mangelhaft ausrasierten Bart von äußerster Ursprünglichkeit. Trotzdem fand Toni den Onkel wunderschön, wodurch sie schon frühzeitig ihr Talent als Menschenkennerin bekundete.
„Abgemacht, alles abgemacht, Magda! Nach allen Formen des Rechtes!“ jubelte Arnold. „Meinhard sagt, wir fahren famos dabei. Hast Du das nicht gesagt, Meinhard?“ Onkel Meinhard nickte zur Bestätigung. Doch vorsichtig erläuterte er: „Nur verhältnißmäßig famos, natürlich! Wenn Du Dein bares Geld erhalten hättest, wäre es besser gewesen. Gumprechts Angaben sind ja im ganzen richtig, augenblicklich ist das Grundstück aber schwer verkäuflich und deshalb schwer beleihbar. Immerhin glaube ich auch, daß es über kurz oder lang einen hübschen Batzen werth sein wird.“
Magda fühlte sich zunächst beruhigt, konnte jedoch im stillen den Gedanken nicht los werden: ja, wovon leben wir denn bis dahin? Reich und gleichzeitig arm zu sein, das ist doch eine schnurrige Sache! Noch bedenklicher wurde es ihr, als der Onkel nun obendrein von allerlei Lasten und Steuern zu reden begann, die nothwendig getragen werden müßten.
Doch Arnold erklärte fröhlich: „Der Exekutor wird jetzt schon Respekt vor uns haben! Einstweilen biete dem Onkel Meinhard ein Glas Wein an, Frauchen!“
Magda machte ein Gesicht wie ein sehr peinlich in die Länge gezogenes Fragezeichen.
„In der Küche steht er ja. Sieh doch nach, Kind!“
Mechanisch gehorchte die junge Frau, ohne zu wissen, wie sie sich bei dieser Spiegelfechterei ihres Eheherrn vor ihrem Gaste mit Anstand aus der Sache ziehen sollte. Aber siehe da! Auf dem Küchentisch stand leibhaftig eine Flasche Wein, die im durchfallenden Sonnenlicht gleich eitel Purpur glühte. Und daneben lag ihre Leibspeise, eine Bratwurst.
„Der Verschwender!“ flüsterte sie. „Das hat er nun heimlich unter seinem Mantel mitgeschleppt. Wein! Du meine Güte, wie lange haben wir den nicht im Hause gesehen! Wenn’s nur nicht zu leichtsinnig gewesen ist!“
Dennoch lächelte sie glückselig, während sie die Flasche entkorkte und nebst zwei blanken Gläsern säuberlich auf ein Theebrett stellte.
„Zwei Gläser? Unsinn, drei!“ rief Arnold, als sie wieder eintrat.
„Aber Eduard –“
„Selbstverständlich! Mein bester Verbündeter in allen Lebensnöthen muß doch mit anstoßen, wenn wir einmal etwas draufgehn lassen können, wie –“
„– Großgrundbesitzer“, neckte Meinhard.
„Gewiß!“ rief Arnold sehr von oben herab. „Onkel Meinhard, der zukünftige Gast auf unserer fürstlich eingerichteten Villa bei Pappelfelde – er lebe hoch!“
„Ja, das ist nun soweit ganz schön, Eduard, und der Wein war nothwendig und Dir heilsam, aber, lieber Schatz, wovon leben wir bis zum Ersten? Und vor allem: wie steht’s mit der Miete?“
Arnold lag mit dem einen Knie auf dem Stuhle, mit dem Oberkörper schier auf dem Reißbrett und zeichnete und tuschte, was das Zeug halten wollte. Auf diese bedenkliche Frage hin richtete er sich auf, warf die Mähne zurück und sagte. „Wir hätten ja jetzt einigen Kredit, Kind. Aber –“
„Aber Schulden machen wir nach wie vor nicht!“
„Das ist es! Wir müssen uns vorläufig so durchhungern.“
„Als Großgrundbesitzer?“ erwiderte sie in schmerzlich launigem Spotte.
„Ja, obgleich es ein Skandal ist.“
„Und die Miete?“
„Ach zum Henker mit Deiner unglückseligen Miethe!“
Er schwieg. Seine Blicke irrten durch das Zimmerchen. Große Exkursionen konnten sie sich da allerdings nicht erlauben. Sie bewegten sich im engsten Kreise nach allen möglichen Gegenständen, nur über das auffälligste Stück, das Klavier, glitten sie beharrlich hinweg. Endlich blieben sie an einer alten, mit Elfenbein und Perlmutter eingelegten Reiterpistole haften, die er hoch in Ehren hielt und allen Fährlichkeiten bisher entrissen hatte: „Das Ding muß weg da!“ knurrte er, die Oberlippe verächtlich emporziehend. „Es paßt schon lange nicht mehr zu unserem ‚Stil‘, wäre auch später, wenn Diebe in unsere Villa einbrechen sollten, zu keinem einzigen Schusse zu gebrauchen. Also – verkaufen wir es! Dann ist die Magenfrage bis zum Ersten erledigt.“
Magda stellte sich vor ihn hin, schlang ihre Hände um seinen Nacken, und, ein wenig von ihm abgerückt, schaute sie ihn mit klaren Augen an und schüttelte langsam, aber nachdrücklich den Kopf.
„Nun, warum denn nicht?“
„Weil’s nicht lohnt!“
„Hast Du etwa noch einen verborgenen Diamantschmuck?“
„Nein. Aber das Klavier!“
Arnold riß die Augen entsetzt auf. „Bist Du toll? Ich kann mir meine Kneiplieder auch pfeifen. Aber wie Du ohne Mozart und Beethoven durch dieses irdische Jammerthal weiter pilgern wolltest, begreife ich schlechterdings nicht. Da benutze den Klimperkasten lieber noch zum Stundengeben!“
„Eduard, Du weißt, wie Fräulein Müller und Fräulein [660] Alberts sich abquälen, um nur einige Stunden zu bekommen. Und dabei leisten beide etwas. Soll ich ihnen nun auch noch Konkurrenz machen? Nein, ich habe schon etwas anderes in Aussicht, das mir Verdienst bringen soll. Aber inzwischen verkaufen wir das Instrument und vorläufig ist geholfen.“
„Das gebe ich nie und nimmer zu!“
„Schatz, sei nicht böse – es ist schon verkauft. Morgen wird’s geholt und morgen haben wir die Miethe. Ich fragte vorhin nur so, um Dir klar zu machen, daß es gar keinen anderen Ausweg mehr giebt.“
Grimmig rannte Arnold auf und ab. Plötzlich erhob er die Fäuste gegen Magda. „Du bist – Du bist – ein Prachtweib!“ rief er dann, indem er sie in seine Arme schloß. „Aber daß Du mich heirathen mußtest – diese Kapitaldummheit kann Dir kein verständiger Mensch verzeihen!“
Man soll nie im Leben verzweifeln. Es war gegangen und zwar ganz gut gegangen.
Arnolds Kapelle hatte so sehr gefallen, daß die Firma ihm für die Zukunft bessere Preise für seine Zeichnungen versprach. Magda machte sich das plötzliche Modernwerden einer Metallfädenstickerei zu nutze, in der ihr einst ihre Großmutter eine gewisse Virtuosität beigebracht hatte. Für die erste Zeit war durch das Pianino geholfen worden. Und wenn auch fernerhin Schmalhans Küchenmeister blieb, so verstand Frau Magda ihn doch mit Anmuth und Phantasie zu behandeln, und zum Aerger des Steuerraths hörte das Singen und Pfeifen bei den Großgrundbesitzern schier nimmer auf.
„Du, Magda,“ erklärte Arnold eines schönen Tages, als der Sommer ins Land gekommen war und Freund Gumprecht längst sich jenseit des Oceans befand, „jetzt müssen wir endlich einmal unseren Besitz in Augenschein nehmen. Die Erbtochter fährt selbstverständlich mit.“
Und am nächsten Sonntagnachmittag kam die denkwürdige Unternehmung zustande. Erst ging es mit der Bahn, dann zu Fuß. Die Erbtochter wurde getragen.
Schöne alte Pappeln standen längs der Landstraße, an welcher sich der Bauplatz befand. Sonst bereitete die Natur der lieben Sonne wenig Hindernisse.
„Ei der tausend, da wird ja schon gebaut, Magda! Unsere Aktien steigen! Sieh, sieh, die ersten Villen in unserer Nachbarschaft!“
In der That erhoben sich rechter Hand über dem Akazienbuschwerk, von kümmerlichen Kiefern umgeben, einige ganz romantisch geformte Dächer. Noch eine kurze Strecke weiter und „Hier ist es!“ rief Arnold, indem er eine Gebärde machte wie etwa Polykrates, als er Aegyptens König auf das von ihm beherrschte Samos hinwies. Magda schnitt ein verdutztes Gesicht. Es schien ihr kaum glaublich, daß so ein unwirthliches Stück Land mehrere tausend Mark werth sein könne.
„Ist es nicht herrlich hier, Kind? Athme doch nur die Luft ein! Diese Luft! Diese unvergleichliche Luft! Köstlich, balsamisch! Nicht wahr?“
„Freilich,“ sagte Magda, „die Luft ist ausgezeichnet.“
„Und sieh doch ’mal die Vegetation! Diese drei Kiefern, wirkliche große Bäume, gehören uns. Wenn man sie düngt, kann noch alles Mögliche aus ihnen werden. Dann die Akazienbüsche! Und da ist ein Tümpel mit richtigen Weiden dabei! An Wasser fehlt’s also nicht. Das wird einst einen großartigen Teich für einen Park abgeben! Komm’, wir wollen uns im Schutze unseres Laub- und Nadelholzes lagern! Von dort aus kannst Du gut übersehen, wie weit sich unser Land erstreckt.“
Mit Hilfe der mitgenommenen Schirme wurde nun unter Kiefern und Akazien ein ganz brauchbarer Schatten hergestellt, in dessen Schutz man sich niederließ und die Vorräthe an Speise und Trank auskramte.
Toni krabbelte und wühlte seelenfroh im Sande umher; ein derartiger Göttergenuß wurde ihr in der Stadt nicht geboten. Magda rief entzückt. „Ach, aber die Blumen! Jetzt sieht man sie erst ordentlich: wilde Stiefmütterchen, Glockenblumen und Pechnelken! Da winde ich gleich einen Prachtstrauß!“ Und Arnolds Entzücken stieg aufs höchste, als er hinter den Akazien eine schön gewachsene kleine Zirbelkiefer entdeckte.
So vergnügte sich die Großgrundbesitzersfamilie dankbar gegen Gott und Menschen auf ihrem Eigenthum, als um die Büsche herum ein verdächtiger alter Herr heranschlich, den ein grauer Cylinder schmückte.
Dieser Herr grüßte in mürrischer Verbindlichkeit und benahm sich wie ein Mann, der ein Gespräch anzuknüpfen wünscht. Den Architekten kitzelte der Stolz, sich dem Publikum zum ersten Mal als Besitzer der umliegenden schönen Landschaft bekannt zu geben. Leutselig, wie es Magnaten gegen Fremdlinge, welche die Bewunderung zu einem Besuch anlockt, sich erlauben können, rief er: „Bitte, schauen Sie sich nur ungeniert überall um, mein Herr! Ein nettes Grundstück, nicht, obgleich vorläufig noch unbebaut? Aber das wird bald anders werden.“
Den Redner scharf musternd, trat der alte Herr näher, indem er trocken bemerkte: „Danke für die gütige Erlaubniß. Aber entschuldigen Sie, woher wissen Sie denn, daß sich das bald ändern wird?“
„Nun,“ entgegnete Arnold überlegen lächelnd, „weil es mir gehört und ich so meine Pläne habe.“
„Ihnen gehört’s? So, so! Dann sind Sie wohl der Herr Architekt Arnold?“
„Allerdings, der bin ich.“
„So, so! Wer hat Ihnen die Baustelle denn verkauft, wenn ich fragen darf? Ein Herr Gumprecht vermuthlich?“
Die Art des Mannes hatte wirklich etwas sonderbar Zudringliches. Indessen, weshalb sollte man seine Neugierde nicht befriedigen? „Gewiß – Herr Gumprecht.“
Der Bewunderer schwieg eine Weile, worauf er, seinen stattlichen Hut ziehend, nachdrücklich erklärte: „Erlauben Sie mir Ihnen mitzutheilen, mein werther Herr, daß Sie nicht der Eigenthümer sind!“
„So?“ rief Arnold halb belustigt, halb geärgert. „Wer wäre es denn sonst?“
„Ich!“
Arnold sprang auf seine Füße. Den blitzschnellen Gedanken, der unheimlich alte Herr mit dem Cylinder sei verrückt, gab er sofort wieder auf. Eine Ahnung, daß er sich auf einen furchtbaren Schlag gefaßt machen müsse, schnürte ihm die Kehle zu. „Sie, Sie?“ stieß er hervor. „Aber das Grundstück ist ja für mich gerichtlich eingetragen worden!“
„Mag schon sein. Trotzdem ist es mein oder wenigstens so gut wie mein, denn binnen morgen und drei Tagen werden Sie doch wohl keine Villa hier errichten können?“
„Wie – wieso? Das verstehe ich nicht. Was meinen Sie damit?“
„Die Sache ist sehr einfach. Ich – beiläufig bemerkt, bin ich der Bauunternehmer Emil Pistor aus Pappelfelde – ich habe seiner Zeit dieses Grundstück an Herrn Gumprecht unter der ausdrücklichen Bedingung verkauft, daß er innerhalb zwei Jahren hier ein Wohnhaus zu erbauen habe, widrigenfalls das Land ohne weiteres wieder an mich zurückfällt. Diese Bedingung ist im Grundbuch eingetragen; sie haftet an dem Grundstück und geht nothwendigerweise auf jeden Käufer über. Nächsten Donnerstag ist die Baufrist verstrichen. Sollte Gumprecht Ihnen nichts davon mitgetheilt haben?“
„Keine Silbe!“ stotterte Arnold schreckensbleich.
„So, so! Das bedauere ich ungemein. Uebrigens hätten Sie es trotzdem aus dem Grundbuch ersehen können. Haben Sie das nicht gethan?“
Grundbuch! Grundbuch! Das Wort schwirrte durch Arnolds Kopf. Ja, daran hatte er nicht gedacht, daß da noch etwas Besonderes, etwas so Tolles stehen könnte! „Nein,“ erwiderte er tonlos.
„Dann sind Sie eben hereingefallen! Sehen Sie, ich habe zufällig meinen Vertrag bei mir. Ueberzeugen Sie sich selbst!“
Dem armen Großgrundbesitzer tanzten die Buchstaben vor den Augen. Magda, die in steigender Erregung dem Gespräch gefolgt war, drängte sich wie zu seinem Schutze ebenfalls heran.
„Großer Gott,“ murmelte er, während kalter Schweiß auf seinem Gesicht perlte, „es ist so! O ich, ich –“ Dann wendete er sich erregt gegen Pistor. „Ihr Verhalten finde ich aber auch nicht schön, mein Herr! Sie haben alles gewußt und mich doch nicht gewarnt!“
Pistor deutete mit dem Finger auf seine Stirn. „Herr, Sie sind wohl –? Sie verstehen selbst Ihre Interessen nicht
[661][662] wahrzunehmen, und da sollen es andere für Sie thun? Sie haben keine Ahnung von Geschäften!“
Zornroth ballte Arnold die Hände
„Schatz, Schatz, bitte, rege Dich nicht auf,“ flehte Magda, „warte doch erst andere Beweise ab! Und schlimmsten Falls –“
„Ganz wie Sie meinen, Madame,“ fiel der Fremde hämisch lächelnd ein, „Warten Sie nur getrost die anderen Beweise ab! Im übrigen, meine Herrschaften, thut es mir leid, Ihre Ruhe gestört zu haben. Aber bitte, genieren Sie sich durchaus nicht, hier auf meinem Eigenthum Ihre Siesta fortzusetzen. Ich habe die Ehre!“
Den grauen Cylinder schwenkend, ging Herr Pistor ebenso katzenartig davon, wie er sich vorhin den friedlichen Akazien genähert hatte.
Arnold warf sich nieder auf den Boden und vergrub sein Gesicht in die Hände.
„Lieber Eduard, nimm’s Dir nicht so zu Herzen! Sieh’, wir brauchen es ja eigentlich gar nicht mehr. Damals, als der Hunger vor der Thür stand, war es doch weit schlimmer.“
„Du hast recht, Magda, Ich will mich an Dir aufrichten. Mit Dir komme ich auch wohl über das neue Unglück hinweg,“
Das war ein trauriger Abschluß des Nachmittags, der so glücklich begonnen hatte! Nur die so plötzlich ihrer Würde entkleidete Erbtochter hatte die schwere Viertelstuude in ungeschmälerter Heiterkeit verbracht. Sie hatte einen Schuh ausgezogen, füllte ihn mit Sand, den sie dann wieder herausrinnen ließ, und lachte und lachte.
„Und wenn der alte Kerl doch recht hat, Schatz, dann bauen wir das Haus in drei Tagen!“ rief Magda, wie elektrisiert beim Anblick der ruhigen Fröhlichkeit ihres Töchterchens.
Arnold lächelte trübe. „Kind, rede doch nicht solchen Unsinn! Heutzutage geschehen keine Wunder mehr.“
„Warum nicht, wenn man’s richtig angreift? Onkel Meinhard muß Rath schaffen!“ –
– – – –In der Frühe des nächsten Morgens rannte Arnold sogleich zu dem Freunde. Da aber eben erst die Sonne aufgestanden war, so konnte man die gleiche Leistung unmöglich schon von Onkel Meinhard erwarten. Sein polierter Schädel und seine rothe Nase starrten dem aufgeregten Fachgenossen höchlich überrascht aus den Federn entgegen. In zehn Minuten aber hatte er aus dem krausen Vortrag Arnolds ungefähr herausgefunden, um was es sich handle. „Donnerwetter!“ brummte er, „an das verflixte Grundbuch hab’ ich auch nicht gedacht! Der Bursche aber, der Gumprecht, hat Dir diese verteufelte Bedingung verschwiegen, um ohne Schwierigkeiten schnell von Dir loszukommen. Da ist guter Rath theuer, Verehrtester!“
Arnold fuhr mit allen Fingern durch seine langen Locken, während Meinhard halb angekleidet auf dem Bettrand saß und überlegte. Da sprang dieser auf; seine guten listigen Aeuglein funkelten.
„Da steht der Spirituskocher, Arnold! Bereite uns einen nervenstärkenden Mokka, inzwischen kleide ich mich stilvoll an und mache meinen Plan!“
Beides führte er mit ungeheuerer Geschwindigkeit aus. Das Wasser kochte noch nicht einmal, als er schon, den Schlußstein seiner Toilette, die Kravatte, befestigend, sich vor dem Freund aufpflanzte. „Dem altem Blutsauger, dem Pistor, wird eine Nase gedreht und Deine Villa in drei Tagen aufgebaut!“
„Meinhard, nimm mir’s nicht übel, Du bist ebenso verrückt wie Magda!“
„Mit diesem Vergleich bin ich zufrieden! Du glaubst also nicht, daß man in drei Tagen ein Haus bauen kann?“
„Möglich mag’s sein; aber es würde auch danach werden.“
„Das ist in diesem Falle gleich!“
„Und nur, wenn man ein reicher Mann ist.“
„Du bist reich!“
„Das erste;. was ich höre!“
„Jawohl, Du bist reich – reich an Freunden! Und ich darf wohl behaupten, daß der alte Meinhard auch einiges unter den Kollegen gilt.“
Arnold steckte die Hände tief in die Tasche und warf die Locken zurück. „Hebe Dich weg von mir, Satan, Du willst meinen heiligsten Grundsatz erschüttern?“
„Arnold, Du bist ein Kind! Doch gut – wenn Du Deinen Widerwillen gegen alles Leihen nicht überwinden kannst, so nehme ich meinen eigenen Kredit in Anspruch!“
Lächelnd und doch bewegt schaute Arnold auf den schäbig gekleideten Freund. „Ach Meinhard, selbst wenn wir unseren Kredit in einen Topf werfen, wie sollen wir uns das Geld verschaffen?“
„Geld, Geld! Wer spricht denn groß von Geld? Ein paar Silberlinge müssen wir natürlich in der Hand haben – im übrigen geht es auch ohne das!“
„Das verstehe, wer kann!“
„Gieb mir Vollmacht und Du wirst bald verstehen!“
„Hm, ich weiß nicht – so ohne weiteres –“ „Unsinn, alter Junge! Zu was noch Bedenken? Kannst Du mehr verlieren, als so wie so schon zum Henker gehen will? Hier ist meine Hand, alter Junge, schlag’ ein! Es geschieht zu Euerem Besten!“
Und Arnold schlug ein.
„So,“ sagte Meinhard zufrieden, „jetzt wollen wir Dein Gebräu genießen und dann zum Grundbuchamt, damit wir uns von der unangenehmen Richtigkeit der Bedingung überzeugen! Und dann –“
„Und dann?“ fragte Arnold gespannt.
„Hast Du zu allem, was ich abmachen werde, Ja und Amen zu sagen!“
„Meinhard, ich glaube wahrhaftig, ich habe Dir meine Seele verschrieben.“
„Wenig genug! Wenn ich Deine Haare hätte bekommen können, wär’ mir’s lieber gewesen!“
Und der überall beliebte und nie etwas für sich fordernde Onkel Meinhard lief, nachdem er mit Arnold die Aussage Pistors nur zu richtig befunden hatte, von Kollege zu Kollege und stellte jedem mit Feuereifer die üble Lage seines Freundes und seinen Bauplan dar. Und siehe da – gereizt durch die Sonderbarkeit des Falles, gerührt durch Meinhards Beredsamkeit, verweigerte niemand die verlangte Hilfe: was der Bauplatz eines jeden an entbehrlichem Material besaß, sollte sofort nach Pappelfelde geschafft werden. Der eine stellte dies, der andere das zur Verfügung; Fuhrwerke, Arbeiter, Baugeld – kurz alles Nöthige war in schnellster Frist beschafft; ein paar junge Regierungsbauführer, die nichts anderes bieten konnten, steuerten ihre eigene Arbeitskraft bei. Eine solch begeisterte herzliche Theilnahme hatte man im Baugewerke noch nicht erlebt.
Meinhard ordnete das Chaos mit bewundernswerther Umsicht, so daß schon am Montagnachmittag die Fundamentierungsarbeiten begannen. Den anfangs sprachlosen Arnold hatte er fast beim Kragen nehmen müssen, um ihn mit zur Baustelle hinauszuschleppen. In Gottes freier Natur, bei einem Wetter, das den Leichtsinn in der Menschenbrust geradezu herausforderte, war ihm die Beruhigung des Freundes dann schnell gelungen.
Als unbezahlbarer Verbündeter für die erforderliche Nachtarbeit stellte sich in Ermangelung elektrischer Beleuchtung das herrlichste Mondlicht ein, und am Dienstag sah man bereits, daß es „etwas wurde“. Ein des Weges ziehender Fremder hätte sich nach Amerika versetzt fühlen können. Das war ein Sandsieben, Kalklöschen, eine Steinschlepperei und Maurerei von einer in Europa bisher unbekannten Emsigkeit! Onkel Meinhard, der geistige Schöpfer des werdenden architektonischen Kunstwerkes, nahm sich in seinem gelbgrünen verschossenen Flaus wie ein gebietender Feldherr aus. Arnold, in Hemdsärmeln, den zerdrückten Filz heroisch auf den Locken und die Maurerkelle in der Hand, arbeitete mit einer Thatkraft, um die Herakles bei Ausführung seiner zwölf Aufgaben ihn beneidet haben würde. Und die jungen Regierungsbauführer standen ebensowenig zurück wie die bunt zusammengewürfelte Schar der Gesellen und Handlanger, die im hellen Spaß an der Sache einen Eifer entwickelten, als wenn es dem lohnendsten Accord gegolten hätte.
So geschah denn das „Wunder“: am Donnerstagnachmittag stand die einstöckige „Villa“ nach wohlwollender Auffassung „fertig“ da. Aber es war ein überaus scheußliches Wunder geworden. Die jungen Bauführer lachten darüber, bis ihnen die Thränen aus den Augen liefen. Bei dem ganz oberflächlichen Plan, bei der bunten Vermengung der verschiedensten Baubestandtheile, bei der geringen Zahl von Thüren und Fenstern und der Fülle wenig brauchbarer oder fehlerhafter Ornamente hatte nothwendigerweise [663] ein kleines Ungeheuer von Stillosigkeit entstehen müssen, und ebenso konnte bei der Nachtarbeit und der allgemeinen Ueberstürzung kein sorgfältiges Mauerwerk zustande gebracht sein.
Trotzdem zeigte wenigstens Onkel Meinhard eine große Verliebtheit für sein mißrathenes Kind. Auch Arnolds Gesicht strahlte, wenn auch aus anderen Gründen.
Ein so bedeutender, unter so ungewöhnlichen Umständen vollendeter Bau verlangte einhelliger Ueberzeugung gemäß ein gehöriges Richtfest, und mit der entsprechenden Schnelligkeit wurde es auch begonnen.
Das Festpublikum in Person der Baulieferanten, sowie Magdas und der Erbtochter, befand sich bereits zur Stelle; nur der als „Ehrengast“ eingeladene Herr Pistor war noch nicht erschienen.
Magda nahm den Arm des Gatten. „Siehst Du, Schatz, wie recht ich gehabt habe! Das Haus steht – und nun werden wir auch über den für unsere Verhältnisse immerhin recht erheblichen Schuldenberg wegkommen. Davor ist mir gar nicht mehr bange!“
„Mir auch nicht, Kind, wenigstens in diesem Augenblick nicht. Aber – alle Wetter, da habe ich endlich die Idee gefunden!“ rief er, hier sich unterbrechend, zu Onkel Meinhard hinüber, der sich soeben ein Paar Gummimanschetten vorknöpfte, was bei ihm als Zeichen einer sehr feierlichen Stimmung angesehen werden mußte. Meinhard nickte. Er wußte, der freudige Ausruf bezog sich auf die Entdeckung eines passenden Namens für die „Villa“, um den die betheiligte Künstlerschaft sich lange gestritten hatte.
Jetzt sammelte sich das Festpublikum im Halbkreis und erwartete den Redner, dessen Rolle der Bauherr selbst übernommen hatte. Von den Untenstehenden freudig begrüßt, steckte Arnold den malerischen Kopf aus dem kleinen Giebelfenster und nahm, ein gefülltes Weinglas herausstreckend, das Wort. Zunächst stattete er tief gerührt allen Helfern, dem Onkel Meinhard obenan, seinen herzlichsten Dank ab. Mit wachsender Schelmerei gab er dann die Baugeschichte zum besten. „Aber nun,“ schloß er, „bleibt mir noch übrig, diesem stattlichen Bau einen würdigen Namen zu verleihen. So taufe ich Dich denn, liebes Haus, weil Du luftig bist wie ein italienischer Palazzo und vornehmlich, weil alles an Dir auf Borg genommen ist bis zum letzten Nagel – Villa Borghese!“
Das zerschellende Glas besiegelte diese launige Selbstverspottung, die jubelnden Beifall erweckte. Mit fürstlicher Würde stieg Arnold herunter und nahm die dargebrachten Glückwünsche entgegen, und dann lagerte man sich zu einem kleinen aus Bier und Butterbrot bestehenden Festschmaus auf dem freien Platze vor dem Eingang.
Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Der Himmel verhüllte plötzlich sein Haupt über den Fröhlichen, schwarze Wolken ballten sich zusammen, die einen prasselnd daherjagenden Regen ausschütteten. Die „Villa Borghese“ wurde gleich auf eine harte Probe gestellt.
„Auf, in den Salon!“ befahl Arnold, indem er mit Toni und seinem Bierkrug voran ins Haus flüchtete. Und in großer Heiterkeit wurde die Feier im „Salon“ fortgesetzt, nachdem man schnell ein paar Bänke aus Tonnen und Brettern zugerichtet hatte. Doch alsbald stellten sich auch zwei ungebetene Gäste ein. Darüber, daß der Wind mit hereinkam, wunderte man sich freilich nicht weiter; daß aber auch der Regen in ergiebigster Fülle seinem Beispiel folgte, das erregte doch einiges Kopfschütteln. Zum Kuckuck, er that so, als ob weder Dach noch Mauern vorhanden wären!
„Nur Muth! Das giebt sich schon wieder, wenn es erst draußen aufhört!“ tröstete Onkel Meinhard.
„Freilich, das macht nur die Neuheit!“ pflichtete Magda bei.
„Donnerwetter, eigentlich kann hier doch noch kein Mensch wohnen!“ rief Arnold unüberlegt.
„Nicht?“ antwortete. eine laute Stimme von der Thür her. „Nun, meine Herschaften, dann begreife ich wirklich nicht, warum Sie sich mit der Errichtung dieses windschiefen Vogelbauers so viel Mühe gegeben haben. Da kein für Menschen bewohnbares Haus auf diesem Grundstück errichtet wurde, hat Herr Arnold, wie ich hiermit feststelle, endgültig sein Besitzrecht verloren.“
Der Redende war natürlich Herr Pistor, der mit aufgeschlagenem Rockkragen, unter einem triefenden Regenschirm, in der Thür stand; hinter ihm ein anderer Herr, wahrscheinlich sein Sachverständiger.
„Das nennt man den Neid der Götter!“ seufzte Onkel Meinhard mit tragischer Gebärde. Und Arnold schaute Magda an und Magda Arnold; beiden sah dieselbe Trostlosigkeit aus dem Gesicht.
Die übrige Gesellschaft war indessen keineswegs gewillt, sich stören zu lassen. „Hinaus! Hinaus!“ tönte es aus allen Ecken dem „Ehrengast“ entgegen, und Herr Pistor, der seinen Protest angebracht hatte, des weiteren aber nur unliebsame Folgen für seine werthe Person voraussah, verschwand nebst seinem Begleiter schleunigst aus dem Bereich der geschmähten Blüthe moderner Baukunst.
Als er gegangen war, nahm Onkel Meinhard mit Stentorstimme das Wort. „Nur nicht den Kopf hängen lassen, meine Herren! Bis Mitternacht, wo der Termin abläuft, ist es noch Zeit genug. Ich fahre sofort zur Stadt. Erwarten Sie alle hier meine Rückkehr; ich sage Ihnen, Sie werden Ihr blaues Wunder erleben!“
Diese zuversichtliche Sprache Meinhards, der eilig durch den Regen davonrannte, stellte das arg erschütterte Vertrauen auf den Sieg der guten Sache wieder her. Arnold brachte die durch die außerordentlichen Eindrücke abgespannte Erbtochter samt ihrer Mutter im Pappelfelder Gasthof unter, und dann harrten die Mannen geduldig aus, die äußere Feuchtigkeit rastlos durch innere bekämpfend, was sich als sehr zweckmäßig erwies.
Der Regen hatte aufgehört, hoffnungsfreundliche Sterne schimmerten aus den Wolken hervor, als zwei Lastwagen angejagt kamen. Auf dem vorderen saß Onkel Meinhard und schwenkte seinen Hut.
„Meinhard! Mensch! Was bringen Sie denn da?“ tönte es ihm im Chor entgegen.
„Dachpappe, meine Herrschaften! Nichts als solide wasserdichte Dachpappe!“
„Ein dreifaches Hurra dem allzeit erfinderischen genialen Baumeister der Villa Borghese!“ schrie Arnold.
„Danke, mein Sohn!“ entgegnete Meinhard, „und hier sind noch Fackeln und Laternen, da ich nicht so leuchtend bin wie der Kollege am Himmel da droben, der heute abenb streikt.“
Eine äußerst spukhafte Scene entwickelte sich nun. Die Villa Borghese sah aus, als wäre sie aus Dantes Hölle und würde von oben bis unten, an Dach und Wänben, von wildhämmernden Teufeln mit Pappe benagelt.
Aber ehe noch die Geisterstunde schlug, endigte der Spuk. Ein Wunder war dem andern gefolgt; nur konnte man es nicht gerade als ein „blaues“ bezeichnen – es war schwarz geworden, höllenmäßig schwarz!
Seit jener Nacht ist noch manche andere, minder unheimliche vergangen und mancher Tag. Mancher glückliche Tag kann man sagen, glücklich wenigstes für die Familie Arnold.
Wenn man heute die bei Regenwetter für jeden Fußtritt tief empfängliche, bei Sonnenschein ihren Staubreichthum neidlos verschwendende Pappelfelder Pappelallee entlang geht, an den in allen glaubhaften und unglaubhaften Stilarten erbauten Landhäusern vorbei, so bekommt man schließlich einen heftigen Schreck.
Dieser Schreck wird verursacht durch ein düsteres Objekt, das einer nachtschwarzen, viereckigen, ziemlich hoch geratenen Pappschachtel auf ein Haar gleicht. Erst eine nähere Betrachtung ergiebt, daß man es mit einem Hause, ja mit einer „Villa“ zu thun hat, und mit Wohlgefallen bemerkt man blanke, wenn auch auffallend wenige Fenster, dahinter schimmernde Vorhänge und blühende Blumen. Rings um das Haus zieht sich ein junges Gärtchen, in dem zur Zeit bunte Astern und hohe gelbe Sonnenblumen in stiller Herbstschönheit prangen.
An der grüngestrichenen Gartenpforte leuchtet ein Porzellanschild, das von einer gewissen Besitzfreudigkeit zeugt, und wer sich sehr guter Augen rühmen kann, entdeckt unter dem schiefen Giebel eine kleine Inschrif – das einzige, was an den Außenwänden weiß ist, und das einzige, was nicht aus Pappe zu bestehen scheint. Sie lautet: „Villa Borghese“. Heute, eben jetzt, zieht ein wohlgekleideter lockenköpfiger Herr die Klingel, die neben dem erwähnten Porzellanschild hängt. Dieser Herr ist der Eigenthümer selbst, der Privatbaumeister Eduard Arnold. Kaum ist der schrille Klang ins Haus gedrungen und das Schloß der Pforte zurückgeschnappt, so kommt ein kleines dickes etwa [664] vierjähriges Mädchen jubelnd hervorgestürzt. „Papa, Papa! Wir essen heute Eierkuchen, und morgen besucht uns Onkel Meinhard!“
„So? Das sind ja ausgezeichnete Nachrichten! Bist Du auch artig gewesen, dicke Toni?“ Und sein eifrig bejahendes Töchterchen an der Hand führend, betritt Arnold das Haus. Alles ist hier klein, aber wohnlich. Die inneren Spuren des übereilten Baues sind ausgebessert, und von Außen schützt die Pappe vortrefflich.
Im behaglich ausgestatteten Wohnzimmer steht ein Klavier, dessen blanke Politur dem früheren Arnoldschen nichts nachgiebt.
„Nun, Schatz, was machst Du? Schläft der Junge noch?“ fragt Arnold seine Frau.
„Freilich! Geh’, schau ihn Dir an – wie ein Borsdorfer Apfel sieht er aus! Pappelfeld ist zu einem wahren Luftkurort für ihn geworden.“
„Ein Glück, daß wir herausgezogen sind, gelt, Magda? Und jetzt hab’ ich zwei Neuigkeiten für Dich im Sack.“
„Und?“
„Erstens ist der Pistor gestorben; er hat eine Million hinterlassen. Seit er den Prozeß gegen uns verlor, ist es mit seiner Gesundheit bergab gegangen.“
„Ach! Darüber kann ich – der Himmel verzeih’ mir – nicht allzu betrübt sein, Eduard. Hoffentlich erweckt Deine zweite Neuigkeit aber angenehmere Gefühle.“
„Zweites bekomme ich den Bau der Nazarethkirche! Onkel Meinhard werde ich mit heranziehen, selbstverständlich!“
„Herrlich!“ jubelte Magda.
„Ja, siehst Du, und wenn die Grundstücke so weiter steigen, werden wir noch einmal steinreiche Leute und ich baue hier nebenan die ‚Villa Magda‘!“
„Schön, Herzensschatz! Vorläufig bin ich übrigens ganz damit zufrieden, in unserem lieben verachteten Häuschen wohnen zu können. Wenn wir aber je einmal ausziehen, erhält es der Onkel Meinhard – der ist der einzige, der es zu schätzen weiß!“
„Einverstanden, Magda! Lieber Gott – Weib, Kinder, ein eigenes Haus und dann eine solche Nachbarschaft, was könnte sich der Mensch auf Erden noch mehr wünschen!“
Aus dem Nebenzimmer erscholl ein urkräftiges Geschrei. „Hurra, der Junge ist wach!“ rief Arnold und eilte hinein, um gleich darauf mit seinem nunmehr beruhigten jüngsten Sprößling wieder aufzutauchen. Er ließ ihn auf dem Arme tanzen, schüttelte die Locken und pfiff dazu: ‚So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage!“
Da steht nun das wunderliche häßliche Ding an der Pappelfelder Straße, geliebt von seinen heutigen Bewohnern, geliebt auch in Zukunft, denn sein einstiger Besitzer ist ja der Onkel Meinhard, der es geschaffen hat. Uebrigens ist der fremde Name „Borghese“ dem Volksmund nicht geläufig geworden. Wer Interesse an der Familie Arnold genommen hat und ihr seine freundschaftliche Antheilnahme auszudrücken wünscht, der schreibe lieber auf die Adresse: „Villa Pappschachtel“. Dann weiß der Briefträger Bescheid.
Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[1]
a.. Der Zaunkönig
Einer unserer volksthümlichsten Vögel ist der Zaunkönig, der uns
nicht bloß im Schatten der Wälder an Bächen, in Schluchten
und an Teichen, in Feldgehölzen und an umbuschten Rainen unmittelbar
am Walde begegnet, sondern auch in unseren Feldgärten,
in den Zäunen und Hütten unserer Hausgärten, in Oekonomiegebäuden
und im heimlichen Düster der epheumrankten Burgmauern.
Die Ebene wie das Gebirge, die Einsamkeit wie die
bewegten Städte und Dörfer beherbergen den kleinen, kecken, ewig
munteren, launigen Gesellen, der eine charakteristische Figur bildet
durch das hochgetragene, im Affekt über die senkrechte Stellung
emporgerichtete Schwänzchen und seine häufig wiederholten Bücklinge,
welche bei lebhafter Erregung von dem allbekannten Laute
„Zerr“ begleitet sind. Wer hat den gewandten Burschen nicht
schon durch Gestrüpp, aufgeschichtetes Holz, durch Wirrsale aller
Art, durch Löcher und Mauerritzen geschickt hindurchschlüpfen sehen,
wer fand sich nicht gleichsam geneckt von dem kleinen Schelme,
der wie ein versteckspielender Knabe bald hier bald dort hervorlugt,
rasch verschwindet und auf geheimen Wege in einiger Entfernung
wieder zum Vorschein kommt! Da sitzt das Kerlchen,
der Kleinste unter dem europäischen Vogelgeschlecht, auf der Oberseite
in einem Kleide von dunkelrostbraunem Grunde, über den
schwärzliche Querstreifen laufen, mit bräunlich-weißer Brust und
Bauchmitte, am übrigen Körper hellroth-grau oder blaßroth-gelblich
gefärbt, überall aber mit verloschenen dunklen Querlinien,
namentlich auf den Seiten des Leibes und an den unteren
Schwanzdecken, versehen. Nimmermüde Unruhe und rastloses
Suchen nach Nahrung bilden einen Grundzug seines Wesens.
Jetzt fliegt das Zwerglein einer andern Stelle zu. Seine kurzen
runden Flügel lassen es nur schwerfällig in schnurrendem Flug
dicht am Boden hin weiterflattern. Selten erhebt sich sein
Flug zu den oberen Baumkronen, nur die Minne treibt es zur Höhe.
Schon im Februar scheint das kleine Herzchen ein Vorgefühl von Lenz und Liebe zu verspüren, denn wir hören an sonnenhellen Tagen, selbst mitunter bei Schnee, den männlichen Zaunkönig vom hohen Dachfirst aus sein hübsches Kanarienvogelliedchen in verkürzter Ausgabe vortragen, wobei sich das Schnäbelchen dem leuchtende Himmel zurichtet. Kommt aber erst der März, dann nimmt der Zwergkönig öfter den hohen Thron ein und wirbt mit größerer Kunstentfaltung, mit höflicheren Verbeugungen und schmeichelnderem Gebahren um die tiefer und bescheidener sich haltende Gefährtin. Das verliebte Hähnchen bietet einen wahrhaft possierlichen Anblick. Bolzenartig aufgeblasen, scheinbar flügellahm, zitternd, mit aufgerichtetem Schnabel liegt es gleichsam flehend dem Gegenstand seiner Wünsche gegenüber und stößt unter Zuckungen seine Sehnsuchtslaute aus. Zur Zeit der Minne beobachtet man bei dem Männchen eine eigenthümliche Beschäftigung. Es baut sich besondere Wohnungen, die theils unvollendet bleiben, theils mehr ausgeführt und sehr fest gefügt erscheinen. Wir haben solche ganz von grünem Moos verfertigte Nester sehr häufig gefunden und niemals ein Polster darin entdeckt; auch sind sie kleiner als die spätere Familienwohnung. Offenbar handelt es sich hier nur um wohlige Spielereien des Männchens, die sofort aufhören, wenn das Weibchen in der Stille ein Plätzchen zur Anlegung des Familiennestes erwählt und den Gefährten zur Theilnahme zugezogen hat. Nun gehört die ganze Thätigkeit des geschäftigen Zwergpaares der wichtigen Bauarbeit.
Der Zaunkönig ist ein recht vielseitiger Baukünstler. Wir wissen von einem Neste zu erzählen, welches einzig und allein aus Platanenblättern und Spinnweben bestand und an die senkrechte Wand einer Brücke mit Vogelspeichel als einzigem Bindemittel fest angeheftet war. Ein anderes Nest sahen wir an dem Rain einer alten Steinkaute (Steinbruch) kunstvoll angebracht. Als ovaler Beutel hing es an der wurzelreichen Lehm- und Steinwand. Die Hauptstoffe bildete Moos mit durchgeflochtenen Halmen und Bastschnüren. Inwendig fanden wir ein Polster von hellgelben Hahnenfedern. Verhältnißmäßig groß wie das Nest sind auch die 6 bis 8 rundlichen gelblich-weißen Eier, die mit kleinen rothbraunen und blutrothen Pünktchen bedeckt sind. Eigenthümlich ist die Art und Weise, wie die Eltern zuweilen die ihnen zu lange im Neste verbleibenden Jungen herausnöthigen; sie zerren an ihnen herum, bis die Kleinen nach und nach dem Neste entfliehen und nun irgendwo in der Nähe desselben eine anmuthige Familie mit den Alten [665] bilden. Nach mehreren Wochen wandelt schon jedes für sich seine eigenen Wege.
Durch alle Altersstufen besteht ihre Nahrung aus Kerbthieren, die sie von Blättern, Zweigen, vom Boden, aus Mauerspalten, Löchern, unter Rindenblättchen hervor erbeuten. Namentlich lieben die Zaunkönige Spinnen; die ihnen ja auch in ihren Schlupfwinkeln in Menge begegnen. Als treue Anhänger bestimmter Oertlichkeiten wiederholen sie täglich fast dieselbe Wanderung. An den Meisenzügen nehmen sie einen gewissen Antheil, indem sie ihnen in der Tiefe, an Hecken und Büsche sich haltend, eine Zeit lang folgen, dann aber hinter den Weitereilenden zurückbleiben. Auch im Herbste suchen sie gerne die Gesellschaft beerenfressender Vögel, aber doch immer nur so, daß sie in sehr losem Verband mit ihnen stehen.
Der Zaunkönig bleibt uns auch im Winter treu, und erfreut uns durch seine Beweglichkeit und Heiterkeit, die ihn nicht verlassen trotz aller Ungunst der Witterung.
Auch die Goldhähnchen sind Zwerge, denn ihre Größe stimmt mit der des Zaunkönigs überein. Auch sie sind schlanke niedliche Geschöpfchen, welche von der Natur mit der Unruhe und Flinkheit der Meisen ausgestattet sind, bald oben, bald unten auf den Bäumen alles durchsuchen und in Stellungen jeglicher Art sich sehen lassen. Das Nadelholz wird immer von ihnen bevorzugt, hauptsächlich die Fichte. Selbst in Gärten ober Parkanlagen nistet das Goldhähnchen, wenn ihm ein Fichtenwäldchen oder auch nur einzelne Fichtenbäume sich bieten. Man kennt zwei Arten, die sich äußerlich durch die Färbung unterscheiden.
Das „safranköpfige Goldhähnchen“ hat eine zeisiggrüne Oberseite, olivenbräunlich-weiße Schläfen und Halsseiten, hellere Augenbrauenstreifen und eine ebenfalls etwas heller gefärbte Stirne. Inmitten des Scheitels läuft ein safrangelber, nach den Seiten ins Hochgelbe übergehender und endlich schmal schwarz eingefaßter Streifen. Auf den Flügeln treten zwei helle Binden hervor.
Das „feuerköpfige Goldhähnchen“ trägt oberseitig ein dunkleres und lebhafteres Grün, ist an den Halsseiten orangegelb, an der Stirn rostbraun, hat einen schwärzlich-grauen Augenrand sowie einen gleichfarbigen Strich durch das Auge und unter demselben. Der feuerrothe Scheitelstreifen, welcher auf beiden Seiten in Feuergelb übergeht, wird von dem Vögelchen in der Erregung gelüftet und bietet dann in seiner Entfaltung und Verbreiterung einen entzückenden Anblick. Beide Arten unterscheiden sich auch noch insofern, als die erste im Winter bei uns bleibt, die zweite nicht.
Während der Minnezeit leben die Goldhähnchen abgeschlossen zu Paaren. Betritt man im Frühling ein Fichtenwäldchen, worin sie herbergen, so vernimmt man die feinen Locktöne und vor allem die trillerartige Gesangsstrophe des feuerköpfigen Hähnchens. Die Vögelchen geben sich voll und ganz dem Genuß der heiteren Sonnentage hin und umtrippeln mit gesträubten Kopffedern, hängenden Flügeln und hochaufgerichtetem Oberkörper die Gefährtinnen. Oefters entsteht auch Eifersucht, Zank und Streit unter den verliebten Hähnchen, welche sich begegnen. Ihre Bewegungen sind immer gewandt, flink, anmuthig. Allerliebst sieht es aus, wenn ein Vögelchen einem Insekt bis in die Tiefe, ja bis auf den Boden nacheilt, um es zu ergreifen, oder wenn es in der Luft vor dem Zweige flatternd stehen bleibt. Geschickt wissen die Zwerge sich im Gezweig zu decken oder unter dasselbe zu flüchten. Unaufhörlich, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, sind sie thätig im Erspähen und Vertilgen der Nahrung, die in Mücken, Fliegen, Käferchen, glatten Räupchen, Spinnen, sowie in Kerbthiereiern und -Puppen besteht. Tannen-, Fichten- und Kiefernsamen verschmähen sie jedoch auch nicht; wenn diese Samen im Winter das safranköpfige Goldhähnchen nicht ernährten, so würde es sicherlich ein Opfer der strengen Jahreszeit werden.
Auch diese Zwerge sind wie die Zaunkönige geschickte Baumeister, ihre Nester sind so kunstvoll gebildet, daß wir an ihnen nicht vorübergehen dürfen.
In der Regel bringt das Goldhähnchen das Nest an dem Zweig eines Nadelbaumes, zuweilen jedoch auch an dem einer Esche an. Dabei verfährt das Weibchen, welches die Bauarbeit allein übernimmt, sehr vorsorglich, indem es zur Deckung der Wohnung überhängende Zweige benützt. Um den Anfang zu dem Hängeneste zu machen, zieht es einige benachbarte Zweige zusammen und umschlingt sie mit Moos und Raupengespinsten. Nun begiebt es sich an die dicken Aeste und Stämme der Bäume, um das Baummoos loszuzerren, oder es läßt sich auf dem sonst streng gemiedenen Boden nieder, um sich Erdmoos anzueignen, oder es verschmäht beiderlei Moos und wählt nur Flechten von den Bäumen aus, um sie zu einem ballförmigen Neste zu verwirken. Um die Stoffe miteinander zu einem festen Gefüge zu verbinden, wendet die Künstlerin wiederum Gespinste von Raupen und Spinnen in Menge an, außerdem aber den zu dieser Zeit reichlich vorhandenen Speichel seiner angeschwollenen Drüsen. Blätter und dürre Grasstengel findet man häufig unter das Moos [666] gemengt. Der Nestrand erscheint stark nach innen gewölbt und läßt der Oeffnung nur eine Weite von etwas über 2 cm Durchmesser. Die Breite des ganzen Nestes beträgt ungefähr zwischen 9 und 10 cm, die Höhe 7 bis 8 cm, die Dicke der Wand über 2 cm, wovon etwa die Hälfte auf ein Polster aus Rehhaaren, kleinen Vogelfedern und dem Flaum junger Raubvögel entfällt. In Haus- und Feldgärten fanden wir auch Pferdehaare im Innern von Goldhähnchennestern, und einmal machten wir die merkwürdige Entdeckung, daß ein junges Goldhähnchen sich mit den Halse in die Pferdehaare verwickelt hatte und so eines elenden Todes durch Erdrosseln gestorben war.
Zweimal im Sommer nisten die niedlichen Thierchen, und das Weibchen legt das erste Mal 8 bis 10, das zweite Mal 6 bis 8 Eierchen, die bei gelblich-grauweißem oder hell fleischfarbenem Grundton lehmgrau punktiert sind, und zwar namentlich reich am stumpfen Ende.
Von der sorgfältigen Pflege, welche den Jungen im Neste zu theil wird, und von der Emsigkeit, mit der die Nahrung von den Alten herbeigeschafft wird, erhält nur der genaue Beobachter einen wahren Begriff. Unermüdlich geht der Flug der Eltern in Pausen von wenigen Minuten ab und zu, wobei Vater und Mutter gewöhnlich miteinander abwechseln. Kehrt das Männchen oder Weibchen mit Futter beladen zurück, so sucht es erst Deckung durch Aeste und Zweige, um den Platz des Familienheiligthums nicht zu verrathen. Und immer sind die Pfleger darauf bedacht, mehrere Insekten in ihren Schnäbelchen anzusammeln, ehe sie den Jungen das Futter zutragen. Haben sie eine ergiebige Quelle von Kerbthiereiern entdeckt, so picken sie wohl hundertmal, bis sie mit der Ausbeute sich zufrieden geben und an die Ablieferung denken. So betreiben sie das Geschäft der Fürsorge für ihre Nestjungen in treuer Hingebung, und sie setzen es nicht minder emsig fort, wenn die niedlichen Geschöpfe ausgeflogen sind und in der ersten Zeit noch abends an ihre Geburtsstätte zum Uebernachten zurückkehren. Ja dann verdoppelt sich der Eltern Eifer; denn sie haben ja nun auch noch auf Schutz und Anleitung der unerfahrenen Jugend zu denken.
Nach der zweiten Brut mischen sich die vereinigten Familienglieder in kleineren Gruppen unter die umherziehenden Meisen. In der Regel kommen sie hinterdrein gezogen, ihre Ankunft mit feinem „Sississi“ verkündend; wohl wären sie geneigt, an einem Plätzchen etwas länger zu verweilen, aber der Trieb des Umherschweifens, welcher ihre unruhige Gesellschaft beherrscht, ergreift auch sie und reißt sie mit fort.
Rudolf von Gottschall. (Mit Bildniß S. 637.) Ein Dichter und Schriftsteller von seltener Vielseitigkeit feiert am 30. September d. J. seinen siebzigsten Geburtstag, ein Mann, den eine bewegte Zeit frühe zu litterarischem Ruhme emportrug und dem dann die schwere Aufgabe zufiel, diesen Ruhm ein langes Leben hindurch zu wahren: Rudolf von Gottschall. Und man darf sagen: die Lösung jener schweren Aufgabe ist ihm gelungen. Heute noch, da fünfzig Jahre vorüber sind, seit ein freiheitsdurstiges Volk seinen „Liedern der Gegenwart“ und seinen „Censurflüchtlingen“ mit Begeisterung zujubelte, heute noch weiß er in seinen Liedern und Gesängen Töne anzuschlagen, die ihren Widerhall finden in dem Herzen der Nation; der Dramatiker Gottschall hat die deutsche Bühne mit werthvollen Dichtungen bereichert – wir erinnern nur an seine „Katharina Howard“ und an sein Lustspiel „Pitt und Fox“; Gottschall als Erzähler hat mit manchem guten Roman einen weiten Leserkreis erfreut; als Kritiker wie als Geschichtschreiber der Litteraturperiode, die er selbst erlebt, ist er vielen zum geistigen Führer geworden. Stets hat es auch die „Gartenlaube“ sich zur Ehre gerechnet, wenn sie seiner klangvollen Stimme zum Sprachrohr dienen durfte, und viele seiner reifsten Gedichte sind in diesen Blättern erschienen, für die er auch sonst manchen gediegenen Beitrag geliefert hat. Wir dürfen es uns hier versagen, den Gang seines ereignißreichen Lebens im einzelnen zu verfolgen, da die berufene Feder des mit Gottschall nahe befreundeten Feodor von Wehl sein Werden und Wachsen im Jahrgang 1867 der „Gartenlaube“ eingehend dargestellt hat. Auch ist von Moritz Brasch ein Schriftchen im Buchhandel erschienen (Leipzig, Oskar Gottwald), welches über die äußeren Schicksale und über das litterarische Schaffen des Jubilars erschöpfende Auskunft giebt. Unter denen aber, welche Rudolfs von Gottschall an solch bedeutsamem Tage mit dem Ausdruck ihrer Verehrung und Hochschätzung nahen und ihm für den Rest seines reichen Lebens die besten Segenswünsche darbringen, darf und möchte die „Gartenlaube“ nicht fehlen.
Sonderbare Wirkungen des Sturmes. Zu den überraschendsten Wirkungen der Wirbelstürme gehören die wohlverbürgten Thatsachen, daß man nach ihrem Aufhören Vögel fand, die aller Federn beraubt, und Menschen, denen alle Kleider vom Leibe gerissen waren. Auf die Gewalt des Windes konnten diese Erscheinungen nicht zurückgeführt werden, da ja Vögel und Menschen in solchen Fällen als Gesammtmasse vom Winde hätten fortbewegt werden müssen.
Eine Fülle ähnlicher Vorkommnisse wurde bei den Tornados beobachtet, die vor drei Jahren in Frankreich wütheten und über die nach und nach ausführliche Berichte gesammelt und gesichtet wurden. Danach wurden auf der ganzen betroffenen Strecke Bäume zerrissen, [667] und zwar in einer Art, welche nicht der Wirkung des Windes zugeschrieben werden kann. Die zerstörten Bäume lassen sich auf drei Grundformen zurückführen: 1) Eichen, die in einer Länge von 7 bis 8 m von oben nach unten entzwei gespalten wurden, 2) Pappeln und Buchen, die in einer Länge von 1,5 bis 3,5 m in geradlinige regelmäßige Ruthen von gleicher Dicke zerstückelt wurden. Eine Buche von 0,4 m Durchmesser wurde z. B. in mehr als 500 Ruthen zerfetzt, die 1 cm dick, 2 cm breit und 3,5 cm lang waren. 3) Fichten und andere Harzbäume, deren Stämme quer durchgeschnitten waren, mit fast ebener Bruchfläche.
Diese Erscheinungen sowie viele ähnliche lassen sich nur als Wirkung der Elektricität verstehen: denn wie anders soll man sich z. B. den Fall erklären, daß von zwei frei und dicht nebeneinander stehenden Fässern das eine gefüllte vollständig vernichtet wurde (explodierte), während das andere leere unbeschädigt stehen blieb?
In der Zeitschrift „Das Wetter“ wird über eine ganze Reihe ähnlicher Vorgänge berichtet, die sich auch auf die bei jenen Tornados beobachteten Kugelblitzerscheinungen beziehen. Ein Bauer wird mit seinem Vieh auf dem Weg nach Hause vom Orkan überrascht und sieht eine Feuerkugel, die mit rasender Geschwindigkeit herabstürzt. Von Schreck ergriffen, wirft er sich sofort zur Erde. Die leuchtende Kugel schlägt auf den Boden, zerspringt mit einem Krach und bedeckt den Mann mit Staub. – In Saint-Claude haben viele Personen, welche beim Ausbruch des Orkans gegen den Winddruck kämpften, um ihre Fenster zu schließen, Feuerkugeln von der Größe einer Billardkugel wahrgenommen, die in der Drehungsrichtung des Wirbelwindes mit Gewalt fortgerissen wurden. Eine große Zahl anderer hat durch die Schornsteine oder Ofenthüren in ihre Wohnungen Feuerkugeln eindringen sehen, welche sich langsam in den Zimmern fortbewegten und einen leuchtenden, leicht in Spiralen gewundenen Streifen hinterließen. Zu Reinon bemerkte eine Frau, als sie ihre auf der nahen Wiese weidenden Kühe holen wollte, wie plötzlich violette Flammen aus dem Boden hervorbrachen und sie rings umgaben; sie waren so hoch, daß die Frau aus Furcht, ihre Augen könnten Schaden leiden, das Gesicht mit ihrem Taschentuch bedeckte. Einen Augenblick später stürzte der Wind alles um. Ein Pächter und seine Knechte erkannten deutlich, wie die Blitze vor dem Hereinbrechen des Sturms über den Boden strichen. Es war, als ob alles im Feuer aufgelöst sei, dabei roch es nach Pulverdampf.
Menschenleben sind diesen sonderbaren Blitzformen, soweit die Erkundigungen reichen, nicht zum Opfer gefallen.
Alle diese Thatsachen lassen die Annahme berechtigt erscheinen, daß die Electricität keineswegs nur eine Begleiterscheinung der Wirbelstürme, sondern weit eher eine ihrer Ursachen sei. *
Vom Gifte unserer einheimischen Lurche. Ueber die Giftigkeit unserer einheimischen Lurche, namentlich der Kröten und Salamander, hört man im Volke so verschiedene Ansichten und liest auch in sonst guten naturgeschichtlichen Büchern so ungenaue Berichte, daß es angezeigt erscheint, auf Grund sachverständiger Prüfung eine zutreffende Erklärung zu geben, um so mehr, als wir oft genug mit diesen Thieren in Berührung kommen und viele derselben zur Unterhaltung und Belehrung von jung und alt in Aquarien und Terrarien halten. Zu einer zuverlässigen und aufklärenden Darstellung sind wir durch das Erscheinen eines ausgezeichneten Fachwerkes über Vergiftungen veranlaßt worden. Es ist dies das „Lehrbuch der Intoxikationen“ von Dr. Rudolf Kobert, dem berühmten Professor der Pharmakologie an der Universität Dorpat, ein Buch, in welchem auch den hier ins Auge gefaßten Thiergiften eine lichtvolle Würdigung zu theil geworden ist.
Zuvörderst wollen wir unsere Aufmerksamkeit dem Feuersalamander zuwenden. Es ist bekannt, daß ein gereizter oder sterbender Feuersalamander Fische im Aquarium töten kann, indem er durch seinen Schleim das Wasser vergiftet. Schon im Jahre 1866 gelang es Zalesky unter Leitung von Hoppe-Seyler, aus den Drüsen in der Haut des Salamanders ein Gift rein darzustellen, das er „Samandrin“ nannte; andere Forscher haben es später „Salamandrin“ bezeichnet. Es verursacht, wenn es in den Magen kommt, heftiges Erbrechen, und 2 Milligramm, unter die Haut gebracht, genügen, einen Hund zu töten. Auf die bloße Haut übt es eine reizende Wirkung und kann namentlich auf Schleimhäuten heftige Entzündungen hervorrufen.
Auch der Wassermolch oder Wassersalamander (Triton cristatus) scheidet durch die Haut ein Gift aus, das, ins Blut gebracht, Thiere unter Lähmungserscheinungen tötet. Es ist weniger wirksam als das des Feuersalamanders, seine örtliche Wirkung aber nicht unbedeutend. So berichtet Vulpian, wie ihm eines Morgens ein kleiner Tropfen davon in das eine Nasenloch und ein anderer in ein Auge gelangte. Sofort erfolgte heftiger Schmerz an dem sich röthenden Auge, und bald schwoll dasselbe so an, daß es nicht mehr geöffnet werden konnte. Zugleich trat ein unerträgliches Kitzeln in der Nase ein, welches unaufhörliches Niesen zur Folge hatte. Kaltes Wasser wirkte auf die Entzündungserscheinungen lindernd, aber der Schmerz hielt elf Stunden an.
Zu bemerken ist noch, daß Larven des Feuersalamanders und Wassermolches kein Gift besitzen; sie werden darum auch von anderen Thieren verzehrt, während erwachsene Salamander von den meisten verschont werden.
Wenden wir uns den Froschlurchen zu, so gelten unter ihnen die Kröten und Krötenfrösche beim Volke als giftig – und mit Recht. Sie besitzen in der Haut zahlreiche Giftdrüsen, welche dieselbe warzenartig gerunzelt erscheinen lassen und namentlich in der Schläfengegend Wülste bilden. Aus diesen Drüsen spritzen sie einen unangenehmen Schleim aus, sobald sie von einem Gegner berührt werden. So gewappnet sind die gemeine Kröte, die Kreuzkröte, die grüne italienische Kröte, die Knoblauchkröte, die Unke u. a. In dem Hautschleime dieser Thiere fand man verschiedene Giftstoffe. Calmel wies in ihnen Methylcarbylamin und Methylcarbylaminsäure nach, zwei Stoffe, die noch wenig untersucht sind, aber, ins Blut gebracht, das Nervensystem höherer Thiere blitzartig zu lähmen vermögen. Sie bedingen auch den eigenartigen Geruch der Kröten. Außerdem ist im Krötenschleim noch ein Stoff enthalten, der bei äußerer Berührung auf die Haut reizend wirkt und darum vornehmlich unsere Beachtung verdient. Professor Kobert schreibt darüber: „Ich habe an diese Wirkung erst glauben gelernt, als ich eine Spur der Substanz in den Mund bekam und stundenlang das Brennen der gerötheten und geschwollenen Schleimhaut ertragen mußte.“ Eine Frau, welche mit der Feuerzange eine ins Zimmer gekommene italienische Kröte fassen wollte, bekam dabei ein Tröpfchen ins Auge, was fast unmittelbar die heftigsten Schmerzen sowie die Entwicklung einer schweren Augenentzündung zur Folge hatte. Dieser Stoff heißt „Phrynin“.
Wenn man jedoch unsere Kröten nicht unnöthig angreift, so sind sie völlig unschädlich, und da sie sonst der Landwirthschaft durch Vertilgung von Insekten nützen, sollte man sie in Ruhe lassen.
Der französische Physiologe Paul Bert hat auch durch Reizung gewöhnlicher Frösche aus deren Haut einen giftigen Schleim gewonnen durch den er Sperlinge und Frösche getötet haben will. Die Richtigkeit dieser Versuche wird bezweifelt, doch können wir soviel aus eigener Erfahrung bestätigen, daß auch der Schleim dieser Thiere und selbst der des Laubfrosches einige Schärfe besitzt und auf die Schleimhaut des Auges gebracht, eine leichte Entzündung hervorrufen kann.
Das Lurchgift wird unter gewöhnlichen Umständen, wie sie das Leben mit sich bringt, schwerlich in das Blut eines Menschen gelangen können. Nach dieser Richtung hin brauchen wir es also nicht zu fürchten. Wohl aber müssen wir seine reizenden Eigenschaften beachten und namentlich zu verhüten suchen, daß es in unser Auge gelangt. Dies merke sich die unternehmende Jugend, welche allerlei solches Gethier fängt und in Terrarien sperrt! *
Gegen den Mißbrauch des freien Handgepäcks, der in den letzten Jahren besonders bei den großen Schnellzügen eine wahrhaft ungeheuere Ausdehnung angenommen hatte, ist in letzter Zeit die Münchener Bahnhofsverwaltung energisch eingeschritten und verdient sich damit den Dank aller, die, mit bescheidenem Handgepäck reisend, bisher der Belästigung durch rücksichtslose Coupénachbarn ausgesetzt waren. Man muß die überfüllten Gepäcknetze des Zuges Kufstein-Ala gesehen haben, die ohne weiteres auf den Sitzen untergebrachten Handkoffer und Plaidrollen, oft drei bis vier Stücke einer einzige Person gehörend, man muß Zeuge der höchst widerwärtigen Auseinandersetzungen darüber gewesen sein – um die Münchener Neuerung freudig zu begrüßen, wonach sich am Wartesaalausgang Aufsichtsbeamte befinden und niemand mehr als zehn Kilo Gewicht mit in den Waggon nehmen lassen. Aber – ein Wunsch knüpft sich von selbst daran. Das Passagiergepäck ist auf deutschen Bahnen unverhältnißmäßig theuer, daher es sich so vielfach in Handgepäck zu verwandeln sucht. Könnte nicht, nach amerikanischem Beispiel, ein Packwagen dem Schnellzug eingefügt werden, in dem alle die kleinen Stücke: Kofferchen, Plaids, Schachteln gegen einfache Abgabe von Marken und gegen eine geringe einheitliche Taxe untergebracht würden? Das wäre eine große Wohlthat für das Publikum und entspräche doch auch der Billigkeit, die anderwärts [668] eine gewisse Anzahl von Kilo als Freigepäck zugesteht. Es wäre sehr zu wünschen, daß diese schon mehrfach aufgeworfene Frage doch endlich von seiten der Bahnverwaltungen eine günstige Beantwortung fände!
Der Wildschütz. (Zu dem Bilde S. 653.) Wer Julius Wolffs „Wilden Jäger“ gelesen hat, der kennt die hier wiedergegebene grause Scene. Der Köhler Volrat hat im Gebiet des wilden, gottlosen Grafen Hakelberend heimlich den Hirsch erlegt, nach dem jener schon wiederholt gejagt hat, und wird dabei vom Grafen betroffen. Sinnlos vor Wuth gebietet Hakelberend nun, den Wildschützen auf den Rücken eines anderen, im Schloßgraben gehegten Hirsches zu binden und diesen davon zu hetzen. Es geschieht nach seinem Befehl, aber ein Freund des zum gräßlichen Tode Verdammten, der Jäger Ludolf versteckt sich an einer Stelle, wo der Hirsch vorüber muß:
„ . . . Da kommt’s gebraust,
Der Jäger fühlt’s vorüber stürmen
Mehr, als er’s sieht, er schießt – da saust
Vorbei der Hirsch und ach! verloren
Fern tönt das Rauschen ihm zu Ohren.
Da horch! – auf einmal alles still.
‚Getroffen!‘ jubelt er, ‚gerettet!‘
Und springt hinan und fliegt und schwebt,
Im grünen Gras, und Volrat lebt!“ –
... Aber er erhebt sich nur zum furchtbaren Racheschwur gegen den
Grafen, der nach Zerstörung seiner Burg und nach einem ruchlos unseligen Ende dann
als „Wilder Jäger“ in alle Ewigkeit durch die Lüfte fahren muß. Bn.
Ein Lehrer der arabischen Sprache. Heinrich Brugsch, „Brugsch-Pascha“, erzählt in den Mittheilungen aus seinem „Leben und Wandern“ von einem sehr merkwürdigen Mann, der ihm in Kairo die Anfangsgründe des Arabischen beibrachte. Ein hochstehender Eingeborener, ein sogenannter Schach, war ihm empfohlen worden. Der Mann hatte sich große Verdienste von mancherlei Art erworben, die aber mit seiner Lehrtätigkeit nicht im Zusammenhang standen. So hatte er 16 Glaslampen aufgefressen, ohne an seinem Leibe Schaden zu nehmen, und im Laufe der Zeit siebzig Frauen geheirathet, ohne irgend welche Nachkommenschaft zu besitzen. Als er sein Lehramt bei Heinrich Brugsch antrat, war er eben im Begriff, eine achtzehnjährige Jungfrau zu heirathen; es war dies seine 71. Ehe. Schach Achmed war ein Sechziger, auf dem einen Auge blind, auf dem andern nur halbsehend, geschwätzig wie eine Drossel, lächerlich in seiner Erscheinung, in seinem ganzen Gebahren. Wenn er erschien, blieb er zuerst an der geöffneten Thür stehen; aufgefordert, näher zu treten, schleuderte er die gelben Pantoffeln von sich, setzte sich auf den Diwan mit untergeschlagenen Beinen nieder und begann, nachdem man ihm Kaffee und die Pfeife gereicht, eine arabische Unterhaltung, die er meistens so zu leiten wußte, daß einige Piaster aus der Hand von Brugsch in die seine wanderten, aus der sie indes nicht wieder zurückkehrten; denn die das Gespräch begleitende Pantomimik fand damit ihren Abschluß. Eines Tags diktierte er seinem Schüler einen arabischen Brief in die Feder, führte sodann das beschriebene Blatt dicht vor sein halbsehendes Auge und fand keinen einzigen Fehler in der Niederschrift. Brugsch war sich indes bewußt, einige Wörter nur nach dem Gehör und irrthümlich niedergeschrieben zu haben. Er wollte Achmeds Aufmerksamkeit auf dieselben lenken, entdeckte aber zu seinem Erstaunen, daß der Lehrer das Blatt verkehrt ans Auge hielt.
„Ich glaube, o Schach,“ rief er da aus, „Du kannst nicht einmal lesen!“
„Du bist im Recht, o mein Sohn,“ antwortete dieser, „ich kann weder schreiben noch lesen; doch Gott der Allerbarmer wird mir weiter helfen.“
Natürlich wurde dem gelehrten Mann seine Lehrerstellung gekündigt. †
Der Dom von Ratzeburg. (Mit Abbildung.) Eines der schönsten Denkmale der spätromanischen Architektur in Deutschland ist am 19. August d. J. theilweise ein Raub der Flammen geworden. Es ist der ehrwürdige Dom in dem alten Bischofssitze Ratzeburg, auf großherzoglich mecklenburg-strelitz’schem Grund und Boden gelegen, während das Städtchen Ratzeburg zum Herzogthum Lauenburg gehört. Die stattliche dreischiffige Pfeilerbasilika wurde im zwölften Jahrhundert, angeblich von Heinrich dem Löwen, gegründet und war erst vor wenigen Jahren theilweise einer Erneuerung unterzogen worden. Am Nachmittag des genannten Tages schlug der Blitz in den kleinen Thurm, und gleich darauf stand das Dach der Kirche und der große Thurm in Flammen; die mit aller Kraft angestellten Löschversuche hatten nur wenig Erfolg, der ganze Dachstuhl wurde vernichtet und der große Thurm brannte bis auf das Mauerwerk aus. Zum Glück war das Gewölbe der Kirche stark genug, um den niederstürzenden Gluthmassen zu widerstehen, so daß das Innere mit seinen reichen Kunst- und Alterthumsschätzen sowie die Orgel nur wenig gelitten haben. Die kleineren Glocken sind geschmolzen, die große, etwa 4100 Kilogramm schwere Glocke zerbarst, stürzte herunter und durchschlug das Gewölbe über der Orgel, ohne jedoch weiteren Schaden anzurichten. Unsere Illustration veranschaulicht das Bild, welches das ehrwürdige Bauwerk vor und nach dem Brande darbot; hoffen wir, daß es gelinge, die zerstörten Theile rasch wieder aufzubauen, damit dem schönen Denkmal der Kunst unserer Ahnen kein weiterer Nachtheil erwachse!
Der Gartenlaube-Kalender für das Jahr 1894. Er ist erschienen, der vielerfahrene und unterhaltsame Geselle, der uns den Weg durch das kommende Jahr zeigen, seine Räthsel uns deuten und seine Stunden uns kürzen will. Zwar hat er äußerlich ein etwas anderes Röcklein angezogen, aber wer ihn aufschlägt, der findet daß er im wesentlichen die alten erprobten Bahnen wandelt. Der Leser findet sein Kalendariun und seine Bauernregeln, seine Fürstengenealogien, Post- und Telegraphentarife, seine Witze und Schwänke in Wort und Bild, seine Chronik der Ereignisse aus dem Kreise des vergangenen und des laufenden Jahres, seine lustigen und ernsthaften Bilder, wie er es seit dem Bestehen des Gartenlaube-Kalenders so angenehm gewohnt ist. Er findet insbesondere die ihm von der „Gartenlaube“ selbst her wohl vertrauten Erzählernamen, so auch diesmal wieder W. Heimburg, die eine Fortsetzung ihres reizenden Geschichtencyklus „Aus meinen vier Pfählen“ beigesteuert hat unter dem Titel „Das Raupenhäuschen“, und den unverwüstlichen Humoristen „Hans Arnold“, der diesmal das dankbare Feld des „Waschtags“ sich zum Tummelplatz seiner köstlichen Laune erkoren hat. Auch ein neues Talent führt sich ein, Hermann Weger, mit einer hübschen Geschichte, die den Titel „Sternschnuppenzauber“ trägt. Kurz, der Gartenlaube-Kalender für das Jahr 1894 kann sich überall mit Ehren sehen lassen und wird, wo er hinkommt, sich Freunde erwerben. Möge das Jahr, unter dessen Zahl er dahinsegelt, ein gesegnetes sein für ihn und – für uns alle!.
Kleiner Briefkasten.
J. B. K. in Tapiau. Ueber ein Vierteltausend Bände umfaßt zur Zeit Engelhorns allgemeine Romanbibliothek: sie berücksichtigt auch die fremden Litteraturen in guten Uebersetzungen und dürfte daher dem, was Sie wünschen, entsprechen.
O. M. in Fr. Ob es wohl rathsam und aussichtsvoll ist, ein Heirathsgesuch in die Zeitung zu setzen? Das ist eine schwierige Frage, zu deren Beantwortung uns die persönliche Erfahrung fehlt. Wenn es unbedingt sein muß – wir glauben nicht an diese Nothwendigkeit – dann mag es wenigstens in eigenartiger Fassung geschehen. Wir legen Ihnen hier aus dem in Osaka erscheinenden Blatt „Mainichi Shimbnu“ ein japanisches Muster vor, welches uns neulich zu Gesicht kam und an Bestimmtheit und Originalität nichts zu wünschen übrig läßt. „Gesucht eine Frau! Wenn sie hübsch ist, braucht sie nicht klug zu sein. Wenn sie reich ist, braucht sie nicht hübsch zu sein. Wenn sie klug ist, braucht sie nicht vollendeter Gestalt zu sein, in jedem Fall aber darf sie nicht eingenommen von sich selbst sein. Sie muß ungefähr 20 Jahre alt sein, etwas darüber oder darunter. Der Antragsteller ist ein Künstler in Osaka, welcher den mittleren Ständen angehört. Näheres theilt der ‚Mainichi Shimbnu‘ auf persönliche Anfrage mit.“ Meinen Sie nicht, daß dieses Gesuch mit geringen Aenderungen auch für Sie brauchbar wäre? Besonders die zwei ersten Sätze zeigen doch eine merkwürdige Uebereinstimmung zwischen japanischer und europäischer Anschauung!
Inhalt: [ Verzeichnis der Beiträge in Heft 39/1893. ]
- ↑ Vergl. „Die Gartenlaube“ 1893, Nr. 25.