Die Gartenlaube (1893)/Heft 30
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Nr. 30. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Schwertlilie.
(16. Fortsetzung.)
Daß die Pfalzgräfin in jener Nacht ganz ebensogut geschlafen hätte wie sonst, darf bezweifelt werden. Bisher hatte es keine Sorge gegeben, die so dreist gewesen wäre, das Prachtlager der kleinen Dame unter dem silbergestickten blausammtenen Betthimmel heimzusuchen und ihren Schlummer zu stören. Was aber die Sorge nicht gekonnt, das hatte der Aerger fertig gebracht, der Aerger über das Schreiben des Oberjägermeisters.
In allerübelster Laune war sie denn auch am nächsten Morgen ihrem Bette entstiegen, frühe, trotz der schlechten Nacht. Eine Art Unruhe hatte sie herausgetrieben und das Bedürfniß, gegen irgend eine vertraute Person sich Luft zu machen.
Das letztere konnte Frau von Méninville nicht wissen; sie wußte nur von der bösen Stimmung der Fürstin, die schlecht geschlafen haben sollte, und sie bewies daher ihren ganzen Muth,
[502] als sie sich dennoch melden ließ. In diesem Falle fand ihre Unerschrockenheit sich belohnt. Wäre die Obersthofmeisterin zufällig zuerst am Platze gewesen, so wäre sie die Vertraute der fatalen Verfassung der Hoheit geworden. So wurde es die Méninville; und wie wußte diese treffliche Frau das ihr seit einiger Zeit entzogen gewesene Selbander mit der Fürstin zu nützen!
Zunächst einmal war sie so klug, von alledem, was vorgegangen war, wenig oder nichts zu wissen. Niemand war in der Nähe gewesen, als sie gestern, ganz zufällig, auf einer Seitentreppe mit dem eben von der Fürstin kommenden Pater Gollermann zusammengetroffen war; nein, sie konnte sicher sein, daß die gedrängte, aber erschöpfende Mittheilung, die ihr der geistliche Freund da gemacht – nicht ganz dieselbe, welche die Pfalzgräfin von ihm erhalten hatte – daß dieses kleine Zwiegespräch also völlig ohne Zeugen geblieben war.
Die Méninville war demnach jetzt gleichsam ein harmlos weißes Blatt, auf welches Frau Sabine Eleonore ihre überraschende Verkündigung einschreiben konnte. Herr von Nievern wollte diese Polyxene heirathen! Lächerlich und unerhört! Hatte er denn überhaupt seinen Verstand noch? Jetzt freien zu wollen, wo die Polyxene Gott danken konnte, wenn sie heil an Leib und Leben sich aus dem bösen Handel zog! Das Begriffsvermögen der kleinen Hoheit versagte, sie konnte die ganze Sache nicht fassen. Aber ärgern konnte sie sich. Und sie ärgerte sich nicht zum mindesten darüber, daß sie den Oberjägermeister selber zu Polyxene ins Kloster geschickt hatte. „Hier bei mir nahm er wohl auch schon ihre Partei, aber mit Maßen und lange nicht so viel wie die Kallenfels,“ sagte sie fast kläglich, „so daß ich ganz ohne Arg blieb. Was ist denn nun in ihn gefahren, als er die lange magere Stange, die sie ist – und bei der Klosterkost wird sie wohl nicht fett und auch nicht schöner geworden sein – vor Augen gehabt hat! Sollte einem da nicht einfallen, was zuweilen das dumme Volk spricht, wenn es sagt: die und die müsse den und den behext haben! Wenn das nicht ein dummer Aberglaube wäre, der sich für unsern Stand nicht schickt, so spräche ich: viel anders sieht es nicht aus.“
„Wie schon so oft muß ich auch heute wieder die Arglosigkeit eines edeln Herzens bewundern, durch welche meine allergnädigste Fürstin ausgezeichnet ist,“ begann die Méninville bescheiden. „Noch vor kurzem hatte ich beinahe hochdero Ungnade zu erdulden, weil ich dem Herrn von Nievern eine Auskunft über sein Liebchen, die derselbe eifrig heischte, nicht vorenthalten hatte . . . der Oberjägermeister, alle schuldige Ehrfurcht gegen seine Fürstin bei seite setzend, hielt es dazumal nicht für der Mühe werth, die Angst und Trostlosigkeit zu bergen, dahinein ihn die Kunde von der Polyxene wohlverdientem Schicksal versetzten. Wegen seines offenbaren seltsamen Trübsinns erlitt ich da ein hartes Anfahren von Euerer Hoheit –“
Sie hielt inne, noch in der Erinnerung von jener unverdienten Kränkung wie überwältigt. Die Pfalzgräfin achtete dessen freilich nicht weiter; sie war jetzt auf der Fährte. „Ha!“ rief sie, „hätte der Liebeshandel da schon gespielt? Am Ende gar schon vor seiner Abreise? O der niederträchtigen Arglist und Falschheit der Männer! Schändlich, schändlich!“ Und Thränen der Wuth traten ihr in die kindischen Augen.
„Meine allergnädigste Frau wolle sich besinnen,“ begann die Méninville wieder mit der sanftesten Stimme, „daß dem ganzen Hofe das Gebahren des Herrn von Nievern schon vor geraumer Zeit auffällig war. Hoheit hatten dem Fräulein von Leyen, das uneingeladen bei der Hofjagd erschienen war, öffentlich einen Verweis ertheilt. Ebenso öffentlich nahm der Kavalier, von dem wir reden, ihren Part nicht sowohl mit Worten als durch die That, indem er sie am Arme davonführte; auch wollte es scheinen, als ob er es an tröstlichem Zuspruch nicht habe fehlen lassen. Am andern Morgen war er dann, wie sich Hoheit erinnern werden, verschwunden. Sein Urlaubsgesuch erhielten Sie zugleich mit der Kunde von seiner Abreise. Die Einwilligung Pfalzgräflicher Gnaden abzuwarten, hatte der Herr Oberjägermeister nicht für nöthig erachtet.“
„Nennt ihn nicht so – er wird es nicht lange mehr sein!“ rief die kleine Dame wüthend. „Ich will ihn nie wieder vor Augen haben ... gestern schon habe ich ihn, da er Audienz suchte, abweisen lassen. Und da wußte ich das Schlimmste noch nicht!“ Das Schlimmste war also in der dermaligen Verfassung der Frau Pfalzgräfin, daß Nievern das Mädchen, das er vor den Augen der Nonne geküßt hatte, zu seinem Weibe zu machen gedachte.
Frau Sabine Eleonore ließ in dieser Verfassung ihre getreue Méninville nicht sobald wieder von sich. Diese durfte sogar daran denken, die Arbeit an der Altardecke, die ihr lange Nachmittage in dem innersten Gemache der Pfalzgräfin sicherte, wieder zu wagen und sie brauchte nicht zu befürchten, daß es die Fürstin jetzt mit ihren Stichen oder mit dem Muster allzu genau nehmen werde. Und da mochte denn dem Herrn Viktor das Ohr klingen, aber das unrichtige, denn es ging ihm spottschlecht in diesen Stunden bei der Pfalzgräfin. Die Schale der Wage, auf welcher seine Verdienste um den Hof lagen, um gegen seine jetzige Missethat abgewogen zu werden, wurde durch die freundliche Fürsorge der Frau von Méninville so erleichtert, daß sie nicht gut noch weiter in die Höhe schnellen konnte ... sie wog gar nichts mehr. Und das war der erbosten Pfatzgräfin gerade recht.
Eine Erwiderung war dem Kavalier auf seine beiden Schreiben an die Pfalzgräfin nicht geworden. Als Frau von Méninville zu erinnern wagte, daß die Anmaßung des Oberjägermeisters, welche besonders aus dem an die Fürstin persönlich gerichteten Schreiben spreche, durch die sofortige Vollziehung seines Abschieds am allerwirksamsten zu bestrafen sei, da meinte Frau Sabine Eleonore: „Nein . . . ich halte ihn einer Erwiderung nicht werth. Wenn wir schweigen, als sei ein solcher wie er gar nicht vorhanden, so wird ihn das am meisten verdrießen!“
Und Frau von Méninville mußte sich für jetzt bescheiden, wenn ihr auch anstatt des in Ungnade gefallenen und mit schweigender Verachtung bestraften Oberjägermeisters ein Herr von Nievern, der gar kein Oberjägermeister mehr war, noch weit lieber gewesen wäre. –
Dieses Maulen, wie er es despektierlicherweise bei sich nannte, kannte Nievern an der erlauchten Dame gar wohl. Während er sich in heißer innerer Unruhe, in Sorge um Polyxene verzehrte, erfolgte von seiten der Pfalzgräfin nicht das Geringste. Der Jesuitenpater, glatt wie ein Aal, war ihm auch schon ein paarmal entschlüpft, wenn er ihn zu fassen gemeint hatte – es war zum Tollwerden! Zwei Tage vergingen ihm auf diese Weise ungenützt. Denn wenn es auch ein nothwendiger Schritt war, so konnte es doch kaum als eine Förderung seiner Angelegenheit angesehen werden, daß er inzwischen die Zustimmung des Vormundes, des Herrn von Gouda, zu einer Verbindung mit dessen Mündel erlangt hatte. Der Oberst hatte nicht ohne einiges Staunen die Entschließung des Landforstmeisters erfahren, welche ihn dieser gut zu heißen bat, sich dann aber vernehmen lassen: „Ich nenne Euch einen Mann von Ehre, von Herz und Muth, mein Herr Oberjägermeister. Und nun möge Euch nicht die Bundesgenossenschaft der Fortuna, des guten Glückes, mangeln, denn die braucht Ihr!“
Von ihm hörte Nievern ferner, daß er, der Herr Oberst, auch nicht müßig gewesen. Er habe sich an die Obervormundschaftsbehörde gewandt und dort sich beklagt über das Zurückbehalten seines Mündels im Kloster. Worauf ihm der Bescheid geworden, daß man in der Sache inquirieren werde. Ebendieselbe Behörde aber scheine plötzlich von einem lebhafteren Eifer in Betreff des anderen Mündels des Obersten, des Junkers Ludwig, dessen räthselhaftes Verschwinden ihr doch längst angezeigt gewesen, erfaßt zu werden. Sie habe aufs neue Auskunft verlangt über den in Dunkel gehüllten Vorfall. Und nicht zufrieden mit der von dem Herrn von Gouda schriftlich gegebenen Auskunft, hatte sie eine Kommission nach der Herrenmühle entsandt, welche an Ort und Stelle Erkundigungen einziehen sollte. Gestern waren die Herren dagewesen. Sie hatten mit undurchdringlichen Amtsmienen ein Protokoll aufnehmen lassen und außer einer langen Reihe von Fragen nichts von sich gegeben.
Nievern horchte auf mit leicht zusammengezogenen Brauen, während der Oberst dies erzählte. „Daß man sie vor ein weltliches Gericht bringe, war das letzte, was meine arme Polyxene jüngst verlangte. Vielleicht wird jetzt dafür gethan,“ sagte er düster.
„Die Schmach für den Namen wäre groß,“ murmelte unzufrieden der Oberst. Und dann wieder, in seinem gewöhnlichen gleichmüthigen Tone: „Und wenn ich dagegen thäte, indem ich mich ihnen stellte, als ungetreuer Vormund, der auf den Lutz besser hätte acht geben sollen oder der ihm gar am Ende selber hinübergeholfen hat, um sich mit seinem Gute zu bereichern, oder was weiß ich – viel wäre damit auch nicht gebessert für Polyxene. Der üble Wille könnte immer noch sagen, wir hätten zusammen unter einer Decke gesteckt.“
[503] Nievern blickte nicht ohne Bewunderung zu dem sonderbaren Ehrenmanne hinüber. „Eins wüßte ich, was der Niedertracht den Mund stopfte – aber freilich auch nur das eine,“ sagte er dann gepreßt. „Daß man vor sie hinträte, den totgeglaubten Junker an der Hand –“
„In Anbetracht der besonderen Umstände des Falles, wonach der Junker vielleicht jetzt auf einer holländischen Brigantine nach Indien segelt, müßte man dazu schon etwas von der berühmten schwarzen Kunst verstehen, deren Besitz sie mir nachsagen,“ meinte der von Gouda mit grimmigem Humor. Er konnte sich von dem Gedanken nicht los machen, es sei der Schlingel, der Lutz, davon und unter die Werber in Rotterdam gelaufen. Die Erfahrungen seiner eignen im Kriegsdienste der Generalstaaten zugebrachten Lebenszeit mochten ihm diese Vermuthung eher als eine andere nahe legen.
Der Herr von Nievern ließ ihn dabei; wenigstens hütete er sich, merken zu lassen, welch abenteuerlichen Gedanken er selbst im Innersten barg. Und so hatten sich die Männer getrennt, mit dem Vereinbaren, daß jeder dem andern, was er etwa von Belang erfahre, mittheilen solle, aber ohne große Hoffnung auf solche Mittheilungen und schwerer Sorgen voll.
Nun saß der Oberjägermeister, ganz gegen seine Art stundenlang vor sich hinbrütend, am Kaminfeuer. Die Dämmerung war hereingebrochen, dann die Nacht. Den Diener aber, welcher den Armleuchter mit Kerzen hereinbringen wollte, hatte er, der sonst gütige Herr, unfreundlich angefahren, er solle mit dem Lichte draußen bleiben. Und das Kaminfeuer, welches er sonst hell und prasselnd liebte, erhielt er nur eben, so daß es ärmlich glimmte und nur dann und wann einmal rasch ersterbende Lichter von dem letzten Aufflackern eines Scheites durch das Gemach fuhren.
Das kam daher: er war täglich, so auch heute, so nahe er konnte am Hause der Ursulinerinnen vorüber geritten. Er wußte jetzt, wo hinaus das kleine Fenster von Polyxenens Zelle liegen mußte. Und noch keinmal hatte er hinter irgend einem der Fenster des Glockenhauses, in dem sie verwahrt war, ein Licht gesehen. Da saß sein armes süßes Lieb heute wie alle Abende in der Finsterniß! Und so mochte auch er sich die freundliche Kerzenhelle nicht gönnen; Licht und Wärme, die sie vielleicht entbehren mußte, waren ihm zuwider. So saß er und warf Pläne zu Polyxenens Befreiung im Kopfe herum. Einmal hatte er doch wieder, kargend wie ein Geizhals, ein dünnes Scheit auf das Kaminfeuer gelegt, damit es nicht gar erlösche. Das Holz flammte lustig auf zu kurzer Helle und beleuchtete etwas Weißes, das auf dem Tische lag, war jedoch wieder erloschen, ehe Nievern, halb gedankenlos auf jenen Fleck starrend, den Gegenstand erkannt hatte. Nun besann er sich, wie man in müßiger Laune pflegt, was dort auf dem Tische liegen könne, und fand mit gleichgültiger Verwunderung, daß ihm nichts einfiel, worauf die flüchtig wahrgenommene Gestalt des Dinges passe. So bog er sich denn aus seinem Sessel vor, griff danach und hielt eine dünne Rolle in der Hand. Jetzt rief er nach Licht und sah dann vergilbte Blätter, mit krauser blasser Schrift bedeckt und wohl umschnürt. Verständnißlos betrachtete er sie und mußte endlich den Diener fragen, woher das Ding komme.
Der Mann schien erstaunt. Das habe ja der Herr Oberjägermeister selber bei sich getragen! Aus der Tasche des alten Lederkollers des gnädigen Herrn habe er es gezogen, ehe er das Gewand in den Schrein gehängt, in der Befürchtung, die Schriften möchten dort vergessen werden.
„Das wären sie, bei Gott,“ sagte Nievern, sich jetzt erst besinnend. Es mußte die Papierrolle sein, die der Strieger ihm gegeben hatte und die von jener im Kirchenbann Verstorbenen stammte, deren sich Polyxene zu ihrem Unheil angenommen hatte.
Er zog den Leuchter heran und löste die Schnur. Mehrere lose Blätter groben Papiers fielen ihm entgegen, die er mißlich ansah. Er versuchte hier und da zu lesen – eine ungeübte verworrene Schrift, der Inhalt schien geistlich zu sein, die Ergießung einer der Schwärmerei verfallenen Seele aus dem Häuflein der Abgesonderten wahrscheinlich. Nievern entzifferte hier und da ein Wort von Angst, Verworfenheit und Gnade, von Fürbitte der Brüder und Schwestern und dergleichen, und es muß gesagt sein, daß ihn dies alles erstaunlich wenig anmuthete. Aufs Gerathewohl blickte er noch einmal in die Blätter, nahm halb gelangweilt davon Notiz, daß die Schrift wohl einem Manne, aber keinem Kleriker oder eigentlichen Schreiber angehören möge, und schob die Papiere unmuthig von sich.
Wie kam es, daß er sie später, nach Stunden, lange nachdem er sein einsames Nachtmahl beendet hatte, doch wieder aufnahm? Er hätte es selber kaum zu sagen gewußt. War es ein halb unbewußter Griff müßiger Unlust gewesen oder vielleicht der heimliche Gedanke, nicht umsonst habe vorhin der Flackerschein des Feuers die Rolle so ins Licht gesetzt, daß sie seine Blicke auf sich ziehen mußte? Wie dem auch sei – der Oberjägermeister las jetzt, las, ohne sich anders zu unterbrechen, als daß er hastig suchend zwischen den Blättern umher fuhr, um allemal das anschließende zu finden, und das wurde naturgemäß je länger je leichter, da sich die gelesenen häuften, der anderen immer weniger zurückblieben. Und waren das wirklich die Ergießungen eines überreizten Schwärmers, nur ein Meer von Worten, gewidmet einer grübelnden Selbstbeschauung? Diese Lektüre, bei welcher ein Zug eiserner Spannung sich über die Stirn des Herrn Viktor legte, und zuletzt ein wilder Triumph ihm aus den Augen zu blitzen begann?
Gegen Mitternacht hatte er geendet. Er mußte zuletzt die Gegenwart vergessen haben, denn als er jetzt aufblickte, da schaute er sich in seinem eigenen Gemach um, als müsse er sich erst hierher zurückfinden. Dann schob er seine Blätter sorgfältig zusammen und hielt dabei fast liebevoll die Hand darüber, wie wenn er da einen Schatz hege. Er stand auf und schien zögernd zu überlegen, wahrscheinlich, wo er seinen Fund während der Nacht bergen solle. Die Rolle in der Hand trat er an den Seitentisch mit der Schatulle darauf, in welcher allerhand Urkunden, überhaupt was er Schriftliches von Werth besaß, aufbewahrt wurde. Aber – einige Besitztitel, seine Bestallungsurkunde mit Unterschrift und Insiegel der Pfalzgräfin und dergleichen mochte da sicher genug liegen, diese Blätter nicht! Es konnte in der Nacht Feuer auskommen, und da rettet man am leichtesten das, was im Bereiche der Hand liegt. Daher trug er die Papiere mit sich in sein Schlafgemach.
Noch einmal ehe er das Licht löschte, nahm er sie zur Hand, einer Stelle wegen, die er nicht ganz mühelos auffand in dem Wirrwarr von krausen abgeblaßten Buchstaben, mit denen ein Blatt wie das andere bedeckt war. „Für ein Glück erachtete ich es damals, in diesem Stande der Armuth, als mich die Väter der Gesellschaft Jesu, in deren Hände ich schmählich – so denke ich jetzt – meinen reformierten Glauben abgeschworen hatte, in Dienste zu einer adligen Herrschaft in eben jener Unglücksstadt Philippsburg brachten. Unglücksstadt nenne ich diese nicht nur, weil sie meine schändliche Abtrünnigkeit von dem für mich einst abgelegten Taufgelübde gesehen hat, sondern vielmehr noch dessentwegen, was ich in Diensten meines armen Herrn François von Méninville und seiner Gemahlin dorten erleben mußte.“
Das war es, das Blatt, auf welchem jener Name deutlich leserlich ausgeschrieben stand! Unschätzbar, denn es war das einzige; so oft auch im Verlauf der Aufzeichnung der von Gewissensbissen geplagte Urheber jenes Herrn François Erwähnung that, nannte er ihn nur immer „mein Herr“ oder „mein armer Herr“, das Weib aber, durch weiches er seinen Seelenfrieden unwiederbringlich eingebüßt hatte, wurde von ihm in eingemischter Gewöhnung unveränderlich als „meine gnädige Frau“ bezeichnet.
Als der Herr von Nievern im Verlauf jener langen Stunden gerade diese Thatsache sich klar gemacht hatte – daß der Name des Paares, dessen Diener, in ein Verbrechen verwickelt, auf diesen Blättern ein Bekenntniß seiner Mitschuld ablegte, nur jenes eine Mal genannt war – da dünkte sie ihn das allerwunderbarste von allem. Der Mann hatte wahrscheinlich gar nicht die Absicht gehabt, den Namen zu nennen. Derselbe war ihm unvermerkt aus der Feder geflossen. Denn bei denjenigen, in deren Hände er diese seine Beichte ablegte, kam es auf Namen und Stand nicht an, hatten sie doch nichts mit der schon hier auf Erden rächenden und strafenden menschlichen Justiz gemein. Es handelte sich, wie aus der Schrift deutlich wurde, um eine jener stillen Gemeinden in den Niederlanden, um ein Häuflein Leute, welche es ernst und schwer mit ihrer Seelen Seligkeit nahmen. Wer ihr verborgenes Leben innigster christlicher Brüderlichkeit und gegenseitiger Auferbauung theilen, in Gefahr und Noth einer der Ihrigen sein und bleiben wollte, von dem verlangten sie zuerst und zumeist: daß er sein Herz offen darlege vor Gott und den Brüdern. Doch sollte aus solchem Bekenntniß keine öffentliche Schmach für neu sich Anschließende erwachsen. [504] Wer sich daher schwerer Sünde schuldig wußte, den stießen sie deshalb nicht etwa zurück, sie gestatteten ihm vielmehr, seine Schuld und Reue zu ergießen in das Herz eines Bruders oder zweier, oder eine Niederschrift seiner Lebenswerke anzufertigen und in die Hände der Gemeindeältesten niederzulegen, auf daß diese dann danach thäten, wie ihnen gut dünkte.
Nicht, daß dem Oberjägermeister an diesem Aufschluß über das Wesen eines Häufleins flandrischer Quietisten viel gelegen gewesen wäre; er hatte denselben in der Schrift gefunden, ohne ihn zu suchen. Die Blätter aber, wohl eingehüllt, blieben in dieser Nacht neben seinem Bette liegen, und quer über die Rolle hatte er seine lange Reiterpistole gelegt.
Am anderen Morgen bei guter Zeit knöpfte Nievern die Papiere in sein Wams und begab sich hinüber in das Hauptgebäude des Residenzschlosses, wo er sich bei der Frau von Méninville melden ließ. Diese Dame war, trotz der frühen Stunde, doch schon zu der Hoheit befohlen gewesen, kam eben von dort zurück und hatte sonderbare Dinge erfahren. Nicht, daß sie Neuigkeiten gehört hätte – nur ihre Kenntniß von dem Charakter der kleinen Pfalzgräfin war um eine merkwürdige Erfahrung bereichert worden. Sie hatte Frau Sabine Eleonore in selten gesehener Aufregung gefunden. Und warum? Weil die Pfalzgräfin nun auch wußte, was ihre Dienerschaft schon seit zwei Tagen durchschwatzte: der Herr von Nievern sei auf der Jagdkämmerei gewesen und habe dort revidiert und resolviert wie einer, der einen Abschluß seiner Geschäfte voraussehe. Weiter nichts. Aber das zeigte ihr, daß er wirklich daran denke, seinen Abschied zu erhalten oder zu nehmen, daß er, mit anderen Worten, Ernst mache. Und nun war die Pfalzgräfin außer sich. Die Méninville hatte ein Unwetter über sich ergehen lassen müssen, einem Aprilschloßensturm vergleichbar, welchen ein Wind, der selber nicht zu wissen scheint, was er will, bald aus dieser, bald aus jener Ecke hervortreibt. Sie war bald scheltend für alles verantwortlich gemacht, bald weinerlich um Rath gefragt worden, ohne daß man beliebte, weder auf ihre ehrfurchtsvolle Vertheidigung noch auf ihre bescheidentlichen Vorschläge zu hören. Und endlich hatte sie sich in einer sehr pointierten Weise fortschicken lassen müssen, da die Obersthofmeisterin eintrat, zu welcher die kleine fürstliche Wetterfahne mit einem Male heftig herumgeflogen war, der lieben Méninville dabei den Rücken wendend.
Aber der Wind konnte ebenso rasch wieder umspringen; die kluge Frau von Méninville rechnete sogar darauf, daß es geschehen werde; sie wußte, die Pfalzgräfin konnte sie jetzt weniger entbehren als je, und legte sich daher ganz ruhig alles zurecht. Ihr war es gar nicht unwahrscheinlich, daß Nievern in verwegenem Trotz auf seinem Abschied bestehen werde, wenn sie auch eben bei der Pfalzgräfin diese Möglichkeit weit weggeworfen hatte. Im Grunde hätte ihr nichts willkommener sein können. Sie würde ihn zwar nicht gern aus ihrem Lebenskreis schwinden sehen, den Mann, der jetzt den Reiz des Hasses und zugleich immer noch einen ganz anderen auf sie ausübte. Aber brauchte er denn das auch – für immer verschwinden? Jetzt freilich mußte er scheitern in allen seinen Plänen, besonders in dem, der Polyxene betraf. War jedoch diese erst völlig aus dem Wege, dann . . . nur Zeit gewinnen, nur Zeit, und alles war noch möglich!
In diesem Augenblick traf die Botschaft, das der Herr Oberjägermeister um Gehör bei ihr bitte, die Méninville wie die Gewähr des Triumphes. Er kam, um ihre Vermittlung bei der Fürstin nachzusuchen, wozu sonst? Und er kam zu ihr!
Sie zögerte überlegend. Sehen und sprechen wollte sie ihn jedenfalls. Aber er sollte diese Gunst schätzen als etwas, was nicht so ohne weiteres zu erlangen sei. Deshalb schickte sie ihre Zofe, ein Ding, welches bei ihr gelernt hatte, nach Bedarf fremd und von oben herab zu thun wie die Herrin selber, mit dem Bescheid zu ihm hinaus, Frau von Méninville sei gerade verhindert; ob Herr von Nievern ein wenig verziehen oder später wiederkommen wolle? Das Mädchen kehrte zurück: ja, der gnädige Herr wolle warten. Dem scharfen Auge der Méninville entging aber nicht, daß sie ein wenig verdutzt aussah. Auf Befragen ihrer Herrin wußte sie freilich nur zu sagen, der Kavalier habe gelächelt bei der Antwort und gemeint, ob Frau von Méninville etwa bei der Andacht sei. Und dann noch etwas: er habe der Dame einen alten Gruß zu bringen, von einem guten Bekannten; dem schade es nichts, wenn er nun auch noch eine Viertelstunde älter werde.
Die Worte berührten Frau von Méninville mit einem leisen Mißton. Das mochte aber daher kommen, daß sie wie viele Menschen nicht gern unversehens auf die Spuren „alter guter Bekannter“ stieß. Das Vergnügen, welches die Wiederbelebung des einmal Abgethanen im Menschendasein abwirft, muß wohl in den meisten Fällen sehr fraglich sein.
(Fortsetzung folgt.)
Ist das Choleragift entdeckt?
Als Robert Koch im Jahre 1884 in dem Kommabacillus den Erreger der asiatischen Cholera erkannte, da war der Wissenschaft die Bahn zur völligen Aufklärung der zahlreichen Räthsel gebrochen, welche das Wesen der gefürchteten Krankheit umgaben. Eine der wichtigsten Fragen, welche die Aerzte sich vorlegten, war: auf welche Art vermag der entdeckte winzige Feind den menschlichen Körper so schwer zu schädigen? Alles sprach dafür, daß er im Darme ein Gift erzeuge, welches die schweren Krankheitserscheinungen und in so vielen Fällen den Tod bringe, und ungesäumt ging man daran, in den zahlreich angelegten Reinkulturen der Cholerabakterien dieses Gift aufzusuchen.
Die Wege für diesen Theil der Forschung waren scheinbar bereits vorgezeichnet. Man wußte, daß verschiedene Bakterien in dem Nährboden, in dem sie leben, Gifte erzeugen, ebenso wie der Hefepilz aus Zucker den giftige Alkohol bildet. Aus totem faulenden Fleisch hatte man „Ptomaïne“ oder Leichengifte hergestellt, die ein Werk verschiedener Fäulnißbakterien waren und ihrer chemische Zusammensetzung nach in die Klasse von Körpern gehören, die schon längst als „Alkaloïde“ bekannt sind. Viele Pflanzen erzeugen derartige Gifte, wie z. B. aus dem Mohnsafte das Morphium gewonnen wird. Solche Alkaloïde fand man auch in Kulturen der Cholerabakterien, aber ihre Wirkung war so schwach, daß sie als Verursacher der schweren Cholerasymptome nicht angesehen werden konnten. Man mußte also weiter forschen.
In der Mitte der achtziger Jahre wurde eine neue Art von Giften entdeckt, welche wie Eiweiß zusammengesetzt sind und die man darum „Toxalbumine“, d. h. Eiweißgifte, nannte. Die Toxalbumine werden ebenfalls von verschiedenen Bakterien gebildet, und in einer mühevollen Reihe von Versuchen wurde erwiesen, daß die Erreger der Diphtherie und des Wundstarrkrampfes gerade durch solche Stoffe das Leben des Menschen bedrohen. Nachdem man so das Diphtherie- und das Tetanusgift gefunden hatte, glaubte man, daß auch bei der Cholera die Toxalbumine als krankmachende Ursache angesehen werden müßten, und in der That gelang es, in den Kommabacillen auch diese Gifte nachzuweisen, wieder aber nur in solchen Mengen und in solcher Beschaffenheit, daß sie keineswegs als das eigentliche Choleragift gelten konnten.
Dieses eigenartige Verhalten der Kommabacillen bildete einen der Gründe, warum ein Theil der Forscher bezweifelte, daß der Kommabacillus der eigentliche und alleinige Erreger der Cholera sei. Der Streit der „Lokalisten“ und „Kontagionisten“ ist aus der Zeit der letzten Choleraepidemie wohl bekannt. Haben doch Professor Pettenkofer und Professor Emmerich in München Reinkulturen der Kommabacillen getrunken, um durch einen lebensgefährlichen Versuch am eigenen Leibe die vielumstrittene Frage zu entscheiden. Aber auch dieser gewagte Versuch brachte nicht die gewünschte Klärung, obwohl er mehr dafür zu sprechen schien, daß der Kommabacillus in der That der Choleraerreger sei.
Nun überrascht Professor Emmerich in München die Welt durch neue Mittheilungen, welche die schwierige Frage des Choleragiftes betreffen.
Wenn weder Alkaloïde noch Toxalbumine als die krankmachenden Stoffe bei der Cholera gelten können, dann müssen es andere Stoffwechselerzeugnisse der Kommabacillen sein: so rechnete Emmerich, und er lenkte seine Aufmerksamkeit einem Stoffe zu, den die Kommabacillen in verhältnißmäßig großen Mengen zu erzeugen vermögen. Dieser Stoff ist die salpetrige Säure oder deren Verbindungen, die salpetrigsauren Salze oder Nitrite.
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[506] Schon durch frühere Untersuchungen Petris war bekannt, daß man in Kulturen der Kommabacillen Nitrite vorfinde, man hatte ihnen aber bisher zu wenig Beachtung geschenkt. Diese Salze sind äußerst heftige Gifte. Meerschweinchen, Kaninchen, Hunde werden schon durch geringe Mengen von Nitrit getötet, aber am empfindlichsten zeigt sich gegen dieses Gift der Mensch selbst. Während z. B. 0,2 g Natriumnitrit genügen, um ein etwa 2 kg schweres Kaninchen zu töten, ruft dieselbe menge bei einem 70 kg schweren Menschen die schwersten Vergiftungserscheinungen hervor, und da durch Zufall Menschen wiederholt am Genuß von Nitriten erkrankten, so sind uns die Symptome dieser Vergiftung bekannt. Wir wollen sie kurz schildern.
Es stellen sich ein: Schwindel, Brechneigung, Erbrechen, öftere Entleerung dünnflüssiger gelbgefärbter Flüssigkeit (bis zu 30 Wiederholungen an einem Tage), ein Sinken der Körperwärme, anfangs Beschleunigung, dann Verlangsamung der Athmung, hochgradiges Blauwerden der Lippen und der Hände, die sich kalt anfühlen, mitunter Krämpfe; endlich erfolgt der Tod bei vollem Bewußtsein. Wir sehen ein Krankheitsbild, das fast genau mit dem der Cholera übereinstimmt! Auch im Blute der mit Nitriten Vergifteten zeigen sich dieselben Veränderungen wie im Blute Cholerakranker. Die geringfügigen Unterschiede lassen sich ungezwungen dadurch erklären, daß in Vergiftungsfällen das Nitrit zum Theil schon im Magen aufgesogen, bei der Cholera dagegen erst im Dünndarme durch die Kommabacillen gebildet wird und erst von hier aus seine verderbliche, so oft tödliche Wirkung zu entfalten beginnt.
Wir sind nicht in der Lage, sämtliche Versuche Emmerichs, die in ihren Einzelheiten nur dem medizinisch Gebildeten verständlich sein würden, zu besprechen. Nach der Ansicht Emmerichs sind sie geeignet, zu beweisen, daß die Nitrite, die von den Kommabacillen erzeugt werden, die wesentlichste Ursache der Choleraerkrankung bilden, daß sie es in erster Linie sind, durch welche der winzige Feind den Menschen niederwirft und tötet.
Es ist klar, daß unter diesen Umständen unser Bestreben darauf gerichtet sein müßte, die Kommabacillen an der Erzeugung von Nitriten zu hindern. Die Richtigkeit dieses Gedankengangs scheint bereits durch Thatsachen erhärtet worden zu sein. Professor Rudolf Emmerich, der seine Untersuchungen in Gemeinschaft mit Professor Tsuboi anstellt, besaß verschiedene Reinkulturen von Kommabacillen; eine derselben stammte aus Hamburg und ihre Bakterien hatten aus unbekannten Gründen inzwischen das Vermögen, Nitrite zu bilden, stark eingebüßt; eine andere Kultur war von Massaua bezogen, und ihre Bakterien bildeten außerordentlich viel Nitrit. Es wurden nun mit beiden Kulturen Thierversuche angestellt, deren Ergebniß war, daß die Kommabacillen aus Massaua sich bei weitem verderblicher, giftiger erwiesen als die Hamburger.
Wenn wir aber unsere Feinde in der Gifterzeugung beschränken wollen, so müssen wir wissen, woraus sie das Gift bilden. Auch das ist bekannt. Die Salpetersäure kennt jeder von unseren Lesern und ebenso die salpetersauren Salze. Salpetersaures Natron ist der berühmte Chilesalpeter, salpetersaures Silber der ätzende Höllenstein; diese salpetersauren Salze nennt man „Nitrate“, und aus Nitraten bilden die Kommabacillen Nitrite. Demjenigen unserer Leser, die in der Chemie nicht bewandert sind, wird vielleicht eine nähere Auskunft über die Zusammensetzung dieser Stoffe erwünscht sein.
Die salpetrige Säure ist eine chemische Verbindung von 1 Atom Wasserstoff (den die Chemiker mit H bezeichnen), 1 Atom Stickstoff (N) und zwei Atomen Sauerstoff (O); ihre chemische Formel lautet also HNO2. In der Salpetersäure sind dieselben drei Elemente vorhanden, aber an die Stelle von zwei Atomen Sauerstoff treten deren drei; ihre Formel ist darum HNO3. Verbinden sich diese Säuren mit Kalk, Kali oder Natron, so entstehen Salze: salpetrigsaurer oder salpetersaurer Kalk, salpetrigsaures oder salpetersaures Kali (der Kalisalpeter) u. s. w.[1] Das sind die in der Natur weitverbreiteten Salze, und die Kommabacillen verwandeln die Nitrate dadurch in Nitrite, daß sie ihnen Sauerstoff entziehen.
Die Bedeutung der Nitrate in der Natur ist eine außerordentlich große; die grünen Pflanzen, die wir anbauen, um aus ihnen Brot und Gemüse zu gewinnen, brauchen die Nitrate zu ihrer Ernährung, und es sind wunderbarerweise wieder Bakterien, welche den Pflanzen diese Nährstoffe liefern. Erst in der allerletzten Zeit wurden diese geheimen Vorgänge auf unseren Wiesen und Feldern ergründet; alljährlich werden hier von winzigen Kügelchen und Stäbchen große Mengen von Nitraten aus den Bestandtheilen der Luft und des Wassers, aus verwesender organischer Materie gebildet, und wir selbst schaffen Nitrate Centnerweise auf die Felder, um deren Fruchtbarkeit zu erhöhen; für den Chilesalpeter bezahlt Europa jährlich gegen 500 Millionen Mark an Amerika und eine ganze Flotte ist mit der Herbeischaffung dieses werthvollen Dungmittels beschäftigt.
Durch ihre Wurzeln nehmen die Pflanzen die Nitrate auf und verwandeln sie in ihren Zellen in den kostbaren Nährstoff für Menschen und Thiere, in das Pflanzeneiweiß. Wenn wir aber die Feldfrüchte ernten, so sind noch nicht die gesamten Nitrate in Eiweiß umgewandelt; in fast jedem unserer pflanzlichen Nährstoffe ist noch etwas Salpeter oder salpetersaurer Kalk und Magnesia enthalten, und diese Nitrate gelangen auch in unseren Magen und Darm und bilden hier das Rohmaterial, aus welchem der Kommabacillus sein gefährlichstes Gift herstellen kann.
Aber nicht alle eßbaren Pflanzen enthalten gleiche Mengen von Nitraten. Während in der Gerste nur 0,04%, im Mais nur 0,55% Salpetersäure ermittelt wurden, fand man im Blumenkohl 1,18%, in Erdkohlraben 1,18%, in Weißrüben 1,89% und in rothen Rüben 1,92%. Dann wechselt auch dieser Gehalt je nach der Bodenbeschaffenheit, der Düngung und der Witterung; die Kartoffel z. B. kann sehr reich und sehr arm an Nitraten sein, und man hat ausnahmsweise im Kopfsalat mehr als 1,8%, in Mohrrüben bis 2%; in Weiß- und Rothrüben bis 3,5% Salpetersäure ermittelt. Dem Landwirthe ist es längst bekannt, daß ein besonders hoher Gehalt des Futters an Nitraten den Thieren schädlich ist und beim Vieh Krankheiten erzeugt, die an Nitritvergiftung erinnern. Denn die Kommabacillen sind nicht die einzigen Bakterien, welche Nitrate in Nitrite verwandeln, dasselbe vermögen auch andere im thierischen und menschlichen Darm lebende Mikroorganismen; aber die Kommabacillen produzieren 4000 mal mehr Nitrit, und darum sind sie so gefährlich.
Im Gegensatz zu den Pflanzen ist die Fleischnahrung zumeist nitratfrei oder außerordentlich arm an Nitraten.
Nach Emmerichs Ansicht werden dadurch viele Räthsel der Cholera gedeutet. Wir wissen, wie sehr diese Seuche sich in Gebieten ausbreitet, in welchen die Bevölkerung auf eine weniger gute, an Nitraten reiche Nahrung angewiesen ist, und mit Recht haben die Aerzte zu Cholerazeiten seit mehr als dreißig Jahren auf Grund allgemeiner Erfahrung vor dem Genuß von Salat und Gemüse dringend gewarnt.
Eine andere Quelle, durch welche Nitrate in unseren Darm gelangen, ist das Wasser. Wir haben gesehen, daß im Boden überall Nitrate gebildet werden. Das Regenwasser wäscht nun dieselben aus, auch das Grund- und Brunnenwasser kann Nitrate enthalten. Nach den in den Jahren 1890, 1891 und 1892 von Déhérain in Grignon vorgenommenen Versuchen wechselte im Drainagewasser der Nitratgehalt mit der Jahreszeit; während im Wasser von einem Hektar zur Winterszeit nur 11 kg Salpetersäure nachgewiesen wurden, fanden sich im Frühling 17 kg, im Sommer 26 kg und im Herbst 40 kg vor. Somit ist das Wasser im Herbst, der für die Verbreitung der Cholera günstigsten Zeit, am reichsten mit Nitraten versetzt.
Auch in dem Trinkwasser unserer Leitungen und Brunnen hat man salpetersaure Salze, oft sogar in sehr großen Mengen, gefunden; in verschiedenen Brunnen wurden auf das Liter Wasser folgende Mengen von Salpetersäure berechnet: Budapest bis zu 1,35 g, Magdeburg bis zu 1,13 g, Lissabon 1,0 bis 1,16 g etc. Andererseits ist es bekannt, daß Menschen unter Symptomen einer Nitritvergiftung erkrankten, nachdem sie ein vorher zufällig mit Salpeter verunreinigtes Wasser getrunken hatten. Erst vor kurzem wurde aus Dembowalonka, Kreis Briesen in Westpreußen, gemeldet, daß dort eine Anzahl Menschen plötzlich krank wurde und ein Theil von ihnen starb. Die Nachforschung ergab, daß sie aus einem offenen Gewässer getrunken hatten, in welchem kurz vorher Salpetersäcke ausgewaschen worden waren. Man darf [507] annehmen, daß in diesem Wasser der Salpeter in Natriumnitrit zersetzt wurde; es ist ja seit langer Zeit bekannt, daß in schlechtem Wasser neben Nitraten auch Nitrite vorkommen können.
Welche praktischen Schlüsse für die Verhütung und Bekämpfung der Cholera ließen sich nun aus diesen Aufstellungen Emmerichs ziehen?
Zuvörderst ist hervorzuheben, daß sie die bisherigen Errungenschaften der Bakteriologie nicht aufheben, sondern dieselben erweitern. Was Robert Koch über die Verhütung der Cholera gelehrt hat, bleibt zu Recht bestehen. Unser Bestreben muß nach wie vor in erster Linie darauf gerichtet sein, dem Kommabacillus den Eintritt ins Land, und wenn dieser nicht verhütet werden konnte, die weitere Ausbreitung innerhalb der Grenzen zu verwehren. Der Beobachtung Kranker, der zweckmäßigen Desinfektion und der Reinhaltung der Gewässer, der persönlichen Pflege der Gesundheit würden aber auf Grund der Enthüllungen von Emmerich noch andere Maßregeln hinzugefügt werden müssen, die darauf ausgehen, dem Feinde die Mittel zur Giftbildung zu entziehen.
Dies wird erreicht durch Versorgung der Bevölkerung mit nitrat- und nitritfreiem Wasser sowie mit möglichst nitratfreier Nahrung. In letzter Beziehung wird es Aufgabe der Chemie sein, durch sorgfältige Untersuchung der Nahrungsmittel über deren Nitratgehalt Klarheit zu schaffen. Es werden dabei wichtige Thatsachen erörtert werden. Wie gefährlich erscheint z. B. in einer Zeit, da die Cholera in der Nähe ist, die Verwendung des Salpeters zum Fleischpökeln! Gerade in unseren Tagen, wo in Anbetracht der Futternoth so viel Vieh geschlachtet wird und verschiedene Fleischkonserven in großen Mengen bereitet werden, ist es dringend nothwendig, vor der vielfach üblichen Benutzung des Salpeters zu diesem Zwecke zu warnen.
Der Vortheil, den wir durch nitratarme oder nitratfreie Ernährung gewinnen, ist ein sehr großer; denn nach den Ausführungen des Professors Emmerich finden alsdann die Kommabacillen, selbst wenn sie in den Darm eindringen und sich in ihm vermehren sollten, keine Stoffe, aus denen sie Nitrite bilden könnten; sie erzeugen alsdann andere Säuren, namentlich Milchsäure, und die Störungen, die sie verursachen, sind leichterer Art, gleich jenen leichten Durchfällen, der „Cholerine“, die man so oft während der Choleraepidemien beobachtet.
Wir ersehen daraus, daß die Entdeckung Emmerichs, vorausgesetzt, daß sie im Laufe weiterer Prüfungen sich stichhaltig erweist, uns höchst werthvolle Mittel an die Hand giebt, mit deren Hilfe wir wohl imstande sind, während einer Choleraepidemie einen schweren Verlauf der Infektion zu verhüten.
Sehr bedeutungsvoll würde aber die Entdeckung des Münchener Forschers für die Behandlung der Cholera sein. Die Heilung des einmal ausgebrochenen Leidens ist das heiß ersehnte Ziel der Aerzte, aber wir wissen ja, daß gegen die asiatische Seuche keines der bekannten Mittel wirklich hilft. Ist nun die Cholera in der Hauptsache eine durch die Kommabazillen hervorgerufene Nitritvergiftung, so ist dem Arzte der Weg vorgezeichnet, auf welchem er ein Gegenmittel zu suchen hat. In der That arbeiten bereits Emmerich, Tsuboi und Löw gemeinsam, um ein derartiges Mittel zu finden, welches die Nitrite im Darme unschädlich machen würde. Welche der Wissenschaften in diesem Wettstreit den Sieg davontragen wird, läßt sich nicht voraussagen. Vielleicht gelingt es der Chemie, einen derart wirkenden Stoff aufzufinden; vielleicht aber giebt uns die junge und doch so ruhmreiche Bakteriologie Waffen gegen den Kommabacillus.
Sie ist wunderbar, diese Kleinwelt der Spaltpilze, welche Erde und Wasser durchdringt! Es giebt auch Bakterien, welche die Nitrite in die wenig schädlichen Nitrate verwandeln. Sie sind tagtäglich in unzähligen Billionen in Thätigkeit. Auf der Oberfläche der Erde leben zahllose ovale Bakterien, Nitromonaden, welche die Fähigkeit besitzen, uns dem Ammoniak[2] salpetrige Säure zu erzeugen, die sich im Erdboden sofort mit Kalk, Kali und Natron zu Nitriten verbindet. Wären diese Nitromonaden allein da, so würde der Erdboden bald mit diesen giftigen Salzen gesättigt sein; aber neben ihnen leben andere stäbchenförmige Nitrifikationsbakterien, die sich sofort der Nitrite bemächtigen und sie in Nitrate verwandeln. Sollte es nicht möglich sein, daß unter diesen Bakterien sich auch Arten vorfänden, welche im menschlichen Darm fortkommen und hier den Kampf gegen den Kommabacillus aufnehmen könnten, indem sie die Nitrite sofort wieder in Nitrate umbildeten? Das sind Hoffnungen, welche die Brust des Forschers schwellen lassen und ihn zu weiterer Thätigkeit anspornen. Die eine oder andere von ihnen wird sich trügerisch erweisen, aber es hat den Anschein, daß wir am Vorabend eines großen Fortschritts stehen. Hoffen wir, daß der deutschen Wissenschaft, welche den Erreger der Cholera entdeckt, welche Mittel und Wege zur Verhütung der Seuche gewiesen hat, auch der Ruhm zufallen möge, das Werk zu krönen und ein sicheres Heilmittel gegen den Würgengel Cholera zu finden!
C. Falkenhorst.
- ↑ Die salpetersauren Salze werden auch Nitrate, die salpetrigsauren Salze aber Nitrite genannt; so sagt man anstatt „salpetersaures Natron“ Natriumnitrat und anstatt „salpetrigsaures Natron“ Natriumnitrit.
- ↑ Das Ammoniak ist aus 1 Atom Stickstoff und 3 Atomen Wasserstoff zusammengesetzt; seine chemische Formel ist darum NH3.
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Weltausstellungsbriefe aus Chicago.
Welche Wunderwerke des erfinderischen Menschengeistes, welche unermeßlichen, den Ländern und Meeren dieser Erde entnommene Reichthümer die Kolumbische Weltausstellung auch umschließen mag, so liegt ihr Hauptreiz doch in ihrer äußeren Erscheinung selbst. Nie wird man müde, durch die breiten Straßen und Avenuen dieser Märchenstadt zu wandern, deren Paläste, Kuppeln und Thürme sich mit jedem Schritte zu immer neuen entzückenden Ansichten verschieben.
Zwei Eigenschaften sind es, welche der Kolumbischen Weltausstellung einen besonderen Eindruck sichern. In erster Linie ist es die Einheit der Gesamtwirkung. Trotz des Reichthums und der Mannigfaltigkeit der Ideen, die in der Architektonik der einzelnen Bauten frei und ungehindert sich entfalteten, ist das Ganze doch von einer Harmonie, als habe ein einziger Meister es ersonnen. Und doch hat eine ganze Reihe von Architekten beim Entwurf und bei der Leitung mitgewirkt.
Der zweite hervorragende Zug der „Weißen Stadt“ ist das Fehlen alles Jahrmarktsmäßigen. Bei allem Glanz, der auf früheren Weltausstellungen entfaltet wurde, kam man nie über das Bewußtsein hinweg, daß die zumeist aus Holz, Glas und Eisen erbauten, luftigen Ausstellungshallen nur Augenblicksbauten seien, mit der Bestimmung, nach Beendigung der Ausstellung weggerissen zu werden. Die „Weiße Stadt“ hingegen erweckt in dem Beschauer den Eindruck, als sei sie für alle Ewigkeit aufgeführt, um als ein Denkmal für die 400jährige Jubelfeier der Entdeckung Amerikas fort und fort zu bestehen, und nur ungern denkt man an die Thatsache, daß diese ganze Stadt noch im Laufe dieses selbigen Jahres wieder vom Erdboden verschwinden und nichts als die Erinnerung an sie übrig bleiben soll.
Doch lassen wir uns durch solche Gedanken den Genuß an dem heute noch Bestehenden nicht verkümmern und sehen wir uns die „Weiße Stadt“ etwas genauer an! Welchen Weg, welches Verkehrsmittel sollen wir wählen, um hin zu gelangen? Wohnen wir zu weit, um den Weg zu Fuß zurückzulegen, so bleibt uns die Wahl zwischen Wagen, Kabel-Car, Hochbahn, Eisenbahn oder Dampfer. Vertrauen wir uns dem letzteren an, denn das Wetter ist schön und der Michigansee – zeitweise ein so wilder stürmischer Geselle – liegt spiegelglatt zu unseren Füßen und wirft nur leichte, langgezogene, den Falten eines Seidengewandes vergleichbare Wellen ans Ufer. In etwa vierzig Minuten bringt uns der Dampfer aus dem Herzen der geschäftigen Großstadt bis zum Ausstellungsplatz. Von fernher sehen wir schon die glitzernden Dome und Thürme über die blauen Fluten schimmern, und je näher wir kommen, desto mehr lösen sich die Umrisse der einzelnen Gebäude voneinander. Das, was uns früher als eine aufsteigende Wolke am fernen Horizont erschien, schwillt zu einem mächtigen [508] Gebirge empor – es ist der Palast für Industrie und Freie Künste, gegen dessen riesige Verhältnisse diejenigen unseres Dampfers bis zur Armseligkeit zusammenschrumpfen. Weiter südlich sehen wir, von zahllosen Thürmen und Kuppeln überragt, stattliche Säulenreihen, das klassisch schöne Peristyl mit seinem mächtigen Portal, auf dessen Höhe Christoph Kolumbus in einem von einem Viergespann gezogenen Triumphwagen steht. Befindet sich unser Schiff der Pforte gegenüber, so fliegt der Blick durch Thor und Säulen auf eine weite, von marmornen Wänden umschlossene Lagune, auf ein riesiges, goldüberkleidetes Frauenbild, die Statue der Republik, auf die Kolossal-Thierfiguren vor dem Landwirthschaftspalast, auf eine goldschimmernde Kuppel, auf jenen ungeheuren Festplatz, wo sich vor wenig Wochen die feierliche Eröffnung der Weltausstellung vollzogen hat.
Einen noch großartigeren Rundblick genießt man vom Dach des Industriepalastes aus. Dieser Industriepalast ist überhaupt das Wunder der Kolumbischen Weltausstellung. Er ist das größte Gebäude der Erde; bedeckt er doch bei einer Länge von 514 und bei einer Breite von 240 Metern eine Fläche von rund 123400 Quadratmetern. Ueber seinem kolossalen Innenranm wölbt sich ein ungeheures, von keiner Säule getragenes Glasdach, dessen Spannung diejenige der vielbewunderten und mit dem höchsten Ehrenpreise gekrönten Maschinenhalle der letzten Pariser Weltausstellung noch um ein Beträchtliches übertrifft.
Es ist schwer, sich einen Begriff von den gewaltigen Verhältnissen dieses Innenraums zu machen. Man nehme tausend Häuser von Durchschnittsgröße – sie alle werden bequem Raum in dem Industriegebäude haben; man nehme einen der größten Plätze Deutschlands, den Augustusplatz zu Leipzig, mitsamt dem daranstoßenden Stadttheater sowie dem Museum – sie reichen nicht hin, um die Riesenhalle zu füllen. Es braucht 8 bis 10 Minuten, um von dem einen Ende des Palastes bis zum andern zu kommen; 30 Minuten sind erforderlich, um ihn ganz zu umschreiten. Und welche Massen Materials verschlang dieser 1500090 Dollar kostende Bau! Das Gewicht des zur Herstellung des Gerippes benöthigten Stahls beträgt weit über 6 Millionen Kilogramm, für das Dach wurden 1 Million Kilogramm Eisen verwendet, der Fußboben allein beanspruchte 3 Millionen Fuß Holzdielen und fünf Eisenbahnwagen voll Nägel. Zum Bedecken des Dachs verbrauchte man über 30000 große Glastafeln und für den Anstrich des Stahlgerippes 50 Tonnen Farbe. Kurz, der Industriepalast mit seinem reichen Inhalt ist thatsächlich eine Welt für sich. In ihm haben sich fast alle gesitteten Nationen des Erdballs zum friedlichen Wettkampf miteinander zusammengefunden: germanische, romanische und slavische Völker, Araber, Türken, Indier, Singhalesen, Siamesen, Malayen, Chinesen, Koreaner und Japaner, Bewohner von Afrika, Polynesien, Süd-, Central- und Nordamerika.
Wenn wir den stählernen Fahrstuhl betreten und uns von ihm zum Dach der Riesenhalle emportragen lassen, dann versinkt die von diesen Nationen aufgebaute Stadt mit ihrem buntfarbigen Getriebe. Die Menschen schrumpfen zu Ameisen, die Pavillons und Kioske zu Hüttchen im Spielschachtelformat zusammen; der Lärm, der uns drunten umwogte, verhallt und tönt nur noch als ein schwaches Summen wie aus unendlicher Tiefe empor – da plötzlich hält der Fahrstuhl, wir steigen einen zum Dach hinanführenden Gang aufwärts, um nunmehr staunenden Auges das 75 Meter unter uns liegende Panorama zu bewundern. Unser erster Blick fliegt gen Osten, wo sich, einem Weltmeer gleichend, der blaue Spiegel des Michigansees bis in unabsehbare Ferne zieht. Wenden wir uns gen Norden, so sehen wir am Horizont die Gebäude Chicagos, ein Chaos, von Rauch und Nebel umhüllt; zu unseren Füßen aber liegt der Stolz der jungen Weltstadt, die Kolumbische Ausstellung mit ihren Palästen, Gartenanlagen und gondeldurchfurchten Lagunen.
Die offiziellen Bauten der „Weißen Stadt“ bewegen sich fast ausschließlich in den edlen Formen des klassischen Stils oder der Renaissance. Eine wahre Perle des ersteren ist der im ionischen Stil aufgeführte Kunstpalast, dessen Kuppel von einer Kolossalfigur der Viktoria gekrönt ist. Das bereits früher [509] geschilderte Verwaltungsgebäude ist im Stil der französischen, das Frauengebäude und der Palast für Bergbau im Stil der italienischen, der Ackerbaupalast im Stil der klassischen, die Maschinenhalle wieder im Stil der spanischen Renaissance gehalten; namentlich dies letztgenannte Architekturwerk besitzt mit seinen bizarr geformten Thürmen, halbkugelförmigen Kuppeln und weiten Säulengängen einen eigenen malerischen Reiz. Die Fischereiausstellung ist in einem spanisch-romanischen Gebäude untergebracht, dessen Säulen, Kapitäle und Balustraden in höchst grotesker, aber sehr gelungener Weise mit den Abgüssen von Krabben, Seesternen, Seepferdchen, Fischen und anderen Wasserbewohnern ausstaffiert sind,
Alle diese sowie sämtliche anderen offiziellen Bauten, wie der Palast für Verkehrswesen, für Gartenbaukunst, für die ethnographischen und archäologischen Sammlungen etc., mögen sie aus Holz oder Eisen sein, sind nach außenhin mit „Staff“ überkleidet; einer stuckartigen Masse, die aus einer Mischung von Gips, Cement und Hanffasern besteht, die feinsten Modellierungen zuläßt und dabei äußerst dauerhaft und feuerfest ist. Sie hat einen leichten Stich ins Cremefarbige, und diesen Grundton hat man fast sämtlichen Bauten der „Weißen Stadt“ gelassen.
Wo die Eintönigkeit größerer Flächen eine malerische Behandlung bedingte, tritt zu den architektonischen Formen reicher plastischer Figurenschmuck oder dekorative Bemalung, ohne daß dadurch der Gesamteindruck des Ganzen aufgehoben oder beeinträchtigt würde.
Entzückend ist eine Mondscheinnacht in dieser Zauberstadt, wenn Tausende von elektrischen Lichtern das Innere der Paläste erhellen und die durch die Fenster brechenden Lichtstrahlen sich zugleich mit dem Schein des Mondes in den plätschernden Wassern spiegeln; wenn vor dem Verwaltungsgebäude riesige Fontänen aufspringen und in allen denkbaren Farben erglühen; wenn von der Plattform dieses oder jenes Tempels plötzlich ein breiter Strahl elektrischen Lichtes aufzuckt und die Kuppel oder den Skulpturenschmuck eines gegenüber gelegenen Palastes grell aus dem Dunkel der Nacht hervortreten läßt.
In welch großartigem Maßstab man bei der Beleuchtung der „Weißen Stadt“ vorgegangen ist, ergiebt sich aus der Thatsache, daß der Kunstpalast allein 16242 Glühlampen besitzt; der Industriepalast hat 10000 Glühlampen und 1200 Bogenlichter, das Verwaltungsgebände 5000 Glühlampen und so fort. Der bereits in unserem zweiten Artikel beschriebene „Ehrenhof“, der eigentliche Festplatz der Ausstellung, ist besonders reich mit Licht ausgestattet. Der goldene Dom des Verwaltungsgebäudes wird von 4000 an den Rippen seiner Kuppel angebrachten Lampen eingefaßt, in derselben verschwenderischen Weise sind die Galerien und die Gesimse sämtlicher an die große Lagnne anstoßenden Paläste mit Einschluß des Peristyls mit Lichtern versehen, sogar die das gewaltige Wasserbecken umschließenden Marmorwände haben eine Garnitur von Tausenden dicht nebeneinander stehender Glühlampen erhalten, welche die tanzenden Wellen mit einer wahren Fluth rothgoldigen Lichtes überstrahlen und wesentlich dazu beitragen, die Gesamtwirkung zu steigern.
Ebenso schön wie diese durch Menschenkunst hervorgezauberten Farbenspiele und Lichteffekte sind die Augenblicke, wo die untergehende Sonne mit ihrem Glorienschein die Wunderstadt umstrahlt. Welche Bilder, welch ewig wechselnde Pracht! Zeitlebens wird mir ein Abend in Erinnerung bleiben, wo sonderbar geformte Wolkengebilde das ganze südliche und östliche Firmament verhüllten und einen tiefblauen Hintergrund für die vom letzten rosigen Hauch der Abendsonne getroffenen Kuppeln, Obelisken und Thürme bildeten. Von den silbern erglänzenden Lagunen, welche all die Farbenpracht widerspiegelten, klangen die Lieder der venetianischen Schiffer herüber. In ihren geräuschlos dahingleitenden Gondeln stackerten, als es nach und nach dunkler wurde, buntfarbige Papierlaternen auf, zugleich aber begannen auch die Lichter auf dem goldenen Dom des Verwaltungsgebäudes aufzublitzen und sich zu jener funkelnden Riesenkrone zusammenzuschließen, welche auf viele Meilen in der Runde sichtbar ist. –
Doch kehren wir zu unserer Wanderung durch den Jackson Park zurück und besuchen nun den nördlichen Theil desselben, wo bezüglich der architektonischen Formen und Stilarten größere Ungebundenheit herrscht.
Hier haben nicht nur die einzelnen Staaten und Territorien der Union besondere Specialausstellungen veranstaltet, sondern hier erheben sich auch die Repräsentationsbauten der fremden Nationen. Manch eigenartiger Gedanke ist in dieser internationalen Stadt zum Ausdruck gekommen; so z. B. breiten Kalifornien und Texas ihre Schätze in Gebäuden aus, deren halb spanischer, halb maurischer [510] Stil jenen Missionshäusern entlehnt ist, welche im 16. und 17. Jahrhundert von spanischen Mönchen vielfach in Südkalifornien, Arizona und Texas aufgeführt wurden. Florida schlug sein Hauptquartier in einem höchst grotesken, an ein Kriegsschiff erinnernden Bau auf, und zwar in einer wohlgelungenen Nachbildung des alten Forts Marion, welches in der Geschichte Floridas einst eine große Rolle spielte. Palmetto- und Agave-Anpflanzungen beschatten den engen Thorweg, auf den breiten Wallmauern ist die ganze Flora des „Blumenlandes“ vertreten, während im innern Hof Orangen, Citronenbäume und Magnolien blühen. Auch einige der östlichen Staaten suchen in ihren Bauten geschichtliche Erinnerungen wachzurufen so z. B. sind verschiedene Häuser im Stil der Kolonialzeit vorhanden; New-Jersey hat ein genaues Abbild von Washingtons Hauptquartier zu Morristown gegeben, Pennsylvanien eine Nachbildung seiner weltberühmten „Independence Hall“ zu Philadelphia, in welcher die Vertreter der 13 englischen Kolonien Nordamerikas den Bund der Vereinigten Staaten gründeten und seine Unabhängigkeit erklärten. Hier hat Pennsylvanien auch seine kostbarste Reliquie, die berühmte „Liberty Bell“, die Freiheitsglocke, aufgehängt, welche in jener sturmerfüllten Zeit durch ihren Klang weithin verkündete, daß die Tage der Freiheit angebrochen seien. Der Staat Virginia konnte für seinen Bau schwerlich eine passendere Vorlage finden als jenes ehrwürdige Landhaus auf Mount Vernon, wo Georg Washington, der edle Begründer der Union, lebte und starb. Zahlreiche Gebrauchsgegenstände und Reliquien erinnern an den großen Staatsmann.
Die westlichen Territorien und Staaten der Union haben, da sie nicht wie ihre östlichen Geschwister auf geschichtlich denkwürdige Bauten zurückgreifen konnten, manchmal ihre Quartiere in glücklicher Weise mit Andeutungen ihres Naturreichthums versehen. Das walderfüllte Washington z. B. hat ein riesiges Blockhaus aus kolossalen Fichtenstämmen gezimmert; das wildreiche Montana krönte seinen Wohnsitz mit der Figur eines Wapitihirsches, Arkansas führte ein stattliches Pflanzerhaus, Iowa sogar einen aus lauter Maiskolben, Kornähren und Nutzgräsern hergestellten Kornpalast auf.
Daß die fremden Völker in ihren Bauten vorwiegend die ihnen eigenen nationalen Stilformen bewahrten, ist selbstverständlich. Die Perle unter all diesen mannigfachen Behausungen ist unstreitig das „Deutsche Haus“, ein echtes Stück deutschen Mittelalters, dessen Beschreibung wir uns für einen der nächsten Artikel versparen. Deutschlands südlicher Nachbar auf Midway-Plaisance ist Spanien. Es hat gleichfalls ein höchst malerisches Architekturstück beigebracht, die berühmte „Lonja“ zu Valencia. Sie ist eines der ältesten Gebäude der iberischen Halbinsel und diente schon zur Zeit des Kolumbus als Börse der Seidenhändler. Westlich und nördlich vom Deutschen Hause finden wir die zierlichen Minarets und Kioske indischer und siamesischer Tempel, skandinavische Holzbauten mit mächtigem, an die Zeiten der Wikinger erinnernden Gebälk, ferner luftige, äußerst sauber gearbeitete Bambushütten aus Japan und Ceylon, dazwischen wieder die stolzen Paläste Englands, Frankreichs, Oesterreichs und der süd- und centralamerikanischen Republiken.
Inmitten all dieser architektonischen Pracht und Herrlichkeit dürfen wir aber eines Gebäudes nicht vergessen, welches sich in rührender Einfachheit in einem stillen, einsamen Winkel am Seeufer erhebt. Getünchte Mauern, kleine melancholisch dreinschauende Fenster und ein niedriger, mit einem Kreuz versehener achteckiger Thurm bilden die charakteristischen Eigenthümlichkeiten von La Rabida[1], der Nachbildung jenes berühmten spanischen Klosters, an dessen Pforte derjenige einst von Hunger und Bekümmerniß erschöpft zusammensank, zu dessen Ehre die gegenwärtige Weltausstellung veranstaltet und benannt worden ist.
Zahlreiche und werthvolle Reliquien aus der Zeit der Entdeckung Amerikas sind in diesen Mauern vereinigt; die Wände sind mit Gemälden geschmückt, welche Scenen aus dem Leben des Kolumbus veranschaulichen; in den Schreinen lagern Dutzende von Originalbriefen und Handschriften, welche die bekannte Unterschrift des großen Genuesen zeigen, die nur aus einigen, in mystischer Weise zusammengestellten Buchstaben besteht. Ein anderer Raum umschließt eine Sammlung von 40 bis 50 der verschiedensten Bildnisse des Kolumbus. Vielleicht, daß es den Forschern gelingt, hier noch durch sorgfältige Vergleichung denjenigen Typus herauszufinden, der am meisten Anspruch auf Wahrheit hat, und so die schwierige Frage nach einem echten Bilde des Kolumbus der Lösung näher zu bringen. Zahlreiche Photographien, Stiche und Zeichnungen veranschaulichen die Stätten, welche Kolumbus während seiner vier großen Reisen nach der Neuen Welt besuchte; eine Anzahl zum Theil behauener Steine ist den von undurchdringlichem Urwald überwucherten Ruinen von Isabella entnommen, der ersten Stadt, die von den Spaniern auf Española gegründet wurde. Neben ihnen liegen rostzerfressene Toledoklingen, Hellebarden, Sporen und Reste anderen Kriegsgeräths, welche man unter dem Schutt gefunden. Auch die Glocke ist vorhanden, welche zum ersten Mal das Christenthum in der Neuen Welt verkündete. Nach der Aufgabe Isabellas hatte man sie nach La Vega gebracht; in den Ruinen der dortigen Kapelle wurde sie zwischen den Aesten eines Feigenbaums entdeckt, welcher während seines Wachstums die Glocke mit emporgetragen hatte.
Das kostbare Kartenmaterial, welches in La Rabida zusammengebracht ist und die ältere Kartographie Amerikas veranschaulicht, enthält die wertvollsten Originale, so z. B. die auf eine Ochsenhaut gezeichnete große Karte des unglücklichen Piloten Juan de la Cosa, die erste, welche die von Christoph Kolumbus gemachten Entdeckungen zeigt. Auch sind Nachbildungen von der Grabstätte des Kolumbus vorhanden, ferner unzählige Reliquien, die an die Zeitgenossen und Nachfolger des großen Genuesen erinnern, an Isabella die Katholische, an König Ferdinand, an Cortez und sein unglückliches Opfer Motecusuma (Montezuma), an Pizarro und all die anderen Helden, welche zur Entschleierung der Neuen Welt beitrugen. Kurz, das Kloster La Rabida der Kolumbischen Weltausstellung zu Chicago enthält der historischen Schätze gar viele, und wenn sich auch einzelne darunter befinden, die sehr fragwürdigen Werthes sind, so wird ein geübtes Auge doch leicht die Spreu von dem Weizen zu sondern wissen und auch aus diesen bescheidenen Mauern reiche Ernte für die Wissenschaft gewinnen.
- ↑ Vergl. die Abbildung in Nr. 12 des Jahrgangs 1892.
Der Sänger.
(3. Fortsetzung.)}}
Von dem abenteuerlichen Heimweg vom Konzert erzählte Aschau am folgenden Tage dem Sänger, während sie in Hagemanns Rauchstube saßen. Die Stube diente nämlich, wenn der Speisesaal geöffnet wurde, vor der Tafel als Empfangszimmer. Ein Diwan lief um die Wände, niedrige, mit Kameeltaschen gepolsterte Lehnstühle und türkische Tischchen standen umher. Es war ein behaglicher Raum. Die beiden Männer saßen sich gegenüber, Aschau im Gehrock, Siegfried im Frack. Ein halbes Dutzend Ordenskreuzchen und Medaillen an goldenem Kettchen zierte den Frack, Diamantknöpfe – „Geschenk der Zarin“ – blitzten an der gestickten Brust des Batisthemdes; die Uhrkette des Sultans schlängelte sich unter dem Frack hervor. Er trug Lackschuhe, welche die himmelblauen Seidenstrümpfe sehen ließen. Doch sein hoher Wuchs, der edle Gesichtsschnitt, die kühne Kopfhaltung, die glänzenden Augen – mit einem Wort, seine männliche Schönheit rettete ihn vor dem Fluche der Lächerlichkeit.
Die Thür zum Speisezimmer war nur angelehnt, sie hörten das Klirren von Silber, zuweilen ein Geslüster und dann ein lauten: „Ja wohl, Euer Gnaden!“ oder: „Sehr richtig, gnä’ Fräulein!“ von Giuseppe Purzel, den sein Herr zur Verfügung gestellt hatte.
„Was meinen Sie,“ sagte Aschau, „da uns Hagemann im Rauchzimmer empfängt, bin ich versucht, eine von diesen Cigaretten zu rauchen. Ich weiß nicht warum, aber ich hege das Vertrauen, daß Ihr künftiger Schwiegervater guten Tabak raucht.“
„Um Gotteswillen,“ flüsterte Leisewitz mit einem ängstlichen Blick auf die Thür, „was fällt Ihnen ein!“
[511] Aschau drehte unentschlossen die Blechdose mit den Cigaretten hin und her. „Soll ich oder soll ich nicht?“
„Sie werden sich die Eßlust verderben.“
„Was die betrifft, muß ich leider Ihrem Schwiegerpapa –“
„Aber ich bitte Sie!“
„Eine riesige Enttäuschung bereiten. Mein Wille ist wohl gut, aber der Magen schwach. Ach, Freund, ich bin von Tantalus’ Geschlecht. Alle die reizenden Dinge, die ich unserem Hofe auftische, die mir lieblich duften und den Mund wässerig machen, sind nicht für mich.“
„Sie sollten sich einer Kur unterziehen.“
„Ich bin immer in der Kur; aber sobald mir wieder wohler ist, unterliege ich der Versuchung, und mein Elend fängt von vorne an. Ihr Schwiegervater räth mir –“
„Nun bitte ich Sie aber ernstlich, die Scherze zu lassen.“
„Ich scherze nicht. Oder wären Sie wirklich blind für diese in Gold gefaßte Perle? Ja, Fräulein Hagemann ist eine Perle, oder, um ein frömmeres Wort zu gebrauchen, ein Engel.“
Leisewitz sprang auf. „Zum letzten Mal! Ich hielt Sie für meinen Freund –“
„Der bin ich.“
„Dann machen Sie mich hier nicht unmöglich!“
„Seien Sie aufrichtig, und Sie sollen auch von mir eine große Neuigkeit erfahren.“
„Darauf bezüglich?“ fragte Siegfried betroffen.
„Erst reden Sie!“
Der Sänger preßte die Hände zusammen, dann sprach er leise, leidenschaftlich: „Nun ja, ich wünsche, ich hoffe – – ja, ich fühle zum ersten Mal, was wahre Liebe ist. Der Vater weiß noch nichts, aber ich bin bereit fur Emma alles zu wagen. Ich entsage dem Ruhm, der Kunst, der Bühne –“
Jetzt sprang auch Aschau auf „Oho, das werden Sie nicht, das dürfen Sie nicht! Sie würden sich und mich unglücklich machen. Erfahren Sie die große Nachricht: ich bin Ihr Chef!“
Der Sänger starrte Aschau sprachlos an.
„Sie sind überrascht? Ich war es nicht. Diese Wende war von langer Hand vorbereitet. Herr von Sporn geht und ich trete an seine Stelle. Morgen lesen Sie meine Ernennung zum Hoftheater-Intendanten in den Zeitungen.“
„Excellenz, meinen Glückwunsch!“
„Ich bin nicht überrascht, dennoch freudig bewegt. Die edle Kunst, Oper, Drama und so weiter, soll in mir einen wahren Freund finden. Ich will unsere Bühne zu einer Musterbühne machen. Dabei rechne ich in erster Linie auf Ihre Hilfe. Hier meine Hand – auf gegenseitige Unterstützung!“
„Mein Urlanb geht übermorgen zu Ende. Entweder muß ich mich bis dahin dem Vater erklären oder –“
Aschau fiel ihm erschrocken ins Wort. „Verlangen Sie von mir nicht als erste Amtshandlung die Verlängerung Ihres Urlaubs! Unsere Stadt wimmelt von Fremden, der Hof kehrt heim, die Prinzessin ist seit gestern Feuer und Flamme für Ihr herrliches Talent. Ich lasse Sie nicht mehr aus den Augen; wir reisen gemeinschaftlich ab. Sprechen Sie mit dem Vater! Wenn ich für Sie gut stehe, wird er, muß er –“
Der Eintritt Fritz Hagemanns und seiner lieblich erröthenden Tochter unterbrach ihn. Der Hausherr entschuldigte sich, daß er sie so lange allein gelassen, und drückte ihnen die Hand, dann erschien Purzel auf der Schwelle und meldete: „Es ist aufgetragen, Euer Gnaden!“
Der Tisch war reich, aber ohne Ueberladung gedeckt, denn Emma hatte Geschmack. Herr von Aschau nahm die Tischkarte. „Was für eine schöne Handschrift!“
„Die Hand meiner Tochter,“ sagte Hagemann stolz. Emma beugte sich gluthroth über ihren Teller, denn jetzt griff Leisewitz zu seiner Tischkarte, und diese enthielt eine kleine Nachschrift von derselben Hand, aber kritzelig und mit einer Bleifeder geschriebeu: „L. S. Opfern Sie sich mir zulieb! V. ist nur guter Laune, wenn seine Gäste beweisen, daß es ihnen schmeckt. Schrecklich prosaisch, aber – Also bitte, essen Sie recht viel! Stecken Sie die Karte ein!
Ihre E.“„Hummersuppe oder braune Suppe?“ sagte Giuseppe; „Sherry, Wermuth von Turin oder norwegischen Branntwein von Drontheim?“ sagte Wilhelm, der Kutscher.
„Was thut man?“ seufzte Aschau. „Ich werde anstatt Suppe ein Schnäpschen nehmen. Wie ich sehe, sind Sie für französische Küche, aber für deutsche Namen. Ich bin für die französische Benennung. Was sagen Sie, Leisewitz?“
„Ich bin für die Küche, Namen sind Schall!“
Siegfried war schon über der Hummersuppe her.
Aschau zurückgelehnt, hielt in der einen Hand das Likörglas, in der andern die Karte. „Das Menü ist von schöner Hand geschrieben und von einer Meisterhand entworfen. Ich kenne die Schwierigkeiten eines sinnigen Menüs.“
„Im Juli und in einer Kleinstadt!“ fügte Hagemann schmunzelnd hinzu.
„Hagemann,“ rief der Sänger, „diese Hummersuppe ist die beste meines Lebens, und ich habe Hummersuppe beim General Tschagiroff, dem ersten Feinschmecker Moskaus, gegessen. Gnädiges Fräulein, es ist zwar nicht fein, aber – ich bitte um einen zweiten Teller Hummersuppe.“
Emma blickte ihn dankbar an.
„Sie sollten in unsere Residenzstadt ziehen,“ sagte Aschau zum Hausherrn. „Ich schmeichle mir, für die feine Küche dort etwas geleistet zu haben. Sie können bei uns alles haben – echte Vogelnester, welche in Hongkong fünfzig Dollars das Pfund kosten, Schinken aus York, oder wünschen Sie Känguruhschinken?“
„Denk’ ich mir schrecklich schön,“ rief Hagemann.
„Straßburg und Nantes haben bei uns Niederlagen für ihre köstlichsten Pasteten. Unb so weiter und so weiter! Uebrigens wird die Prinzessin Sie nebst Ihrem Fräulein Tochter mündlich einladen, sie auf Solitude zu besuchen. Daß Leisewitz und ich Ihnen beiden das Leben in der Residenz so angenehm wie möglich machen, werden Sie wohl glauben.“
„Ich bin Ihnen sehr verbunden für die Ehre – darüber ließe sich schon reden.“
„Ach, ach,“ seufzte Aschau, „,Steinbutt mit Kapernsauce‘ und ‚Aal, am Spieß gebraten‘ – wer das könnte!“
„Ich kann es,“ sagte Leisewitz und unternahm einen neuen Sturm.
„Lieber Hagemann,“ fuhr er nach einer Weile fort, „ich wollte Ihre Freundlichkeit mit einem Abschiedsmahl in der ‚Sonne‘ erwidern, aber das ist jetzt unmöglich geworden – so etwas können sie drüben nicht, das kann auch die Küche im ‚Deutschen Kaiser‘ nicht. Ich erwarte Sie also bei mir daheim –“
„Ich schlage vor, wir feiern unsern Freund und Fräulein Tochter in unserm Klubhaus. Die Küche dort dürfte unserm verwöhnten Freund einigermaßen genügen.“
So thaten die Verbündeten alles, um Hagemanns Laune zu steigern, und obgleich der Hofmarschall Trinksprüche und die Sitte des Anstoßens innerlich verabscheute, so brachte er doch, als zum Braten Champagner eingeschenkt wurde, die Gesundheit Hagemanns und seines Töchterleins aus.
Hagemann erwiderte die Artigkeit mit einem Trinkspruch auf seine Gäste. Sie hätten die bescheidenen Genüsse des Bürgerhauses nachsichtig, aber mit feinstem Verständniß beurtheilt. Verständniß zu finden sei der schönste Lohn. Mit Bedauern vernehme er, daß die Herren Wörde binnen kurzem verließen. Für Wörde ein schwerer Verlust. Fritz Hagemann aber rufe den scheidenden Sommergästen ein „Auf Wiedersehen in der Residenz!“ zu.
Die Gläser klangen. O, wie die Augen Emmas glänzten!
Und der unermüdliche Hofmarschall ergriff aufs neue das Wort. „Ich weiß bestimmt,“ sagte er, zu Leisewitz gewendet, mit bedeutungsvollem Lächeln, „daß Ihr Chef, Ihr neuer Chef, nicht abgeneigt ist, mit Ihnen einen lebenslänglichen Vertrag abzuschließen. Was geht Ihnen bei uns ab? Sie werden auf Händen getragen. Kaufen Sie das Haus Ihres ehemaligen Chefs – Herr von Sporn verläßt mit seiner Familie die Hauptstadt – das Haus ist ein Schmuckkästchen. Wird zwar nicht billig sein, aber Sie haben ja Geld wie Heu. Kaufen Sie das Haus und heirathen Sie – eine Prinzessin oder, wenn ich Ihnen rathen darf, ein liebes braves Bürgerkind!“
Endlich fühlte Aschau doch den gestrigen Abend und zog sich zu einem Schläfchen in das Rauchzimmer zurück, wo ihn Purzel auf dem Diwan bettete.
Hagemann war nicht müde, denn er ruhte auf Lorbeeren. Mit strahlendem Gesicht lehnte er im Stuhl und trommelte mit den Fingern einen Siegesmarsch, während Leisewitz seiner Tochter die Bonbonsverse vorlas.
„Alles in allem,“ sagte Hagemann, „ich kann zufrieden sein. Es ist von der Suppe bis zum Nachtisch nichts mißrathen. Die [512] Gäste, namentlich Du, lieber Leisewitz – es bleibt bei dem ,Du‘! – warst ein liebenswürdiger charmanter Kerl, und auch Dein Giuseppe machte seine Sache vorzüglich. Wilhelm nahm sich zusammen – alles klappte. Man soll zwar den Tag nicht vor dem Abend loben, doch da ich des Kaffees sicher bin, darf ich schon jetzt sagen: dieser Tag gehört zu den schönsten meines Lebens. Wo ist der Wilhelm? Liebes Kind, schenke Du unserm Leisewitz ein – der alte Schwede trinkt nicht! Was ich sagen wollte – wirst Du das Haus kaufen?“
Da sah er zu seiner Rechten Leisewitz, zu seiner Linken Emma knieen. „Vater, verzeihe uns, segne uns! Siegfried und ich sind miteinander verlobt!“
Hagemann fuhr empor. „Leisewitz,“ rief er, „Sie sind ein falscher Mensch – ein – ein – das verzeih’ ich Ihnen nie!“
Seine Excellenz der Hoftheaterintendant Aschau stand in seinem Amtszimmer an den Schreibtisch gelehnt, im Gespräch mit Siegfried Leisewitz. Wenn wir sagen, daß auf dem Tisch außer einer lebensgroßen Büste Richard Wagners sämtliche im Verlauf von acht Wochen eingereichten Dramen Platz hatten, wird man sich von seiner Länge und Breite eine Vorstellung machen können. Wenn Aschau einen unangenehmen Besuch schnell abfertigen wollte, zeigte er auf diesen Tisch: „Sie sehen, wie sehr ich mit Arbeit überhäuft bin.“ Wenn ihn junge Dichter, Tonsetzer und so weiter um Förderung ihres Werkes baten, wies er auf die Büste: „Meine Begeisterung für die Kunst steht über jedem Zweifel, aber als gewissenhafter Beamter muß ich auch an den Geldpunkt denken.“
Der Lärm einer Hauptstraße tönte unablässig herauf. Ein Gemurmel im Vorzimmer und der Schall von Fußtritten im Flur, auf den eine zweite Thür führte, hörten nicht auf. Dazwischen klangen aus der Ferne Musik und Gesang, Hammerschläge und Klingelzeichen.
„Seien Sie edel, Leisewitz; verbittern Sie mir nicht auch mein Dasein! Ich hasse keinen Feind so, daß ich ihm wünschen würde, Theaterintendant zu sein. Haben Sie irgend einen ernsten Grund zur Verstimmung? Die kleinen Scherze eines neidischen Genossen müssen Sie gar nicht hören. Die Zeitung, die Sie mir nannten, ist ein Winkelblatt. Schicken Sie dem Kläffer eine Freikarte oder dergleichen! Ihnen zulieb gestatte ich gegen mein künstlerisches Gewissen den Hervorruf auf offener Bühne. Gestern, waren die Leute da nicht wieder wie toll?“
„Das wird aufhören, sobald es Krieg giebt. Wer geht dann in die Oper! Dann können wir die Bude schließen.“
„Die Bude? Ich will das Wort nicht wieder hören, Herr Hofopernsänger Leisewitz. Es ist übrigens noch die Frage, ob Sie recht haben, der Krieg selbst ist fraglich. – Beiläufig, unsere Prinzessin ließ mich gestern in die Loge rufen; wir sprachen von Ihnen. Sie möchte Ihnen eine Freude bereiten, weiß aber nicht womit. Ich ließ ein Wort vom Heinrichsorden fallen –“
„Excellenz. wirklich?“ rief der Sänger erfreut.
„Warum denn nicht? Ich wünsche Ihnen alle Ritterkreuze der Welt, wenn Sie mir mein Kreuz erleichtern.“
„Aber erster Klasse, Excellenz.“
„Freilich, freilich! Doch nun reden Sie mir nicht mehr von Ueberanstrengung, von Stimmbändern und so weiter! Das macht mich nervös.“ Er fuhr über den Scheitel; dann veränderte er seine Stellung und wies auf den Schreibtisch. „Stündlicher Verdruß und täglich fünf, sechs Trauerspiele – das bringt den stärksten Mann herunter!“ Er reichte ihm zwei Finger. „Also gut sein, verträglich sein, Leisewitz! Sonst noch etwas?“
„Ich erlaube mir, Excellenz mitzuteilen, daß heute Herr Hagemann mit meiner Braut eintrifft.“
„Also doch! Schön! Grüßen Sie beide, und – und – hm ... nun werden Sie aber nicht heftig, ich frage als Ihr Freund: denken Sie im Ernst an diese Heirath?“
„Ja, haben Sie mir denn nicht selbst dazu gerathen?“
„Ach, in Wörde! Da war ich noch jung und ein Leichtfuß wie Sie. Heute könnte ich Ihr Vater sein. Ich fürchte, die Heirath wird Ihrer künstlerischen Entwicklung schaden. Künstlerehen sind in der Regel keine glücklichen.“
„Keine Regel ohne Ausnahmen, Excellenz.“
Aschau zuckte die Schultern. „Fräulein Hagemann ist ja reizend, aber Sie werden den Papa mit in den Kauf nehmen müssen. Wenn ich mich recht erinnere, sprachen Sie damals von seiner Uehersiedlung hierher. Nun, die Poesie wird er Ihnen nicht ins Haus bringen.“
Leisewitz warf sich in die Brust. „Mein Schwiegervater ist so reich, daß ich nicht mehr nöthig habe, Sklavendienste zu thun. Wir werden reisen; auf Reisen zeigt jedermann nur seine guten Seiten.“
„Glanben Sie, Sie könnten ihren Erfolgen mit einem Mal entsagen? Sie werden und müssen singen.“
„Mag sein, aber nur noch in Konzerten.“
„Und die schönen, wirksamen, namentlich bei Damen wirksamen Kostüme – heute Schwanenritter, Morgen Fra Diavolo? Und vergessen Sie auch nicht, daß Sie an uns gebunden sind; mit goldenen Fesseln, aber gebunden! Doch verlieren wir uns nicht in unmögliche Möglichkeiten! Es ist ein ernster Schritt – Sie werden ihn überlegen.“
Leisewitz lachte. „Ich werde so frei sein, Excellenz zur Hochzeit einzuladen.“
„Werde nicht ermangeln, zu erscheinen, und gleichwohl das Ereigniß aufs tiefste bedauern. Haben Sie der Prinzessin Ihre Verlobung schon angezeigt?“
„Noch nicht,“ erwiderte Leisewitz zaudernd.
„Ah,“ rief Aschau vergnügt, „nun hab’ ich Sie! ‚Noch nicht!‘ Im Grund der Seele fühlen Sie – ich sage nicht Furcht, aber ein gelindes Gruseln. Der letzte Schritt – nicht heftig werden, lieber Leisewitz – ist ein Salto mortale, und Sie wissen noch nicht, ob Sie springen werden. Es wundert mich aber, daß man in Solitude nicht schon von anderer Seite Ihre Verlobung erfahren hat.“
„Ich habe sie außer Ihnen noch niemand mitgetheilt. Der Besitz eines Schatzes macht vorsichtig.“
„Bewahre, das Grausen vor dem Sprunge macht Sie klug. Ich rathe Ihnen ernstlich: sprechen Sie auch heute und morgen auf Solitude nicht davon. Lassen Sie ein paar Wochen ins Land gehen, und wenn Sie dann noch entschlossen sind, in Gottes Namen – dann ziehen Sie eben Ihre Hoheit ins Vertrauen, aber ich fürchte ...“ Er hielt vorsichtig ein. „Vielleicht täusche ich mich, aber ...“ er stockte wieder, dann, dem Sänger aufs neue die zwei Finger reichend, fuhr er fort: „Also grüßen Sie Hagemanns! Und bei ,Tannhäuser‘ am Donnerstag bleibt es.“
Im Vorzimmer saßen oder standen verschiedene Mitglieder der fürstlichen Hofbühne und solche, die es werden wollten. Ihr Geplauder steigerte sich vom Geflüster zur lauten Unterhaltung, bis irgendwoher eine St! erklang, dann ward es auf Augenblicke still, dann wiederholte sich das Spiel.
An einem Stehpult schrieb ein bartloser junger Mann; neben ihm, die Arme aufgestützt, stand ein wohlgenährter grauköpfiger Herr und raunte ihm den neuesten Stadtklatsch über eine Kollegin zu. Jetzt drehte er sich nach Leisewitz um, dem ein Diener in den Ueberrock half – in einen orangegelben Ueberzieher mit einem Doppelkragen. „Ihr seht verstimmt aus, Leisewitz“ sagte der Dicke, „ist drinnen böses Wetter?“
„Im Gegentheil,“ erwiderte jener, „der Chef hat mich ersucht, meine Absage zurückzunehmen. Widerstehe einer solcher Liebenswürdigkeit! Ich werde singen.“ Er schlang ein rosenfarbiges Seidentuch um den Hals und warf dabei einen Blick in den Spiegel. Unter diesem Spiegel saß eine Dame, ein Gesichtchen, in der richtigen Entfernung gesehen, wie Milch und Blut. Neben ihr hatte der erste Liebhaber Platz genommen.
„Wohin fahren Sie denn, Leisewitz?“ fragte sie. „Ich sah unten einen Wagen halten mit Ihrem Giuseppe auf dem Bock. Gewiß wieder nach Solitude!“
„Nein, meine Gnädige, nach Solitude werde ich schwerlich vor morgen abend fahren. Ich hole Verwandte von der Bahn ab.“
„Von woher, wenn ich fragen darf?“ fragte die Dame mit harmloser Miene.
„Von – von Wörde.“
Die Gesellschaft brach in ein schallendes Gelächter aus. „Was ist da zu lachen?“ rief er gereizt.
„Wehe dem, der lügt!“ versetzte die Dame.
Er zuckte die Schultern, murrte etwas zwischen den Zähnen und schritt stolz hinaus.
„Wenn die Hofgunst noch lange dauert, schnappt er über,“ sagte der Liebhaher hinter ihm her.
[513]
[514] Im Wagen, der nur langsam fahren konnte, lehnte sich Leisewitz zurück und versank in Grübeln. Lästert, lacht, dachte er, ich bin doch der Glücklichste von Euch allen … Dieser Aschau! Als ob man einen Künstler meines Ranges wie einen Zeisig in den Käfig sperren, wider seinen Willen halten könnte! Das sollte ihm sauer werden. Der Henker hole seine guten Rathschläge. Eigentlich waren sie beleidigend, eigentlich war ich zu höflich. Aber ich bin heute so glücklich! Mein liebes schönes Mädchen, endlich werd’ ich Dich wiedersehen! Ein Schatten flog über sein Gesicht. Aber wie wird es mit dem Vater? Hagemann ist über die romantischen Jahre hinaus. Er wird sich mit Opern nicht abspeisen lassen; er wird heute hier, morgen dort essen wollen. Aschau hat ihm unsere Stadt als ein Schlaraffenland gepriesen. Wo sind die Trüffelberge? Wo schäumt der Sekt? wird er fragen. Hagemann ist gesellig wie ein Truthahn. Er wird „Sonnenbrüder“ finden, und sie werden Brüderschaft trinken und er wird sich und mich bloßstellen, blamieren. Meine Verlobung wird sich nicht länger geheimhalten lassen. Und doch hat Aschau darin recht: sie wird mir bei Hofe schwerlich nützen. Er nagte an der Lippe. Ich wollte, wir wären schon verheirathet, dann wär’ ich auch ein freier Mann und könnte mich rechts oder links wenden, je nachdem!
Er schaute aus dem Wagenfenster und ärgerte sich über die Langsamkeit der Fahrt. Wie anders wird die Rückfahrt sein, wenn ihm Emma gegenübersitzt! Schade nur, daß ihr das Gedränge und Getriebe einer bedeutenden Stadt so wenig etwas Neues ist wie sein eigener Ruhm. Siehst Du, würde er sonst sagen, diese Tausende und Tausende von Spaziergängern und Geschäftigen – allen diesen bin ich bekannt und allen ein Liebling! Unsere Minister, unsere großen Kammerredner kennt man ja auch, aber sie machen den Leuten in einem Jahrzehnt nicht soviel Vergnügen wie ich an einem Abend. Mir blickt keiner finster, mir jeder dankbar nach, denn wie oft hat ihnen mein Gesang Schmerzen und Sorgen eingewiegt oder wenigstens die Langeweile vertrieben. Ich singe, und die Kalten entdecken ihr Herz und die Warmherzigen finden die kalte Welt wieder schön. Und die Frauen, die Frauen! Zum Beispiel Prinzessin Erna! Sie schwärmt für mich … doch nein, das würde ich Emma nicht sagen! Er lächelte, aber alsbald verdüsterte sich wieder seine Stirn. Die schönen Tage auf Solitude sind vorüber; ich werde mich nicht mehr zum Aerger und Neid meiner Kollegen in der Hofgunst sonnen. Sei es! Ich – bin es auch der guten Emma schuldig, daß ich mich frei mache, sei die Fessel von Gold oder ein Seidenband! Dieses Vertuschen und Verschleppen ist grausames Unrecht gegen deine Braust! Sei nicht feige, bekenne deine bürgerliche Liebe, deinen Hang zu bürgerlichem Glück! Eigentlich ist dir im Vorzimmer von Hoheiten und Excellenzen so wenig wohl wie im Kreise bechernder Junggesellen. Eigentlich bist du der geborene Ehemann! Bau’ dir ein warmes Nest, du wirst darum kein schlechterer Sänger! Ja, wenn ich mit den Launen der Prinzessin und ihrer Damen die himmlische Sanftmuth und Ergebenheit Emmas vergleiche , begreife ich mein Schwanken und Bedauern nicht. Die Gunst der Großen hat zudem enge Schranken; sie geht nicht einmal bis zu einem Halsorden für mich. Freilich, wenn man mich fallen läßt, werde ich unangenehme Erfahrungen machen. Ein ungnädiges Wort von oben, und Aschau wird mein Tyrann. Man wird mich kaltstellen, totschweigen – dahin darf es nicht kommen. O, sie sollen mich kennenlernen – mein geliebtes Mädchen, auf Flügeln des Gesanges trag’ ich dich weit übers Meer und wir gründen uns in der Fünften Avenue oder auf dem Washington-Square New-Yorks ein neues Heim!
Nach diesem dichterischen Erguß, in dieser Liebesgluth wurde ihm der Schneckengang des Fuhrwerks unerträglich. Er verzehrte sich in Ungeduld, er fürchtete, die Ankunft des Zuges zu versäumen, er stellte sich die Enttäuschung Emmas vor, die erste Enttäuschung, den ersten Schmerz, den er ihr bereiten würde, wenn er nicht da wäre. Zum ersten Mal zweifelte er an der Uhr des Sultans. Er steckte den Kopf hinaus und rief dem Kutscher, dem Diener, den Gäulen zu, in drei Teufels Namen zuzufahren. So drückte er sich aus, nach all dem Ueberschwang – wir dürfen es nicht verschweigen.
Als er, endlich am Ziel, durch die Wartesäle auf den Bahnsteig stürmte, fuhr der Zug eben in die Halle. Und dann hielt er seine Braut in den Armen, und sie küßten sich beide, unbekümmert um die Welt, die allerdings auf Bahnhöfen ein Auge zudrückt. Da klopfte jemand dem Seligen derb auf die Schulter. „Reihe ’rum!“ sagte Hagemann und that, was die Tochter that, umarmte und küßte den Sänger. Denn da Hagemann seine Emma in ihrer Liebe glücklich und über seinen Zorn unglücklich gesehen, hatte er Leisewitz doch und zwar schon in Wörde verziehen.
Leisewitz gab seiner Braut den Arm, Hagemann nahm dem Diener seine Haudtasche wieder ab, dann überließen sie sich dem Strom ins Freie. Auf der großen Freitreppe machten sie Halt. Der Himmel über dem Bahngebäude und seiner Umgebung war rauchig, aber wie leuchtete er für die Liebenden! Allein Hagemann holte die Glücklichen zur Erde herab; er schob sein Kind sachte beiseite und ließ den Rockknopf des Sängers nicht los, bevor er alle Grüße und Scherze der „Sonnenbrüder“ und „Eismänner“ ausgerichtet hatte. „Und Segeberg würde für sein Leben gern mitgekommen sein, wenn die Zeitläufte nicht so verzweifelt wären; als braver Bürgermeister kann er aber jetzt seinen Posten nicht verlassen. Am herzlichsten von allen jedoch läßt Dich unser Kapellmeister grüßen. Nach Deinem Abschiedsabend kam er wieder täglich in unser Haus, und Emma war wieder eifrig beim Klavierspiel, denn die Frau eines Hofopernsängers muß musikalisch sein, sagt der Kapellmeister.“
Siegfried schmunzelte. Obwohl er nicht zu den Vertrauensseligen gehörte, war er von Roberts Ehrlichkeit bei diesem Wandel überzeugt. Das sieht seiner erhabenen Einfalt und lächerlichen Selbstlosigkeit ähnlich, dachte er; Emma ist Braut, das heißt für ihn: sie ist unter die Sterne versetzt, und „die Sterne, die begehrt man nicht“ – nun kann er wieder in das Haus.
Unterdessen begrüßte Emma den freudeglänzenben Giuseppe. „Mir geht’s, wie es einem armen Hascher und militärpflichtigen Patrioten heute gehen kann,“ antwortete er auf die Frage nach seinem Befinden. „Wenn die Zeitungen nicht bald Ruh’ geben, haben wir den schönsten Krieg. Was wird dann aus dem gnädigen Herrn! Denn ich mag wollen oder nicht, ich muß mich stellen in Wien, sonst könnte die österreichische Armee am Ende nicht ausrucken. Aber, gnädiges Fräulein, mein Komplement! Beim Aussteigen kamen Sie mir um einen Schein blässer vor, aber keine Idee – Sie waren nie so schön wie heute! Aber wir lieben Sie auch erschrecklich; wir haben von nichts anderem als von Ihnen gered’t; wir haben die Tage gezählt!“
Fritz Hagemann blickte auf das Gewirr der Menschen und Wagen gelassen wie sommers auf die Brandung an der Wörder Landspitze. „Gehen wir!“
„Unser Wagen hält dort hinter den Droschken,“ sagte Leisewitz mit einer Handbewegung.
„Wagen? O du meine Güte! Und vollends ein geschlossener! Nein, wir sind nachgerade genug gefahren. Ich will meine Beine schlenkern und dem Blut einen neuen Schwung geben. Ich vertraue Purzel unser Gepäck an. Du führst Emma am Arm und mich nehmt Ihr ins Schlepptau. Unb wo eine Auslage ist, die eines alten Mannes Herz erfreuen kann, drehen wir bei!“
„Dann erlaube mir, Josef Deinen Mantelsack zu geben.“ Die Tasche, die Hagemann nur während der Umarmung aus der Hand gelassen, war ein altes Stück. Sie trug eine Stickerei aus blauen und weißen Glasperlen, einen Vergißmeinnichtkranz um den Wunsch: „Bon voyage!“
Hagemnnn zog hastig die Tasche an sich. „Nein, die Tasche vertrau’ ich niemand. Der Inhalt ist null, aber die Tasche das erste Geschenk meiner Seligen.“ Das war so einfach, so rührend. Leider hatte der Sänger im Leben – nicht in der Kunst – für kleine Züge, für kurze Lichtblitze, die doch fernste Winkel erleuchten, kein Verständniß; er dachte nicht an Emmas Mutter, sondern sah die blauen Glasperlen. „Ich meinte nur – die Straßen, durch die wir gehen müssen, sind sehr belebt.“
„I, meinethalben sei unbesorgt,“ rief Hagemann; der ihn mißverstand, „ich war in Hamburg, Berlin und Paris! Dank unserem erleichterten Verkehr, dank den Rundreisekarten und Vergnügungszügen giebt es keine Kleinstädter mehr. Weiß Purzel unsere Wohnung? Gut, dann gehen wir!“
„Wie Du willst,“ erwiderte Siegfried und warf einen raschen Blick über seine Braut und dann noch einen sinnenden auf ihren Hut.
Sie errieth seine Gedanken sofort und sagte ohne Empfindlichkeit: „Ja, nicht wahr, der Hut gefällt Dir nicht?“
„Rubenshüte sind hier zu Lande außer Schick,“ versetzte Siegfried kleinlaut.
[515] Emma nickte. „Ich hab’ es mir gleich gedacht und werde mir morgen, oder noch heute, wenn Du es wünschest, einen neuen kaufen – auch einen neuen Mantel,“ setzte sie zögernd hinzu.
„Vorläufig genügt eine Pelerine,“ versetzte er mit honigsüßer Stimme und blickte auf den Mantel, „aber nicht von Plüsch.“
Sie nahm seinen Arm und sah liebevoll zu ihm auf. „Du wirst mich noch in vielem bilden müssen.“
Er lächelte geschmeichelt. Sie mag recht haben, dachte er; in Wörde fiel mir das nicht auf. Wie schade! Welche Gestalt! Wie lieb das Gesicht! – Soll ich einen Nebenweg einschlagen oder nicht? – –
Leisewitz hatte für die Seinen einige Zimmer in einem Gasthaus gemiethet. Das Haus gehörte zu dem Dutzend Miethskasernen, die den Schillerplatz einschlossen. Bei Tage war es innerhalb des ungeheuren Steinwalles verhältnißmäßig still; man konnte sich auf dem Hofe einer gewaltigen Festung glauben. Doch nachts wurde das Gefängniß festlich beleuchtet und lustig, denn in jedem Hause war unten oder oben eine Bier- oder Wein- oder Kaffeeschenke. Der Platz hieß Schillerplatz, weil das Hoftheater in der Nähe lag, und die vielen Wirthe hatten sich dort angesiedelt, auch weil das Theater in der Nähe lag. Im Herzen der Neustadt, mit großem Aufwand von Cement und Stuck erbaut, war dieses Häuserviertel nur ein Wohnort für Wohlhabende, also ein vornehmes Viertel.
Purzel, der mit dem Gepäck längst eingetroffen war, sprang den Ankommenden entgegen. „Im Hafen!“ sprach Leisewitz mit einem tiefen Athemzug.
Hagemann blieb stehen und blickte umher. Auf ihn machte der Platz einen günstigen Eindruck. Er hielt seinen Hut fest und sah am höchsten Hause empor. „Sechs Stock hoch!“
„Ja“ sagte Purzel, „mich wundert’s, daß bei der heutigen Frische das Dach nicht angeschneit ist.“
„Siegfried!“ rief Hagemann erfreut und zeigte auf ein Schild mit der Aufschrift „C. W. Schreihubers Kaffeehaus“ – „C. W. Schreihuber ist einer meiner ältesten Kunden.“
Die bestellten Zimmer waren nach der übereinstimmenden Meinung des Wirthes und seines Tapezierers prachtvoll eingerichtet. In der Empfangsstube waren die Möbelbezüge von rother Seide bei blauen Tapeten. Den Hut auf dem Kopf und noch die Reisetasche in der Hand, musterte Hagemann die Zimmer und nickte befriedigt. Seine Tochter trat an ein Fenster. Wie daheim hatte sie auch hier ein Gasthaus gegenüber, doch kein alterthümliches Giebelhaus wie die „Sonne“, sondern einen rechteckigen Neubau mit dichtgereihten Fenstern, mit Söllern, auf denen ein Wohlbeleibter niemals, ein Magerer auch nur unter sehr günstigen Verhältnissen stehen konnte; es war der „Artushof“, der den größten Saal der Stadt enthielt, ein denkwürdiges Haus für alle Freunde von Musik und Tanz, denkwürdig dereinst auch für die schöne Emma.
„Hungern und dursten werden wir, scheint’s, auf dem Schillerplatz nicht“ meinte Hagemann, der jetzt auch einen Blick aus dem Fenster warf. „Du hast es gut gemacht, Siegfried. Die Wohnung ist theuer, aber anständig.“
„Fünfzig Schritte von meiner Wohnung.“
„Desto besser! Und jetzt, Kinder, wo essen wir?“
Auf diese Frage war Leisewitz vorbereitet. Morgen sei Begrüßungsmahl in seinem Daheim, für heute empfehle er die feine Speisewirthschaft im Hause, mit ausgezeichneter italienischer Küche.
„Die italienische Küche ist mir nicht so bekannt wie die französische,“ sagte Hagemann, „aber eben darum laßt uns sofort hinunter gehen!“
Emma bat, vorher das Theater sehen zu dürfen, wurde jedoch vom Vater ausgelacht, von Siegfried vertröstet. „Wir bleiben ein Stündchen bei Tisch, dann ist es zu den Einkäufen immer noch hell genug und dabei können wir ja am Theater vorüberfahren.“
„Na, und wie steht’s mit Deinem Hauskauf?“ begann jetzt Hagemann.
„Lieber Papa, ich dachte: abwarten! Falls es Krieg giebt, bekomm’ ich das Haus um die Hälfte.“
„Siehst Du, Junge, das gefällt mir! Wir wollen deshalb nicht wünschen, daß Krieg kommt, um Gotteswillen nicht! Aber daß Du warten, rechnen, kalkulieren kannst, das gefällt mir!“
Leisewitz sah brütend vor sich nieder. „Weiß nicht, ob ich Dein Lob verdiene. Ist es klug, an Kriegsfall sich zu binden? Und wer weiß den Ausgang! Könnte das Haus nicht auch für die Hälfte zu theuer sein?“ Er schüttelte den Kopf. „Ueber das und anderes wollen wir mit Muße reden!“
„Ja, nur erst die Beine unter einen ordentlich besetzten Tisch. Auch von der Prinzessin mußt Du uns dann Genaueres erzähten. Wie geht’s ihr? Wie stehst Du mit ihr? Hast uns nie davon geschrieben!“
„Recht gut – das heißt – was liegt daran! Am Donnerstag singe ich den ‚Tannhäuser‘, da sollt Ihr sehen, was die Stadt von mir hält.“
„Erst am Donnerstag?“ klagte Emma.
„Sei doch froh! So kann ich mich heute und morgen ganz Euch widmen!“
Hagemann, die Hände auf dem Rücken, ging auf und ab. „Der Italiener kocht alles mit Oel. Es hat manches für sich. Die Frage ist nur, werden wir Maccaroni oder Risotto essen? Am Ende beides.“
Man begab sich in den ersten Stock, wo die Wirthsräume lagen, und erhielt ein kleines Zimmer für sich. Die Küche war in der That eine echt itatienische. Glücklicherweise kam Hagemann mit tüchtigem Hunger zu den neuen Gerichten; er aß daher mit Behagen und lobte mit Ueberzeugung. Der Valpolicellawein, den Leisewitz weislich mit Wasser mischte, wurde von Hagemann anfangs unterschätzt; bald spürte er aber seine Wirkung, er wurde warm, ausgelassen, kurz, er unterhielt sich königlich, obwohl Siegfried und Emma um keinen Grad unterhaltender waren als andere verlobte und verliebte Paare.
Eben hatten ihm die Brautleute noch ein halbes Stündchen und eine halbe Flasche zugegeben, und er lehnte sich, mit Gott und der Welt zufrieden, im Stuhl zurück. „Daß Du berühmt bist, Siegfried, läßt sich nicht leugnen. Aber auch ich habe hier mehr Kunden als ich dachte. Beim letzten Aufenthalt las ich die Liste meines Geschäftsführers durch ... erstaunlich! Ich werde sie der Reihe nach besuchen und dann“ – er hob die Stimme – „wenn das Geschäftliche erledigt ist, zu Weihnachten oder Neujahr machen wir Hochzeit!“
Die Glücklichen wollten ihm um den Hals fallen, da wurde stark an die Thür geklopft. Der Störenfried war Purzel. Der Herr Kammersänger, lasse der Hoffourier der Prinzessin sagen, werde in Solitude erwartet; der Hofwagen halte vor seiner Wohnung.
Mit einem Blick auf Emma verweigerte Leisewitz rundweg den Gehorsam. Allein – sein künftiger Schwiegervater war damit nicht einverstanden. In seiner rosigen Laune sah er die Prinzessin von einem Strahlenkranz umgeben. Alle Achtung vor Männerstolz an Königsthronen, doch der liebenswürdigen leidenden hohen Frau gegenüber zieme sich Ritterlichkeit!
„Sie leidet an Launen,“ sagte der Sänger ärgerlich.
Purzel zog die Brauen hoch. „Der Fall sei wichtig, meint der Herr Hoffourier.“
Da fielen dem Sänger die Andeutungen des Intendanten ein – die Ueberraschung, der hohe Orden! Er stand auf und sagte, nicht ohne Verlegenheit, doch schon fest entschlossen, dem Rufe zu folgen: „Lieber Papa Hagenann, Du hast ja recht – ich verdanke dem fürstlichen Hause manches, und man beabsichtigt zudem, mir einen neuen Beweis der Hochachtung, ich darf sagen, Verehrung zu geben, die mir der Fürst und die Seinen zollen.“
„Sie schenken Dir ein Haus!“ rief Hagemann.
„Nein, so materiell sind die hohen Ueberraschungen nicht, indes – mein Gott ich kann nichts Bestimmtes sagen, denn da ich selbst überrascht werden soll –“ Er blickte auf seine Braut.
Diese sagte mit ruhiger Güte: „Geh!“
Und er ging, nicht mit blutendem Herzen, sondern in freudiger Aufregung. Es war ja keine Reise, sondern eine Spazierfahrt; eine Trennung auf Stunden, für die sie obendrein glänzend entschädigt werden sollte!
Als Vater und Tochter sich allein gegenüber saßen, er nicht im geringsten empfindlich über Siegfrieds Weggang, sie still in sich versunken, begann jener: „Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir an Siegfried noch große Freude erleben. Aus dem wird etwas!“
„Ist er nicht schon berühmt genug? Was kann er mehr werden als ein großer Künstler? Ich wünsche fast, er wäre weniger berühmt.“
„Aber, Du liebe Einfalt, Dein Bräutigam wird zu Gott weiß welchen Ehren und Auszeichnungen abgeholt, in einem Hofwagen abgeholt, und Du grämst Dich darüber!“
„Am ersten Abend!“ sagte sie leise.
[516]
Georg Daniel Teutsch †. Das Siebenbürger Sachsenvolk hat einen schweren Verlust erlitten. Am 2. Juli ist einer seiner verdientesten Männer,
sein jahrelanger Führer im Kampfe um eigenes Volksthum, der Bischof der siebenbürgischen evangelischen Landeskirche Dr. Georg Daniel Teutsch
zu Hermannstadt im hohen Alter von 76 Jahren gestorben. Was er seinem Volke war, wie er sein amtliches Wirken, sein Wort und seine
Feder ganz in den Dienst der ihm anvertrauten abgesprengten deutschen Gemeinden fern im Osten stellte, das hat die „Gartenlaube“ vor wenigen
Jahren, als Teutsch seinen siebzigsten Geburtstag feierte, ihren Lesern vorgeführt. Damals (Jahrgang 1887, Nummer 51) hat sie auch sein Bild
gebracht. Heute bleibt uns nichts zu thun, als theilnehmend der Klage seines Volkes uns zu gesellen. Sein Andenken wird lebendig bleiben, so lange noch deutsche Bauern den Pflug über das Land der sieben
Burgen ziehen, so lange deutsche Laute dort dem Wanderer ans Ohr klingen werden.
Das Schwind-Denkmal in München. (Mit Abbildung.) Seitab von dem Großstadtverkehr und doch ganz nahe der schönen Maximiliansstraße, auf der zum Park umgeschaffenen kleinen Isarinsel, ist am 4. Juli d. J. das Denkmal Moritz von Schwinds enthüllt und dadurch eine alte Ehrenschuld getilgt worden. Unmittelbar nach seinem Tode im Jahre 1871 traten Freunde und Genossen zur Gründung des Monumentes zusammen, aber offenbar war damals die Zeit hoher politischer Erregung dem Unternehmen nicht förderlich. Es kam ein kleines Kapital zusammen, das aber zur Herstellung nicht ausreichte, also hieß es zuwarten. Heute nun, nach mehr als zwanzig Jahren, sieht München die Züge des Mannes auferstehen dessen kurze gedrungene Figur mit dem mächtigen Kopfe fast täglich hier durch die Maximiliansstraße wandelte, rechts und links grüßend, hier ein freundliches und dort ein sarkastisches Wort austheilend: eine der Haupt-Charakterfiguren des alten München.
Und die am Enthüllungstag in erster Reihe der Festversammlung standen und mit Rührung zu dem Denkmal hinaufsahen, sie gehörten auch zum Theil der „alten Münchener Garde“ an. Freunde und Genossen Schwinds, Männer mit weißen Haaren und gealterte Frauengesichter, sie scharten sich um seine Familie, die überlebenden Kinder und Enkel, alle freudig gehoben durch die gemeinsame Huldigung für den unvergeßlichen Künstler. Wie eine feierliche Genugthuung für sein Andenken klangen ihnen die Worte des Präsidenten der Künstlergenossenschaft Eugen Stieler, der, nach der offiziellen Uebergabe an die Stadt und der Dankrede des Bürgermeisters, in warmen Worten hervorhob, wie auch heute in der Zeit scharfen Haders und erbitterter Gegensätze die Augen vieler sich auf Schwinds schönheitsfreudige und tief poetische Werke richten, um Erbauung daraus zu schöpfen und die Erkenntniß, „daß die Kunst mit der Alltäglichkeit nichts gemein hat“.
Das Denkmal selbst, von Hähnel modelliert, in der Erzgießerei von Miller hergestellt, wirkt sehr gut auf dem Hintergrunde der lichtdurchflossenen Baumzweige. Die Büste zeigt die wohlbekannten energischen Züge im jugendlichen Mannesalter – allegorische Figuren umgeben den Sockel. Man hat den Eindruck, als ob es dem Malerpoeten wohl sein müßte in dieser grünen Einsamkeit, wo das Brausen der wildströmenden Isar sich mit den Vogelstimmen in Baum und Busch vermischt. Der Lebende würde hier gern gerastet haben, also ist die Stelle für sein Denkmal wohl glücklich gewählt und München ist durch dasselbe um eine Zierde reicher geworden.
Gleichzeitig veröffentlichen wir auf S. 513 die Nachbildung eines Aquarells von Schwind, welches seinerzeit auf der Grillparzer-Ausstellung im neuen Wiener Rathhause berechtigtes Aufsehen erregte. Es stellt das Mittelbild dar aus einem dreitheiligen Cyklus, welcher dem verstorbenen Lustspieldichter Eduard v. Bauernfeld aus Anlaß seines siebzigsten Geburtstages von Damen der Wiener Gesellschaft als Huldigungsgabe gewidmet wurde und der sich heute im Besitze des Fräulein v. Wertheimstein, einer Tochter von Bauernfelds edler Freundin Josephine v. Wertheimstein, befindet. Schwind führt uns in das Poetenstübchen des Jugendfreundes: porträttreu und doch mit echter Künstlerlaune vergeistigt erscheint Bauernfeld, in Schlafrock und Pantoffeln, wie er Schwind, dem Urbild der Behaglichkeit, eine neue Komödie vorliest; seitwärts schaut uns die Büste des dritten und vielleicht größten Musensohnes in diesem Freundesbunde, das gemüthliche Gesicht Franz Schuberts entgegen; im Hintergrund sucht der wackere Bayer, der stille, gelehrte Vertraute der beiden, nach einem Schmöker in Bauernfelds Bücherei. Und gar heimelig nimmt sich in diesem Kreise die Phantasiegestalt der „Jugend“ aus Raimunds „Bauer als Millionär“ aus, recht eigentlich der Genius loci dieser einzigen Herzensbrüderschaft. Der Güte der gegenwärtigen Besitzer der schönen Blätter, der Familie v. Wertheimstein, danken wir die freundliche Erlaubniß, dieses Blatt vervielfältigen zu dürfen.
Seevögelfang. (Zu dem Bilde S. 505.) Zu den wunderbarsten Erscheinnugen des Vogellebens in der Natur gehören die Riesenansammlungen der gefiederten Scharen auf den Felsenklippen der nördlichen Meere. Man nennt sie „Vogelberge“ und die Leser der „Gartenlaube“ kennen sie aus den meisterhaften Schilderungen E. A. Brehms, die im Jahrgang 1889 unserer Zeitschrift veröffentlicht wurden. Diese Vogelberge sind für die Bewohner des Nordens eine Quelle des Lebensunterhalts und werden alljährlich „abgeerntet“. Der Nutzen, den die verschiedenen Arten der auf den Klippen nistenden Seevögel bringen, ist ein mannigfacher. Der „dummen Lumme“ werden ihre Eier und Jungen geraubt; erstere versendet man weit, letztere werden eingepökelt und für den Winter aufbewahrt. Die verschiedenen Mövenarten liefern Eier, Fleisch und Federn. Die köstlichste Ausbeute bietet die Eiderente, deren Dunen die weichsten und schönsten, dafür aber auch die theuersten Bettfedern geben. Viele der zarten Weiblein und Männlein, die sich in kalter Winternacht mit einem wirklich federleichten Bett von Eiderdunen zudecken, denken kaum daran, wie diese Federn im hohen Norden erbeutet wurden.
Ein Blick auf unser Bild wird sie darüber belehren. Die Eiderenten sind zwar zur Zeit, da sie nisten, wenig menschenscheu und die Alten
lassen sich sogar vom Neste wegnehmen; aber ihre Nistplätze sind nicht immer leicht zu erreichen. Sie kleben förmlich an schier unzugänglichen
Felsen, und noch mehr ist dies bei anderen Seevögeln, namentlich bei den Lummen der Fall. Aber auch dort sind sie vor den Nachstellungen des
Menschen nicht sicher. In Ländern, welche mit Vogelbergen gesegnet sind, namentlich aber auf den Faröern, giebt es eine besondere Art von
Vogelfängern, tollkühnen Männern, denen keine Klippe zu steil, kein Abgrund zu tief ist, wo ihnen Beute entgegenwinkt. Mit Lebensgefahr
erklimmen sie die steilen Felsen oder lassen sich an Seilen an den senkrechten Wänden hinab. Treue Gefährten halten am Rande des Abgrunds
das Seil. Da ist jeder Muskel, jeder Nerv gespannt, ein Fehltritt und ein Fehlgriff bei dieser halsbrecherischen Arbeit bedeuten den
Tod und selten stirbt auch einer dieser Vogelfänger im Bette daheim im Kreise seiner Lieben. *
Inhalt: Schwertlilie. Roman von Sophie Junghans (16. Fortsetzung). S. 501. – Aus dem Hinterhalt. Bild. S. 501. – Ist das Choleragift entdeckt? Von C. Falkenhorst. S. 504. – Seevögelfang. Bild, S. 505. – Weltausstellungsbriefe aus Chicago. Von Rudolf Cronau. III. Die Weiße Stadt. S. 507. Mit Abbildungen S. 508 und 509. – Der Sänger. Roman von Karl v. Heigel (3. Fortsetzung). S. 510. – Moritz v. Schwind und Eduard v. Bauernfeld. Bild. S. 513. – Blätter und Blüthen: Georg Daniei Teutsch †. S. 516. – Das Schwind-Denkmai in München. Mit Abbildung S. 516. – Seevögelfang. S. 516. (Zu dem Bilde S. 505.)