Die Gartenlaube (1893)/Heft 38
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Nr. 38. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
„Um meinetwillen!“
(5. Fortsetzung.)
Professor Gregory, obgleich weit davon entfernt, eingebildet zu sein, war bisher im ganzen mit sich zufrieden gewesen. Er beobachtete gern und nicht ohne Geschick, er sah, wie zahllose Menschen, die es ganz gut hätten haben können, sich ihr Dasein vergällten durch kleinliche Eitelkeit, übergroße Empfindlichkeit, Ehrgeiz und Neid, ganz zu schweigen von anderen großen Leidenschaften, die aus den vernünftigsten Leuten oft lächerliche oder bedauernswerthe Narren machten; er sah, wie die Menschen sich aus diesen oder jenen Gründen, die tief in ihrem Charakter wurzelten, Gesundheit und Karriere, Lebensfreude und Behagen zerstörten, wie sie oft kaum anders konnten, als dies thun, weil ihr Dämon, ihr Verhängniß, eine Macht in ihnen, die stärker war als ihr Wille, sie vorwärts trieb – und Paul Gregory hatte selten ein verdammendes Wort für solche, seine Bekannten meinten sogar, er urtheile zu mild und finde für alles eine Entschuldigung. Der Professor pflegte dann mit den Achseln zu zucken und zu sagen: Homo sum! Nichts menschliches acht’ ich mir fremd! Wenn ich selbst gewissen Versuchungen nicht unterliege, so kommt das eben daher, weil es für mich keine Versuchungen sind – die Steine, über die andere zu Fall kommen, kann ich mit Seelenruhe umgehen, ich habe kein heißes Blut, keine brausenden Leidenschaften, kein zügelloses Temperament. Dinge, von denen mir meine Vernunft sagt, daß sie mir versagt seien, strebe ich nicht an – es giebt aber Menschen, denen gerade die verbotene Frucht, das unerreichbare Ziel eine Lockung ist. Sie thun mir leid, aber verdammen kann ich sie darum nicht, es liegt ihnen im Blut. Ich habe körperlich und geistig normale, verständig denkende Eltern gehabt, und ich bin ihnen für das Erbtheil, das sie mir an Veranlagung und Gesinnung hinterlassen haben, noch dankbarer als für das kleine Vermögen, das sie für mich sammelten. Himmelstürmende Genies und große Talente werden aus solchen Naturen, wie ich eine bin, nicht hervorgehen, aber es ist immerhin etwas werth, ein anständiges Mittelmaß zu erreichen, vielleicht noch etwas darüber hinauszuwachsen – und diejenigen, die ganz oben sind, neidlos bewundern, Gott sei Dank, das kann ich!“
Diese Philosophie, verbunden mit einem ehrlichen Respekt vor der Wissenschaft und einer nicht gewöhnlichen Kraft und Freudigkeit zur Arbeit, hatte dem Professor bis jetzt sehr gute Dienste gethan und ihm glatt durchs Leben geholfen. Mit unklaren Gefühlen hatte er sich nie abgegeben, er sah in seinen inneren Menschen hinein wie in ein offenes Buch, das überall mit einer leserlichen Schrift versehen war. Wenn er jetzt auf einmal an dunkle Stellen kam – sollte er darüber nicht verblüfft sein?
Irgend etwas stimmte da nicht, irgend etwas war aus dem Gleichgewicht gekommen! Seit wann? Wodurch? Er wußte es nicht
[630] zu sagen. Zunächst empfand er es mit Unbehagen, daß er nicht mehr so ruhig unb stetig bei seiner Arbeit sitzen konnte wie sonst. Es war doch keine Arbeit, die eine blühende Phantasie, einen schwungpollen Stil erforderte – sie verlangte nur Sammlung. Aber diese eben hatte er nicht. Das unbedeutendste äußere Ereigniß vermochte ihn jetzt abzulenken, ihn, von dem seine Wirthin sonst behauptete, es könnte im Hause brennen, ohne daß er sich von seinem Schreibtisch rühren würde. Wenn es an der Hausglocke läutete, fuhr rr auf und lauschte hinaus, ob jemand käme, ob er einen Brief, eine Botschaft erhalten würde, und er zürnte der Störung schon im voraus, um, wenn es keine war, sich selbst zu zürnen, daß er sich hatte stören lassen. Kam Militärmusik durch seine Straße, so stand er auf und sah zum Fenster hinaus, um festzustellen, welches Regiment es sei, das da vorbeiziehe, und setzte er sich wieder zum Studium hin, so war der Faden abgerissen unb ließ sich entweder schwer oder gar nicht wiederfinden. Kurz, der Professor kam aus dem Verwundern und Kopfschütteln über sich selbst nicht mehr heraus. Er hatte sich bei seinen Arbeiten selbst das Gesetz aufgegeben, bis zu dem und dem Punkt müsse er kommen; war das geschehen, dann konnte die Reise nach Litauen, zunächst nach Königsberg, angetreten werden. Es war förmlich, als hätte er sich selbst diese Reise zur Belohnung ausgesetzt: wenn Du hübsch fleißig arbeitest und das und das zur Zeit fertig hast, dann darfst Du nach Königsberg! Wenn Gregory daran dachte, dann mußte er über sich selber lachen. Ein paarmal hatte er sich auch schon gefragt, ob er am Ende verliebt sei, aber dieser Gedanke war ihm so thöricht, so unglaublich erschienen, daß er ihn nicht weiter verfolgt hatte. Freilich war eigentlich kein Grund vorhanden, warum eine solche Thatsache so unglaublich sein sollte, aber der Professor hatte es sich einmal in den Kopf gesetzt, er müsse eine komische Figur spielen, wenn er, in seinen reifen Jahren, sich jetzt noch verliebe . . . und eine komische Figur wollte er nicht spielen, um keinen Preis. Zudem konnte er sich in die Rolle eines verheiratheten Mannes und Hausvaters, wie zum Beispiel sein Freund Gustav Claassen einer war, gar nicht hineindenken. Gustav, ja, bei dem war’s etwas anderes, der hatte sich in jungen Jahren leidenschaftlich verliebt und dann frischweg geheirathet, sobald die Verhältnisse es irgend zuließen. Er, Gregory, war auch in jungen Jahren recht verliebt gewesen und hätte gern geheirathet, aber das Mädchen zog einen anderen Bewerber vor – Paul hatte so lange gezögert, sich offen um sie zu bemühen und trug in seiner zurückhaltenden Weise sein Gefühl so wenig zur Schau, daß das Mädchen sich kurz entschlossen und den anderen genommen hatte. Damals war ihm das sehr nahe gegangen und seine Reisen und Studien waren ihm ungemein gelegen gekommen, um neben allem Dienst der Wissenschaft die Kunst des Vergessens zu üben. Verbittert war er nicht, er hatte auch keinen Haß auf das weibliche Geschlecht geworfen und aus diesem einen Fall kein vernichtendes Urtheil über die Frauen im allgemeinen gewonnen, aber er kam sich ungelenk vor im Verkehr mit jungen Damen, er verstand es nicht, über ein Nichts sich zu unterhalten, Komplimente zu sagen und die Wahrheit zu umgehen – Dinge, die von galanten Herren im gesellschaftlichen Leben sehr oft verlangt werden. Daher zog er sich mehr und mehr zurück, hielt sich überhaupt für vorherbestimmt zum ewigen Junggesellen und Familienonkel. „Ich habe den richtigen Anschluß verpaßt,“ sagte er sich zuweilen, nicht ohne Bedauern.
Daß ihm Annaliese von Guttenberg ausnehmend gefiel, daraus machte er sich kein Hehl. „Ich wäre ja ein hoffnungsloser Narr, wenn mir dies liebreizende Geschöpf Gottes nicht in die Augen stechen würde!“ philosophierte er für sich. „Und sie sticht nicht bloß in die Augen, sie hat auch Geist und Anmuth, sie ist entschieden eine Individualität! Glücklich der Lieutenant, der sie ’mal bekommt! Steinhausen wird’s nicht sein – nun, so ist’s eben ein anderer! Nach meinen Begriffen ist sie aber fürs Militär viel zu eigenartig, zu selbständig, mit einem Wort: zu schade. Aber meine Begriffe haben dabei nichts mitzureden.“ –
Und nun endlich war es Mitte Januar, und nun endlich war die Arbeit auf dem Punkt, auf dem sie sein sollte – Mühe genug hatte es gekostet – und nun endlich konnte der Professor sich „belohnen“ und nach Ostpreußen dampfen, ein Vergnügen, um das ihn gewist wenige beneidet hätten.
Zuvor aber galt es noch, der Tante Excellenz den schuldigen Abschiedsbesuch zu machen, und der liebenswürdige Neffe rüstete sich nicht ungern dazu – hoffentlich würde die alte Dame ihm mancherlei erzählen können, was für ihn nicht ohne Interesse war!
Er fand die Generalin sehr behaglich mit ihrer Kousine, dem Frei- und Stiftsfräulein Kunigunde von Wettersbach. Die beiden Damen saßen tagaus tagein bei wohlthätigen Wollstrickereien, Bézique-Partieen und den schönsten Erinnerungen an eine gemeinsam verlebte Vergangenheit – außerdem prangte das übliche Kartenkränzchen im schönsten Flor, die „Adjutanten“ flogen ein und aus und meldeten sich zum Rapport der Tagesneuigkeiten, die alten und jungen Damen machten der „lieben theueren Excellenz“ um die Wette den Hof, kurz, die Generalin war in zufriedenster Stimmung und schien die Enkelin nicht im geringsten zu vermissen.
Ein paar Offiziere verabschiedeten sich gerade, als Gregory kam, und als sie fort waren, blieb er mit den beiden Damen allein.
„Es ist mir ganz lieb, Paul, daß ich Dich noch ohne Zeugen spreche,“ begann die alte Dame sodann. „Ich hoffe nämlich, Du wirst mir, wenn Du nach Königsberg gehst, brieflich Bericht über Annaliese abstatten.“
„Ich, Tante? Bericht? Thut denn das die junge Dame nicht selbst?“
Die Generalin schüttelte den Kopf. „Sie thut es, aber sie thut es nicht in einer Art, die mir genügt. Sie bewegt sich in allgemeinen Redensarten; das, was mir am Herzen liegt, berührt sie gar nicht.“
„Was liegt Ihnen am Herzen, Tante?“
„Mein Gott, die Rolle, die sie dort spielt, die Offiziersfamilien, mit denen sie verkehrt – sie hat Briefe von hiesigen höheren Militärs an dortige höhere Militärs mitbekommen! Von dem Eindruck, den ihre Malereien dort machen, möchte ich auch etwas wissen – sie besitzt ja ein großartiges Talent, wie ihre Lehrer mich versicherten. Ueber das alles huscht sie so hinweg, spricht von Schlittschuhlaufen, von Kindern – als ob es auf solche Dinge ankäme! – von der Weihnachtsfeier – Gott, mir scheint das alles so kleinbürgerlich, so beschränkt! Mir sind schon Zweifel aufgestiegen, ob ich recht that, das Kind überhaupt nach diesem Königsberg zu schicken. Da Du Dich aber für die Familie dieses Herrn – wie heißt er gleich? – Claassen, ach ja! – verbürgtest –“
„In jeder Hinsicht, Tante!“
„Nun siehst Du – in jeder Hinsicht! Also daher ließ ich es zu und weil es mir auch sonst rathsam schien, die Kleine eine Zeitlang von hier zu entfernen. Uebrigens, Paul, was hat denn damals Deine Unterredung mit Annaliese über Steinhausen zu Tage gefördert? Wahrscheinlich nichts, denn wäre es etwas gewesen, dann hätte ich es doch erfahren müssen.“
Der Professor räusperte sich. „Mir schien die junge Dame fest entschlossen, den Lieutenant von Steinhausen nicht zu heirathen.“
„Aber warum in aller Welt? Warum?“
Gregory zuckte rathlos die Achseln.
„Siehst Du, Kunigunde! Glaub’ mir, sie weiß es selbst nicht – es sind Launen! Und solchen Nichtigkeiten soll ein Mensch wie Steinhausen, soll mein langgehegter Lieblingsplan zum Opfer fallen? Es ist ein zu albernes Kind! Auch diese Briefe jetzt von dorther! Wäre es nicht unerhört, ich müßte denken, sie flunkert mir etwas vor!“
„Beste Tante!“
„Theure Klementine!“
Beide Zuhörer protestierten lebhaft.
„Ich sage nicht: sie thut es, ich sage: es will mir so scheinen! Jedenfalls, Paul, beauftrage ich Dich, sie zu überwachen, sie zu beobachten – mit wem sie Umgang hat, wie sie sich benimmt, ob sie Beifall in den Offiziersfamilien findet, an die sie empfohlen ist –“
„Verehrte Tante – dieser Auftrag – ich fürchte, ich bin so gar nicht die geeignete Persönlichkeit dafür – ich halte mich auch nur vorübergehend in Königsberg auf –“
Die Generalin setzte ihr imposantestes Excellenz-Gesicht auf.
„Paul, ich gestehe, ich muß mich über Dich wundern! Wenn ich, die Tante, Dich, den Neffen – wenn ich, die alte Frau, Dich, den jungen Mann, um etwas ersuche ...“
„Aber selbstverständlich, beste Tante! Ich meinte ja nur, ob meine Persönlichkeit – und meine Zeit –“
„So muß,“ fuhr die Rednerin unbeirrt und strafend fort, [631] „nach meinen Begriffen jeder Einwand hinfällig werden, so hast Du Deine Persönlichkeit den gegebenen Verhältnissen anzupassen und hast die nothwendige Zeit zu beschaffen, um Deinen Auftrag durchzuführen!“
Das hieß diktatorisch gesprochen! Der Professor fühlte sich ganz klein werden angesichts dieser willenskräftigen Dame; er betheuerte seine Bereitwilligkeit und versprach, Annaliese zu überwachen und der Tante brieflich Bericht über sie zu erstatten.
„Nun siehst Du,“ sagte die alte Excellenz in gnädigem Ton, „ich wußte es, Du würdest Vernunft annehmen. Der Sohn meiner guten Kousine Hedwig kann ja kein ungalanter Mensch ohne Einsicht sein! O, mein Lieber, ich habe ganz andere Leute zu ganz anderen Aufträgen herangezogen und es ist mir geglückt! Was ich mir vornehme, das setze ich durch – nicht wahr, Kunigunde, Du kannst das bestätigen?“
„Das kann ich, liebste Klementine – ich wäre imstande, es mit zahlreichen Beispielen zu belegen!“
„Und so habe ich es mir in den Kopf gesetzt, daß das thörichte Kind, meine Enkelin Annaliese, diesen in jeder Hinsicht so vortrefflichen Steinhausen zum Mann bekommen soll, und Ihr werdet es beide sehen, ich bringe es dahin! Mein Plan ist fix und fertig, und daß er gelingt, ist meine Sorge. Annaliese wird Freifrau von Steinhausen, und damit Punktum!“
Diese beruhigende Versicherung im Ohr, nahm Paul Gregory Abschied von seiner gestrengen Tante, nachdem er noch vergebens versucht hatte, etwas Näheres von dem fix und fertigen „Plan“ zu erfahren, um Annaliese, seine heimliche Verbündete, davor zu warnen. Die Excellenz sagte kein Wort davon, sie nickte ihm nur beruhigend zu und versicherte in feierlichem Ton: „Sie bekommt ihn! Verlaß’ Dich felsenfest darauf, sie bekommt ihn!“ – – –
Des Professors Reise war recht langweilig. Die Gegenden, welche die Eisenbahn durchquerte, waren schon in der guten Jahreszeit nicht schön zu nennen, um wieviel weniger jetzt, da das Auge in absehbare Weiten auf Schnee und nur auf Schnee traf – hier grau und zerwühlt von Wagenspuren und Menschentritten, dort fleckenlos, bläulich weiß hingebreitet über das Flachland, endlos, endlos, höchstens einmal von Krähenschwärmen belebt, die hier einen Kongreß zu halten schienen, um plötzlich, mit mißtönendem Krächzen, gegen den bleigrauen Himmel aufzufliegen.
Nach einiger Zeit schüttete es aus den schwerhinziehenden Wolken herab, es schüttete dicht und dichter und wurde ein Flockenwirbel, der wie Rauchwolken niederstob, die Aussicht in einen milchweißen Nebel hüllte, sich an die Fensterscheiben festklebte und in die Fugen klemmte. Die Reisenden wurden unruhig, man fürchtete schon, der Zug werde im Schnee stecken bleiben, aber tapfer bahnte die keuchende Lokomotive sich ihren Weg und schleppte den langen Zug mit, und gegen sechs Uhr abends lief man, freilich mit dreiviertel Stunden Verspätung, in Königsberg ein.
Gregory hatte seine Ankunft nicht gemeldet – wozu den armen geplagten Schulmeister noch mit Abholen und Empfangen stören? Er hatte sich im Gasthof zum „Schweden“ ein Unterkommen bestellt – er kannte das Haus von früher her; und es hatte ihm wohl darin gefallen, Meistens kehrten ostpreußische Gutsbesitzer dort ein, alte Stammgäste, welche immer wiederkamen, die Kellner mit freundschaftlichem Schmunzeln beim Taufnamen anredeten und ihre feststehenden Lieblingsgerichte hatten. Die Zimmer alle solid und behaglich eingerichtet, die Speisen, mit Rücksicht auf das eben erwähnte Stammpublikum, größtentheils aus landesüblichen „Spezialitäten“ bestehend, die Preise mäßig – das Ganze auf einem gemüthlich-patriarchalischen Fuß, der auch einem Mittel- und Süddeutschen gut zusagen konnte.
Im „Schweden“ ließ sich der Professor sogleich auf sein Zimmer führen, in dem der Ofen eine wohlthuende Wärme aushauchte. Die rothen Vorhänge an den Fenstern waren niedergelassen, auf dem runden Sofatisch lagen die Tageszeitungen neben der brennenden Lampe – so wenig vom Gasthof wie nur möglich!
Der Reisende bestellte sich einen „steifen Grog“, kleidete sich um, rauchte und las eine kleine Weile – dann überfiel es ihn wie Unruhe. Der ganze Abend lag noch vor ihm – kaum sieben Uhr – wie, wenn er noch heute zu Freund Claassen ginge? Er freute sich, ja, er freute sich auf das Wiedersehen!
Der Begrüßungshauch, den die Provinzialhauptstadt auf der Straße dem Professor entgegenblies, war allerdiugs nichts weniger als einladend. Ein steifer Südwest trieb die Schneeflockenschwärme durcheinander, daß man kaum einen Schritt vor sich sehen konnte. Gregory schlug den Pelzkragen in die Höhe, der festgefrorene Schnee pfiff und knirschte unter seinen Tritten. Die Menschen eilten wie Schatten an ihm vorüber, die spärlichen Laternen brannten in einem Dunstkreis; hier und da goß elektrisches Licht eine fahlblaue Bahn in den schimmernden Schnee. Lustige Schlittenglocken bimmelten ohne Aufhören; schwerfällig dröhnten die Pferdebahnwagen vorbei.
Gregory hatte nicht weit zu gehen bis zu Claassens Haus; er glaubte den Weg noch im Gedächtniß zu haben, verlor aber im Schneegestöber die Richtung und mußte fragen. Als er die Schloßteichbrücke erreicht hatte, blinzelte er links hinüber, wo die Tannen und bunten Fahnen des Schlittschuhklubs vermuthlich wie einst ihren Stand hatten. Zu sehen war nichts von ihnen, aber Gregory mußte denken, ob Annaliese von Guttenberg wohl hier schon sich mit Eislaufen vergnügt habe – und mit wem . . .
Das Haus in der Burgstraße war hell erleuchtet, die Hausthüre war angelehnt. Anf der Treppe hörte der Ankommende lautes vielstimmiges Kinderlachen, Händeklatschen und Jubeln – jetzt ein Kinderliedchen:
„Wer die Gans gestohlen hat,
Der ist ein Dieb,
Und wer sie mir dann wiedergiebt,
Den hab’ ich lieb!“
Der Kehrreim kam einige Mal wieder: „Den hab’ ich – den hab’ ich – den hab’ ich lieb!“ und dann ein triumphierendes:
„Da steht der Gänsedieb!
Den hat kein Mensch nicht lieb!“
Der Professor horchte lächelnd. Es eilte ihm gar nicht mit dem Eintreten, denn sobald er es that, hatte es doch mit dem Singen und Spielen ein Ende, und das hätte ihm leid gethan – man amüsierte sich ja da drinnen offenbar ausgezeichnet! Es mußte Gesellschaft dasein, denn die vier Kinder seines Freundes, von denen Gretchen noch nicht einmal recht mitzählte, konnten unmöglich einen so vollen Chor abgeben. Freilich waren auch Stimmen herauszumerken, die keinem Kind angehören konnten. Der Lauscher griff in die geräumige Seitentasche seines Pelzes: ja, die große Düte mit Süßigkeiten, die er Gustavs Kindern mitgebracht, war an ihrem Platz. Ein wenig wehmüthig war ihm zu Sinn; konnte er nicht auch eine so gemüthliche eigene Häuslichkeit, so lustig lachende singende Kinder haben wie Gustav? Er lebte ja ganz gut in B., er hatte seine Freiheit und sein Studium, aber wenn er an die Zukunft dachte und das Bild eines alten, einsamen und hilflosen Junggesellen sich vor Augen stellte, so überlief ihn ein unangenehmes Frösteln.
Sie hatten drinnen aufgehört zu singen und bahnten offenbar ein neues Spiel an; man hörte mit großem Geräusch Stühle rücken, durcheinanderrufende Stimmen, bittende Töne, Lärm und Widerspruch, endlich allgemeine Zustimmung auf irgend einen neuen Vorschlag – und nun verhältnißmäßige Ruhe, nur durch halblautes Kichern und unterdrückte Laute unterbrochen. Ewig konnte Paul da draußen nicht stehen, er drückte also sacht den Thürgriff nieder und trat ein.
Dicht vor sich sah er ein schlankes Mädchen in einem schlichten weißen Wollenkleid, die Hände unsicher tastend vor sich hingestreckt, eine weiße Binde über den Augen. Hinter ihr war ein großer Halbkreis von Kindern, ein paar erwachsene Mädchen darunter; eines von ihnen, eine zarte Blondine, duckte sich eben unter den tastenden Händen der Suchenden und wich beim unerwarteten Eintritt des neuen Gastes mit einem leisen Aufschrei zurück.
Es trat eine plötzliche Stille ein.
Die Kinder sahen verdutzt, mit großen Augen, auf den fremden Herrn im Pelz – die jungen Mädchen blickten einander verlegen an. Nur die Suchende, der die Augen außerordentlich gut verbunden sein mußten, blieb völlig unbefangen. „Welch heilige Stille mit einem Mal!“ rief sie mit einer hellen Stimme, die dem Eindringling einen frohen Schreck verursachte. „Das bedeutet irgend eine Teufelei! Dahinter komm’ ich schon!“
Die tastend vorgestreckten Hände gerieten an den Pelz des Professors und wichen etwas zurück.
„Wer von Euch hat sich denn so rasch in den Knecht Ruprecht verwandelt? Das ist doch Pelz, was ich da fasse! Nur Geduld – ich rathe doch, wer drin steckt!“
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[633] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [634] Wieder kamen die weißen Hände vorsichtig heran – ein ganz eigenes heißes Gefühl durchrieselte den neuen Gast, als er die leichte Berührung auf seiner Brust fühlte, das Herz fing ihm an rasch zu schlagen, und er wußte jetzt mit einem Mal, warum er sich die ganze Zeit so kindisch auf diese Königsberger Reise gefreut hatte. Regungslos stand er da und hatte alles um sich her vergessen, er hatte nur Augen für das Mädchen, das da vor ihm stand und keine Ahnung hatte, während er sehen konnte – ja, sehen!
„Annaliese, nehmen Sie doch die Binde ab!“ sagte plötzlich jene zarte Blondine in bestimmtem Ton.
Und nun kam es ihm zum Bewußtsein, daß er diese Lage, so reizvoll sie auch für ihn war, nicht ausnutzen durfte, und während die lieben kleinen Hände rasch zurückzuckten, beugte er sich vor und löste mit einer zarten und geschickten Raschheit, die er sich selbst nie zugetraut hätte, die Binde von des jungen Mädchens Augen.
Sie konnte sich nicht mit einem Schlage an das helle Licht gewöhnen und blinzelte unter ihren dichten Wimpern hervor verschüchtert zu ihm empor. Dann erkannte sie ihn und erröthete jäh bis unter die krausen Stirnhaare – war das Schreck, Empörung – war es vielleicht Freude?
„Annaliese!“ Er sagte es leise und abbittend und streckte ihr mit einem aufleuchtenden Blick die Hand hin.
Da aber schlug der Blitz des Erkennens in Claassens Aeltesten, den siebenjährigen Kurt, ein, und er stürzte mit dem Jubelruf: „Das ist ja Onkel Paul!“ auf den Professor los, um gleich darauf mit aller Kraft seiner Lungen in das Nebenzimmer, dessen Thür offen stand, hineinzuschreien: „Du, Papa, Onkel Paul ist gekommen!“
Nun gab es einen allgemeinen Aufstand, ein Reden und Begrüßen, Fragen und Antworten ohne Ende. Gregory drehte sich nach allen Seiten oder vielmehr, er wurde gedreht. Hier war Frau Melanie und wollte sehen, ob er von der Reise angegriffen sei und ob er sich in den verflossenen zwei Jahren verändert habe; hier packte ihn Freund Gustav mit einem derben Griff bei den Schultern, schüttelte ihn tüchtig und rief dazwischen: „Kinder, laßt ihn doch den Pelz ausziehen! Kommt her, Heinzelmännchen, helft dem Onkel – eins, zwei, drei!“ Dort hielt Kurt des Gastes Hand fest und triumphierte laut, daß er, er ganz allein, Onkel Paul erkannt habe; klein Gretchen umklammerte des Reisenden Knie und wünschte in einem ziemlich unverständlichen Deutsch, hoch gehoben zu werden, „wie Papa immer kann“; die fremden Kinder drängten allmählich näher und näher heran, da ihnen die Erscheinung dieses plötzlich hereingeschneiten Onkels doch zu interessant war. Nur die jungen Mädchen, vier an der Zahl, standen abseits neben einem der Fenster, und des Professors Blick flog immer von neuem dorthin und fand die eine in dem weißen Kleide heraus, die ihm das Profil zukehrte – welch reizendes Profil sie hatte und wie das Kleidchen weich und schmiegsam die feinen, graziösen Linien ihrer Gestalt hervorhob! Sie hatte die Haartracht geändert – eine dicke Flechte fiel ihr über den Rücken herab und zeigte die zierliche Bildung des Kopfes. War Annaliese gewachsen in den wenigen Wochen? Kaum, aber sie schien ihm größer geworden; sie überragte ihre drei Gefährtinnen um ein beträchtliches.
„So!“ sagte Gregory endlich, als er von seiner Pelzausrüstung befreit war. „Jetzt kann es werden, vorausgesetzt, daß diese jungen Herrschaften so thun, als ob ich gar nicht gekommen wäre, und ruhig in ihrem unterbrochenen Spiel fortfahren! Geschieht das nicht, dann fahre ich fort und begebe mich in meinen ‚Schweden‘, denn hier als Störenfried zu erscheinen, das geht mir gegen Ehre und Gewissen!“
„Goldene Worte!“ sagte Claassen lachend und nahm den Freund gemüthlich unter dem Arm. „Du hast recht, Alter – wir retten uns hier nebenan in mein Arbeitszimmer, die Thür bleibt offen, damit hier nicht zuviel Unfug geschieht – Du mußt wissen, heute ist Heinzens, meines Zweiten, Geburtstag, der Schlingel ist sechs Jahr alt geworden, daher diese festliche Veranstaltung. Spielt weiter ‚Blindekuh‘, Kinder!“
Gregory holte noch, ehe er am Arm des Hausherrn davonging, seine gewaltige Düte Konfekt hervor und erzielte damit einen großen Erfolg. Von dem laut ausbrechenden Jubel der kleinen Gesellschaft begleitet, traten die Freunde über die Schwelle zum Studierzimmer des Oberlehrers, und der Gast wußte sich so zu setzen, daß er durch die weit zurückgeschlagenen Flügelthüren einen vollen Ueberblick über den anstoßenden Raum gewann.
„Prosit!“ Der Hausherr goß Wein in zwei Gläser und stieß wohlgemuth mit seinem Freunde an. „Steck’ Dir eine Cigarre ins Gesicht, Alterchen – ’s ist eine ganz genießbare Sorte, Du brauchst keine Angst zu haben, Dich zu vergiften! Und jetzt vor allen Dingen erst ’mal: schönsten Dank!“
„Wofür denn?“
„Mensch, sei kein Frosch! Wofür denn? fragt er. Na, wofür denn sonst als für Deinen Schützling, Deine Anverwandte, Kousine oder was sie sonst ist, diese kleine Guttenberg! Habt Ihr beide Euch denn eigentlich schon vernünftig begrüßt?“
„Etwas flüchtig – ich fiel da so hinein – später hoff’ ich noch das Vergnügen zu haben!“
„Hör’, das klingt heillos steif und förmlich: ‚hoffe noch das Vergnügen zu haben‘! So kann man von jeder Großtante sprechen, aber dies hier, dies Mädel –“
„Sie gefällt Euch also?“
„Auch ‚gefällt‘ ist kein Ausdruck für sie. Weißt Du, was sie ist? Man liest so oft in Büchern von ‚verkörperten Sonnenstrahlen‘ und ich hab’ das immer ein bißchen albern gefunden und gedacht: Gott im Himmel, Du hältst nun schon seit acht Jahren ein Pensionat für junge Mädchen und hast in der langen Zeit ja auch manches recht angenehme Exemplar dieser Menschengattung zu sehen bekommen, aber ein Sonnenstrahl war nicht dabei! Diese Annaliese von Guttenberg ist einer, da kannst Du mir vorreden, was Du willst!“
„Ich rede Dir nichts vor!“
„Würde auch nichts nützen! Du wolltest wissen, wie mir’s geht? Ich kann nicht klagen, Alter, aber manchmal wird es mir doch nicht so leicht, wie es allen scheint, den Kopf oben zu halten. Ich muß ihn aber oben haben, denn sonst klappt mir mein Frauchen ganz hilflos zusammen – Du weißt, sie ist ein bißchen zaghaft von Natur, und ich hab’ sie wohl auch etwas verwöhnt, kurz, sie kennt es nicht anders, als beständig von mir getröstet und aufgemuntert zu werden. Daß mir das manchmal sauer wird, daß ich mich freuen würde, wenn mich ’mal einer aufmunterte, darauf kommt hier kein Mensch, und ich mach’ es auch keinem zum Vorwurf; sie können es ja nicht wissen. ‚Papa – der ist immer fidel!‘ sagen die Kinder. ‚Ach, mein Mann, der kommt über alles hinweg mit seinem prachtvollen Temperament!‘ sagt meine Frau. Es ist so ’ne Sache mit dem prachtvollen Temperament bei mir, aber wenn ich den Kopf hänge, dann ist eben alles aus! – Und nun kommt mir dies wildfremde, wunderhübsche Menschenkind ins Haus – schon so eine Augenweide zu haben, ist ’was werth – sieht sich bei uns um mit diesen klugen sonnigen Augen und thaut mein stilles, zurückhaltendes Frauchen auf, eins, zwei, drei, gewinnt die Kinder im Sturm und fragt dies und will jenes wissen und ist mit allem zufrieden, findet unser altes Königsberg, das die Fremden immer so herunterreißen, anziehend und alterthümlich und eigenartig, läuft meiner Frau nach in die Küche, schleppt sich mit der Grete herum, arbeitet mit Kurt und Heinz und ist fidel, fidel wie eine kleine Lerche, wenn sie mit jauchzendem Getriller aus dem Getreidefeld aufsteigt. Poetisch werd’ ich, nicht wahr? Schadet nichts! Was für Zierpuppen hab’ ich hier in Pension gehabt, die häßlichsten waren meist die schlimmsten! Und dies Mädchen, mit diesem Gesicht, ist die reinste lauterste Natürlichkeit, ein unbefangenes Wesen zum Entzücken! Früher, wenn ich so aus der Schule nach Hause kam – oft brummte mir der Kopf von all dem Aerger mit den Jungens und nun gar erst mit den höheren Töchtern! – dann trat mir meine gute Melanie entgegen, mühselig und beladen, das Herz übervoll von Sorgen, von Fragen und Klagen ohne Ende. Jetzt – das reine Gegentheil! ‚Wir machen das so und so, Annaliese meint, es sei das Beste,‘ oder: ‚Heut’ ist mir das und das passiert, aber ich mach mir nichts daraus, Annaliese sagt, das komme schon wieder in Ordnung!‘ Na, wenn einen das nicht freuen soll!“
Den Professor freute es auch. Er hatte einen sehr eifrigen Zuhörer abgegeben und dazwischen ebenso aufmerksam durch die offene Thür gespäht, um zu dem Bericht seines Freundes gleich die Illustration zu haben. Sie spielten nebenan jetzt Thalerwandern, und die weiße Mädchengestalt gaukelte in dem goldigen Lampenlicht hin und her wie ein Schmetterling. Ein anmuthiges Bild!
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Der Momentphotograph auf dem Manöverfelde.
Sie photographieren doch auch?“
„Nein!“
„Was? Nicht? Wie merkwürdig!“
Da hatte ich sonach mein Urtheil weg. Ich gehörte also in die Klasse der merkwürdigen Leute, weil ich nicht photographierte, in eine Klasse mit den höheren Töchtern, die nicht Klavier, den Engländern, welche nicht Lawn-Tennis spielen, den Tertianern, die keine Briefmarken sammeln. und den Rezensenten, welche die Bücher ganz lesen, über welche sie schreiben. Es ist ja keine schlechte Gesellschaft. in der ich mich da befinde, aber – wir sind eben doch merkwürdige Leute.
Wenn es nicht zu meinen Grundsätzen gehörte: „Leben und leben lassen!“ so konnte ich eigentlich einen gelinden Ingrimm empfinden gegen die nicht merkwürdigen Leute, welche photographieren. Sie verfolgen einen wie die Melodie eines Gassenhauers, die man nicht loswerden kann. Da steige ich hinauf auf die höchsten Zinnen des Gebirgs – und was keucht vor mir her? Ein Träger ist’s, welcher im Schweiße seines Angesichts einen photographischen Apparat über Eis und Schnee 3000 und mehr Meter hoch hinaufschleppt. Ich bummle am Gestade des Meeres und finde es garniert von einer Plänklerkette von Liebhaberphotographen. Ich lausche den Klängen irgend einer Kurmusik, und plötzlich sehe ich aus einem unheimlichen lederbezogenen Kästchen ein großes schwarzes Auge mich anstieren. Ich suche einen berühmten Aussichtspunkt auf, und was mir von weitem schon das Ziel verräth, ist ein Stativ, dessen dürre Beine sich am Horizont abzeichnen. Nicht Mensch, nicht Thier, keine Welle und keine Felszacke, kein Baum und kein Bach, kein Wirthshaus und kein Kirchhof ist mehr sicher vor dem Photographiertwerden. Kein „Luftkurort“, der nicht seine öffentliche Dunkelkammer gegen mehr oder minder mäßiges Entgelt den „Herren Amateurs“ zur Benutzung anböte, keine Abendgesellschaft, die nicht durch die vorgelegten Aufnahmen des Hausherrn oder der Hausfrau, durch Gespräche über Gelatineplatten, Fixierbäder und andere chemische Geheimnisse gewürzt würde. Obwohl auf mich noch nie ein Attentat verübt wurde, so kann ich doch mit Bismarck fühlen, der sich schon darüber beklagte, wenn er spazierengehe, so knacken rechts und links in den Büschen die Momentverschlüsse, daß er nie wisse, ob er erschossen oder photographiert werden solle. Und wenn ich mich wieder nach einer Sommerfrische umsehe, so werde ich ein Inserat in den gelesensten Zeitungen des In- und Auslandes erlassen des Inhalts: „Gesucht wird ein stiller Ort, wo nicht photographiert wird.“ Ob ich ihn finden werde? –
Wer will es mir verdenken, daß ich meinem mich merkwürdig findenden Gefährten, mit dem ich an einem Septemberabend im Wirthshaus des von Einquartierung wimmelnden Landstädtchens zusammensaß, als Erwiderung auf sein vernichtendes Urtheil meinen Groll gegen die Photographierseuche – ich will zugeben, stärker, als ich ihn eben selbst empfand – ins Gesicht warf. Ich mußte freilich bald bemerken, daß ich bei ihm ganz an den Unrechten gekommen war. Er war von der neuen Krankheit schon so sehr angefressen, daß meine Verschnupfung über das Ueberhandnehmen der „Landplage“ auch nicht den geringsten Eindruck auf ihn machte. Er ließ mich reden und grollen und fragte mich am Schlusse meiner längeren Auseinandersetzung statt jeder Antwort einfach:
„Kommen Sie morgen mit?“
„Ich? Wohin?“
„Dem Manöver nach. Ich photographiere.“
Da hatte ich denn den Erfolg meiner Brandrede! Statt zerknirscht zu Kreuze zu kriechen, lud er mich zu einem photographischen Schlachtenbummel ein! Und ich, was wollte ich machen? Der Manövertaumel hatte ohnedies die ganze Gegend angesteckt, meine Besorgungen, die mich hier herausgeführt hatten, konnte ich unter sothanen Umständen doch nicht erledigen, an Gesellschaft mangelte es mir gänzlich, und so schluckte ich in Gottes Namen meinen Widerwillen gegen die photographierende [636] Menschheit hinunter und sagte zu, mit dem geheimen Vorbehalt, mich um den nach Aufnahmen jagenden Genossen möglichst wenig zu kümmern und lediglich meinem eigenen Vergnügen an dem militärischen Schauspiel zu leben.
Damit hatte ich nun freilich wieder die Rechnung ohne den Wirth oder vielmehr ohne den Photographen gemacht. Als ich am andern Morgen in dämmernder Frühe aus dem Winkel von Gelaß hervorkroch, in welchem ich bei der Ueberfüllung der – Ortschaft noch Unterkunft gefunden hatte, da hielt vor der Thür des Wirthshauses ein leichtes Federwägelchen, und mein Widerpart von gestern abend lud mich mit der ritterlichsten Höflichkeit ein, darauf Platz zu nehmen. Das ging denn auch für meine Person ganz gut, denn neben dem Kutscher war noch ein Sitz frei. Der Wagenkasten hingegen war vollständig ausgeräumt und wies auch nicht die geringste Spur einer Sitzgelegenheit auf.
„Aber wo sitzen denn Sie?“ konnte ich nicht unterlassen, rücksichtsvoll zu fragen.
„Hier!“ lautete frischweg die Antwort. Damit schwang er mit geübter Hand seinen ansehnlichen Apparat hinten in den Wagenkasten, das Stativ nach, und mit einem eleganten Ruck war er selbst oben und machte es sich auf dem Boden des Wägelchens bequem, alsbald damit beschäftigt, das Stativ aus seiner Wachstuchumhüllung zu befreien. und zum Aufstellen fertig zu machen.
Unser Kutscher, ein Reservist der Kavallerie, wußte natürlich, dank seiner kaum abgeschlossenen militärischen Vergangenheit, genau Bescheid. Bald hatte er uns denn auch eine sanfte Anhöhe hinaufbugsiert, auf der eben eine Batterie auffuhr, um mit einigen wohlgezielten Manöverkartuschen dem bösen „Feind“ den ersten Morgengruß zu senden; Auch mein Lichtbildner hinten machte alles „klar zum Gefecht“. Ich muß gestehen, daß ich in Erwartung des ersten Schusses einige Sorge um die Seelenruhe unseres noch ganz kräftig ausschauenden Braunen vor dem Wagen empfand; und treu dem christlichen Gebot der Feindesliebe stieg ich rasch hinten in den Kasten, um im Nothfall von den photographischen Kostbarkeiten retten zu helfen, was zu retten war. Mein Freund – ich will ihn Thomas nennen – schien dies kaum zu bemerken.
Er lächelte nur geheimnißvoll, das Auge starr auf die auffahrende Batterie gerichtet und – in den Donner des ersten Schusses machte sich nahe an meinem Ohre ein kurzes Klappen. Der Braune stand wie eine Mauer, Thomas aber zog gelassen die Kassette mit der benutzten Platte aus dem Apparat, drehte sie herum, schob sie wieder hinein und notierte mit ruhiger Hand in sein Taschenbuch: „Kassette I., 1. Batterie im Feuer.“ Die nachfolgenden Schüsse betrachtete er sich lediglich als gemüthlicher Zuschauer – er war augenscheinlich seiner Sache sicher.
Ich muß sagen, diese Feldherrnruhe imponierte mir nicht wenig, und in die Abneigung gegen die Hantierung an sich machte sich doch eine gewisse Hochachtung vor der Persönlichkeit, welche dieselbe mit solcher Virtuosität ausübte. Diese letztere Empfindung mag es denn auch bewirkt haben, daß ich, als wir den vorrückenden Truppen nach langsam weiter fuhren, nicht auf den Kutscherbock zurückkehrte, sondern mit Thomas und seinem Stativ den Raum im Wagenkasten theilte, so gut es eben ging. Als wir einen Augenblick hielten, um ein paar Kompagniekolonnen von hinten aufzunehmen, [637] welche sich vor uns an einer Geländewelle hinaufschoben, da habe ich mich angeblich sogar durch kleine Handlangerdienste nützlich gemacht. Worin sie bestanden haben könnten, weiß ich nicht mehr. Aber es muß wohl so etwas vorgekommen sein, Thomas behauptete es wenigstens hinterher.
Das Manöver nahm seinen Verlauf. Näher und näher rückten sich die kämpfenden Theile, vom rechten Flügel herüber hörte man schon die kurzen Sturmschläge der Tamboure, da – ein Signal: „Das Ganze halt!“ und gleich darauf das zweite, den fechtenden Truppen bis hinauf zum Zugführer noch ungleich willkommenere: „Offiziersruf“. Das gab ein bewegliches Leben als Einleitung zur hocherwünschten Ruhepause.„Setzt die Gewehre zusammen!“ – „Gepäck ab!“ – „Vizefeldwebel Bohle, kommandieren Sie zwölf Mann zum Wasserfassen!“ – so tönten rings um uns die Befehle durcheinander, während auf einem das Gelände beherrschenden Hügel der leitende Korpskommandeur die höheren Offiziere mit ihren Adjutanten und die Führer bis herab zu den Herren Kompagniechefs um sich versammelte zur Kritik. Sie dauerte lange, und der Herr Kommandierende muß viel zu bemerken gehabt haben, vielleicht nicht immer Schmeichelhaftes – wir von unserem Standpunkt aus konnten nur hie und da eine Hand an den Helmrand fahren sehen und daraus entnehmen: „Aha, von Dir ist jetzt die Rede!“ Nach geraumer Zeit löst sich aus der dichten Schar eine Anzahl Adjutanten, von weitem an ihren breiten von der rechten Schulter zur linken Hüfte laufenden Schärpen erkennbar; sie sitzen ab und bilden abseits eine gesonderte Gruppe; als ob sie irgend etwas Geheimnißvolles miteinander zu bereden hätten. Einer spricht, die andern schreiben eifrig: es sind die Befehle für die Fortführung der Uebung, die ein Adjutant des Generalkommandos diktiert.
Vielleicht war es nur ein Anflug von Langerweile, die mich meinen Freund Thomas auf diese Gruppe aufmerksam machen ließ mit der – übrigens im Tone eines gänzlich Unbetheiligten hingeworfenen – Frage, ob er die nicht photographisch festnageln wolle. Und er that es lächelnd, mit einem größeren Vergnügen, als es der Vorgang an sich zu rechtfertigen schien.
Da – eine Bewegung auf dem Hügel der Mächtigen. Der Haufen löst sich. In rascherem oder schnellerem Tempo, je nach der zurückzulegenden Entfernung, traben, galoppieren die Führer den ihnen unterstellten Truppentheilen zu. Die Lieutenants recken die Köpfe, die verschlafenen Mannschaften reiben sich die Augen, und schon aus weiter Ferne ruft ihnen der heraneilende Kompagniechef das Kommando zu: „An die Gewehre!“. Abgeschüttelt ist mit einem Mal alle Schläfrigkeit, hurtig das Gepäck um, die Gewehre in die Hand, damit das Signal „Das Ganze marsch!“ alles bereit findet. Und weiter wogt die unblutige Schlacht, weiter schleppt auch uns unser Brauner zu ferneren Thaten der Lichtbildkunst.
Es dauert nicht mehr lange, da merkt unser doch auch einigermaßen militärisch geschultes Auge, daß es sich nur noch um ein kriegsmäßiges Abbrechen des Gefechtes handelt: Dank einer ausgebreiteten Personalkenntniß hatte unser getreuer Anton auf dem Bocke längst in Erfahrung gebracht, wo die Vorposten ihre Biwaks beziehen würden, und dahin ging auch unsere Fahrt. Ein Biwak, diesen – wohlgemerkt, bei gutem Wetter! – romantischsten Einschlag im romantischen Manöverleben, das wollte auch ich recht gern wieder einmal aus der Nähe besehen. Gehörte es doch zu den vergnüglichsten Punkten in meinen eigenen Manövererinnerungen, die nun doch schon immerhin ihre zwanzig Jahre zurücklagen. Also, treuer Anton, auf nach dem Biwak!
In gemächlichem Trabe trottete unser kanonensicherer Brauner auf dem Landsträßchen dahin, das wohl schon lange nicht mehr [638] so viele Menschen auf sich hatte herumtreten sehen. Denn selbstverständlich hatte sich allmählich die gesamte Einwohnerschaft von zehn Meilen in der Umgegend gesammelt, um das Kriegsschauspiel und die mitwirkenden Kräfte – und wären es auch nur Statisten – sich anzusehen. Der Nachmittag war geradezu prachtvoll, warm und doch nicht drückend, die Sonne schon stark gegen Westen geneigt. Endlich, von einer Anhöhe, über welche die Straße sich hinüberzog, fiel unser Blick seitwärts auf eine flache Mulde, und da lag es vor uns, das lustige Bild militärischer Häuslichkeit im Freien, das Stückchen Zigeunerleben mit seinen wirbelnden Kochfeuern, seinen Planwagen, seinen geschäftig hin und her eilenden oder bei irgend einer Arbeit zusammenkauernden Staffagefiguren. Ich war so entzückt von dem überaus freundlichen Anblick, daß ich in diesem Augenblick die größte Dummheit meines Lebens beging. Ich faßte Thomas, den fatalen Photographen, beim Arm und schrie ihn mit fast aufgeregter Stimme an: „Sie, lassen Sie halten, das müssen wir photographieren!“
Jetzt lachte Thomas wirklich, und zwar hellauf.
„Sie sind nicht unverbesserlich,“ meinte er. „Wenn Sie sich demnächst auch ,so einen‘ anschaffen wollen, so kann ich Ihnen die Firma hier empfehlen.“ Und er wies auf ein schmales Perlmutterplättchen an der fein polierten Außenseite seines Apparats, auf dem mit zierlichen Buchstaben eine Adresse eingegraben stand.
Ich aber, ich kam mir jetzt selbst merkwürdig vor! H. E.
Das klassische Zeitalter der Geselligkeit.
Die französischen Salons des 18. Jahrhunderts! Es ist, als ob man von einem versunkenen goldenen Zeitalter spräche, wenn dieses Wort genannt wird. Augenblicklich öffnen sich dem innern Auge weite, kostbar ausgestattete Säle mit schweren Sammet- und Seide-Vorhängen, schöne Frauengesichter lächeln kokett aus den Wandgemälden nieder. Die schmalen Pfeilerspiegel werfen den Luxus der Möbel und chinesischen Wandschirme zurück, sowie den schweren funkelnden Krystalllüster, in dessen Schein die Tafel glänzt, mit ihrem Aufbau von Silber und Porzellan, mit den gewaltigen Fruchtpyramiden des Desserts. Und um diese Tafel gereiht eine ausgesuchte Gesellschaft: Männer mit feinen geistreichen Köpfen, die es verstehen, ohne Pedanterie von allen höchsten Fragen der Menschheit zu reden, Frauen voll Grazie und Liebenswürdigkeit, die es sich zur Ehre rechnen, solche Gespräche mit Witz und guten Einfällen zu beleben, und die in dem raschen Fluge einer Stunde über Gebiete hineilen, welche durch die mühsame Geistesarbeit von Jahrhunderten geschaffen und bebaut wurden. Die leichte Philosophie bemächtigt sich aller Dinge, sie spitzt sich im Munde der Schönen zu allerliebsten Bonmots zu und dient den Philosophen als Deckmantel für ihre persönlichen Wünsche. Es ist in der That eine ebenso bequeme als reizende Sache, dieses „Philosophieren“ unter Scherz und Gelächter bei der Mittags- und Abendtafel. Taine in seinem ausgezeichneten Buche über die Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts sagt sehr bezeichnend über jene Feste: „Mit dem zweiten Gange des Mahles erfolgt die Explosion, beginnt das Witzgeplänkel, entflammen und sprühen die Geister. Wer kann sich beim Dessert noch enthalten, die ernsthaftesten Dinge spaßhaft zu behandeln? Und beim Kaffee kommt die Frage von der Unsterblichkeit der Seele und dem Dasein Gottes an die Reihe.“
So frivol dies klingt, so malt es doch besser als viele Worte die geniale und glänzende Geistesperiode, welche dem Auftreten Voltaires und seiner Gesinnungsgenossen in der Gesellschaft gefolgt war. Geistreich zu sein hatten die französischen Damen schon hundert Jahre früher gelernt, im Hotel Rambouillet unter der Protektion des großen Kardinals Richelieu, aber es war mehr ein unerquickliches Geistreichthun mit lateinischem Anstriche, was dabei herauskam. Molière hat uns in seinen „Précieuses ridicules“ ein scharfes Bild davon gezeichnet. Als jedoch Voltaire daran ging, in seiner populären unübertrefflichen Sprache das ganze, bisher der Allgemeinheit und besonders den Frauen verschlossene Wissen zum Gemeingut der Gebildeten zu machen und ganz ernsthafte Dinge mit Witz und Laune zu behandeln, da kam ein völlig neuer Zug und Ton in das geistige Leben einer Gesellschaft, die wie keine andere vor- oder nachher unter dem Scepter der Frau stand. Weibliche Hände, weiblicher Geist mischten sich in alles, von der hohen Politik an, welche die Marquise von Pompadour für den trägen Ludwig XV. machte, von den Ernennungen in hohe und niedere Aemter, die sämmtlich durch Damenhände gingen (die der Akademie nicht ausgeschlossen), bis zu den Aufführungen neuer Stücke, dem Erscheinen neuer Bücher, die alle nur Aussicht auf Erfolg hatten, wenn die Herrin eines tonangebenden Salons sie in ihre Gunst nahm.
Und dies alles nicht am Hofe, sondern vier Stunden von demselben entfernt, nicht in Versailles, das unter Ludwig XIV. Mittelpunkt auch der geistigen Welt war, sondern in Paris, welches keine andere Wahl hatte, als sich von dem geistlos gewordenen Hofe und seinen armseligen Vergnügungen zu emancipieren und eine Republik der Geister zu begründen, da die Monarchie nichts mehr von ihnen wissen wollte. Frau von Pompadour persönlich interessierte sich wohl für Philosophen und Poeten, aber sie mußte behutsam sein, um das nicht zu erregen, wovor sie am meisten zitterte: die Langeweile des Königs, am Ende sogar über sie selbst – und somit griffen eben andere Frauenhände nach dem Scepter des Geistes und führten es mit einer Ueberlegenheit und Grazie, die uns heute noch in Erstaunen setzen.
Trotzdem fragt man sich: wie war jene ausschließliche Frauenherrschaft möglich, aus welchen Gründen erklärt sie sich? Und die Antwort darauf zeigt uns die Kehrseite des glänzenden Bildes: den allgemeinen Niedergang des männlichen Characters, der in den Zeiten des Despotismus Ludwigs XIV. feige und heuchlerisch geworden, roh und lasterhaft geblieben war. Solche Männer können von Frauen unterjocht und beherrscht werden. Unter einem tyrannischen und absoluten Regimente hatten sie verlernt, sich als Staatsbürger zu fühlen, die öffentlichen Angelegenheiten, für die heute jedem tüchtigen Manne das Herz schlägt, waren für sie nicht vorhanden; so mußten sie verzichten auf eine ganze Reihe von Eigenschaften, die am Manne auch einer hochstehenden Frau imponieren, und sahen sich auf solche angewiesen, in denen begabte Frauen den Männern überlegen sind, auf Feinheit des Geistes, List, Diplomatie, Selbstbeherrschung und Verstellungskunst. Sieht man sich indeß die Frauenbriefe und Memoiren jener Zeit näher an und hat man die erste Ueberraschung über den merkwürdigen Scharfsinn, die schlagenden Bemerkungen, die unglaubliche Menschenkenntniß überwunden, so kommt sehr bald eine andere Empfindung, die jener Bewunderung stark die Wage hält. Man sagt sich: wie nüchtern, kalt und begeisterungslos muß eine Seele sein, die so klar und unerbittlich ihre Freunde, ihren Mann, ihren Geliebten beurtheilt! Freilich hatten jene Frauen ein paar Hauptschwächen ihres Geschlechtes abgethan, sie waren nicht empfindlich und nicht eifersüchtig, weil sie wohl wußten, daß nur der herrscht, welcher kalt und ohne eigene Reizbarkeit die anderen studiert; aber sie erreichten damit doch nicht die Ueberlegenheit des Weisen, sondern nur eine gleichgültige Gelassenheit, ein Heraussagen des Letzten ohne Scheu, so daß man sich heute von solchen Frauennaturen, denen alle echte Weiblichkeit verloren gegangen war, angewidert fühlt. Und sie selbst waren am härtesten gestraft: was Menschen einfach beglückt, Liebe, Treue und Vertrauen, hatten sie sich glücklich weggespottet, die Mutterpflichten galten für etwas Altväterisches, durch unzweckmäßige Kleidung und Lebensweise war ein gesunder Körper ebenfalls zur Seltenheit geworden. Nun fragte es sich, mit was die endlose Zeit, die langen Stunden hinbringen, welche nicht der Gesellschaft gewidmet waren? Tausenderlei Beschäftigungen mußten herhalten, man schnitt Figuren aus und pappte sie auf Lichtschirme und Kartonnagen, man zertrennte alte Goldstickereien und machte neue daraus, man spielte alle Sorten von Karten- und Brettspielen – das Beste war noch die eifrige Lektüre, und hierin lag die wirkliche Stärke jener Damen. Sie hatten keine Töchterschulen durchgemacht, sondern sich an guten Büchern [639] selbst gebildet, und die Köpfe, welche Montaigne, Pascal und Montesquieu lasen und verstanden, sie hatten zugleich ihren eigenen Stil gewonnen. Lesend lernt man schreiben, und jene Frauen schrieben ausgezeichuet und unermüdlich: Briefe, Memoiren, „litterarische Porträts“ ihrer Bekannten, alles, was heute für die Geschichtschreibung zur werthvollen Quelle geworden ist.
Selbstverständlich aber bemächtigte sich sofort auch die Mode der geistigen Interessen, und man begnügte sich bald nicht mehr mit der schönen Litteratur, sondern man legte auch Beschlag auf die Wissenschaft, trotz unsern allermodernsten Studentinnen. Die Damen schwärmten für Medizin, sogar für Anatomie, und die reichen Marquisen bauten Privatlaboratorien, ja Privatsektionssäle, wo sie an wirklichen Kadavern den Bau des Innern studierten! Wir besitzen genaue Aufzeichnungen über den Tageslauf dieser vielbeschäftigten Damen. Sie gehen noch in die Messe, dann aber in die verschiedenen gelehrten Vorträge, die ihnen die ersten Professoren der Universität halten, in den Jardin des plantes, um zu sehen, wie Theriak gewonnen wird. Sie gehen zu dem Uhrmacher Furet, um eine geschnitzte Negerin zu betrachten, in deren einem Auge die Stunden, in dem andern die Minuten zu sehen sind. Sie gehen zu dem Maler Greuze, sein neuestes Werk zu bewundern; ebenso bewundern sie dann die Automaten des Abbé Mical, die vier Sätze sprechen können. Dann fahren sie zu einem Zeichner, um ihre Silhouette machen zu lassen, und nachdem sie morgens der Messe für die glückliche Auffahrt eines Luftschiffers angewohnt haben, eilen sie hinaus, um die kühnen Brüder Robert und Pilatre de Rozier noch vor dem Aufsteigen des Ballons zu umarmen. (Goncourt, „La femme au dix-huitième siècle“.)
Ein köstliches Gemälde von dieser Leichtigkeit und Oberflächlichkeit, von dieser Manie für alles Mögliche entwirft uns ein Schriftsteller jener Zeit in dem einfachen Bericht alles dessen, was er erlebt, nachdem ihn eine seiner guten Bekannten in den Wagen genommen hat, um nach dem Anatomiekurs zu fahren. Kaum haben sie einen kleinen Abstecher zur Modistin gemacht, um die dringende Frage eines neuen Hutes zu erledigen, so begegnet ihnen der Wagen des Barons, der gerade auf dem Wege ist, die neuen Experimente mit brennbarer Luft zu sehen. Die Damen sind entzückt, ihn zu begleiten, nachdem er sich verbürgt hat, daß sie durch keinen Knall erschreckt werden. Aber unterwegs sehen sie die reizendsten sprechenden Papageien und müssen einen Augenblick bei dem Verkäufer eintreten. Der Baron wird entlassen, man begegnet jedoch beim Heraustreten aus dem Lokal dem Grafen, welcher nach der Blindendruckerei fährt. „Einzig, himmlisch, köstlich!“ Man befiehlt dem Kutscher, ebenfalls hinzufahren, bis der Marquise plötzlich einfällt, daß heute der letzte Termin ist, um ein ausgestelltes Bild zu sehen. Kaum sind sie im Atelier, so erinnert sich ihre Begleiterin, daß heute im botanischen Garten die Aloë aufblühen soll, die man um alles in der Welt nicht versäumen will. Und so geht es fort, vom botanischen Garten ins Modemagazin, zum Buchhändler und Architekten, bis endlich am Ende dieser anstrengenden Tour der wiedergefundene Baron mit dem Satze schließt: „Sie wollten ja in die Anatomie, meine Damen!“
Mag die große Mehrzahl der damaligen Schönen in diesem Bilde getroffen sein, so waren andererseits genug glänzende Ausnahmen davon vorhanden, wirklich hochbedeutende Frauen, die es verstanden, geistvolle Männer um sich zu versammeln und den geselligen Umgang mit einem so hohen und eigenartigen Reiz zu umkleiden, daß er unter den Fortschrittsmitteln des Jahrhunderts den ersten Rang einnahm. Allerdings nur, bis sich aus den neuen Anschauungen und Verhältnissen wieder Männercharaktere entwickelten, die aus der thatenlosen Schönrednerei in das beginnende politische Leben, in die Bahn der Redner, Staatsmänner und Helden eintraten. Die große Revolution hatte unter vielen segensreichen Folgen auch die, das natürliche Verhältniß der Geschlechter wieder herzustellen. Aber vorbereitet wurde sie in den bureaux d’esprit, wie man die Salons um die Mitte des vorigen Jahrhunderts nannte.
Es wäre indessen ein großer Irrthum, zu glauben, daß die darin Versammelten sich vom Geiste allein genährt und die Freuden der Tafel verachtet hätten. Ganz im Gegentheil. Diese „offenen Abende“ bauten sich nicht wie unsere heutigen auf einer Tasse Thee auf, sondern auf mehr oder minder reichlichen warmen Soupers, die in manchem Hause zweimal die Woche gegeben wurden. Bei dem Minister Choiseul, wo sich die elegante Welt fünfmal wöchentlich versammelte, erschien, nachdem alle da waren, ein Viertel vor Zehn der Haushofmeister, warf einen Blick auf die Gäste und ließ dann für fünfzig, sechzig oder achtzig aufs Gerathewohl decken. Die Neigung zu solch zwangloser Geselligkeit griff rasch um sich, niemand wollte mehr seine Leute altväterisch vorher einladen, alle möglichen Variationen des „offenen Abends“ wurden erdacht. In einem der großen Häuser fanden die erstaunten Gäste den Salon zum Wirthslokal umgewandelt, hinter einem stattlichen Büffet voll Delikatessen saß die Hausfrau als Wirthin mit der weißen Musselinschürze, der Hausherr ging als Wirth ab und zu, die Dienstboten waren als Kellner verkleidet. Zahlreiche Tischchen mit Gläsern, Tassen und Zeitungen vollendeten die Täuschung, als ob man sich im Café befinde; im Hintergrund des Saales öffnete sich, nachdem die Gesellschaft eine Stunde lang gescherzt und gelacht hatte, eine kleine Bühne, auf der Pantomimen, kleine Lustspiele u. dergl. dargestellt wurden. Grund genug zu Heiterkeit und sprudelnder Laune – man begreift solchen Schilderungen gegenüber den Stoßseufzer eines alten Emigranten am Anfang unseres Jahrhunderts: „Wer nicht vor 1789 gelebt, hat gar keine Ahnung von der Süßigkeit des Daseins!“ Auf wessen Kosten die privilegierten oberen Klassen so süß ihr Dasein genossen, davon hatte freilich der Herr Marquis seinerseits keine Ahnung!
Aber nicht diese vom lärmenden Gesellschaftstreiben erfüllten Räume, deren Schilderung sich ins unendliche vermehren ließe, sind die wirklichen „Salons“ des 18. Jahrhunderts, sondern die stilleren geistig vornehmen Versammlungen im Zimmer einer jener bedeutenden Frauen, die tonangebend in ihrem Kreise standen und ihn mit der Macht eines überlegenen Geistes beherrschten.
Auch ihre Zahl ist sehr groß, doch heben sich aus der Menge einige Frauen hervor, die durch ihre berühmten Freunde ein doppeltes Interesse gewähren und uns aus deren Briefen und Memoiren als Hauptfiguren der damaligen litterarischen Kreise entgegentreten.
Da ist zunächst Madame be Tencin, der älteren Generation angehörend, eine Zeit- und Gesinnungsgenossin des Regenten Philipp von Orleans und in ihrer Jugend tief verwickelt in Hofintriguen der bedenklichsten und ruchlosesten Art. Als aber in Versailles die Marquise von Pompadour Alleinherrscherin geworden war, da zog sich Madame de Tencin nach Paris zurück und eröffnete dort einen der ersten Salons, aus dem der Spieltisch verbannt war und wo eine Gesellschaft von gelehrten und künstlerischen Größen sich zusammenfand, die hier zum ersten Male galten, was sie innerlich waren, ohne Rücksicht auf den Rock, den sie trugen, Frau von Tencin heuchelte keine der weiblichen und edeln Eigenschaften, die ihr fehlten, allein sie bildete und erzog die Männer um sich her, sie wies ihnen die Möglichkeiten des Erfolgs mit einer unfehlbaren Sicherheit, die ihrem scharfen Geist und der Beobachtung eines erfahrungsreichen Lebens entsprang. Sie ist keine wohlthuende Figur, diese Frau, welche keine Zuneigung des Herzens, sondern nur Taxation des Geistes kannte und eines Tages, auf ihre Brust deutend, sagte: „Hier schlägt nur ein zweites Gehirn!“ Aber sie steht ebenbürtig unter ihren berühmten Gästen, und Leute wie Montesquieu, Fontenelle, Helvetius und andere sahen über die schweren Flecken ihrer Vergangenheit hinweg in Bewunderung eines Geistes, den auch Goethe nachmals hochschätzte.
Frau von Tencin hatte in ihrer Jugend verschiedene Liebesverhältnisse geknüpft und gelöst, die denselben entsprossenen Kinder überließ sie einfach ihrem Schicksal. Eines derselben war der berühmte d’Alembert, der den Geist seiner Mutter hatte, aber zugleich ein wärmeres Herz und ihr niemals verzieh, was sie an seiner Jugend gesündigt hatte. Als er sich durch das Elend emporgerungen und einen Namen erworben hatte, da wollte sie sich ihm nähern, er jedoch stieß sie verachtungsvoll zurück und hielt zeitlebens als seine Mutter die gute Glasersfrau in Ehren, welche ihn einstmals von der Kirchentreppe aufgehoben und als ihren Sohn erzogen hatte. Es wird nicht berichtet, daß Frau von Tencin hierüber besonderen Kummer empfunden habe.
Sie starb 1749, und als ihr in den letzten Zeiten die dicke gutmüthige ebenfalls sehr gescheidte Madame Geoffrin einen Besuch machte, sagte sie zu ihrer Umgebung: „Aha, die kommt, um zu sehen, was sie von meinem Inventar brauchen kann.“ Und in der That ging dann dieses Inventar von Poeten und Gelehrten ziemlich vollständig in den Besitz der „Mama Geoffrin“ über, [640] wie diese aus bürgerlichen Kreisen stammende Dame bald von ihren Gästen genannt wurde.
Die eigentlich geistreichen Damen ärgerten sich über die Anmaßung der reichgewordenen Bürgersfrau, aber das that dem Besuch ihres Salons keinen Abtrag; dieser hatte vielmehr seine besondere Anziehungskraft. Madame Geoffrin war der gesunde Menschenverstand in Person, mit ihrer Bildung war es nicht weit her, und sie selber pflegte darüber zu scherzen. Lachend bemerkte sie einmal zu einem ihrer Gelehrten: „Ach, lieber Freund, Sie wollen mir eine Grammatik widmen, ich kann ja selbst keinen ordentlichen Satz schreiben!“ Aber sie kannte und beurtheilte alle Verhältnisse der kleinen Gelehrtenrepublik außerordentlich richtig und behandelte mit wahrer Meisterschaft das persönliche Element, das auch bei geistreichen Leuten seine Rolle spielt. Sie besaß die große Kunst, nur von dem zu reden, was sie gut verstand, und über alles andere das Wort an diejenigen abzugeben, die es führen konnten.
Aber auch bei dieser gutmüthigsten aller Salonbesitzerinnen spielte doch der Kopf eine viel größere Rolle als das Herz; sie war wohlthätig, ohne an den Beschenkten einen wirklichen Antheil zu nehmen; die lange Erfahrung eines Lebens unter den verschiedensten Menschen hatte ihren Glauben an menschlichen Werth sehr herabgestimmt, wenn sie sich auch wohl hütete, jemals die Menschenverachtung auszusprechen, die aus jedem Wort ihrer offenherzigeren Rivalin, der Marquise du Deffand, hervorleuchtet. Doch lassen gelegentliche Aussprüche einen Blick in ihre wahre Meinung thun. Einmal hatte sie im Auftrag ihrer hohen Gönnerin, der Kaiserin Katharina von Rußland, welche lebhafte Fühlung mit dem litterarischen Paris unterhielt, einen jungen Autor zu bearbeiten, daß er ein Werk über den russischen Hof nicht drucken lasse, von welchem allerhand unliebsame Enthüllungen zu besorgen waren. Madame Geoffrin glaubte den kürzesten und besten Weg einzuschlagen, wenn sie ihm einfach Geld bot, und als der Schriftsteller, hierüber aufs äußerste empört, ihr heftige Reden ins Gesicht schleuderte über die Schändlichkeit einer solchen Zumuthung, wo es doch gelte, Mißbräuche aufzudecken und die Wahrheit zu sagen, da ließ sie ihn ausreden und sagte dann sehr ruhig: „Nicht wahr, Sie wollen mehr haben?“
Daß eine solche Seele, die den moralischen Muth gar nicht begriff, auch selbst keinen besitzen konnte, liegt auf der Hand. Die innere Charakterlosigkeit dieser Philosophenfreundin zeigt ihr Verhalten in religiösen Dingen. Während bei ihren Diners der Atheismus den Vorsitz führte, wagte sie, die eigentlich innerlich ihrer Kirche anhing, kein Wort zur Vertheidigung der geleugneten Existenz Gottes zu sagen, aber heimlich, so heimlich, daß keiner ihrer Freunde dahinter kam, als gelte es, ein galantes Abenteuer zuzudecken, ging sie zur Messe in eine entfernte Kirche und saß dort hinter dem Gitter einer Loge, unsichtbar für die andern, „um sich mit dem Himmel auf gutem Fuß zu halten“.
Abgesehen von solchen Schattenstrichen lächelt uns aber aus dem zierlichen weißen Häubchen der Madame Geoffrin ein rundes gemüthliches und liebenswürdiges Gesicht entgegen. Auch sie wußte, wie viel die gute Küche zum Behagen der Geistreichen beiträgt, und gab sich große Mühe, ihre Diners, bei denen Voltaire, Diderot, Helvetius, Grimm, d'Alembert und viele andere glänzende Männer saßen, mit aller möglichen Opulenz auszustatten. Der intime Kreis versammelte sich dann auch wieder in großer Einfachheit. Wenn man nur zu Fünfen oder Sechsen zusammensaß, wurde bei einem gebratenen Huhn, bei einer Platte Spinat und einer Omelette über die höchsten Dinge disputiert.
Dieser Sachverhalt entriß gelegentlich der weit geistreicheren Marquise du Deffand, die es ihren Freunden schwer verdachte, daß sie sich bei dieser bürgerlichen Madame Geoffrin so wohl fühlten, den berühmten Ausruf: „Quoi, tant de bruit pour une omelette!“
Und hier sind wir bei dem Namen einer Frau angelangt, welche, die interessanteste von allen, uns den Typus jener geistvollen, herzenskalten, gemüthlosen Damen vollkommen darstellt, die endlich selbst ihre innerliche Oede und Armuth aufs fürchterlichste empfinden, ohne doch ein Mittel gegen den endlosen „ennui“ zu wissen, der ihr Leben vergiftet, gegen jene quälende Freudlosigkeit, die aus dem Mangel einer tüchtigen Beschäftigung entspringt und die Strafe jedes müßigen Lebens ist. Für die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts war dieser gefürchtete „ennui“ („Langeweile“ deckt das Wort nicht, welches noch Ueberdruß und Ekel einschließt) eine ganz specielle Geißel.
Madame du Deffand, welche in ihren mittleren Jahren zu Frau von Genlis sagte, als diese ihre kleine Tochter liebkoste: „Sie lieben das Kind wohl sehr?“ und, als dies natürlich bejaht wurde, hinzusetzte: „Ach, da sind Sie sehr glücklich, ich habe niemals etwas lieb haben können“ – dieselbe Madame du Deffand saß in ihren alten Tagen erblindet ihrem alten Freund Pont de Veyle gegenüber und äußerte nach einer langen Pause des Schweigens:
„Pont de Veyle, man muß doch zugestehen, daß wenige Freundschaften so dauerhaft sind wie die unsrige!“
„Ja, das ist wahr.“
„Sie besteht jetzt fünfzig Jahre.“
„Fünfzig Jahre – gut und gern.“
„Und in all der Zeit kein Verdruß, nicht einmal eine vorübergehende Wolke.“
„Das eben habe ich immer bewundert.“
„Aber, Pont de Veyle, kommt das nicht vielleicht daher, daß wir uns eigentlich recht gleichgültig waren?“
„Das ist wohl möglich, Madame!“
Der Ort solcher Unterhaltungen war dasselbe Kloster von St. Joseph, in welches seinerzeit die La Vallière ihre Reue und ihre Schmerzen geflüchtet und wo auch zehn Jahre später Frau von Montespan „manchmal versucht hatte, Ludwig XIV. zu vergessen und an Gott zu denken“. Die Marquise du Deffand begehrte die klösterliche Gastfreundschaft für den Rest eines Lebens, das im Geräusche der Welt verstrichen war und ihr als Endergebniß das große Wort von der „Eitelkeit der Eitelkeiten“ gelassen hatte. Sie trat übrigens nicht in das Kloster ein - das brauchte es nicht, um darin zu leben. Die Klöster jener Zeit erfüllten neben ihrem eigentlichen Zweck den anderen, alleinstehenden Frauen Unterkunft und Pension in eigenen Räumlichkeiten zu gewähren. Die Marquise besaß die Mittel, schöne Zimmer und reichlichen Tisch zu bezahlen, und in ihrem Salon, angezogen von dem Geiste der alten, schon seit Jahren erblindeten Frau, versammelten sich ein- oder zweimal in der Woche dieselben Leute, welche bei Mama Geoffrin plauderten. Was heute für uns undenkbar wäre: eine Anzahl junger, geistvoller und lebenslustiger Männer den Sessel einer blinden Greisin umgebend und ihr mit höchstem Interesse zuhörend, das vollzog sich dort auf die natürlichste Weise. Und für sie, die Früherblindete, war diese Geselligkeit das erste Lebensbedürfniß, sie vermochte in ihr für ein paar Stunden den Abscheu vor dem Leben zu vergessen, den sie als schwerste Last bis in die Achtzig zu schleppen hatte. Ihr Blindsein ertrug sie mit der unerschütterlichen Gelassenheit, welche bei ihr der ungeheuren Verachtung alles Irdischen entsprang. Außerdem brachte sie fertig, was nur außerordentliche Menschen können, ein so trauriges Gebrechen mit so vielen Gaben des Geistes und der Phantasie zu decken, daß sie eben doch einzig unter allen da stand. Allein ihr innerstes Wesen, wie ihre Briefe es uns zeigen, ist ein einziger Schrei nach Erlösung aus diesem fürchterlichen Einerlei des Daseins, aus der geselligen Konvention und ihren fortgesetzten Lügen.
„So groß ist heute die Seltenheit wahren Gefühls bei uns,“ sagte sie schon in früheren Jahren, „daß ich manchmal auf der Straße stehen bleibe, um einem Hunde zuzusehen, der einen Knochen benagt. Das wenigstens ist Natur. Ich versichere Sie, lieber Freund, es giebt Leute, welche die Bäume und Steine beneiden, weil diese den ennui nicht fühlen.“
Das Innere dieser Frau zeigt uns an einem großen Beispiele, wohin auch der begabteste Mensch kommt ohne wirkliche Thätigkeit körperlicher oder geistiger Art. Denn so sehr Madame du Deffand es liebte, mit ihrem glänzenden Witze die schwachen Seiten der Philosophie und der Philosophen zu beleuchten, so wenig war sie geneigt, sich ernsthafte Kenntnisse zu erwerben.
„Ich liebe sehr Memoiren, Romane, auch Reisebeschreibungen, in denen man Menschen und Sitten kennenlernt, aber die wirkliche Geschichte, die Moralphilosophie und alle derartigen Dinge sind mir unausstehlich langweilig.“ Die Menschen genügten ihr indessen auch nicht. „Lieber Gott, was für Unterschiede unter den einzelnen! Nicht weniger als zwischen einem Engel und einer Auster! . . . Wie glatt, wie dumm und trivial sind die meisten!“
Solche bittere Ausfälle sind die Anzeichen eines tiefen Gefühls innerer Vereinsamung. Die unglückliche Frau hatte keine Kinder
[641][642] und Enkel, nichts von dem, was im Alter das Leben versüßt, und doch zugleich das Entsetzen vor dem Altern selbst, welches geistig sehr bedeutenden und dabei egoistischen Menschen zu allen Zeiten eigen ist. Nicht alle haben den glücklichen Humor der Madame de Sévigné, welche, selbst beglückte und liebenswürdige Großmama, einem gealterten Unwiderstehlichen, der sich über seine neue Großvaterwürde nicht trösten konnte, scherzhaft schrieb: „Pätus, es schmerzt nicht!“ Madame du Deffand besonders konnte sich nicht darein finden, und obgleich sie klar einsah, daß dem Alter Zurückhaltung und Entfernung aus der Gesellschaft wohl anstehe, war ihr schon der Gedanke entsetzlich, einen Abend allein zu sein, sie wollte, wie sie einmal sagte, lieber einen Minoritenbruder zur Gesellschaft haben, als die schreckliche Langeweile des Alleinseins erdulden, die sie als ärgste Geißel des Lebens fürchtete.
„Verschaffen Sie mir ein Geheimmittel gegen den ennui,“ schreibt sie einmal, „und ich will Ihnen dankbarer sein, als wenn Sie mir den Stein der Weisen geoffenbart hätten.“
Wohl trug die Abhängigkeit der Blinden von Vorleserin und Sekretär sehr dazu bei, dieses Gefühl zu schärfen, sie sprach es aber auch schon aus, als sie noch sehend war; es ist das allgemeine Leiden einer Zeit, welche den Genuß an Stelle der Arbeit setzte.
Den schwierigen Posten einer Vorleserin nahm bei der Marquise jahrelang zu ihrer großen Zufriedenheit ein junges Mädchen ein, deren Name als Freundin d’Alembert’s ebenfalls unzertrennlich von jener Glanzzeit französischen Geistes ist: Julie de Lespinasse. Sie war das Kind einer adligen Dame, mußte aber ihrer Verhältnisse wegen froh sein, als 1754 die damals schon fast ganz erblindete Madame du Deffand sie als Gesellschafterin zu sich nahm, Es war kein leichtes Geschäft für das zarte Mädchen, der schwer zu befriedigenden Gebieterin, die an fortwährender Schlaflosigkeit litt, mit Gespräch und Lektüre die Nächte hinbringen zu helfen, und manchmal erlag die Gesellschafterin fast der Aufgabe. Eifersüchtig wachte dann abends die alte Frau darüber, daß die außerordentliche Anmuth der Jüngeren, ihre seltene Grazie und glücktiche Gabe, das interessanteste Gespräch zu beginnen, nicht ihren eigenen berühmten Geist verdunkle, und besonders durfte d’Alembert, der sich von Anfang an aufs entschiedenste zu Julie hingezogen fühlte, nicht wagen, dies in Gegenwart der Gebieterin zu zeigen, die ihn wegen seines glänzenden Geistes und liebenswürdigen Herzens vor allen auszeichnete. So wie er fühlten sich auch die anderen nach und nach durch die ungestümen Ansprüche der Herrin des Salons etwas beengt und sehnten sich nach einem unbefangenen Gespräche mit der liebenswürdigen Julie, deren gleichmüthige Sanftheit im Ertragen der alten launenhaften Frau die allgemeine Bewunderung erregte. Es war nicht schwer, eine solche Gelegenheit zu finden, aber alle Besucher von St. Joseph und Fräulein de Lespinasse namentlich wußten, daß dies einem Todesverbrechen gegen die Marquise gleichkam und strengstens verheimlicht werden mußte. Die Besucher kamen einfach abends eine Stunde früher, ehe Madame du Deffand, die den Tag zur Nacht machte, aufstand, und versammelten sich in dem Stübchen ihrer Gesellschafterin zu ebener Erde, wo dann ohne Zwang in bester Laune geplaudert werden konnte, und dieser „salon de contrebande“, wie ihn einer nannte, ging jedem von ihnen weit über den der Marquise.
Jahre lang fanden sich hier die ersten Geister von Paris zusammen, um nicht nur esprit zu haben, wie im oberen Stockwerk, sondern um von den großen politischen und socialen Gebrechen, von den Mitteln zu ihrer Heilung zu reden, für welche Madame du Deffand sich nicht interessierte. Endlich aber wurde das Geheimniß offenbar, und nun kannte die Entrüstung der alten Frau keine Grenzen. Sie sah sich betrogen und verrathen von ihren Nächsten, sie, die an den Menschen kaum etwas anderes mehr achtete, als die Wahrhaftigkeit und mit vollem Recht sowohl d’Alembert als seine junge Freundin für wahrhaft gehalten hatte. Kein Bitten und Zureden half, sie entließ Fräulein de Lespinasse sofort, und als sie hörte, daß in deren neuem Quartier dieselben Menschen, die ihren eigenen Soupers anwohnten, sich bei einem Glas Zuckerwasser zusammenfanden, da stellte sie ihren Gästen einfach die Alternative: sie oder ich! Weil es ihr unmöglich schien, d’Alembert’s Umgang zu missen, glaubte sie dasselbe auch von ihm, allein er zögerte keinen Augenblick und entschied sich für seine junge Freundin.
Madame du Deffand wurde deshalb noch nicht einsam, sie hatte nur einige von denen verloren, welche allabendlich den gelben Salon von St. Joseph bevölkerten, aber unter ihnen eben den Einen, den sie nie vergessen konnte. Ihr Haß gegen Julie de Lespinasse trotzte jeder Vermittelung, und als sie fünfzehn Jahre später deren Todesnachricht erhielt, war ihre einzige Bemerkung: „Wäre sie damals gestorben, so hätte ich d’Alembert behalten!“ Nicht ohne Beziehung auf jene Vorfälle ist auch ihr Wort: „Warum hat sich wohl Diogenes so viel Mühe gegeben, einen Menschen zu suchen? Es konnte ihm ja nichts Besseres passieren, als keinen zu finden, denn wenn er ihn wieder hergeben mußte, würde ihm das alle anderen verleidet haben!“
Und seltsam! Dieser herben, sarkastischem menschenverachtenden Seele sollte inmitten ihres verhärteten Egoismus das scheinbar Unmögliche widerfahren, im hohen Alter eine Empfindung kennen zu lernen, die sie ihr Lebtag gelästert und verleugnet hatte, und mit siebzig Jahren zum ersten Male zu lieben wie ein siebzehnjähriges Mädchen. Ein vornehmer Engländer, Horace Walpole, betrat wie so viele ausgezeichnete Fremde den Salon der Marquise, den man gesehen haben mußte, wenn man von Paris heimkehrte. Voltaire sagt von ihr: „Wenn man sich in Gesellschaft der Madame du Deffand befindet, wüßte ich niemand, den man nicht entbehren könnte.“ Walpole, ein sehr energischer, ebenfalls höchst geistvoller Mann, empfand anfangs diesen Zauber durchaus nicht, sondern schrieb an einen Freund von der „alten blinden Geistesschwelgerin“, mit der er gestern abend zu Nacht gegessen habe. Ihr aber hatte der männliche Klang seiner Stimme, die freimüthige und sehr rücksichtslose Ausdrucksweise einen Eindruck gemacht wie nie etwas vorher, und mit glühendem Enthusiasmus strömte sie das neue Gefühl aus, das im Schnee des Winters als ungeahnter Frühling über sie hereinbrach.
Walpole selbst war im Anfang sehr betreten, er fürchtete, wie alle glänzenden Weltmänner, die Lächerlichkeit über alles und trat mündlich und brieflich mit der größten Härte den Aeußerungen einer Zärtlichkeit entgegen, die für ihn, den achtundvierzigjährigen Mann, geradezu unerträglich war. Der Briefwechsel der beiden liefert Belege, die in ihrer Art einzig dastehen – von der willenlosesten Hingabe der sonst so hochmüthigen Egoistin und der grausamsten Verhöhnung ihrer Ergüsse von seiten Walpoles.
„Sie lassen mir keinen Zweifel über Ihren Widerwillen gegen mich,“ schreibt Madame du Deffand einmal. „Wissen Sie, was mir das für einen Effekt macht? Daß ich Sie nicht weniger liebe als vorher . . . Ohne den verwünschten Ocean, der so übel placiert ist, weil er uns trennt, wäre ich trotz meines Alters die Glücklichste der Menschen.“
Einer solchen Anbetung widerstand auf die Dauer auch ein Horace Walpole nicht. Trotz gelegentlicher strenger Zurückweisungen wurde er doch nach und nach wärmer und erwiderte wenigstens mit aufrichtiger Freundschaft die an Vergötterung grenzende Zärtlichkeit der einsamen alten Frau. Sie interessierte ihn doch bald aufs höchste, er brachte bei einem zweiten Aufenthalt in Paris, den sie stürmisch herbeigesehnt hatte, lange Stunden in ihrer Gesellschaft zu und bewunderte ihre geistige und körperliche Lebhaftigkeit, wie sie in diesem Alter selten genug ist. Einem Freunde schrieb er damals: „Sie hat mit 73 Jahren eben so viel Feuer, als andere mit 23, sie macht Couplets und singt sie und erinnert sich an alle, die sie je gesungen hat. Durch ihre Lebensdauer von der angenehmsten Zeit des Jahrhunderts an bis auf unsere (1774)), welche die philosophische genannt werden kann, vereinigt Madame du Deffand die Vorzüge von Alter und Jugend ohne ihre Fehler: Liebenswürdigkeit ohne Eitelkeit und Vernunft ohne Grämelei, Ich habe sie mit allen möglichen Leuten über jedes mögliche Thema sprechen hören, und sie bleibt niemals stecken. Sie schlägt die Gelehrten, setzt die Anfänger an ihre Stelle und findet das richtige Wort für jeden. Sie ist so lebhaft und eindrucksfähig wie Madame de Sévigné, aber sie theilt nicht deren Vorurtheile und hat einen viel umfassenderen Geschmack. Trotz ihrer zarten Körperbeschaffenheit führt sie in ihrer unglaublichen Beweglichkeit ein Leben, das mich einfach ruinieren würde, wenn ich hier bleiben müßte. Wenn wir um ein Uhr morgens von einem ländlichen Souper heimkehren, so schlägt sie noch einen Spaziergang über die Boulevards vor, weil man ‚so früh doch unmöglich schon schlafen gehen könne‘. Vorige Nacht hatte ich alle erdenkliche Mühe, sie, die sich noch dazu unwohl fühlte, vom [643] Aufbleiben bis zwei oder drei Uhr abzubringen. Sie wollte den Kometen sehen oder vielmehr, sie glaubte, daß es mich amüsieren würde, ihn zu sehen, und hatte zu diesem Zweck einen Astronomen nebst Fernrohr bestellt.“
Am andern Morgen, als Walpole die Augen öffnete, fand er schon einen Brief, den sie ihm noch vor Schlafengehen geschrieben hatte! Umsonst suchte er solche Flammen etwas einzudämmen, er entsetzte sich geradezu, daß man ihn in seinem Alter „reizend“ finde, es half alles nichts, sie ernannte ihn um seiner großen Weisheit willen zu ihrem Vormund und drohte ihm, als er nach England zurückkehrte, wo er als Herr eines schönen Landsitzes ein sehr angenehmes Leben führte, in einem scherzhaften Brief, sie werde ihm nachfolgen, in den Gassen von London ihre Liebe für ihn proklamieren, sich in seinem Hause installieren und nicht mehr fortgehen.
„Nehmen Sie schnell das Riechfläschchen, theurer Vormund, denn Sie sind nahe daran, in Ohnmacht zu fallen. Und doch steht Ihnen dies alles sicherlich bevor, wenn Sie mir nicht zweimal in der Woche schreiben.“
Und er schrieb, ja, er kam in den folgenden Jahren nochmals für längere Zeit, einzig und allein, um seine alte Freundin zu besuchen, die dann auch ohne Rücksicht auf Tages- oder Nachtzeit bei ihm erschien und mit ihrer gewohnten Bestimmtheit erklärte, es liege nichts Unschickliches darin, daß sie seiner Toilette beiwohne, da sie ja nichts davon sehen könne. Sie ward nicht müde, ihn anzustaunen und zu beneiden, daß er als gesunder natürlicher und thätiger Mensch den „ennui“ nicht kenne, und war geneigt, in ihm eine Ausnahme von dem ihr so verächtlichen Menschengeschlecht zu erblicken, während er in Wirklichkeit mit seinen englischen Gewohnheiten und Anschauungen eine Ausnahme nur unter den verweichlichten und blasierten Franzosen war. Er hatte weite Reisen gemacht und nach der Rückkehr seinen Landsitz Strawberry Hill mit den mitgebrachten Gegenständen zu einer Sehenswürdigkeit umgestaltet. Ohne jedes Stilbedenken vereinigte er hier ein Gemisch von Antike und Gothik, Renaissance und Rokoko, welches der vornehmen Welt als der Inbegriff alles Schönen erschien. Nicht der kleinste Anziehungspunkt war die Persönlichkeit des Hausherrn, der sein skeptisches Junggesellenthum aufrecht erhielt trotz aller wohlgezielten Angriffe aus schönen Augen und mit tadelloser Liebenswürdigkeit den Pflichten des Wirthes nachkam, ohne sich dabei in Fesseln schlagen zu lassen.
Es war also kein Wunder, wenn auch Madame du Deffand diesen unerhörten Mann für die größte Merkwürdigkeit des Jahrhunderts ansah und alle ihre Gedanken ihm widmete. Die sechzehn letzten Jahre ihres Lebens sind einzig von diesem Interesse bewegt; was sonst nebenher ging, war für sie bloßer Schatten. Und doch war um diese Zeit ihr Salon der einflußreichste von allen. Diplomaten, Minister, Fürsten und Könige eilten, sich der Marquise vorzustellen, Voltaire kam, nicht minder Joseph II. bei seinem Pariser Aufenthalt, was irgend auf Beachtung Anspruch machte, drängte sich um die alte blinde Frau. Ihr einziges Interesse aber war „der Mann von Eisen und Schnee“, vor dessen strengen Briefen sie zitterte, dem sie hundertmal Besserung ihrer Ausdrucksweise, Unterdrückung ihrer Zärttichkeit gelobte, um dann zum Schluß zu sagen: „Können Sie denken, welche Narrheit mir jetzt durch den Kopf schießt? Wenn es möglich wäre, daß Ihre Briefe den Klang Ihrer Stimme hätten, wie glücklich würde ich sein ...“
Am Tage seiner letzten Abreise schreibt sie dem Angebeteten: „Adieu! Das Wort ist sehr traurig. Vergessen Sie nicht, daß Sie hier ein Wesen zurücklassen, von dem Sie zärtlich geliebt werden und dessen Gtück und Unglück allein in dem besteht, was Sie von ihm denken.“
Es liegt eine wehmüthige Ironie in diesen Schlußworten eines Lebens, das für jenes ganze Zeitalter das Spiegelbild abgeben kann. Es ging zu Ende mit der alten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Die lustige Frivolität, das schamlose Laster, die Emancipation von allen Schranken, der Hohn über das Gefühl und der ausschließliche Kultus des Geistreichthums, es hatte sich alles durchgelebt und überlebt. Und dem alten und ewigen Gesetze der Menschennatur zufolge kommt, wenn die Zustände sich ins Einseitige und Unleidliche zugespitzt haben, unversehens ein ungeheurer Rückschlag, der als Sturmfluth hereinbricht und, zurückweichend, eine völlig neue Gestaltung hinterläßt. Der Mann dieser Umwälzung war Rousseau. Sein Ruf nach Rückkehr zur Natur und Einfachheit lieh dem stillen Verlangen von Tausenden die Stimme, und urplötzlich erklangen die verpönten Worte: Empfindung, Liebe, Leidenschaft aus dem Munde einer Generation, die kaum einen Zug noch mit der vorigen gemein hatte. Die alten Gestalten verblaßten neben dem begeisterten jungen Frankreich, das mit stürmischem Herzschlag der großen Revolution entgegenstrebte. Als die letzte der Geistesvirtuosinnen einer versunkenen Zeit starb 1784 die Marquise du Deffand dreiundachtzigjährig; voll Ekel und Abscheu am Leben und doch in Furcht vor dem Tode, der sich übrigens ihrer erbarmte und sie sanft hinwegnahm.
Das schöne Limonadenmädchen.
(Schluß.)
Das Büffett stand mitten im großen Saal des Kaffeehauses; es war eine Art vergoldeter Ladentisch, hinter dem sich als Sehenswürdigkeit ersten Ranges der Thron Napoleons befand mit seinem veilchenblauen Sammetüberzug und seinem dickvergoldetem, von einem Adler überragten Gestell. Für die hübschen, in seidenen Kreuzbandschuhen steckenden Füßchen der Büffettdame war ein weißseidenes Fußbänkchen hingestellt. Als Pauline eintrat, senkte sie verwirrt und geängstigt die Augen vor den unzähligen Reflexbildern ihrer Gestalt, welche ihr die Riesespiegel rundum entgegenstrahlten, und war froh, als sie sich auf ihren Platz niederlassen konnte. Doch hier begann eine neue Qual für sie. Keine Möglichkeit, sich den zahllosen Blicken zu entziehen, die sie von allen Seiten anstarrten; denn der Saal war gesteckt voll, und hinter der Glasverkleidung, welche das Kaffeehaus von der Passage des Palais-Royal trennte, hatte sich ebenfalls eine Menge Neugieriger gesammelt und starrte durch die Scheiben. Frau van Eyckens konnte nicht begreifen, was diese Ansammlung bedeuten sollte und warum sich ganz Paris um sie herum zu drängen schien. Sie wußte nicht, daß schon seit acht Tagen alle Zeitungen wimmelten von Notizen über den Thron Napoleons und über das „schönste Mädchen der Welt“, die Ur-Urenkelin von Rubens, die man als Büffettdame gewonnen habe.
Inmitten der Aufregung und des Gedränges, das sich um sie her entfaltete, entledigte sie sich maschinenmäßig ihrer Aufgabe als „Einschreiberin“ und flüchtete sich in diese Beschäftigung wie in ein Asyl vor der zudringlichen Neugierde und vor ihrer eigenen Verwirrung. Ueberwacht von dem alten Herrn Mussault, der sich triumphierend hinter ihr aufgepflanzt hatte, beging sie keine einzige Irrung.
Als endlich gegen ein Uhr nachts die Menge im Café und vor den Glasscheiben draußen sich zurückgezogen und zerstreut hatte, trat der junge Mussault auf die ermüdete, fast vernichtete Frau zu mit einer gestempelten Schrift. „Wir hatten tausend Franken jährlich vereinbart, Madame,“ sagte er mit einem artigen freundlichen Lächeln. „Hier ist aber ein Vertrag, der Ihnen das Doppelte dieser Summe sichert, wenn Sie sich verpflichten, drei Jahre hindurch bei mir zu bleiben.“
„Zweitausend Franken sind nicht genügend,“ unterbrach ihn sein Vater mit Bestimmtheit. „Du hast mit Hilfe dieser Dame heute allein soviel eingenommen. Du wirst ihr also viertausend Franken zahlen, und ich verschaffe Dir ihre Unterschrift auf fünf Jahre.“
Er nahm den Vertrag aus den Händen seines Sohnes, brachte selber die betreffenden Aenderungen in demselben an und ließ ihn sowohl von Pauline wie von seinem Sohn unterzeichnen. Dann begleitete er die junge Frau nach Hause.
Allein zurückgeblieben in dem geschlossenen Lokal, erging sich das Ehepaar Mussault in gegenseitigen Glückwünschen. „Sechstausend Franken Einnahme an einem Tage!“ rief der Mann stolz.
„Und Du botest ihr einen Pappenstiel, der sie beinahe unschlüssig gemacht hätte, ihre Unterschrift zu geben, wenn Dein [644] Vater nicht gescheiter gewesen wäre! Sie hätte ebensogut sechstausend Franken fordern können, und Du hättest auch zugreifen müssen! O, sie bringt unser Kaffeehaus mit einem Schlag in die Mode! Eine wahre Goldgrube, das! Wenn die Sache nur zwei Jahre so fortgeht, sind wir die reichsten Leute!“
Von diesem Augenblick an hatten die Pariser eine neue Mode, eine neue Liebhaberei, einen neuen Stern – das „schöne Limonadenmädchen“, „la belle limonadière“.
Am Tage nach Paulinens erstem Erscheinen sprach man in ganz Paris thatsächlich von nichts anderem als von dem schönen Limonadenmädchen. Die wunderbare Vollendung ihrer Züge, der Glanz ihrer Augen, ihr reiches Haar, die edle Form ihrer Hand und ihres Fußes, ihr vornehmes Wesen – das alles fand tausend Bewunderer, die von früh bis abends förmliche Hymnen über sie sangen.
Alles drängte in das mit einem Schlag berühmt gewordene Kaffeehaus, und als Pauline gegen vier Uhr nachmittags ihren Sitz am Büffet wieder einnahm, erschallte aus der dichtgedrängten Menge ein Beifallklatschen, das kein Ende nehmen wollte und sich immer wieder erneuerte. Seit Jahren hatte man die Pariser in keinem solchen Begeisterungstaumel gesehen – es war wie ein Delirium. Die Leute in der Glasgalerie draußen verlangten so stürmisch die schöne „Limonadière“ zu sehen, daß sie sich endlich vom Büffett erheben und an den großen Scheiben längs des Durchgangs zeigen mußte. Da erhob sich auch draußen ein unendlicher Beifallssturm. Die Zeitungen besprachen sämtlich am nächsten Morgen diese Vorfälle; man verglich Pauline in den Feuilletons mit allen Schönheiten, die jemals die Welt in Entzücken versetzt hatten. Aber die Erfolge der jungen Witwe beschränkten sich nicht darauf; die kleineren Theater nutzten die Begeisterung des Publikums aus und brachten die „Limonadière“ in mehreren Gelegenheitsstücken auf die Bühne; es fanden sich sogar Theaterdirektoren, die ihr den Vorschlag machten, sie unter glänzenden Bedingungen zu engagieren, wenn sie sich nur entschließen könne, in einem dieser Stücke auf der Bühne zu erscheinen, sei es auch nur in einer stummen Rolle. Ja, der Besitzer eines anderen Kaffeehauses bot ihr fünfundzwanzigtausend Franken jährlich, wenn sie bei ihm Dienste nehmen wolle. Umsonst! Pauline hatte für alle diese Vorschläge nur eine abweisende Antwort und erklärte, auch ohne Vertrag würde sie sich verpflichtet fühlen, bei der Familie Mussault auszuharren. Das wurde bekannt und erhöhte noch das allgemeine Interesse. Sie war für die Pariser nun vollends nicht nur schön wie eine Fee, sondern auch hochherzig und edeldenkend wie eine Heldin. Und Herr Mussault, der ungeheure Geschäfte machte, hingerissen von der Begeisterung ringsum, erhöhte das Gehalt Paulinens von selber auf zwölftausend Franken und bewilligte ihr einen Antheil an seinem Reingewinn.
Die Lage Paulinens war nun, wenn auch nicht glücklich, so doch tröstlich geworden. Jeder Tag benahm ihrer Stellung etwas von dem Peinlichen, das diese hatte, und sie empfand sogar – sie wäre sonst kein echtes Weib gewesen – eine Art Befriedigung über die schmeichelhafte Berühmtheit, deren sie sich zu erfreuen hatte. Und doch – wie viel sie in diesem äußerlich glänzenden Leben entbehren mußte, das kam ihr zum Bewußtsein, wenn sie alle zwei Wochen den freien Tag, den man ihr verstattet hatte, in der Familie des guten Doktor Destrée verbringen konnte, ihren Knaben auf dem Schoß, ohne Lärm, ohne Aufregung um sie her. Daß sie ihren Sohn nicht selbst erziehen durfte, war ihr bitterster Schmerz. Zwar lief sie jeden Morgen nach der Pension Adrians, um ihn zu umarmen, zu ermahnen, sich nach seinen Fortschritten zu erkundigen, und war glücklich, wenn sie erfuhr, daß der Knabe alle seine Mitschüler an Fleiß übertreffe. Aber wie wenig war doch das alles für ihr liebedürstendes Mutterherz! Nur ein Gedanke tröstete sie dabei: die Zukunft ihres Knaben würde frei von Sorgen sein. Sie legte fast ihre ganze große Einnahme auf Zinsen und entnahm ihr nur die für Adrians Erziehung nothwendigen Summen. Ihre eigene Wohnung und Verpflegung kosteten sie nichts, und auch ihrer treuen Dienerin, der Frau Hinrik, hatte sie eine auskömmliche Stelle in der Kaffeeküche verschafft. So konnte sie sicher darauf rechnen, nach den fünf Jahren, auf die ihr Vertrag lautete, ein hübsches Vermögen erspart zu haben, das die Zukunft sicherte. Diese frohe Aussicht war der unzerstörbare Halt, dessen sie in ihrer Stellung bedurfte, um nicht von Kleinmuth überwältigt zu werden. Ihre Schönheit trug ihr so manche plumpe und dreiste Aeußerung zudringlicher Bewunderung ein, und obgleich sie die mündlichen Huldigungen alle mit demselben kalten Lächeln abthat, die Briefe ungelesen verbrannte, so fühlte sie sich doch im Innersten wehrlos. Und als ihr einige Stutzer zu folgen anfingen, wenn sie abends in ihre Wohnung zurückging, begleitet von Frau Hinrik, war sie zuletzt gezwungen, eine kleine Wohnung im Kaffeehause selbst zu beziehen, um sich vor diesen Belästigungen sicherzustellen.
So verflossen vier Jahre – vier Jahre der Arbeit, der Hoffnung auf die Zukunft.
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Eines Nachmittags saß Pauline wie gewöhnlich in dem Büffett, aus dem sie den Thronsessel Napoleons hatte entfernen lassen, um ihn mit einem weniger theatralischen Lehnstuhl zu vertauschen. Sie trug – wie fast stets, seit es ihr gelungen war, von den Rathschlägen der Frau Mussault sich unabhängig zu machen – ein einfaches schwarzes Kleid, das aber ihre Schönheit nur noch mehr hervorhob und zu dem melancholischen Reiz ihrer Züge vortrefflich paßte. Gedankenlos ließ sie ihre Augen durch den Saal schweifen, als sie plötzlieh im Kreise einiger Freunde einen jungen Menschen erblickte, der sie in wahrhaft taktloser Art anstarrte. Es schien dabei, als ob ihn seine Kameraden wegen einer Prahlerei verspotteten, auf der er offenbar beharrte. Endlich ließ er sich von einem Kellner Tinte und Feder bringen und schrieb auf ein Blatt seines Notizbuches einige Zeilen. Er riß das Blatt heraus, faltete es briefartig zusammen und ließ es durch den Kellner der Büffettdame überreichen. Diese glaubte, es enthalte irgend eine besondere Bestellung, entfaltete es und las: „Den schönsten Kaschmirshawl für einen Kuß!“
Es war das erste Mal, daß ihre öffentliche Stellung dazu mißbraucht wurde, sie auf so rohe Art zu beleidigen. Sie wurde brennend roth vor Entrüstung und warf den Zettel verächtlich von sich. Jetzt erhob sich der junge Mann, der schon einige Flaschen Champagner getrunken hatte, von seinem Tischchen und trat an das Büffett, um seine Rechnung persönlich zu begleichen. Er zog eine Handvoll Goldstücke aus der Tasche und legte sie vor Pauline hin, die den Betrag der Rechnung davon wegnahm, das übrige aber mit der Hand zurückschob. Der Fremde rief den Kellner und strich ihm den Rest der Goldstücke in die Schürze. „Ich habe Dir einen Brief zur Besorgung übergeben,“ sagte er, „verlange die Antwort!“
[645] Der Angeredete sah bestürzt und rathlos auf Frau von Eyckens
„Nun, Ihre Antwort, Madame?“ wendete sich der Stutzer nach einer kurzen Pause an Pauline.
Diese maß ihn nur mit einem verächtlichen Blick und fuhr anscheinend gleichgültig fort, Einträge in ihr Buch zu machen. Aber eine Thräne der Scham und des Zornes rollte langsam über ihre Wange und benetzte das Papier. Von diesem Augenblick an veränderte sich plötzlich das ganze Wesen des jungen Mannes – er machte eine höfliche Verbeugung und entfernte sich.
Am nächsten Nachmittag war er einer der ersten, die in dem Kaffeehaus erschienen; er grüßte Pauline respektvoll und nahm in einer Ecke des großen Saales Platz, von wo er unauffällig das Büffett übersehen konnte. Und das setzte er einige Wochen hindurch fast täglich fort. Dann erhielt Pauline mit einem Mal ein zweites Billett, das sie zwischen den Blättern ihres Kassenbuchs fand; es lautete: „Mein Herz, mein Vermögen und mein ganzes Leben für einen Blick!“
Während sie las, bemerkte sie in einem der Spiegel, daß die Augen des Fremden aus seiner Ecke fast ängstlich auf sie gerichtet waren, Sie zuckte die Achseln und warf das Papier, ohne es zu zerreißen, in den Papierkorb an ihrer Seite. Als der junge Mann dies bemerkte, legte er sein Gesicht in die aufgestützten Hände und schien tief betrübt.
Kurze Zeit darauf traten einige junge Gardeoffiziere, die just von einem Regimentsdiner kamen, an das Büffett und begannen, der jungen Frau Komplimente zu machen, die von Minute zu Minute zudringlicher wurden. Aber plötzlich ward der lauteste Witzler von dem jungen Mann, der hastig aus seiner Ecke herbeigeeilt war, kräftig am Arm gefaßt und aus dem Kaffeelokal hinausgezerrt. Das alles spielte sich so blitzschnell ab, daß die anderen Offiziere gar nicht eingreifen konnten.
Pauline erschrak. Was für Folgen mochte der Unbesonnene zu gewärtigen haben! Und was hatte ihn bestimmt, für die Büffettdame einzutreten, die er doch selbst durch seine Briefe beleidigt hatte? Wollte er diese Beleidigung durch seine ritterliche That vergessen machen? Denn ritterlich war sein Verhalten gewesen, das konnte Pauline nicht leugnen. Und wenn er nun von dem Offizier gefordert, verwundet, getötet wurde – ihretwegen getötet! Eine zitternde Angst ergriff sie. Sie verbrachte eine schlaflose Nacht, nur immer an die Gefahr des Mannes denkend, der so kraftvoll für sie eingetreten war.
Am nächsten Tag wartete sie voll schmerzlicher Ungeduld auf sein Erscheinen im Saal. Aber die Stunde, zu der er regelmäßig zu kommen pflegte, ging vorüber, und er blieb aus.
Er blieb aus, nicht nur an diesem Tag, sondern auch an den folgenden, eine ganze Woche hindurch. Nun konnte sie nicht mehr daran zweifeln, daß ihm sein Eintreten für ihre Ehre eine schwere Wunde, vielleicht gar den Tod eingetragen hatte. Sie erkundigte sich hoffend und fürchtend zugleich nach seinem Verbleib, allein niemand vermochte ihr Auskunft zu geben.
Zwei Monate verstrichen ihr so in Ungewißheit und Bangen, zwei Monate, während deren der Gedanke an den Fremden, wie sie sich fast mit Beschämung gestand, stets ihre Seele beschäftigte.
Da, an einem trüben Nachmittag, trat er wieder in das Lokal und begab sich sogleich an seinen gewohnten Platz am entferntesten Ende desselben. Pauline konnte nur mit Mühe einen Ausruf der Freude unterdrücken und beobachtete ihn mit steigender Bewegung. Er war sehr blaß, sehr abgemagert und schien auf nichts um sich her zu achten. Schon nach kurzer Zeit erhob er sich wieder und schritt der Thür zu, wobei er sich, wie Pauline jetzt erst bemerkte, auf einen Stock stützte.
Länger hielt es die junge Witwe nicht mehr an ihrem Platz aus. Sie verließ hastig das Büffett und trat auf ihn zu. „Ich habe Ihnen noch nicht meinen Dank aussprechen können, mein Herr,“ sagte sie mit zitternder Stimme. „Aber glauben Sie mir, ich werde es nie vergessen, daß Sie –“
„Ich habe nur meine Schuldigkeit gethan,“ unterbrach er sie abwehrend, indem er sie mit einer achtungsvollen Verbeugung begrüßte. „Jeder andere an meiner Stelle hätte gewiß ebenso gehandelt.“ Damit verneigte er sich nochmals und verließ den Saal.
Vom nächsten Tag an nahm er seine stille schweigsame Gewohnheit wieder auf; er richtete niemals mehr ein Wort an die Büffettdame und begnügte sich damit, sie beim Kommen und Gehen höflich zu grüßen wie die übrigen Stammgäste auch.
Eines Abends erschien, wie das von Zeit zu Zeit geschah, Doctor Destrée in dem Kaffeehaus. Als guter alter Bekannter trat er auf Pauline zu, setzte sich neben sie, plauderte mit ihr und verabschiedete sich nach einer halben Stunde mit einem herzlichen Händedruck.
Als er den Saal verlassen hatte und durch die Glasgalerie des Palais-Royal schritt, fühlte er plötzlich eine Hand auf seinem Arm. Er wandte sich um und sah sich einem Fremden gegenüber.
„Mein Herr,“ sagte dieser, indem er den Hut lüftete, „Sie sind, wie ich gesehen habe, ein guter Bekannter der Dame, welche das Büffett dieses Kaffeehauses verwaltet?“
„Ja, mein Herr.“
„Ich bitte Sie, setzen Sie das, was ich Sie fragen möchte, nicht auf Rechnung müßiger oder aufdringlicher Neugierde. Ich habe ernste ehrenhafte Gründe zu den Fragen, die ich an Sie richte – mein Wort darauf!“
„Gut,“ erwiderte der Arzt erstaunt, „so fragen Sie!“
„Ist das Herz der Madame Pauline – ich kenne sie nur unter diesem Namen – noch frei?“
Der Arzt schaute den Fremden mißtrauisch an. Er wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Endlich sagte er langsam: „Ich glaube nicht, daß sich die junge Witwe für irgend einen Mann interessier.“
„Sie hat also niemals eine besondere Theilnahme geäußert für irgend einen der ständigen Besucher des Kaffeehauses?“
„Niemals. Das heißt, sie hat mir wohl einmal von einem jungen Herrn erzählt, der sie gegen ein paar zudringliche Gardeoffiziere in Schutz nahm. Aber dieses Interesse ist ganz natürlich, da sie fest überzeugt ist, jener junge Mann sei infolge seines Einstehens für sie im Duell schwer verwundet worden.“
„Ah! – Doch noch eine Frage – eine unbescheidene vielleicht, aber eine redlich gemeinte: in welchen Lebensverhältnissen hat sich die Dame befunden, ehe sie ihre jetzige Stellung einnahm? Antworten Sie mir offen und ohne Rückhalt, ich bitte Sie herzlich darum. Sie sehen, ich halte Sie für einen Ehrenmann – sonst würde ich diese Frage nicht an Sie stellen.“
„Die Vergangenheit der Dame ist tadellos, mein Herr. Allein ich würde durch nähere Mittheilungen darüber eine Indiskretion begehen.“
„Ich heiße Gustav Matthison – vielleicht ist Ihnen der Name dieser dänischen Familie irgendwie bekannt und erwirbt mir Ihr Vertrauen. Ein Großonkel von mir, Jakobus Matthison, hat sich in der Geschichte der medizinischen Wissenschaft einen Ruf erworben.“
„Jakabus Matthison! Seit langer Zeit schon steht dieser Name bei mir in höchster Achtung – denn ich selber bin Arzt, mein Herr – Doktor Destrée. Und jetzt bitte ich Sie, meinen Arm zu nehmen. Ich will Ihnen kurz erzählen, was ich über das traurige und tapfer getragene Schicksal der Freundin meiner Familie, der Frau Pauline van Eyckens, weiß.“
[646] Als er alles berichtet hatte – die Jugendgeschichte Paulinens, ihr Leben in Glück und Glanz, den Ruin ihres Gatten, die Hingebung, die sie ihm im Unglück gezeigt; ihre Prüfungen, den Kampf, den es ihr nach dem Tode ihres Mannes gekostet hatte, diese Stelle als Büffettdame anzunehmen; wie sie selbst heute noch leide unter der Pein ihres so berühmten und so demüthigenden Daseins und wie sie doch das alles geduldig trage in der Liebe für ihr Kind – da drückte der bis zu Thränen gerührte junge Mann dem Arzt krampfhaft die Hand und sagte mit unsicherer Stimme: „Ich danke Ihnen, Herr Doktor, ich danke Ihnen von ganzem Herzen! Und nun will ich Sie nicht länger aufhalten. Vielleicht hören Sie noch mehr von mir.“ Damit grüßte er und verschwand hastig in der Dunkelheit.
Doktor Destrée schaute ihm nach, etwas verblüfft über diese Art, kurzweg davonzugehen. Hatte er recht gethan, dem seltsamen Menschen diese Mittheilungen zu machen? Nach einigem Nachdenken hielt er es für das beste, Paulinen von dem Vorgefallenen sogleich Mittheilung zu machen.
Er hatte befürchtet, durch die Offenherzigkeit, zu der er sich hatte hinreißen lassen, ihren Unwillen zu erregen, aber zu seiner großen Ueberraschung war sie gar nicht ungehalten. Ja sie schien eher erfreut über seine Erzählung und hörte ihm mit offenbarem Antheil zu.
Pauline konnte und wollte sich keine Rechenschaft geben über die fieberhafte Aufregung, mit der sie am nächsten Tag das gewohnte Erscheinen ihres Ritters erwartete. Wie oft blickte sie nach der Thür, wie oft nach seinem gewöhnlichen Platze! Aber vergebens. Er erschien weder heute noch an den folgenden Tagen.
„Was hat nur Madame Pauline?“ fragten sich die alten Stammgäste des Lokals in den nächsten Wochen und Monaten. „Sie ist wie umgewandelt. Früher so gleichmüthig heiter – und jetzt! Sie muß einen schweren Kummer haben, die arme Frau, oder – eine tiefe Liebe!“
So ging es sechs Monate hindurch. Selbst die Gedankenlosesten bemerkten, wie Paulinens Schönheit ihren blühenden Glanz, ihre strahlende Frische zu verlieren schien. Aber niemand, selbst Doktor Destrée nicht, kannte den Grund, niemand ahnte, wie es in ihrem Herzen aussah. Sie grollte mit sich selbst und mit dem Fremden, dem sie über sein gänzliches Verschwinden bittere Vorwürfe machte. Und doch mußte sie sich immer wieder sagen, daß sie ungerecht gegen ihn sei, daß sie ihm jenen Ritterdienst nicht so danke, wie er es verdiene. Hatte ihr der Fremde denn jemals ein Versprechen gemacht, war er jemals in nähere Berührung mit ihr getreten? Hatte er sich ihr seit jenem unglückseligen ersten und letzten Male je wieder genähert? Und daß er sich bei dem Doktor nach ihr erkundigt hatte, war eben Theilnahme gewesen, sonst nichts! Jetzt war er abgereist oder hatte sich ein anderes Stammlokal gesucht und dachte wohl gar nicht mehr an sie zurück.
Dann aber erfaßte sie wieder eine jähe Angst. Er war sicher krank – oder gestorben! Er hätte sonst nicht so für immer die Nähe einer Person meiden können, die er so wacker in Schutz genommen, die in seinen Augen so viel Achtung und – Zuneigung gelesen hatte. Ach, und auch ihm konnte es ja nicht verborgen geblieben sein, daß er der einzige Mensch sei, welcher der armen Vereinsamten inmitten dieser oberflächlichen Menge nicht gleichgültig war!
So zwischen stillen Vorwürfen und Entschuldigungen in ewiger Unruhe hin und her geworfen, sah Pauline fast mit Freude den Termin nahen, bis zu dem sie noch an das Geschäft des Herrn Mussault gebunden war; sie ersehnte mit aller Macht den Augenblick, wo sie wieder ein stilles unbeachtetes selbständiges Leben beginnen konnte. Sie wollte unter keinen Umständen etwas von einer Verlängerung ihres Vertrags wissen, auch unter den glänzendsten Bedingungen nicht.
Seit dem Tage, an dem sie zum ersten Mal ihren Platz am Büffett eingenommen, hatte sie ihre wachsenden Einnahmen mit wahrhaft geiziger Sparsamkeit zurückgelegt und verfügte nun über eine jährliche Rente von sechstausend Franken – das war übergenug für sie und ihren Knaben.
Als Herr Mussault das Vergebliche seiner Bemühungen einsah, beschloß er, wenigstens den einzigen noch übrigen Monat seiner Verbindung mit Pauline auf jede Weise auszunutzen. So fand man denn überall angekündigt, daß die schöne „Limonadière“ schon in den nächsten Wochen das Palais-Royal für immer ver1assen werde.
Man kann sich denken, daß sich nun noch einmal ganz Paris herandrängte, um die berühmte Büffettdame zu sehen, zu bewundern; das Palais-Royal konnte wie in jenen ersten Zeiten die Anzahl der Neugierigen kaum fassen, und man zerbrach sich vergeblich den Kopf, was für Beweggründe Madame Pauline haben könne, sich so plötzlich zurückzuziehen.
Eines Tages, als Frau van Eyckens aus der Pension zurückkehrte, wo sie ihren Knaben besucht hatte, fand sie einen Brief des Doktors vor, in dem er sie zum Abendessen einlud; seine Frau und er hätten Wichtiges mit ihr zu besprechen, Pauline hatte schon längst dem Publikum und Herrn Mussault gegenüber sich eine größere Freiheit gewahrt; wenn irgend ein erheblicher Grund sie abhielt, ihren Platz im Kaffeehaus einzunehmen, so ließ sie einfach absagen. Das that sie auch an diesem Tage, wo die Einladung des Doktors sie in eine unerklärliche Aufregung versetzte.
Bei Destrée fiel Paulinens erster Blick auf einen fremden alten Herrn, der seit ungefähr acht Tagen regelmäßig das Kaffeehaus besucht hatte und während dieser Zeit um so mehr von ihr bemerkt worden war, als er stets an dem Tische saß, den früher Herr Matthison einzunehmen pflegte. Kaum hatte die gute Frau des Arztes ihre Freundin gesehen, als sie mit ausgebreiteten Armen auf sie zustürzte.
„Laß Dich umarmen, liebe Pauline,“ rief sie mit bewegter Stimme, „o, wir haben heute so viel mit Dir vor! Dieser Herr hier –“ Und sie war offenbar im besten Zuge, das ganze Geheimniß, das ihre Seele bedrückte, in einem Athemzug preiszugeben. Aber der fremde alte Herr unterbrach sie. Er war einige Schritte vorgetreten und verneigte sich jetzt achtungsvoll vor Pauline.
„Verzeihen Sie, Madame,“ begann er „wenn ich Sie gleich in der ersten Minute mit meinem ganzen Anliegen überfalle, nachdem Sie nun doch schon diese geheimnißvolle Andeutung Ihrer Freundin gehört haben. Mit einem Wort, Madame – ich bin gekommen, um Ihre Hand zu erbitten; aber nicht für mich,“ fügte er rasch und lächelnd hinzu, als er ihre bestürzte Miene bemerkte, „sondern für meinen Sohn.“
Pauline unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Mein Herr,“ sagte sie mit erregter Stimme, indem sie sich vergeblich zu fassen versuchte, „ehe Sie weiter sprechen, ehe Sie mir den Namen desjenigen nennen, der mich mit diesem Antrage beehren will, muß ich Ihnen mittheilen, daß ich den festen Entschluß gefaßt habe, mich nie wieder zu verheirathen.“
„Trotzdem müssen Sie mir erlauben, fortzufahren,“ meinte der alte Herr lächelnd, „Es wäre denn, daß Ihr Herz nicht mehr frei ist!“
„Verzeihen Sie mir – darüber bin ich wohl niemand Rechenschaft schuldig,“ sagte Pauline sanft, aber in festem Tone.
„Kind, Kind,“ mahnte die Freundin, „wie kannst Du der Erinnerung an eine längst entschwundene Vergangenheit, wie kannst Du einer nutzlosen Träumerei zuliebe ein wirkliches Glück, Deine ganze Zukunft opfern!“
„O, ich hoffe doch, daß Sie nicht unerbittlich bleiben werden, Madame,“ fiel der Alte ein. „Oder sollten Sie wirklich auf Ihrem Nein beharren, wenn ich Ihnen meinen Namen und den meines Sohnes nenne? Ich bin der Graf von Matthison. Mein Sohn Gustav –“
Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Thür zum Nebenzimmer und der, welcher all diese Monate Paulinens ganzes Sinnen und Denken erfüllt hatte, lag zu ihren Füßen.
Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, dann aber faßte sie sich und hob den Bittenden sanft empor.
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Anderthalb Monate nach dieser Begebenheit erreichte ein bequemer eleganter Reisewagen glücklich das schöne Schloß der [647] Familie Matthison in der Nähe von Kopenhagen. Die Reisenden waren der alte Graf, der kleine Adrian, Pauline und ihr Gatte, Graf Gustav.
Das Schloß, ein freundlicher Bau aus dem siebzehnten Jahrhundert, hob sich weiß und duftig von dunklen Waldmassen ab, die einen hohen Hügel überdeckten. Zwischen den Wohngebäuden und dem Waldessaume zogen sich große Parkanlagen hin mit hundertjährigen Bäumen und einem wegen seines Reichthums berühmten Wildstand. Vom Balkon des Schlosses aus erblickte man in der Ferne das schimmernde unendliche Meer.
In diesem herrlichen Heim verbrachte Pauline den Sommer mit ihrem Sohn und den neugewonnenen Lieben. Welch ein seliger Sommer war das! Ihr Kind, sie selbst umgeben von zarter Liebe, geborgen in starker Hand! Welches Glück nach so viel Kampf und Leid!
Und als der Winter kam mit seinem harten Frost und seinen endlosen Nächten, da meinte der alte Graf: „Kinder, es wird Zeit, daß wir unser Nest in Kopenhagen aufschlagen und uns nach Menschen umsehen!“ Und man bezog das Winterpalais der Familie in der Hauptstadt.
Dort traf Pauline an der Spitze der zahlreichen Dienerschaft ihre gute treue Frau Hinrik und noch eine zweite Ueberraschung, die ihr nicht minder bewies, wie sorgsam die Liebe ihres Gatten war.
Im Salon nämlich entdeckte sie gleich auf den ersten Blick fast alle jene Bilder, die einst in Amsterdam ihre Wohnung geschmückt hatten. Mit einem Ausruf innersten Glückes warf sie sich in die Arme ihres Gatten, dem Frau Hinrik verrathen hatte, was ihre Gebieterin am meisten überraschen und freuen würde.
Eine Reihe glänzender Feste begann, bei denen die Gräfin Matthison den bewunderten Mittelpunkt bildete. Alles huldigte dem Reiz ihrer Schönheit; der durch das seltsame Schicksal der Gefeierten nur erhöht wurde. Pauline fühlte sich glücklich in der Verehrung, die man ihr von allen Seiten entgegenbrachte, am glücklichsten aber daheim im Familienkreise, im stillen Geben und Nehmen einer treuen unerschütterlicheu Liebe. Wie ein Märchen war ihr der wunderbare Wechsel, den ihr der Himmel beschert hatte, und doch war alles strahlende Wirklichkeit.
Und wunderbar wie ein Märchen scheint vielleicht auch Dir, lieber Leser, diese Geschichte von dem schönen Limonadenmädchen, und doch ist sie Wahrheit – eine Wahrheit, wie die Schönheit eine ist und die Tugend auch.
Das erste deutsche Mädchengymnasium wurde, dem Wiener Vorgang folgend, am 16. September d. J. in Karlsruhe eröffnet. Eine Reihe von tüchtigen Lehrern ist für das Unternehmen gewonnen, der Lehrplan schließt sich genau demjenigen des Knabengymnasiums an, da er das gleiche Ziel, Reife zur Universität, bezweckt.
Der Eintritt erfolgt mit 12 Jahren, nachdem der dreijährige Besuch einer höheren Töchterschule vorausging, Die erste Klasse des Gymnasiums entspricht der Untertertia, sie ist als Uebergangsklasse gedacht, in der Latein und Mathematik als neue Fächer erscheinen, wird aber gerade darum an die Lernkraft der Schülerinnen starke Ansprüche stellen. Indessen sucht man hier durch die Art der Unterrichtsertheilung Vorsorge zu treffen: die Schulstunden fallen sämtlich auf den Nachmittag, so daß die Vormittage sowohl für häusliche Beschäftigung als für die Schularbeiten frei sind, somit das gesundheitsschädliche Arbeiten in die Nacht hinein völlig vermieden wird. Auf diese Weise und mit Hilfe der sechs wöchentlichen Turnstunden läßt sich hoffen, daß von Ueberanstrengung der jugendlichen Schülerinnen keine Rede sein und daß es gelingen wird, ihnen die für den künftigen Erwerb nothwendige gründliche und ernsthafte Bildung ohne Schaden für ihr körperliches Gedeihen zu geben.
Die Gründer der Anstalt hoffen, daß in sechs Jahren, wo die ersten
Abiturientinnen das Gymnasium verlassen, die Universitätsthore ihnen
geöffnet sein werden, und nach dem heutigen Stand der Frage kann man
zugeben, daß dies nicht ausgeschlossen ist. B.
Die Internationale Jubiläums-Gartenbau-Ausstellung zu Leipzig. (Zu dem Bilde S. 632 und 633.) Zu den ältesten Bauten Leipzigs zählt der Kuhthurm, der sich am Eingang zu dem Vororte Lindenau erhebt. Vor acht Jahrhunderten zum Schutze der auf benachbarten Wiesen weidenden Viehherden errichtet, war er in letzter Zeit der Sitz einer landwirthschaftlichen Versuchsanstalt. Dicht an diesen Bau schließt sich ein Grundstück von etwa 136000 Quadratmetern Fläche, das, von einem Gürtel prachtvoller Baumgruppen eingerahmt, jahrzehntelang in stiller Ahgeschiedenheit lag und selbst dem größten Theil der Leipziger Bürger so gut wie unbekannt war. Und doch ist es eine Perle voll landschaftlichen Reizes, in der unmittelbarsten Nähe der Altstadt, werth, zum Anziehungspunkt der Tausende zu werden, die nach des Tages Last und Mühe in frischer Luft, in Gottes freier Natur aufathmen möchten. Das hat man in jüngster Zeit erkannt und darum beschlossen, dieser Perle würdige Einfassung zu geben. Auf dem Kuhthurmgrundstücke soll sich demnächst ein Palmengarten erheben, und die weiten Wiesen, die sich zwischen Lindenau und Leipzig erstrecken, beabsichtigt man in große Wasserbecken, die sogenannten „Elsterbassins“, zu verwandeln.
Ein glückliches Zusammentreffen von Umständen brachte es mit sich, daß wir schon heute die voraussichtliche Wirkung der geplanten Anlagen uns vergegenwärtigen können; denn das Kuhthurmgrundstück wurde in diesem Frühjahr und Sommer zum Schauplatz einer überaus regen gärtnerischen Thätigkeit.
In diesem Jahre feiert der „Leipziger Gärtner-Verein“ das fünfzigjährige Jubelfest seiner Gründung, und seine Mitglieder faßten den Entschluß, dieses Fest mit einer Internationalen Jubiläums-Gartenbau-Ausstellung zu verbinden; in dankenswerther Weise wurde ihnen zu diesem Zwecke die Umgebung des Kuhthurms zur Verfügung gestellt, und Leipziger Gärtner schritten nun mit unverdrossenem Fleiß und echtem Kunstsinn ans Werk und zauberten in der kurzen Zeit von wenigen Monaten nicht nur eine „Ausstellung“, sondern einen wirklichen Lustgarten inmitten der von der Natur gegebenen Parkeinfassung hervor.
In der That war diese Ausstellung, zu welcher in der Zeit vom 25. August bis 5. September Tausende und Abertausende von nah und fern herbeiströmten, eine landschaftliche Sehenswürdigkeit ersten Ranges. Das beweisen die naturgetreuen Abbildungen unseres Zeichners, denen leider eines – die Farbenpracht fehlt, die wir auch durch Worte nicht zu ersetzen vermöchten. Wandelte man auf den Kieswegen durch die weiten Anlagen, so entzückten stets neue Bilder das Auge, und es war schwierig, einen Standpunkt zu finden, von dem aus man das Ganze am besten überschauen konnte. Am günstigsten erwies sich der Ausblick von dem am äußersten Ende aufgestellten Pavillon, unter dem eine Wasserkaskade hervorbrach, und auch unser Zeichner hat diese Ansicht von der „Grotte“ aus zum Hauptstück seiner Darstellung gewählt. Drei Leipziger Kunstgärtner, J. C. Hanisch, Albert Wagner und Otto Mann, hatten sich hier in die Aufgabe getheilt, die weiten ehemaligen landwirthschaftlichen Versuchsfelder in eine entzückende Gartenanlage zu verwandeln, zwischen deren Baum-, Strauch- und Blumengruppen die gefälligen Ausstellungshallen, Kioske und Pavillons malerisch hervorragten. Alle Welttheile, alle Zonen des Erdreichs hatten zur Schmückung dieser Rasenflächen beigetragen. In den Gruppen der Nadelhölzer standen traut vereint neben der ehrwürdigen aussterbenden Eibe unseres Nordens und dem duftigen Wachholder die Cypressen Asiens, die Wellingtonien Kaliforniens und die symmetrischen Araucarien. Dazwischen erhoben Palmen aller Art ihre Wedel; unter alten deutschen Eichen sah man das größte Kraut der Erde, die riesige Banane, Musa ensete, deren gewaltige Blätter der Wind zerrissen hatte, daß sie dahinflatterten wie zerfetzte Standarten, und tief im Grase staken die Zwergorangen Chinas mit ihren goldenen Früchten.
Nicht minder reich an Ueberraschungen und lehrreich in hohem Grade [648] war ein Gang an den Teich und Bach der Ausstellung; denn hier schwammen auf dem klaren Spiegel oder umsäumten das Ufer allerlei seltene Wasser- und Sumpfpflanzen, hier wiegte sich, alle überragend, der schlanke goldene Bambus Ostasiens. Auf künstlichen Felsen fand man Anlagen von Alpenpflanzen, und unter ihnen sahen wir neben dem schönen Edelweiß auch eine Blüthe der Carlina acaulis, der Wetterdistel, die als Wetterprophetin unter unseren heimischen Pflanzen gilt – diesmal aber nur selten ihre weißen Zungenblüthen entfaltete, denn nur zu oft zogen über dem Himmel dieses Lustgartens düstere Regenwolken dahin. Einen Gegensatz zu dieser einfachen deutschen Distel bildeten die stachligen fremdländischen Kakteen, die einen stangenhoch, mit weißen Haaren bedeckt, die anderen dicht auf dem Boden wie friedliche Igelfamilien zusammengerollt.
Im Mittelpunkt dieses Panoramas erhob sich der Königspavillon, ein Schmuck, den der „Verein für Kunsthandwerk Albrecht Dürer zu Leipzig“ beigetragen hatte – ein mit prachtvollen Möbeln, Gobelins, Glasgemälden, Standuhren und anderen Erzeugnissen des blühenden Leipziger Kunstgewerbes ausgestatteter Raum.
Der Ausblick von dem Kaskadenpavillon wurde durch Baumgruppen eingeschränkt, hinter ihnen leuchtete aber die mächtige Kuppel der Haupthalle der Ausstellung. Die Front dieser Halle bildete einen besonderen Theil der Ausstellung, der mit prachtvollen Rasen- und Blumenteppichanlagen Otto Moßdorfs, des Vorsitzenden des Leipziger Gärtner-Vereins, geschmückt war. Betrat man das Innere der Ausstellungshallen, so entzückten neue reizvolle Arrangements das Auge. Unser Zeichner hat versucht das Innere des Palmenhauses von J. C. Hanisch wiederzugeben. Die Blumenfreunde unter unseren Lesern mögen sich hier die Farbenpracht hinzudenken, welche eine äußerst künstlerische Gruppierung herrlicher Blumen und der nicht minder in allen Regenbogenlichtern glühenden Blattpflanzen hervorzurufen vermag! In der Ausstellungshalle von Moritz Jacob, die einen Säulengang darstellte, konnte man neben Photographien gelungener Gartenanlagen eine stimmungsvolle Grotte mit Moosen und Farnen betrachten und in einem von Albert Wagner errichteten, mit getrockneten Palmblättern gedeckten Kiosk eine Gruppe reizender Araucarien bewundern.
Eines sehr regen Zuspruchs erfreute sich namentlich von seiten der Frauenwelt die Abthellung für Binderei. Die Aussteller hatten verschiedene Aufgaben zu lösen: es waren Preise ausgesetzt für die schönsten Trauerkränze, Kreuze, Blumenkissen, Lorbeerkränze, Tafelaufsätze, Bilddekorationen etc. Auch für eine vollständige Ballgarnitur winkte eine große silberne Medaille; geschmackvolle Geburtstags- und Ballsträuße waren gleichfalls vorhanden, und wie viele schöne Augen blickten
auf den vollständigen Brautschmuck, der zwanzigmal vertreten war. Ob da die Preise
gerecht vertheilt werden konnten? Der Geschmack ist ja sehr verschieden,
Was uns beim Anblick der Kinder der Flora besticht, das ist nicht nur
ihre Seltenheit, sondern auch ihre Schönheit, und für Werthschätzung der
letzteren giebt es kein feststehendes Gesetz. Die Huldigungen der Menge
schwanken je nach der Mode, und was heute als Schönstes verhimmelt
wird, kann morgen unbeachtet bleiben. Damit muß auch der Gärtner
rechnen und vieles zu bringen suchen, um jedem etwas zu bringen. Das
thut auch unser deutscher Gartenbau, und seine Leistungen auf der
Leipziger Ausstellung waren so vielseitig, daß kein Besucher sie unbefriedigt
verlassen hat. Und wer an Blumen und Blättern achtlos vorüberging,
auf den mußte wenigstens die herrliche Landschaft bezaubernd wirken.
Nach wenigen Tagen fiel diese Herrlichkeit zusammen, aber hoffen wir, daß sie wie ein Phönix wieder erstehen und bald für immer um den alten Kuhthurm blühen werde! C. F.
Das Denkmal für den Großherzog Friedrich Franz II. von Mecklenburg-Schwerin. (Mit Abbildung.) Im Schweriner Schloßgarten wurde am 24. August d. J. ein Reiterstandbild des 1883 verstorbenen Großherzogs Friedrich Franz II. enthüllt, jenes Fürsten, der sich durch die glückliche Führung deutscher Truppen im Feldzuge 1870/71, hauptsächlich in den schweren Kämpfen bei Orleans und Le Mans, einen Anspruch auf das dankbare Gedächtniß des ganzen deutschen Volkes gesichert hat. Das Denkmal, eine Schöpfung des Berliner Bildhauers Ludwig Brunow, zeigt den Großherzog als Heerführer, in ruhiger Haltung, als ob er mit sinnender Aufmerksamkeit den Bewegungen der ihm unterstellten Truppen folgte. Den Sockel aus rothem schwedischen Granit schmücken auf beiden Langseiten Reliefs, von denen das eine den Einzug des Fürsten in Schwerin an der Spitze seiner tapferen Krieger, das andere den Landesvater inmitten der Lehrer seiner Hochschule, seiner Beamten und der Studenten darstellt. Sinnbildliche Figuren, die Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Weisheit etc., lagern vor den Ecken des Sockels und verkörpern die Ziele, denen der verewigte Fürst während seiner einundvierzigjährigen Regierung nachstrebte. Nicht bloß das treue Volk der Mecklenburger, nein jeder Deutsche wird stets mit Verehrung zu dem Abbild des um sein Vaterland so hochverdienten Fürsten emporschauen.
Vereinsamt. (Zu dem Bilde S. 641.) Jugend und Schönheit im Trauergewand rühren jedes Herz. Deshalb folgte wohl schon mancher Blick der jungen Witwe, die ihren Schmerz nicht auf den Boulevards oder in dem Boulogner Wäldchen den Blicken der Tausende preisgiebt, sondern hier auf der Anhöhe hinter Paris, in stilles Sinnen verloren, hinschreitet. Sie scheint fremd in der großen Stadt und in bescheidenen Verhältnissen, das zeigt ihr unbegleitetes Gehen, ihr einfacher Anzug. Dieser hebt aber nur um so mehr die schlanke Gestalt, die stille Anmuth der Gesichtszüge. Zugleich liegt in der ganzen Haltung der jungen Frau eine so ruhige Abwehr, daß nicht leicht ein Dreister sich an sie heranwagen wird. Ganz ohne Beschützer ist sie ja auch nicht – der treue Ami würde gehörig die Zähne zeigen, wenn man sich gegen seine Herrin vergäße!
Wer aber sollte das hier in der einsamen Villenstraße? Das Pärchen links hat keinen Blick für die Tralurnde übrig, die resigniert an ihnen vorüberschreitet, die Arbeiter gehen ihren Geschäften nach, und niemand kümmert sich um die einsame Spaziergängerin. Ringsum rauschen leise die gelben Ahornblätter hernieder, es ist Herbst geworden, die traurige Jahreszeit, wo Schmerzen am schwersten zu tragen sind. Und doch – sollte nicht der jungen Witwe noch einmal ein künftiger Frühling blühen, so gut wie der Herbstlandschaft, durch welche sie schreitet? ...
Dieser Gedanke hat sicherlich den Künstler im stillen beschäftigt, als er das hübsche und stimmungsvolle Bild malte. Bn.
Inhalt: „Um meinetwillen.“ Novelle von Marie Bernhard (5. Fortsetzung). S. 629. – Margherita. Bild. S. 629. – Die Internationale Jubiläums-Gartenbau-Ausstellung zu Leipzig Bild. S. 632 und 633. – Der Momentphotograph auf dem Manöverfelde. Aus den Papieren eines Nichtphotographen. S. 635. Mit Abbildungen S. 635, 636 und 637. – Das klassische Zeitalter der Geselligkeit. Von R. Artaria. S. 638. – Vereinsamt. Bild. S. 641. – Das schöne Limonadenmädchen. Erzählung von E. M. Vacano (Schluß). S. 643. Mit Abbildungen S. 644, 645 und 647. – Blätter und Blüthen: Das erste deutsche Mädchengymnasium. S. 647. – Die Internationale Jubiläums-Gartenbau-Ausstellung zu Leipzig. S. 647. (Zu dem Bilde S. 632 und 633.) – Das Denkmal für den Großherzog Friedrich Franz II. von Mecklenburg-Schwerin. Mit Abbildung. S. 648. – Vereinsamt. S. 648. (Zu dem Bilde S. 641.)
Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das dritte Quartal dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Postabonnenten machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß der Abonnementspreis von 1 Mark 60 Pf. bei Bestellultgell, welche nach Beginn des Vierteljahrs bei der Post aufgegeben werden, sich um 10 Pfennig erhöht.
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