Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[485]

Halbheft 16.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Sonette aus dem Westen.

 1.
 Am Baum des Urwalds.

Ob meinem Haupte rauscht die Sykomore,
Trompetenblumen träumen abendstill;
Vom Nest am Berghang lockt der Whip-poor-will,
Und leise ruft das Wildhuhn aus dem Rohre.

Da blitzt es hell aus fernem Dämmerflore,
Ein Pfiff ertönt, anschwellend, laut und schrill,
Und überflockt von weißem Dampfgequill
Jagt dort der Zug aus dunklem Felsenthore.

Mit glüh’nden Augen winkt die Eisenschlange
Aus einer Welt, die längst mein Fuß gemieden,
Mir flücht’gen Gruß herab vom Bergeshange;

Dann hat der Felswand Dunkel uns geschieden,
Noch klirrt es leise auf dem Schienenstrange –
Und wieder: Abendruh und Urwaldfrieden …


 2.
 Verborgene Schätze.

<poem>Am Morgenroth zog ich dereinst von dannen;
Der Drang zur That hieß übers Meer mich wagen
Hier, wo dem Klugsinn tausend Essen ragen,
Hofft’ ich der Jugend Ueberschwang zu bannen.

Doch ob der Träume schönste auch zerrannen,
Seit ich entfloh’n dem Rhein und seinen Sagen,
Umsonst sucht’ ich die Märchen zu verjagen,
Die mir ins Herz gerauscht die deutschen Tannen.

Nun will im Abendroth mein Tag sich neigen,
Am fremden Himmel fremde Sterne glimmen.
Was mir die Welt an Schätzen gab zu eigen,

Seh’ ich wie Rauch im Dämmergrau verschwimmen,
Und leis nur rauschen in entlaubten Zweigen
Von Glück mir noch die deutschen Märchenstimmen …


 3.
 Treue Freunde.

<poem>Zwei Freunde gaben freundlich mir Geleit
Vom Rheingauthal, voll Veilchenduft und Reben,
Weit übers Weltmeer durch ein wirres Leben,
Bis zu der Steppe ferner Einsamkeit.

Sie folgen mir, getreu in Freud’ und Leid,
Um das verwaiste Herz ans Licht zu heben,
Wenn trüb des Heimwehs Schatten es umweben
Im starren Banne der Verlassenheit.

Und ob ich auch Genossen viel gefunden,
Seit ich, der Heimath fern, die Welt durchzieh’,
Nie waren Freunde treuer mir verbunden,

Und was mir Liebes auch das Leben lieh,
Das Beste fand ich doch in heil’gen Stunden
Bei deutschem Lied und deutscher Poesie!

Ohio  Konrad Nies.


[486]

Ketten.

Roman von Anton v. Perfall.
(1. Fortsetzung.)
3.

Jener Hieb mit dem Kindersäbel, den Hänschen am Weihnachtsabend gegen den Sohn des Hauses geführt hatte, änderte alle Bestimmungen, die für seine Zukunft getroffen waren; seine Zwillingsbruderschaft mit dem Hansl von Tiffany verleugnete sich nicht, er war wirklich ein Automat des Schicksals. Anstatt in der Familie aufgezogen und förmlich adoptiert zu werden, wie die Räthin anfangs beabsichtigt hatte, wurde er als schlichter Hans Davis zu dem ersten Prokuristen des Hauses Berry, dem kinderlosen Herrn Isidor Merk, in Pension gegeben.

Dieser fühlte sich durch das Vertrauen seines Herrn hochgeehrt, während seine Gattin Tini in der Sache nur eine vortreffliche neue Einnahmequelle erblickte. Der Kommerzienrath wünschte ausdrücklich, daß dem Jungen in keiner Weise etwas abgehe, und zahlte auch dementsprechend, aber Frau Tini hatte über das „nichts abgehen“ ihre eigenen Gedanken. Was sollte denn einem Arbeiterkind, dessen Mutter sich, um dem größten Elend zu entgehen, ins Wasser gestürzt hatte, in aller Welt abgehen, wenn es nicht hungern und frieren mußte? Sie hätte sich ein Gewissen daraus gemacht, seine den früheren ärmlichen Verhältnissen entstammende Genügsamkeit durch zu großen Aufwand zu verderben, die sollte ja zum Eckstein seines künftigen Glückes werden.

Nach diesen Grundsätzen der Frau Tini wurde Hänschen erzogen. Sie hatte ganz richtig gerechnet – seine gesunde kräftige Natur, die ihn schon damals vor dem Tode in dem eisigen Strome bewahrt hatte, half ihm über alle Härten und Entbehrungen hinweg. Er wuchs trotz schmaler Kost und reichlicher Arbeit zu einem blühenden kräftigen Hans heran. Und er fühlte sich nicht einmal unglücklich, denn dazu fehlte ihm jeder Vergleichungs punkt. Ständig erinnerten ihn seine Pflegeeltern an seine Herkunft und stellten ihm seine Existenz dar als eine fortgesetzte Wohlthat, wofür er in erster Linie dem Herrn Kommerzienrath und dann Frau Tini Dank schuldig sei. Es fiel ihm daher auch gar nicht ein, bei dem Herrn Kommerzienrath irgend welche Klage zu führen, wenn er Sonntags, in festtägliche Kleider gesteckt, in das Herrenhaus zu Fräulein Claire durfte, die ihr Anrecht auf ihn sich nicht ganz rauben ließ.

Nach der dunklen, freud- und lieblosen Woche bei Merks, welche im Beamtenhaus, inmitten von Staub und Lärm der Fabrik, ein paar Zimmer bewohnten, war dieser Sonntag bei Berrys in Claires Gesellschaft für ihn ein Sonnenstrahl, der alle düsteren, in seiner Kinderseele angesammelten Wolken verscheuchte.

Wiederholt hatte er aus dem Munde der Freundin die Geschichte jener fürchterlicher Nacht vernommen, die seinem eigenen Gedächtniß nie ganz entschwunden war; auch an spöttischen Bemerkungen darüber von seiten Tinis und der Arbeiterkinder auf dem Fabrikhof fehlte es nicht. Er wußte selbst nicht, ob auf Grund persönlicher Erinnerung oder oft wiederholter Erzählung – er glaubte, sich an den letzten Kuß, den entsetzlichen Sprung, an das bleiche entstellte Antlitz seiner Mutter erinnnern zu können.

„Mama, schenke mir den kleinen Jungen zum Christkind, ich will den Hansl bei Tiffany gar nicht mehr.“ Oft wenn beim Herumsuchen unter den Spielsachen der längst invalid gewordene Automat zum Vorschein kam, wiederholte ihm Claire lachend diese Worte, die sie an jenem schrecklichen Abend gesprochen hatte. Sie prägten sich seinem Gedächtniß unauslöschlich ein; aber nie stieg auch nur einen Augenblick ein Gefühl der Bitterkeit darüber in ihm auf. Auch daß sich Claire ein Bestimmungsrecht über ihn anmaßte und trotz aller innigen Freundschaft immer wieder den Ton der Herrin durchklingen ließ, nahm er nicht übel; im Gegentheil, er freute sich dessen – er freute sich, daß alles so gekommen war; so brauchte er niemand zu danken als ihr, die er abgöttisch liebte, die mit ihren blauen Augen, ihrem schimmernden Goldhaar ihn anzog wie niemand sonst. Doktor Schindling, sein Beschützer, war im ersten Jahre seiner Anwesenheit gestorben, und alle anderen kümmerten ihn nicht – der starre, ihm nie zulächelnde Kommerzienrath, dem er bei jedem Besuch in mechanischer Gewöhnung die Hand küßte; der hochmüthige boshafte Otto, von dem er sich Claire zuliebe geduldig quälen ließ; der verhaßte, seinem Chef gegenüber kriecherische, gegen ihn selbst harte Prokurist und dessen geizige lieblose Frau, denen er doch unbedingt folgte, in der wachsenden Furcht, auch diesen Platz zu verlieren, ganz, für immer getrennt zu werden von Claire. Herr Berry kümmerte sich wenig um die Erziehung des Knaben; erst als er zufällig von dessen ausgezeichneten Fähigkeiten hörte, regte sich in ihm wenigstens der Kaufmann, und er entschloß sich, das auf den Jungen verwendete Kapital nutzbringend zu machen. Hans Davis konnte eine für ihn höchst werthvolle Arbeitskraft werden, auf die er ein festes Anrecht hatte.

Der Knabe hatte das vierzehnte Jahr erreicht, es war also höchste Zeit, für seinen Entwicklungsgang zu sorgen. Berry schickte ihn auf die Gewerbeschule, um ihn zum Maschinentechniker ausbilden zu lassen; in der freien Zeit wurde er einem erfahrenen Werkmeister der Fabrik zum praktischen Unterricht zugetheilt.

Damit begann für Hans ein neues Leben; ein Arbeitsfeld lag vor ihm, in dessen schmutziger qualmender Atmosphäre er aufgewachsen war, ohne seinen Reiz zu kennen. Er beschritt es mit freudigem Drange, mit den besten Vorsätzen. Diese riesigen Hallen mit den sprühenden leuchtenden Feuern, den geheimnißvollen Maschinen, die er stets mit stummer Ehrfurcht betrachtete – das war ein anderer Aufenthalt als die paar Stuben bei Frau Tini, und hier gab es andere Arbeit als Aufwaschen, Holztragen und all die unzähligen niedrigen Dienstleistungen im Hause des Prokuristen! Und was man in der Gewerbeschule lernen konnte! Der Kopf brannte ihm vor Eifer, die dunkle Ahnung stieg in ihm auf, daß dies der Weg sei, auf dem die höhnischen Bemerkungen über seine dunkle Herkunft, über seine verschenkte Existenz zum Schweigen gebracht werden konnten. Denn mit den Jahren und dem wachsenden Verständniß hatte die Gleichgültigkeit gegen derartige Anspielungen aufgehört und einer jäh ausbrechenden, ihn oft zu Thätlichkeiten hinreißenden Erregung Platz gemacht. Selbst Claire gegenüber schwand unter den neuen Verhältnissen seine bisherige Duldsamkeit in diesem Punkte. Das Hammerschwingen stählte seine Muskeln, weitete seine Brust, gab seinem Gesicht einen kraftvollen, fast trotzigen Ausdruck. Der Blick in die Zukunft, der Drang, den Fleck abzuwaschen, der an ihm haftete, stählte seinen Sinn. Er verehrte Claire auch jetzt noch wie ein hoch über ihm stehendes Wesen, aber er fühlte sich schon ihr gegenüber. Neckereien, die er sonst willig hinnahm, schmerzten ihn jetzt; an die Stelle kindlicher grenzenloser Verehrung trat eine liebevolle Nachgiebigkeit; wenn es noth that, ein ebenso fester als geschickter Widerstand.

Diese Veränderung erfolgte so allmählich, so gleichmäßig mit der, welche in Claire selbst vor sich ging, daß beide sie erst gewahr wurden, als sie sich schon vollzogen hatte. Und nun machte jene ungebundene ahnungslose Freiheit im Benehmen Claires, bei der Geschlecht und gegenseitige Stellung gar nicht in Frage gekommen war, einer gewissen ängstlichen Scheu Platz. Mit Schmerz sah sie ihr geliebtes Spielzeug, ihr Eigenthum, auf das sie stolz war, ihren Händen entwachsen; sie wagte kaum noch eine Anspielung darauf, und wenn sie es wagte, gereizt durch sein Auftreten, so fürchtete sie sein sonderbar überlegenes Lächeln; dann schien ihr plötzlich das Spiel umgedreht – sie in seinen Händen.

Beide fühlten, früher als die achtlosen Eltern, daß dieses Verhältniß keine Dauer mehr haben könne. Der Kommerzienrath und seine Frau, mit anderen Dingen vollauf beschäftigt, erblickten in Hans Davis immer noch den armen Findling, der nichts zu bezeigen hatte als Dankbarkeit und Unterwürfigkeit – die Neigung Claires war ihnen eine kindische Laune; das Mädchen griff ja auch noch hie und da zu seinen Puppen, es hatte also keine Noth.

Claire war jetzt siebzehn Jahre alt und versprach eine Schönheit zu werden, wenn ihre in voller Entwicklung begriffene Gestalt zu harmonischer Fülle gelangt sein würde. Von ihrem Vater wurde sie eifersüchtig in der ländlichen Einsamkeit der Villa gehalten. Junge Männer verkehrten dort wenig, die Geschäftsfreunde Berrys waren zu alt, Ottos Kameraden zu jung, um Gefühle in ihr wachzurufen, welche in diesem Alter sich in jeder weiblichen Brust zu regen beginnen; so gehörte alles, was ihr kindliches Herz an Zuneigung für Dritte übrig hatte, dem Jugendfreund, so sehr sie auch von ihrem Bruder deshalb verlacht wurde.

Dieser betrachtete Hans mit der lächerlichen Geringschätzung jeder praktischen Thätigkeit, wie sie nur immer ein auf den Bänken der [487] Weisheit sitzender unreifer Junge haben kann; und zudem – die Narbe von jenem Säbelhieb war mit ihm aufgewachsen und damit eine untilgbare Abneigung, die von Hans redlich getheilt wurde. Dennoch kam es nie mehr zu irgend einem Auftritt zwischen beiden; Hans wurde durch die Furcht abgehalten, Claire damit ganz zu verlieren, Otto durch die Angst vor dem jähen Aufblitzen des Zornes in dem Auge dieser „Wasserratte“, wie er den Gehaßten nannte.

Mitten in das stille Leben und Arbeiten hinein kam aber plötzlich böse Kunde für Hans. Fräulein Claire sollte in den nächsten Tagen nach Paris abreisen! Der Kommerzienrath hielt bei der bisherigen Zurückgezogenheit seines Kindes vor dessen Erscheinen in der Welt eine weitere Ausbildung für unbedingt nothwendig, wenigstens gab er seiner erstaunten Frau keinen anderen Grund an für seinen überraschenden Entschluß.

Hans zuckte bei der Nachricht zusammen wie von einem heftigen Schlage getroffen. Ein besonderer Umstand vermehrte noch seine Erregung. Am letzten Sonntag war er wie gewöhnlich im Herrenhaus bei Claire gewesen; sie schlugen Ball im Parke, und einmal verlor sich der Ball im Grase; sie suchten ihn längere Zeit, dann wurde ihnen die Sache zu langweilig, und sie schritten Arm in Arm durch den Park, schweigend, ohne etwas zu denken, aber seelenvergnügt. Da rief plötzlich eine zornige Stimme Claires Namen – es war der Kommerzienrath.

Das Mädchen wurde feuerroth und ließ mit einer jähen Bewegung den Arm ihres Begleiters fahren. Herr Berry war schon wieder verschwunden, trotzdem entfernte sie sich rasch unter einem sehr wenig stichhaltigen Vorwand.

Nun, als er die Nachricht von ihrer Abreise erhielt, stieg es heiß in ihm auf: gewiß, der herzliche Umgang mit ihm war der Grund der Entfernung! Aber was war denn an diesem Spaziergang im Parke besonderes gewesen, sie hatten ihn doch bisher jeden Sonntag ungerügt machen dürfen! Und sie sprachen doch nichts Unrechtes, sie sprachen ja gar nichts! Allein Arm in Arm mit der Tochter des Kommerzienraths Berry, des Millionärs, er, der arme Findling, die „Wasserratte“ – ja das war’s! Und deshalb schickte man seine geliebte Claire nach Paris? Da wäre es doch einfacher gewesen, ihn selbst fur immer aus dem Herrenhaus zu weisen. Oder war es etwas anderes – Furcht für Claire selbst, Furcht vor etwas zwischen ihr und dem armen Hans? Mit instinktiver Sicherheit erkannte er, daß hier der tiefste Grund verborgen liege. Das Blut schoß ihm jäh in das Gesicht, ein wildes nie gekanntes Freudegefühl durchzuckte ihn.

Claire stand auf einmal vor seinen Augen, aber sie sah ganz anders aus wie sonst, tausendmal schöner. Dieser große Blick, der Duft ihres Haares, der Druck ihrer Hand!

Er saß in seiner kahlen, häßlichen Stube über seinen Büchern. Frau Tini hatte ihm eben mit schadenfroher Miene die bevorstehende Abreise Claires berichtet. Zum Fenster herein blickte ein trüber, naßkalter Herbsttag; schmutzige Nebel zogen mit dem Kohlenrauch um die Wette über die schwarzen Schuppen und Hallen, und doch dünkte ihm das alles schöner als am sonnigsten Frühlingstag; sein Herz schlug mächtig, und ein wildes drängendes Gefühl hob die junge Brust, in der es wie etwas Großes, Unbekanntes zum Lichte wollte. Mit erregter Phantasie beschwor er seine ganze Vergangenheit herauf – Claire in tausend Bildern, von jenem ersten an dort im Scheine der qualmenden Fackel, deren Licht noch auf ein anderes ihm unauslöschlich eingeprägtes Antlitz fiel, auf das verzerrte blasse Antlitz der Mutter! Er selbst am Arm eines bärtigen Mannes, das Rauschen des Flusses, das laute Schreien und Drängen der Leute ringsum – noch nie war ihm die schreckliche Scene so klar vor Augen gestanden. Er forschte weiter – was kam dann? Richtig, eine warme Stube, ein Mann mit einem grünen Schirm über den Augen, und dann? Ein anderer, groß, breit, mit schwarzem wirren Haar tritt herein, die beiden Männer sprechen viel miteinander, der Schwarze schreit plötzlich auf und kommt dann auf ihn selber zu – es ist sein Vater, der „entlassene verkommene Arbeiter“, wie sie ihn immer nannten. Er hatte ihn nie mehr gesehen, nie mehr von ihm gehört, ihn ganz vergessen – bis jetzt. Wenn der Vater wiederkommen, wenn Claire ihn sehen würde in seinem Elend – sie würde nie mehr ihren Arm in seinen eigenen legen, nie ntehr, und das würde er nicht ertragen können! Und doch wird er es ertragen müssen, auch wenn der Vater verschollen bleibt – die aus Paris zurückkehrende Claire wird nicht mehr seine Claire sein. Sie wird schöner und schöner werden, andere Freunde bekommen, reiche vornehme Freunde, und ihren Hans vergessen. Doch das darf sie nicht, er wird es ihr sagen beim Abschied, daß sie das nicht darf. Er ist ja ihr Eigenthum, und niemand vergißt sein Eigenthum.

Eine plötzliche Furcht befiel ihn, Claire könnte abreisen ohne diesen Abschied, ohne daß er ihr noch das alles sagen dürfte. „Aber das soll sie nicht!“ rief er zornig aus . . . Allein wenn sie müßte, wenn der unerbittliche Herr Berry sie dazu zwingen würde ... Hans sprang auf von seinen Büchern, die niedrige Zimmerdecke drückte auf ihn, er mußte hinüber in das Herrenhaus, gleich jetzt. Wenn sie heute noch reisen müßte – um diese Abendstunde ging ein Schnellzug nach Paris! Entsetzen packte ihn; der Gedanke, daß sie schon fort sein könnte, raubte ihm fast die Besinnung, es war ihm, als gähne eine unermeßliche Leere zu seinen Füßen.

„Wann reist Fräulein Claire?“ rief er in die Küche, in der Frau Tini herumhantierte.

„Bald, heute wohl!“

„Woher wissen Sie das?“

Zuerst erschrak die Frau vor seinem verstörten Aussehen, dann lachte sie ihm plötzlich hellauf in das Gesicht.

„Der Wagen ist auf sechs Uhr bestellt, und gepackt wird auch, das weiß ich. Du glaubst wohl, es sei nicht möglich, daß sie geht, ohne Dir Lebewohl gesagt zu haben? O, Du dummer Mensch – das gnädige Fräulein und Du!“

Hans summte es in den Ohren, wie ein Schatten senkte es sich vor seine Augen. Entschlossen stürzte er die Treppe hinab, dem Herrenhaus zu. Um jeden Preis mußte er sie noch einmal sehen.

Er eilte über den schon dunkelnden Hof, zwischen den Schuppen und Lagerhäusern hindurch. Schon sah er die Villa. Lichter bewegten sich in dem sonst dunklen Bau. Eine gewisse Unruhe schien dort zu herrschen, die Unruhe der Abreise; Frau Tini hatte recht. Nun galt es Eile – der nächste Weg ging am Polierhaus vorüber. Da plötzlich trat aus dem dunklen Schatten des Hauses ein Mann vor ihn hin in der offenbaren Absicht, ihn aufzuhalten. Er sprang zur Seite, aber der Fremde hielt ihn mit eisernem Griffe fest. „Bleib! Mach’ kein Geschrei und hör’ mich an; ich wartete auf Dich,“ flüsterte er.

In Hans war jetzt kein Raum für die Furcht; er war nur wüthend über die Verzögerung. „Lassen Sie mich los, ich habe keine Zeit!“ sagte er knirschend, aber unwillkürlich leise, unter dem Banne der Mahnung, keinen Lärm zu machen.

„A bah, keine Zeit! Es giebt für Dich nichts Wichtigeres, als was ich Dir zu sagen habe,“ erwiderte der Mann, ihn festhaltend; er mußte seinem Aussehen nach ein Arbeiter sein.

„Ich muß zu Herrn Berry, bevor er nach Paris abreist – ich muß, und nun lassen Sie los oder ich rufe um Hilfe!“

„Herr Berry reist aber heute nicht, sage ich Dir. Er reist erst morgen, ich weiß es; also hast Du Zeit –“

Hans athmete auf. „Wissen Sie das bestimmt?“

„Bestimmt. Er bringt morgen seine Tochter Claire nach Paris.“ Der Mann wußte offenbar Bescheid. Jetzt wurde Hans doch neugierig – was konnte der Fremde von ihm wollen? Warum hatte er auf ihn gewartet? Er folgte dem Vorauschreitenden willig in den dunklen Schatten des Gebäudes und betrachtete dabei gespannt dessen Züge. Ein schwarzer Bart umrahmte ein dunkles Gesicht, schwarzes Haar fiel unter dem großen Hute auf die auffallend weiße leuchtende Stirn.

„Johann Davis ist Dein Name, nicht wahr? Es ist nur, damit ich gewiß nicht fehlgehe.“ Er lachte leise.

„So heiße ich,“ erwiderte Hans, von dem Geheimnißvollen der ganzen Sache gepackt.

„Du bist jetzt achtzehn Jahre alt, seit zwölf Jahren im Hause des Prokuristen Merk auf Kosten Berrys, nicht wahr?“

Hans nickte nur, ein gräßlicher Gedanke schnürte ihm die Kehle zusammen.

„Du weißt natürlich auch, wie Du zu dem Berry gekommen bist, sie werden es Dir schon oft vorgehalten haben, Deine Herren Wohlthäter –“

„Ich weiß alles.“

„Ich dacht’ es mir. Erinnerst Du Dich noch an das, was damals war? Es ist lange her, Du warst noch nicht sechs Jahre alt.“

„Dunkel nur. Aber was soll dieses Fragen?“

„Also doch noch dunkel,“ antwortete der Fremde, ohne sich um die gestellte Frage zu kümmern. „So will ich Dir ein bißchen [488] helfen. Deine Mutter kannst Du Dir wohl noch denken, so ein Gesicht vergißt sich nicht leicht. Aber auch Deinen Vater?“ Hans schauerte zusammen. „Rede! Erinnerst Du Dich nicht mehr an ihn, an das Zimmer, in dem Du ihn zum letzten Male gesehen hast? Du saßest auf einer Bank, er reichte Dir die Hand zum Abschied, Du jedoch schrecktest vor ihm zurück – erinnerst Du Dich nicht?“

„Ja, ich erinnere mich, und dieser Mann –“

Hans blickte starr in das finstere Gesicht vor ihm, seine Hand schob zitternd den großen Hut zurück.

„Und dieser Mann bin ich,“ flüsterte der Unbekannte. „Jakob Davis, Dein Vater, der weit hergekommen ist, Dich zu besuchen.“

Vor den Augen des jungen Mannes tanzten tausend Funken, die Knie wankten ihm, nur ein Gedanke beherrschte ihn – Claire! Sie durfte nichts davon erfahren, und gottlob – sie wird nichts ersahren, weil sie morgen abreisen wird, um jahrelang in der Ferne zu bleiben; bis dahin – weiter dachte er nicht.

„Du bist nicht sehr erfreut, Junge,“ brach Davis das plötzliche Schweigen. „Dachte mir’s schon. Begreif’ es auch. Aber sei nicht blöd’, es fällt mir ja nicht ein, Dich zu holen – hab’ mit mir selber genug zu thun. Und es soll’s auch niemand erfahren, daß ich hier bin, hörst Du? Es liegt mir sehr viel daran; wenn meine Anwesenheit bekannt würde, wär’s verteufelt unangenehm für uns beide. Ich wollte nur einmal sehen, was sie aus Dir gemacht haben. Mir ging’s schlecht die letzte Zeit. Hab’ gearbeitet wie ein Thier damals, als ich von Dir fort mußt’; die dumme Reue, die Verlassenheit, mein Elend trieb mich dazu – man vergißt eher dabei. Aber der Teufel hol’s, wenn ich mich so ein Jahr lang schinde, ohne links oder rechts zu sehen, da packt mich plötzlich da drin eine Wuth, auch einmal das Leben zu genießen wie andere Menschen, und dann giebt’s immer ein Unglück – ich vertrag’s nicht, aus dem rechten Zuge zu kommen. Doch das verstehst Du ja nicht; also kurz und gut, ich machte eine Dummheit, für die ich vier Jahre sitzen mußte. Eine schlechte Ehre für Dich, nicht wahr – für immer wäre Dir wohl lieber! Aber es hat halt nicht gereicht, bei Gott, mir wär’s gleich gewesen, ’s ist hier außen um kein Haar besser. Doch wenn Du klug bist, bleibt’s ja unter uns. Ich will mich nach Arbeit umsehen, man wird mich wohl nicht mehr kennen; und am Ende bist Du doch mein Sohn, das läßt sich nicht abkaufen. In ein paar Jahren [wird] aus Dir ein gemachter Mann, Du bist im rechten Fahrwasser, dann wirst Du Deinen Vater nicht im Stiche lassen – und der alte Vater Dich auch nicht, wenn Dir einmal der Rummel zu dumm wird; so was steckt doch im Blute! Bin also dann immer bereit – Vater und Sohn müssen zusammenhalten. Wenn Du einen Rath brauchst – ich wohne in der Kleegasse Nummer 36, unterm Dache, frage nur in der Kneipe unten nach dem ‚Schwarzen Jakob‘! Im übrigen kannst Du ruhig sein, ich werde Dir nicht lästig fallen, außer wenn ich sehe, daß Du mich absichtlich vergessen willst – dann müßt’ ich mich melden, mein Junge –“

Fürst Bismarck beim Fackelzug auf der Terrasse des Lenbachschen Hauses.
Nach einer Zeichnung von Fritz Bergen.

Hans war noch zu unerfahren, um die Anspielungen seines Vaters ganz zu verstehen, aber soviel war ihm klar, daß ein Gefallener vor ihm stand, der daran war, ihm qualvolle Ketten anzulegen. Seine Jugend war in diesem Augenblick zu Ende, er wurde plötzlich zum Manne, den ein jäher Ingrimm erfaßte über das häßliche Spiel, welches das Schicksal mit ihm trieb von seiner Kindheit an. Wenn er mit einem Rucke die Ketten sprengte! Der Zorn erstickte jede andere Stimme in seinem Innern, mit einer wilden Bewegung schüttelte er die Hand ab, die noch immer auf seiner Schulter lag. „Laß mich, Du hast kein Recht mehr auf mich! Du hast mich verschenkt, nachdem Du die Mutter ermordet!“

„Bube, ich erwürge Dich!“ Zwei Fäuste umklammerten seinen Hals, zwei Augen leuchteten drohend dicht vor ihm.

„Jawohl, ermordet, in den Tod gehetzt!“ ächzte der Angegriffene.

Fester schnürten sich die Finger zu, die Lichter im Hofe, in der Fabrik flimmerten wirr durcheinander vor seinen Augen. Er fühlte die Besinnung schwinden, in der nächsten Sekunde mußte ein furchtbarer Mord geschehen. Da erblickte er eine weibliche Gestalt, sie hob sich dunkel ab gegen den Lichtkreis einer Laterne vom Polierhaus her – es war Claire!

Mit der Kraft der Verzweiflung rang er gegen die eiserne Umklammerung, das Hemd, der Rock zerriß, aber es gelang ihm, sich loszumachen, und hochaufathmend stürzte er auf Claire zu. Gewiß, sie war gekommen, um Abschied zu nehmen! Das Dunkel mit seinem Grauen lag hinter ihm, vor ihm flammendes Licht, das aus der geöffneten Thür der Arbeitshalle strömte, und von dem lodernden Scheine phantastisch beleuchtet, ängstlich sich umschauend, Claire – ein Mantel umhüllte ihre Gestalt, unter der weißen Kapuze schimmerte das Goldhaar. Wie einst kam sie, ihn zu retten von finsteren Gewalten.

„Claire!“ rief er, keuchend in den Lichtkreis springend.

Sie wich erschrocken zurück. Er war aschfahl, das Hemd war aufgezerrt, der Rock in Fetzen gerissen, das Haar zerrauft, in dem irren Auge lag noch das Entsetzen im Streit mit jäher Freude.

„Du kommst, um Abschied zu nehmen, zu mir – zu mir! Du, Claire, zu mir!“ Er lachte und weinte zugleich, er ergriff ihre Hand, preßte sie an die Lippen und überströmte sie mit Thränen.

Sein Anprall war zu heftig, zu ungewohnt. Das war nicht mehr ihr Spielgenosse – ein fremder wilder Mann stand vor ihr, vor dem sie bebte. Der Vater hatte ihr verboten, von Hans Abschied zu nehmen, sie jedoch wollte nicht reisen, ohne dem armen Jungen Lebewohl zu sagen. Aber er hatte doch recht gehabt, der Vater. Oder kam ihr das alles nur so unheimlich vor hier [489] in dieser Feuergluth, diesem Gepoch, Gerassel, Gestöhn, das ringsum durch die Nacht lärmte?

„Also morgen, wirklich morgen? Sag’ es selbst, Claire, sonst glaub’ ich es nicht! Und auf wie lange? Auf Jahre ... auf immer vielleicht? Nein, nicht auf immer! So sprich doch, ich muß es wissen! Ich gehöre ja Dir, nicht Deinem Vater, nicht den Merks, niemand, nur Dir, Dir! Hörst Du, Claire?“ Er sprach flehend und doch befehlend, wie auf ein Recht pochend. Er umfaßte sie stürmisch. Das war kein Spiel, kein kindliches Ringen, auch nicht die Wärme der Freundschaft.

Claire schauerte vor einem fremden Gefühl, das sie zum ersten Male in ihrem Leben durchzitterte. Sie wollte fliehen, sie war empört über den Zwang, den ihr dieser Knabe auferlegte, über das stürmische, fast rohe Begegnen, über die Rücksichtslosigkeit, mit welcher er, der sonst jedem Winke ihrer Augen gehorcht hatte, die Kluft zwischen ihnen übersprang. „Laß mich, ich bereue, daß ich gekommen bin. Mein Vater hatte ganz recht, es mir zu verbieten. Laß mich doch, Du thörichter Junge – wie Du aussiehst, wie Du sprichst! Ich fürchte mich vor Dir!“

v. Lenbach. 0 Gen.-Int. v. Perfall.
 Frau v. Lenbach.       Fürst Bismarck.
Prof. Schweninger.   Fürstin Bismarck.

Der Besuch des Fürsten Bismarck in der „Allotria“ zu München.
Nach einer Zeichnung von Fritz Bergen.

Hans ließ sie los, seine Arme fielen schlaff herab, und – sie floh nicht; jetzt, wo sie offenbar die Herrschaft über ihn wiedererlangt hatte, sah sie mit Neugierde in das kummervolle Gesicht.

„Verzeih’ Claire, ich bin ganz wirr, ich wollte eben zu Dir, trotz Deines Vaters, um Abschied zu nehmen. Es hielt mich etwas auf, etwas Fürchterliches; da sah ich Dich, da verlor ich den Verstand vor Freude – vor – ich weiß selbst nicht; es ist ja das letzte Mal – dann bin ich ganz allein, dann kommt kein Sonntag mehr ... ich hab’ keine Mutter – keinen –“ Er stockte. „Niemand, niemand hab’ ich, und Paris ist so weit und ich werde nie etwas hören von Dir – begreifst Du denn meinen Schmerz nicht?“

„Weil ich’s begreife, bin ich gekommen, obwohl der Vater es verboten hat,“ entgegnete Claire. „Aber in zwei Jahren bin ich ja wieder zurück, dann sind wir beide erwachsene Leute und können uns sehen, so oft wir wollen.“

Hans schüttelte betrübt den Kopf. „In zwei Jahren bist Du eine vornehme Dame.“

„Werde ich das dann nicht ebenso sein, wenn ich zu Hause [490] bleibe? Das läßt sich nicht ändern, Hans, deswegen können wir doch gute Freunde bleiben.“

„Und Du wirst mich vergessen in dem großen Paris! Aber Du darfst es nicht – Du hast mich meinem Vater genommen, als ich noch ein Kind war, Du, nicht Deine Mutter, nicht Herr Berry, sie hätten nicht daran gedacht. Du mußt mich deshalb auch lieb haben – ach, ich liebe niemand auf der Welt denn Dich; ich wußte es selbst nicht so bis heute, als ich hörte, daß Du fortgehst. Claire, nur ein gutes Wort gieb mir für die lange schreckliche Zeit, und ich will Dir’s immer danken!“

Sie überließ ihm jetzt willig ihre Hand und lauschte begierig diesen nie gehörten, ihr kindliches Herz bestürmenden Worten. Auch sie schmerzte der Abschied, auch sie fühlte, daß sie nie mehr diesem Jüngling so gegenüberstehen dürfe, daß in zwei Jahren alles anders sein werde, und es war ihr, als müsse sie ihn festhalten, diesen Augenblick, der sie schwindeln machte vor Wonne, ohne daß sie in ihrer Unschuld ahnte, warum.

Arbeiter kamen aus der Werkstätte, Hans und Claire eilten Arm in Arm tiefer in den Schatten. Hans dachte an den Vater – wenn er sie beobachtete, Rache nähme für die Anklagen vorhin, wenn er vor Claire hintreten würde, ihr alles enthüllend! Der Angstschweiß perlte auf seiner Stirn, er zog Claire mit sich fort, von diesem Schreckensplatz weg.

„Ich muß heim, der Vater wird nach mir fragen,“ flüsterte sie, von dem Schauer des geheimnißvollen, verbotenen Weges erfaßt, den sie in dunkler Nacht hier an der Seite ihres Freundes ging. „Ich vergesse Dich nicht, gewiß nicht. Nütze die zwei Jahre, arbeite, was Du kannst, schwinge Dich empor, so hoch Du kannst, damit –“ sie legte ihren Mund dicht an sein Ohr – „damit die vornehme Dame mit Dir verkehren kann, verstehst Du mich?“

Die ganze Zukunft flammte bei diesen Worten in hellem Lichte vor Hans auf. Es war ihm, als ob die kleine Hand, welche die seine drückte, ihn mit Riesenkraft emporhebe bis zu den Sternen.

„Vergiß auch Du die Claire nicht! Lebe wohl, Hans!“ Die kleine heiße Hand entwand sich der seinen, ein Kuß brannte auf seiner Wange – Claire war im Dunkel verschwunden.

Er starrte ihr nach, die Hand auf das pochende Herz gepreßt. „Schwinge Dich empor, so hoch Du kannst!“ klang es immerfort in sein Ohr. Er wandte sich um – die Feuer loderten gleich Opferflammen zu den Schloten heraus, gegen den Nachthimmel empor; die schwarzen Hallen ringsnm zitterten unter dem mächtigen Pulsschlag der Arbeit. „Schwinge Dich empor, so hoch Du kannst!“

„Ja, das will ich – bis zu Dir, Claire!“ rief Hans in jugendlicher Begeisterung.

Da huschte ein Schatten an der Mauer entlang, ein gelles Lachen ertönte, Hans fuhr zusammen – der Vater, das Schicksal!


4.

Das war eine schlaflose Nacht für Hans nach diesem Abschied von Claire. Er schmiedete seinen Lebensplan; die Flammen der Hochöfen leuchteten ihm dazu, und die unzähligen Laute der Arbeit um ihn her, zu einem riesigen Accord vereinigt, stimmten seine Seele feierlich.

Hier unter ihren Augen in ihrer nächsten Nähe mußte ihm der Weg zur Höhe gelingen – gelang er doch auch anderen! Der Direktor war in der Werkstatt aufgewachsen und ein einfacher Monteur gewesen; Herr Berry selbst sollte sich noch vor zwanzig Jahren als armer Ingenieur mühsam durchgeschlagen haben. Und dann die berühmten Männer, die Erfinder, von denen er schon oft gelesen – alle fast waren sie arme, schlichte Leute gewesen! Und in dieser Welt von Dampfmaschinen, Schrauben, Hebeln, Kurbeln, Rädern und Rädchen lagen noch viele werthvolle Geheimnisse verborgen, die nur der glücklichen Hand warteten, die sie enthüllte. Dazu bedurfte es keines langwierigen Studiums der ihm unzugänglichen Wissenschaft, nur eines durchdringenden Auges, praktischen Sinnes und vor allem der warmen Liebe zu diesem ewig wandelbaren Märchenwesen „Maschine“ – und diese Liebe erfüllte ihn von Jugend auf, sie war mit ihm groß geworden. Schon mit seinen Kinderaugen hatte er das geheimnißvolle vielgestaltige Leben der Maschinen beobachtet, schon als Knabe hatte er, zusammensetzend und zerlegend, die allgemeinsten Gesetze ihres Daseins fast spielend kennengelernt. Warum sollte ihm nicht gelingen, was vor ihm anderen gelungen war, denen nicht eine Claire so unvergeßliche Worte zugerufen hatte!

Im nächsten Frühjahr sollte er aus der Gewerbeschule austreten, dann wollte er Herrn Berry um eine Stellung in den Werken bitten, so gering und niedrig sie auch wäre. Dann war er ein Mann, der sein Brot selbst verdiente – das war schon etwas, aber freilich noch lange nicht das, was Claire meinte. Zwei Jahre – er wünschte jetzt trotz seiner Sehnsucht, daß sie erst in zehn zurückkäme, dann wäre er seiner Sache sicher gewesen!

Die Wangen brannten ihm bei dem geistigen Vorwärtsdrängen; bald überkam ihn trotz allen Selbstvertrauens ein überwältigendes Gefühl seiner Ohnmacht, und verzweifelt gab er sich der Hoffnungslosigkeit hin; bald riß ihn seine erregte Phantasie mit fort und spiegelte ihm abenteuerliche Glücksfälle vor, die ihn mit Sturmeseile emporheben sollten. Schlief er ermattet ein, so weckte ihn ein gelles Lachen – des Vaters verstörtes Gesicht blickte ihn drohend an. Bittere Reue über seine fühllose Abweisung wollte ihn erfassen – aber Claire und seine Zukunft! Und wie der Wüthende ihn an der Kehle gepackt hatte – das waren Mördergriffe ... vielleicht hatte er schon einmal ... Hans wagte den Gedanken nicht auszudenken und verbarg sein schweißbedecktes Gesicht unter der Decke.

Endlich^ graute der Morgen. Hans machte sich über seine Bücher, kein Augenblick durfte versäumt werden – ein neues hastiges Leben begann.

Frau Merk trat ein. Seit Hans durch seine weitere Ausbildung ihrem personlichen Dienste entzogen war, ließ sie den Herrn Studenten, wie sie ihn spöttisch nannte, bei jeder Gelegenheit ihren Unwillen fühlen. Ihre Züge verriethen eine hämische Freude, das bedeutete für ihn irgend etwas Unangenehmes.

„Na, was sagte ich gestern, das gnädige Fräulein ist fort nach Paris, Knall und Fall, ohne Abschied. Das muß seinen Grund haben. Vielleicht erfährst Du etwas darüber; der Herr Kommerzienrath schickte gestern noch herüber, Du sollest Dich heute nachmittag um fünf Uhr in seinem Bureau einfinden. Ich glaube, der Wind hat sich gedreht. Nimm Dich in acht!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie das Zimmer.

Hans versprach sich nichts Gutes von dieser ungewohnten Bestellung. Entweder handelte es sich um seine Zusammenkunft mit Claire, die Herrn Berry verrathen worden war, oder um den Vater, der sich an den Kommerzienrath drängte, nachdem der Sohn ihn abgewiesen hatte. Ließ Herr Berry ihn jetzt fallen, so zerplatzten die Pläne dieser Nacht und all die kühnen Hoffnungen wie Seifenblasen; nichts war er dann als der hilflose Sohn eines Arbeiters – eines Verbrechers, den von Claire für immer eine unausfüllbare Kluft trennte.

Das Herz schlug ihm fast hörbar, als er sich um die bestimmte Stunde zum Bureau begab. Er mußte lange im Vorzimmer warten und hatte Zeit, über seine Vertheidigung nachzudenken. In jedem Falle fühlte er sich im Recht. Claire war seine Jugendfreundin, dieser Herr Berry selbst hatte ihn ja einst der Tochter geschenkt, und jetzt sollte ihr und ihm jedes Wort des Abschieds verboten sein? Konnte denn wirklich dieser Mann ihn verschenken und dann wieder in den Winkel werfen wie sein einstiges Ebenbild, den Automaten? Und wenn es das andere galt, das Zusammentreffen mit seinem Vater – war denn er an dessen Verkommenheit schuld oder nicht vielmehr dieser stolze Berry, der dem Verzweifelten das Letzte nahm, das ihn vielleicht noch gehalten hätte, seinen Sohn – einer Laune seiner Gattin, seines Kindes zuliebe, nicht aus Barmherzigkeit.

Ein dumpfer, unerklärlicher Groll sammelte sich plötzlich in seinem Innern an gegen den Mann, in dessen Hand seine Zukunft lag. Die trotzige Lust, hinzutreten vor den Gefürchteten, Mächtigen und ihm das alles offen zu sagen, erfaßte ihn ...

„Hans Davis!“

Er zuckte zusammen, ein Diener hatte seinen Namen gerufen. Er wußte selbst nicht, wie es kam, aber bei diesem Rufe tauchte mit einem Male Claires Bild vor ihm auf, und sein Zorn verflog – die trotzig gefaltete Stirn glättete sich, der kühn aufgerichtete Körper sank in sich zusammen. In demüthiger Haltung betrat er das Zimmer des Kommerzienrathes und verneigte sich tief.

Herr Berry sah ihn lange forschend an; Hans hielt den Blick tapfer aus.

„Ich habe ernste Dinge mit Ihnen zu reden, Hans,“ begann dann Berry in kühlem Tone. „Setzen Sie sich!“ Mit einer kurzen Handbewegung wies er aus einen Stuhl. „Claire [491] ist heute früh abgereist nach Paris.“ Er verwandte die Augen keine Sekunde von Hans, der jetzt heftig erröthete. „Sie wird zwei, vielleicht auch drei Jahre dort bleiben. Eure Lebenswege trennen sich von nun an, darum fand ich es auch für gut, daß ein Abschied unterbleibe. – Sie wissen, daß Sie Verpflichtungen gegen mich haben, und die Bestimmungen, die ich nun treffe, sollen Sie in die Lage versetzen, ihnen nachkommen zu können. Ich werde Sie von morgen an im Werke beschäftigen und zwar sollen Sie sofort eine bezahlte Stellung einnehmen. Ich habe meine strengen Ansichten. Sie sind dem Arbeiterstand entsprossen, auf diesem Bodett sollen Sie auch wachsen – das Umsetzen taugt nichts. Sind Sie der rechte Mann, so können Sie sich trotzdem emporschwingen.“

Die Augen des Jünglings leuchteten auf, eine dunkle Röthe stieg ihm ins Gesicht bei den letzten Worten.

„Sie treten morgen als Gehilfe in die Monteurabtheilung; wie ich höre, haben Sie Geschick für das Maschinenwesen, und dort ist die beste Schule. Ich werde Sie nicht aus den Augen verlieren und erwarte, daß Sie Ihre Pflicht thun, schon aus Dankbarkeit für das, was Ihnen erwiesen wurde. Außerdem wird es sich empfehlen, daß Sie sich weder Ihren Kameraden noch Ihren Vorgesetzten gegenüber auf Ihr Verhältniß zu mir berufen –“

„Das habe ich auch bisher nie gethan!“ warf Hans ein.

„Ich rechne darauf,“ fuhr Berry ruhig fort, „in Ihnen einen treuen Diener des Hauses Berry zu erziehen, der sich von allen, uns Arbeitgebern feindseligen Bestrebungen fern hält! Sie sind ja ein lebendiges Beispiel, daß der Vorwurf der Härte, der Ungerechtigkeit, des Eigennutzes, der Bedrückung, den man immer wieder gegen uns schleudert, eine gemeine Lüge ist. Beherzigen Sie das! – Haben Sie gegen meine Verfügung etwas einzuwenden?“

Hans stand wortlos da – seine Befürchtungen hatten sich in das Gegentheil, in die Erfüllung seines heißesten Wunsches verwandelt; er schämte sich seiner aufrührerischen, undankbaren Gedanken im Vorzimmer. Jetzt erschien ihm Herr Berry wirklich als Wohlthäter. Thränen traten ihm in die Augen, und in überströmendem Gefühl ergriff er die weiße Hand, die vor ihm auf der Stuhllehne lag, und küßte sie.

„Nichts, nichts mehr hab’ ich zu sagen,“ stammelte er, „als daß ich nie vergessen werde, was Sie an mir gethan haben – daß ich Ihnen Ehre machen werde.“

Bei diesem unverfälschten Ausdruck der Hingebung zuckte doch auch durch das unbewegliche Gesicht des Kommerzienraths etwas wie Rührung, aber nur einen Augenblick – dann waren seine Züge wieder gemessen wie zuvor. „Morgen also, Hans,“ sagte er, ihm zunickend zum Zeichen der Entlassung. Dann aber, wie in plötzlicher Eingebung, setzte er rasch hinzu: „Noch etwas – Sie haben von Ihrem Vater nichts mehr gesehen oder gehört?“

Hans hatte das Gefühl, als bohre sich der Blick der grauen Augen in seinem Gesicht fest. Wußte Berry etwas oder war die Frage nur eine zufällige? Durfte er diesen Mann, der eben seinen innigsten Wunsch erfüllt hatte, belügen? Und war es nicht unklug, ihn zu belügen? Der Kommerzienrath hatte ja die Macht, ihn zu schützen vor dem Vater, dessen Griffe er noch am Halse spürte.

Herr Berry wartete die Antwort nicht ab. „So schlimm es klingt, ich muß Sie warnen vor diesem Manne. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich einmal, wenn Sie sich eine Existenz gegründet haben, an Sie drängt, Forderungen an Sie stellt. Er ist tief gesunken und würde Sie nachhaltig bloßstellen. Ich könnte sogar den Umgang eines meiner Angestellten mit einem solchen ... Individuum gar nicht dulden. Ich meine nur, wenn es wirklich so wäre, verstehen Sie mich? Verpflichtungen haben Sie ja keine gegen ihn.“

Hans war glücklich, daß Berry keine Antwort auf seine Frage verlangt hatte, er würde die ganze Wahrheit gesagt haben; so schwieg er und empfahl sich demüthig, als ein nochmaliges gnädiges Kopfnicken ihm sagte, daß er endgültig entlassen sei. –

Im Parke schoß Otto mit einem Revolver auf die Scheibe. Hans vergaß in seiner Freude allen alten Groll, alle Gespanntheit, die zwischen ihnen herrschte, eilte auf ihn zu und erzählte mit gerötheten Wangen, daß er von morgen an ein Angestellter der Berryschen Werke sei und als Monteurgehilfe eintrete.

Otto ließ sich dadurch in seinem Sport nicht stören. „Das ist sehr hübsch – Herr Davis“ – bis jetzt nannten sie sich beim Vornamen – „aber Sie werden begreifen –“ Ein neuer Schuß krachte. „Sehen Sie einmal nach der Scheibe, ich denke, die Kugel sitzt zu hoch – Sie werden begreifen, daß dies unsere Stellung zu einander bedeutend – aber hören Sie denn nicht, Sie sollen nach der Scheibe sehen!“ fuhr er Hans an, der starr über die unerwartete Wirkung seiner freudigen Meldung dastand.

„Das ist mein Dienst nicht, Herr Otto,“ entgegnete Hans scharf; in seinen Augen zuckte es verdächtig.

„... bedeutend ändern muß,“ fuhr Otto fort, ohne scheinbar von den Worten des alten Spielgenossen Notiz zu nehmen. „Bis jetzt waren Sie nichts als ein Anhängsel unseres Hauses, an dessen Vertraulichkeiten man sich einmal gewöhnt hatte; jetzt sind Sie ein Bediensteter, ein Arbeiter. Das ist für mich weniger als nichts. Und was den ferneren Verkehr betrifft – der ist eine platte Unmöglichkeit, in drei Monaten trete ich als Offiziersaspirant in die Armee.“ Wieder krachte ein Schuß. „Jetzt bitte ich Sie aber ernstlich, nach der Scheibe zu sehen, Herr Monteurgehilfe!“

„Und ich bitte Sie ernstlich, sich dazu jemand anders zu suchen als mich. Ich empfehle mich.“

Hans ging.

„Warte nur, Kanaille!“ tönte es ihm nach.

Die hochfahrende Abweisung, die er im glücklichsten Augenblick seines Lebens erfahren mußte, hätte ihm von dieser Seite nicht wehe gethan, aber mit bitterem Schmerze, mit zorniger Entrüstung erfüllte ihn die jähe Einsicht, daß dieser hochmüthige Mensch in seinem Hasse wohl nur die Ansichten seines ganzen Standes aussprach, daß das, wodurch er selbst hoffte, diesen Leuten näher zu kommen – redliche Mannesarbeit, ihn nur weiter von ihnen entfernte, daß er wirklich in ihren Augen als der hilflose Schützling des Herrn Berry mehr gewesen war denn jetzt als einfacher Arbeiter. So war es wohl bei allen – nur bei Claire nicht. Sie rieth ihm ja selbst zu rastlosem Schaffen, wie sollte er sich auch anders emporschwingen? Aber wenn auch sie so denken würde nach den Jahren in Paris, was dann? Er fühlte es heiß heraufsteigen in die Kehle. Dann – dann war alles vorbei, jede Freude, jedes Streben, jedes Dulden und Tragen, dann gab es nur noch Haß – glühenden Haß und Kampf! Die Scene damals, als er Otto mit dem Kindersäbel niederschlug, stand plötzlich klar vor seiner Seele ... so würde es dann wieder kommen, aber nicht mit dem Kindersäbel und nicht mit Otto allein.

Eine wilde Vision stieg vor ihm auf ... geschwungene Arme, wirr durcheinander wogende, von blutigrothem Feuerschein übergossene Männerköpfe, wüstes Gelärm, in Flammen zusammenstürzendes Gebälk, und mitten drin in der wüthenden Menge ein schwarzer Mann mit glühenden Augen, derselbe, der im Schatten der Halle ihn hatte erwürgen wollen – sein Vater.

Blitzartig, wie es gekommen war, verschwand das Gesicht, nur die Gestalt des Vaters wollte nicht von seinen Augen weichen. Der Arme hatte niemand, an den er sich halten konnte, niemand, der ihn liebte und trotz aller bitteren Erfahrungen stets aufs neue versöhnte mit dem Leben, wie Claires Bild bei ihm es that – der Vater hatte auch nicht seine eigenen Kenntnisse und die darauf gebaute Hoffnung, emporzusteigen. – Elend und Noth waren seine Gefährten von jeher und würden es sein bis zum Ende. Und so – in der Brust ewig das fürchterliche Bewußtsein, das er selbst eben auch empfunden hatte, das Bewußtsein, weniger als nichts zu sein, verachtet, niedergetreten – mußte so der Unglückliche nicht Ekel empfinden vor allem höheren Streben, vor seiner ganzen Existenz? Mußte er nicht immer wieder versucht sein, den Kampf gegen die Reichen und Mitleidlosen mit jeder Waffe zu führen, diese „Räuber“ selbst wieder zu berauben? Und nun hatte ihn auch der eigene Sohn zurückgestoßen, mit Vorwürfen überhäuft, weil er sich des Verkommenen schämte – das mußte gut gemacht werden, ehe er sein neues Leben begann. Vielleicht war es auch gar nicht so schlimm mit dem Vater, als Herr Berry es hinstellte, als er selbst geglaubt hatte; vielleicht konnte er ihn retten, auf bessere Wege bringen! Und stand der Vater ihm denn nicht trotz allem am nächsten, näher als Herr Berry, sein stolzer Wohlthäter? Keine unüberbrückbare Kluft lag zwischen ihnen – der Vater war seinesgleichen, ein Arbeiter gleich ihm. Und wer wußte, ob nicht einmal eine Zeit kam, wo er froh war an diesem verachteten Vaterherzen! Er mußte in die Kleegasse, sein Entschluß stand fest.

Bei Merks kümmerte man sich nicht darum, wo Hans seine Zeit verbrachte, so hinderte ihn nichts an der Ausführung seines Planes. Unverzüglich machte er sich auf den Weg, es ließ ihm [492] keine Ruhe mehr; der Gang sollte hinter ihm sein, bevor er seine Stellung antrat. Heute stand er noch nicht im Dienste des Herrn Berry, morgen hätte er sich ein Gewissen daraus gemacht, gegen den ausdrücklichen Willen des Kommerzienraths zu handeln.

Die Stadt war ihm nicht fremd, aber die Kleegasse war schwer zu erfragen, sie befand sich am äußersten Ende der westlichen Vorstadt, gerade in entgegengesetzter Richtung von der Fabrik.

Nach langem Umhersuchen kam er in die Gegend, wo nach den Beschreibungen sein Ziel liegen mußte. Ein Netz von Sackgassen nahm ihn auf – überall niedere, ärmliche Häuschen, vermengt mit kasernenartigen Neubauten, bevölkert von lärmenden Kindern, ärmlich gekleideten Frauen, trunkenen Männern. An der Ecke eines engen übelriechenden Gäßchens, das bergab tief hinein in das alte Winkelwerk zu führen schien, las er endlich: „Kleegasse“.

Ein kalter feuchter Wind zog aus der dunklen Straße herauf; das Schelten einiger Weiber, johlender Gesang und das Klimpern eines Klaviers drang heraus. Hans zögerte einen Augenblick, es war ihm bang zu Muthe, er fühlte, daß er einen entscheidenden Schritt thue. Wenn Claire von diesem Gange wüßte!

Ein Mann schwankte den holperigen Weg herauf – nun entschloß er sich, nach dem Hause, das er suchte, zu fragen. „Nummer 36?“ Der Fremde sah ihn groß an mit gläsernen Blicken.

„Nummer 36? Was kümmern mich die Nummern?“ Er lachte roh.

„Eine Wirthschaft ist in dem Hause,“ erklärte Hans schüchtern, dem Wankenden ausweichend.

„Eine Wirthschaft? Ja, das ist ’ne Nummer, Junge! Das hättest Du gleich sagen sollen! Aber es giebt mehr so verdammte Nummern da unten! Da ist die ‚Fackel‘, der ‚Jörgl‘, der ‚Prasser‘ – aber ich bin ein guter Kerl, komm’ nur, das rechte Wirthshaus, das find’ ich immer!“ Er packte Hans beim Arme und zog ihn mit sich fort.

In dieser Umgebung, unter diesen Menschen also lebte sein Vater! Unsagbarer Jammer erfaßte Hans, zugleich das klare Gefühl, daß er ihn herausreißen müsse aus solchem Abgrund, sonst tauchte er wohl eines Tages daraus auf und riß den Sohn mit sich ins Verderben. Er konnte sich keine Vorstellung machen, wie das geschehen konnte, er sah nur die verkommene wankende Gestalt seines Begleiters und stellte sie im Geiste neben Claire – unter dem Zwange dieses Bildes folgte er willig seinem Führer.

Es dunkelte schon; die rothen Vorhänge an den Fenstern der Kneipen glühten im Scheine der Lichter dahinter und warfen blutrothe Reflexe auf das feuchte Pflaster.

„Das ist der ‚Prasser‘ – doch der Teufel sehe die Nummer!“ stammelte der Fremde, vor einem Schanklokal stehenbleibend. „Aber hör’ einmal, Junge, wen suchst Du denn eigentlich? Dann haben wir’s gleich; bin gut bekannt hier und kenne die – die Eintheilung.“ Er warf einen prüfenden Blick auf Hans. „Doch es wird schon recht sein beim Prasser! Da sitzen die Jungen, die Arbeit suchen und keine finden. Eine traurige Bude!“

Hans, der an dem Hause eine andere als die gesuchte Nummer entdeckt hatte, ging ohne zu antworten weiter.

Der Mann lachte.

„Gelt, das magst Du nicht? Hast recht, der Teufel hole die Arbeit – ist auch mein Gusto nicht. Nun haben wir noch den ‚Jörgl‘ gleich da vorn.“

Wieder blieb er stehen und blickte forschend, die Hand in der Tasche, an Hans herab. „Da bist Du mir noch zu grün, Junge, und es ist noch zu früh am Tage, oder bist Du doch –“ Er lachte verschmitzt.

Die Klänge des Klaviers tönten jetzt nahe aus einem einstöckigen Hause, das unter den Tritten Tanzender zu erzittern schien.

„Da wär’s“ Der Trunkene stellte sich vor dem Hause auf. „Magst?“

Hans las die Nummer über der Hausthür. „24.“ Er athmete erleichtert auf und eilte vorbei.

„Na, dann bleibt nur noch die ‚Fackel‘, rief ärgerlich sein Begleiter. „Bursch, wenn Du mich zum Narren hast, so nimm’ Dich in acht! Was willst denn Du in der ‚Fackel‘? Da sitzen die Krakehler, die Revolutzer und halten lange Reden über Arbeit und Kapital; pfui Teufel! Und was nutzt’s? Die Katz’ fällt doch allweil auf die alten Füße!“

„Führen Sie mich zur ‚Fackel‘!“ sagte Hans fast befehlend. Der Mann sah ihn spöttisch an und lachte hell auf.

„So ein Bürschl will befehlen, will auch schon mitthun mit den Schreiern! Närrisch, ganz närrisch! Na, dann adieu, in der ‚Fackel‘ hab’ ich nichts zu suchen. Mir langt’s, und wenn’s nicht langt – nachher muß man halt ein bißl nachhelfen, aber ganz still, ganz still.“

Er wandte sich um und zwischen den engen Häusern hintappend wiederholte er, immer noch lachend. „So ein närrisches Bürschl! So ein Bürschl!“

(Fortsetzung folgt.)

Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Der Teufel im Backobst. – Gleiche Ursache, verschiedene Wirkungen.

Daß der Böse sich zur Versuchung des Menschengeschlechts mit Vorliebe frischer Obstsorten bedient, ist eine schon durch den ersten Sündenfall hinlänglich beglaubigte Thatsache. Wie vorsichtig man aber selbst im Genuß von gedörrtem Obste sein muß, von sogenannten „Hutzeln“, denen das beliebte Hutzelbrot, freilich aber auch das schon stark ins Dämonische hineinreichende Volk der Hutzelmännchen seinen Namen verdankt, das lehrt das Beispiel eines Knaben, dem auf diesem Wege nicht weniger als zehn Teufel in den Leib praktiziert wurden und zwar durch eine bis dahin unbescholtene Frau, welche dem Jungen aus reiner Gutmüthigkeit eine Handvoll Hutzeln geschenkt hatte, von den bösen Teufeln selbst aber später als Hexe denunziert wurde. Man denke sich die Vorstellung, die sich im Volksmund an die Redensart knüpft, daß einer oder eine den Teufel im Leibe habe, ins Zehnfache gesteigert, um sich ein Bild von dem Zustand des armen Kindes zu machen. Alle Gesetze der Natur und der christlichen Moral schienen wie mit einem Schlage in ihr Gegentheil verkehrt; der Knabe züchtigte seine Eltern aufs grausamste und vergriff sich in schnöder Wuth an allem, was guten Kindern sonst heilig ist.

Ein glücklicher Zufall aber wollte es, daß sich in der Nähe des Orts, wo sich dieser schreckliche Fall zutrug, ein Kapuzinerkloster und in diesem ein streitbarer Mönch, Namens Pater Aurelian, befand, welcher mit Zustimmung seiner geistlichen Oberbehörde den Kampf mit den zehn Teufeln muthig aufnahm und ihnen in viermal wiederholtem Anlauf mit Stola und Rauchfaß und der heiligen Kreuzpartikel so heiß zusetzte, daß sie, wenn auch widerwillig und ohne die verlangte Angabe ihrer Personalakten, stöhnend und seufzend in die Hölle zurückfuhren. Allein erst nachdem sich der vorsichtige Exorcist durch die wiederholte Frage. „Seid Ihr auch glücklich dort angekommen?“ – worauf ihm ein schauerlich de- und wehmüthiges, schon durch die Klangfarbe den unterirdischen Ort seiner Herkunft verrathendes „Danke, ja“ entgegenschallte – von dem Ausschluß jeder möglichen Täuschung überzeugt hatte, löste er die Bande des an Händen und Füßen gefesselten Knaben, und zu dem Tedeum, mit welchem die gläubige Gemeinde nunmehr diesen Sieg feierte, fehlte als charakteristische Begleitung eben nur noch das Knistern des Holzstoßes, auf dem man die freundliche Hutzelspenderin verbrannt hätte. Daß dies unterblieb, ist sicherlich nicht die Schuld des wackeren Pater Aurelian, nach dessen urkundlichem Bericht die „Kölnische Zeitung“ den nicht etwa im dunklen Mittelalter, sondern im Jahre 1891 zu Wemding im Königreich Bayern spielenden Vorgang der erstaunten Mitwelt so ausführlich geschildert hat, daß wir uns hier mit diesem gedrängten Auszug begnügen können.

Kurz zuvor hatte sich die Strafkammer des Landgerichts Saargemünd mit einem ganz entgegensetzten Falle des Aberglaubens zu beschäftigen gehabt, in dem nicht die Dämonen, sondern die Heiligen selbst die Hauptrolle spielten und der trotzdem zu einer Anklage wegen Betrugs führte. Die solchen Vergehens Angeklagte war die Tochter einfacher Bauersleute, Katharine Filljung, in dem Dorfe Büdingen geboren. Von Jugend auf kränklich und – nach ihrer Angabe – durch eine wunderbare Erscheinung der Mutter Gottes, welche sie in der katholischen Kirche zu Saargemünd hatte, geheilt, war es ihr auf Grund dieser

[493]

Camilla.
Nach einem Gemälde von E. v. Blaas.

[494] Vision sowie anderer an ihrer Person zu Tage tretender, auf eine göttliche Mission hinweisender Erscheinungen gelungen, ihren gläubigen Mitmenschen, die hier bezeichnenderweise sämmtlich dem weiblichen Geschlecht angehörten, in nur sechsjähriger Wunderthätigkeit die Kleinigkeit von etwa 150 000 Mark zu entlocken. Sie verwendete dieselben größtentheils zum Baue eines prachtvollen Waisenhauses in Büdingen, der ihr, wie sie behauptete, von der Mutter Gottes aufgetragen war. Wir wollen auch diesen Fall, der trotz der entschieden ablehnenden Haltung, welche die Geistlichkeit zu den angeblichen Wundern der Beklagten einnahm, trotz der zum Theile nachgewiesenen offenkundigen Täuschungen, deren sich die Filljung bediente, mit einer Freisprechung endete, nur flüchtig berühren und uns die nähere Schilderung der vermeintlichen Wunder für einen ähnlichen zweiten Fall aufsparen. Zuvor aber sei hier auf die gemeinsame pathologische Ursache dieser und ähnlicher Erscheinungen hingewiesen.

„Hysterie“ nennt der Arzt jene geheimnißvolle, in ihren letzten Gründen noch keineswegs aufgeklärte Erkrankung des Nervensystems, welche, in den Entwicklungsstadien des weiblichen und, obwohl seltener, auch des männlichen Geschlechts auftretend, in ihrer proteusartigen Vielgestaltigkeit dem Wunderglauben der ältesten wie der neuesten Zeit die brauchbarsten Medien geliefert hat. Hysterie war es, was nach dem Gutachten des leider nur flüchtig gehörten Arztes die krampfartigen Wuthausbrüche jenes Knaben von Wemding veranlaßt hatte; auf Hysterie lautete auch das Gutachten der Gerichtsärzte, dem die Heilige von Büdingen ihre Freisprechung verdankte, insofern diese Krankheit die bewußte selbstsüchtige Absicht eines Betrugs, so sehr auch der Thatbestand dafür sprechen mochte, nach Ansicht der Richter aufhob. Denn es ist eine Eigenthümlichkeit dieses Leidens, daß mit einem aufs höchste gesteigerten Nervenleben bei dem Kranken ein unwiderstehlicher Trieb, Aufsehen zu erregen, sich verbindet, der, sei es durch äußere Beeinflussung oder auch durch die selbstthätige Erweckung von Vorstellungen (Autosuggestion), leicht jenen Grad erreichen kann, wo die Unterscheidung von Wahr und Falsch, Gut und Böse wenn nicht völlig aufhört, so doch wesentlich getrübt und selbst das körperliche Schmerzgefühl in einer Weise abgestumpft ist, die wohl manchem wunderbar scheinen mag.

Dieselbe Krankheit, die je nach der Richtung, in der sich die Vorstellungen des Kranken bewegen, dem Teufelsglauben so wirksamen Vorschub leistet, daß es bis zum feierlichen Exorcismus kommt, kann im anderen Falle für abergläubische Gemüther zur Quelle andächtiger, fast göttlicher Verehrung werden, die namentlich eintritt, wenn die Krankheitserscheinung sich bis zur Stigmatisation steigert, d. h. äußerlich jene Wundenmale aufweist oder doch aufzuweisen scheint, welche der gekreuzigte Christus trägt.

Der Fall, den wir hier im Auge haben, hat sich in dem württembergischen Oberamt Leutkirch zugetragen und im vorigen Jahre gleichfalls zu einer gerichtlichen Voruntersuchung geführt, welche, gegen die Eltern der Kranken gerichtet, wieder eingestellt werden mußte, da sich auch hier die Beweise eines in selbstsüchtiger Weise verübten Betrugs nicht unbedingt feststellen ließen.

In folgendem schildern wir den Vorgang, wie er sich nach den Berichten der vernommenen Augenzeugen, die fast durchweg an das Wunder glaubten, sowie der vom Gericht bestellten Kommission ziemlich übereinstimmend darstellt.

Schon vor mehreren Jahren hatte sich in dem Dorfe Aichstetten die Kunde verbreitet, daß bei der damals fünfzehnjährigen, seit längerer Zeit kränklichen Tochter Anna der Bäcker Henleschen Eheleute Erscheinungen zu Tage träten, welche auf natürlichem Wege nicht zu erklären, vielmehr als Ausfluß besonderer göttlicher Gnade zu betrachten seien; und dieser Gnade konnten auch Dritte durch Besuch und Unterstützung der Kranken theilhaftig werden. Dieses Gerücht, von den Eltern der Kranken genährt und in immer weitere Kreise sich verbreitend, lockte bald eine stets wachsende Zahl von Besuchern nicht nur aus dem Dorfe selbst, sondern auch aus dessen weiterer Umgebung, so namentlich aus den Orten der angrenzenden bayerischen Bezirke, in das wunderwirkende Krankenzimmer. Dieses verwandelte sich mit Hilfe der zwar nie ausdrücklich verlangten, aber stets gern angenommenen Geldspenden, wie sie übrigens bei Krankenbesuchen in dieser Gegend Brauch sind, rasch in ein kleines, mit allen Erfordernissen des römisch-katholischen Kultus hübsch ausgestattetes Tempelchen. Obwohl nun das bischöfliche Ordinariat frühzeitig gegen solchen Mißbrauch einschritt, auf Grund ärztlicher Gutachten die Beobachtung der Kranken in einer von geistlichen Schwestern geleiteten Anstalt verlangte, im Falle des Ungehorsams mit Entziehung der Sakramente drohte und die Gläubigen in jeder Weise vor dem Besuch des Hauses warnen ließ, so hatte dies alles doch nicht den gewünschten Erfolg, und insbesondere weigerte sich die Mutter aufs bestimmteste, ihre Tochter in auswärtige Behandlung zu geben.

Mündliche Berichte und photographische Darstellungen trugen das Wunder immer weiter, und bald stellte sich das Bedürfniß heraus, den mit der Bahn eintretenden Wallfahrern einen besonderen, die lange Dorfstraße abkürzenden Weg durch die hinter dem Hause liegende Wiese zu bahnen, der denn auch sehr rasch die Spuren eifrigster Benutzung aufwies. Je mehr aber die Schar der Pilger wuchs, desto mehr vervollkommneten sich die wunderbaren Erscheinungen am Körper und im Seelenleben der Kranken, bis sie sich aus erst nur schwachen und zusammenhangslosen Anfängen zu einem mit planmäßiger Pünktlichkeit sich abspielenden System entwickelt hatten, das, was die treue Nachahmung der biblischen Leidensgeschichte betrifft, selbst die Vorbilder einer Katharina Emmerich und Louise Lateau, mit deren Schriften sich die Kranke nachweislich eingehend beschäftigt hatte, weit hinter sich ließ. In diesem Stadium, mit dem übrigens, nach den Angaben der Mutter und der Stigmatisierten selbst, den Wundern keineswegs eine Grenze gesetzt sein sollte, mischte sich das Gericht in die Angelegenheit, indem es, ohne daß die Betheiligten eine Ahnung davon hatten, einen Augenschein vornehmen ließ. Es geschah dies an einem Freitag, an welchem Tage sich die Leidenserscheinungen regelmäßig einstellten, und zwar des Morgens kurz nach neun Uhr.

Um diese Zeit sitzt die Kranke aufrecht im Bette, mit einer Wollendecke bis unter die Brust zugedeckt, in ein weißes Hemd gekleidet, um die Stirn eine weiße Binde, unter der das Haar aufgelöst herabfließt, um den Leib eine ebensolche Binde, dem priesterlichen cingulum ähnlich, in einem Aufzug, der ihre Doppeleigenschaft als Opfer und als Priesterin deutlich kennzeichnet. Auch die Hände und Füße sind mit leinenen Binden umwickelt. Sie befindet sich jetzt angeblich in jenem Leidenszustand, welcher der Kreuzigung Christi unmittelbar vorherging. Der Körper wird von Krämpfen geschüttelt, die dunklen Augen sind starr ins Leere gerichtet, bald geöffnet, bald geschlossen. Sie schlägt sich wiederholt mit der Faust stark auf die Brust, dann kreuzt sie die Hände über derselben, verneigt sich, streckt die wieder gefalteten Hände in die Luft, den Kopf mit einem Ausdruck der Verzückung nach oben gerichtet. Um halb zwölf Uhr läuft aus dem krampfhaft geöffneten Mund eine Flüssigkeit, die von den Gläubigen als Himmelswasser bezeichnet und sorgfältig gesammelt wird.

Punkt zwölf Uhr, genau nach der Bahnuhr, hören plötzlich die Krämpfe auf. Die bisher scheinbar bewußtlose Kranke fängt an, mit geschlossenen Augen Gebete zu sprechen, dazwischen mischen sich Reden in einer fremden, den Anwesenden unverständlichen Sprache. Dann legt sie sich platt auf den Rücken, die sogenannte Kreuzigung beginnt, indem erst der rechte und sodann der linke Arm mit auswärts gekehrten Handflächen und leicht gekrümmten Ellbogen sich seitwärts und nach oben streckt, als ob sie einer angewendeten Gewalt wichen, worauf man im Innern der Bettstatt deutlich drei Hammerschläge hört, ein Geräusch, das sich nach einiger Zeit bei den gekreuzten Füßen wiederholt. Es fehlt natürlich nicht an gläubigen Zeugen, welche die von der Binde bedeckten, dem profanen Auge unsichtbaren Wundenmale wirklich gesehen haben wollen, eine Gnade, der die Gerichtskommission leider nicht gewürdigt wurde, wie ihr auch das Geräusch der Hammerschläge, wenigstens dasjenige bei den Händen der Kranken, verborgen blieb. Wieder wird der Körper und der Kopf der Stigmatisierten, während die Hände und Füße ruhig bleiben, von Krämpfen geschüttelt. Um ein Uhr vierzig Minuten – immer genau nach der Bahnuhr – spricht sie das biblische „Mich dürstet“ und schluckt einigemal sehr stark, worauf sich aus dem Munde wieder eine klebrige Flüssigkeit absondert, die nach Ansicht der Gläubigen die frühere an Wunderkraft noch übertrifft und ebenfalls sorgsam gesammelt wird.

Nun sinkt die Kranke in eine tiefe Ermattung, die in Anwesenheit der Gerichtskommission nur einmal durch ein sehr realistisches, völlig normales Gähnen unterbrochen wurde, bis sie um drei Uhr die Worte: „Eli, Eli lama asabthani“ und: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ ausspricht, worauf sie mit geschlossenen Augen und offenem Munde, aber stark [495] athmender Brust bis kurz nach drei Uhr im regungslosen Schlummer zu liegen scheint. Um diese Zeit läßt sich am Fußende des Bettes wieder jenes Klopfen vernehmen; es deutet diesmal das Ausziehen der Nägel an und wiederholt sich seltsamerweise nicht auch an den Händen. Nun bringt die Kranke Arme und Beine wieder in die normale Lage, bewegt den Kopf mehrmals nach rechts und links, womit das Einhüllen in das Leichentuch gemeint ist, und liegt dann wieder ganz ruhig. Um drei Uhr zwanzig Minuten öffnet sie die Augen, setzt sich aufrecht, murmelt etwas vor sich hin, verneigt sich dreimal nach allen Seiten und spricht mit verzücktem Blicke, theilweise wieder in der fremden unverständlichen Sprache, ein Dankgebet für das überstandene Leiden.

Nun folgt die sogenannte Verehrung der Hostie, welche der Kranken angeblich durch den Erlöser selbst von oben gereicht wird. Dieselbe beginnt mit Gebeten und Ceremonien, denen ähnlich, mit welchen der konsekrierende Priester das Meßopfer begleitet, dann öffnet die Kranke den Mund, und es zeigt sich auf der Zunge ein weißer Belag in der ungefähren Form einer aufgelösten Oblate, der nach dem Schlucken verschwunden ist und eine leichte Blutspur auf den Lippen zurückläßt, nach den Angaben des Erklärers, eines jungen vielversprechenden Zöglings aus einem Priesterseminar, das mit Wasser vermischte Blut aus der Seite Christi.

Um vier Uhr zwanzig Minuten ist auch dieses Wunder vorüber, und nach einer kurzen, durch Wiederholung der früheren Krampferscheinungen ausgefüllten Pause empfängt die Kranke die Huldigungen ihrer Verehrer, theils geweihte, theils ungeweihte Gegenstände, Rosenkränze, Medaillen etc., vor ihr niederlegen. Angeblich soll sich nun die Kranke vor den geweihten Gegenständen, und zwar nur vor diesen, verneigen; dabei aber täuscht sie sich oft, indem sie auch den ungeweihten ihre Verehrung zu theil werden läßt.

Um halb fünf Uhr beginnt sie sodann mit ganz außerordentlicher Beredtsamkeit den Anwesenden ihre visionäre Leidensgeschichte zu erzählen. Sie schildert, wie sie gegenüber Christus am Kreuz gehangen, mit ihm und der Jungfrau Maria gesprochen, für die armen Seelen im Fegfeuer Fürbitte eingelegt habe, wie sie jetzt noch den Himmel offen sehe, und erklärt sodann, daß sie für die Menschen leiden und sterben müsse; auf die Zwischenfrage, wozu denn dieses Erlösungswerk dienen solle, da es vom Heiland ja bereits für die ganze Menschheit vollbracht sei entgegnet sie mit großer Geistesgegenwart, daß der Heiland für die Menschen gelitten habe, sie aber für den Heiland leide. Die blühende Sprache dieser und anderer, vom stärksten Selbstlob durchtränkter, mit Gebeten, Weissagungen und Moralsprüchen durchsetzter Reden, bei denen die Kranke auch, nicht immer erfolgreich, ihren Dialekt zu vergewaltigen sucht, verräth deutlich die Quellen, aus denen sie ihre, möglicherweise zur fixen Idee gewordenen Eingebungen schöpft. Gegen sechs Uhr abends endlich ist die Komödie zu Ende.

Man kann sich kaum ein vollständigeres, alle bekannten Symptome in so reicher Auswahl umfassendes Beispiel einer sogenannten Stigmatisation denken als das hier vorliegende, keines aber auch, das die blasphemische Ausbeutung dieser krankhaften Erscheinung in ein so grelles Licht setzt. Selbstverständlich lassen sich alle diese Vorgänge, auch die, welche nicht auf plumpem Betrug beruhen, wie beispielsweise das geheimnißvolle Klopfen, ein beliebtes Muskelkunststück der Spiritisten, auf natürlichem oder pathologischem Wege leicht erklären; bezeichnend aber ist es in vielen derartigen Fällen, daß sich den Kranken die Grenze, wo der selbstthätige Betrug die krankhafte Einbildung ablöst, völlig verwischt und daß sie daher ebensoleicht zum willenlosen Werkzeug fremder Beeinflussung wie der eigenen Wahnvorstellungen werden. Eben das aber ist das eigenthümliche Kennzeichen der Hysterie, und deshalb sollten Kranke dieser Art unbedingt der ärztlichen Behandlung in einer Heilanstalt übergeben, ihre öffentliche Schaustellung aber unter allen Umständen, auch wo ein beabsichtigter Betrug nicht vorliegt, einfach verboten werden. Daß weder die Kirche, in deren Interesse ein solches Verbot in erster Linie gelegen wäre, noch die Gerichte imstande sind, dem Uebel wirksam vorzubeugen, das durch solche Schaustellung und ihre nur zu leicht ansteckende Wirkung in den Gemüthern angerichtet wird und nicht selten auch zur materiellen Schädigung leichtgläubiger Personen führt, das hat der vorliegende Fall recht deutlich bewiesen. Um so dringender ist eine gesetzliche Bestimmung in dieser Richtung geboten. Vor allem aber ist es eine vernünftige, naturgemäße Erziehung der Jugend, durch welche dieser Krankheit und mit ihr einer unerschöpflichen Quelle des Aberglaubens der Boden, wenigstens für die Zukunft, entzogen werden kann. C. Hecker.     


Die masurischen Seen.

Von Richard Skowronnek.0 Mit Zeichnungen von Adolf Hering.

Im südöstlichsten Winkel unserer Ostmark, hart an der russischen Grenze, zieht sich ein Landstrich hin, der nach Bodenbeschaffenheit und Art der Bewohner scharf von seiner Nachbarschaft geschieden ist, das Ländchen der Masuren. Es umfaßt sieben Kreise des Regierungsbezirkes Gumbinnen: Angerburg, Johannisburg, Sensburg, Lötzen, Lyck, Oletzko, Ortelsburg und einen Theil des Kreises Goldap. Als seine Hauptstadt gilt das an dem See und Flusse gleichen Namens gelegene Städtchen Lyck. Der uralisch-baltische Höhenzug mit seinen ausgedehnten Wäldern, den weiten Strecken Heideland giebt ihm sein eigenartiges Gepräge: herb wie der Duft des Kiefernwaldes im Sonnenschein und schwermüthig wie Bruchland im Oktobernebel. Den eigentlich bestimmenden Zug in seinem Landschaftsbild bringen jedoch die zahlreiche Seen und Gewässer aller Art hervor, die fast jede tiefer gelegene Bodensenkung ausfüllen.

Von dem mehr als eine Quadratmeile großen Mauersee, der mit seinen kreuzförmigen Verzweigungen von der Stadt Angerburg bis Lötzen reicht und dort durch einen Kanal mit dem kaum minder umfangreichen Löwentinsee verbunden ist, zieht sich südwärts in fast ununterbrochener Folge eine Kette größerer und kleinerer Gewässer hin bis zu dem gewaltigen Spirdingsee, der mit seinen weitauslaufenden Buchten mehr als zwei Quadratmeilen bedeckt. Durch den masurischen Kanal ist unter diesen Gewässern, die nordwärts mit dem Pregel, südwärts durch den Abfluß des Spirdingsees mit den Weichselzuflüssen in Verbindung stehen, eine verkehrsreiche Wasserstraße geschaffen, die hauptsächlich zur Beförderung der aus den masurischen Forsten stammenden Flöße dient. Ostwärts zweigt sich hiervon ein anderes, in breitem Zuge verlaufendes Seenband ab, das seinen Abschluß in dem theilweise bereits auf russisches Gebiet hinüberreichenden Raigrodsee findet.

Eine Fülle von Naturschönheiten ist über dieses wald- und wasserreiche Stückchen Erde verstreut, Schönheiten, an denen der Einheimische achtlos vorübergeht und von denen keines der gangbaren Reisehandbücher erzählt. Und doch dürften sie sich getrost so manchem an die Seite stellen, was „draußen im Reiche“ von naturschwärmenden Touristen bestaunt und gepriesen wird.[1]

[496]

Bilder von den masurischen Seen.
Nach einer Zeichnung von Adolf Hering.

[497] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [498] Der schwermüthige Skomentnersee, an dessen flachen Ufern sich der einsame Kegel der Biala Gora mit den Resten der sagenhaften Skomandburg erhebt, die von schweigenden Kiefernwäldern umrahmten, terrassenförmig sich folgenden Selmentseen, der lieblich gelegene Schwentainersee mit dem wie ein Schwalbennest am steilragenden Ufer hingeklebten Dorfkirchlein, der langgestreckte Laszmiaden-, der blaue Muckersee, und wie sie sonst noch heißen mögen – an ihren Ufern giebt’s manch weltverlorenen Platz, wo sich’s gut träumen läßt unter dem heimlichen Rauschen der Kiefernwipfel, indeß der Wind im raschelnden Schilfe seine alten Märchen raunt und die blauen Wellen leise schwatzend auf dem hellen Ufersand ihr nimmer endendes Spiel treiben. Und erst der gewaltige Spirdingsee, das masurische Meer! Ob auf seiner weiten Fläche sich die Sommersonne gleißend spiegelt, die dampfenden Herbstnebel brauen, ob er vom Sturme gepeitscht die schaumgekrönten [Well]en langausrollend durch das dichte Geröhricht zum Ufer wälzt [od]er in Frühjahrsnächten unter Brüllen und Tosen d[ie] [F]esseln des Winters sprengt: stets trägt sein Bild den Stempel [d]er majestätischen, überwältigenden Größe.

Der landschaftliche Reiz, das ist nun aber auch so ziemlich der ganze Reichthum des Masurenlandes. Es geht ihm wie dem Mädchen in dem Liede, von dem der Bursche singt:

„Schön bist du, Herzallerliebste,
Wie die Blum’ im Wiesenlande.
Aber arm bist du, mein Mädchen,
Wie der Stein am Wegesrande."

Masuren ist ein wenig ergiebiges Land. Sein Boden liefert nur mäßigen Ertrag, und die angebauten Strecken werden reichlich aufgewogen durch das unfruchtbare Heidenland, auf dem nichts weiter gedeiht als die Krüppelkiefer und der Wachholderstrauch.

Mit dieser Kärglichkeit des Bodens geht freilich eine fast beispiellose Bedürfnißlosigkeit der Bewohner Hand in Hand. Der masurische Bauer bescheidet sich zufrieden mit dem mäßigen Ertrag seines Grundstückes. Denselben durch eine rationellere Bewirthschaftung zu verbessern, wie es seine deutschen Dorfnachbarn thun, kommt ihm nicht in den Sinn. Er bebaut seinen Acker, wie er’s vom Vater und Großvater gelernt hat, der liebe Gott wird dann schon wachsen lassen. Und wenn der Himmel einmal nicht gnädig ist, die Ernte mißräth, so ist dabei eben nichts zu machen. Das Mittelfeld unseres Bildes giebt eine Anschauung von einem masurischen Anwesen: das niedrige Holzhaus und die Wirthschaftsgebäude strohgedeckt, ein schlecht gepflegter Garten mit Küchenpflanzen und ein paar verkümmerten Nelken und Resedastöcken, daneben in einiger Entfernung der altväterische Ziehbrunnen, der das Wasserholen zu einer beschwerlichen Arbeit macht. Nichts eintöniger und trostloser als der Anblick eines masurischen Dorfes! Wie zerlumpte Bettler stehen die niedrigen Hütten mit ihren verwitterten Holzwänden, den windverzausten grauen Strohdächern und den grün angelaufenen blöden Fensterscheiben zu beiden Seiten der Straße.

Das Innere dieser Hütten entspricht durchans dem Aeußeren. Schmucklos, oft mit ungetünchten Wänden und ungedieltem Fußboden, enthält es meistens nur den nothdürftigsten Hausrath – einen Tisch, ein paar Bänke und Stühle, einen in die Wand eingelassenen Herd; in den Häusern der wohlhabenderen Bauern wohl auch einen Sims an den Deckbalken mit aufgestellten Thonkrügen und Porzellantellern, an den Wänden ein paar grellbunte Bilder oder einen aus dem Kalender stammenden Holzschnit.

Von der Bescheidenheit der Lebensansprüche, die unter der breiten Masse der masurischen Bevölkerung, unter den Tagelöhnern, Waldarbeitern und Fischern herrscht, kann man sich im Westen Deutschlands schwerlich eine Vorstellung machen. Der Verdienst dieser Leute, nach Mark und Pfennigen gerechnet, ist ein so gerinfügiger, daß es schier unmöglich scheint, damit eine oft zahlreiche Familie zu ernähren. Es wird nur erklärlich durch das Stück Diogenesnatur, das in dem masurischen Volkscharakter steckt, das freilich mit Stumpfheit und Trägheit nahe genug verwandt ist.

Ein Stück Brot, ein bißchen Speck zum Schmälzen der Suppe, ein Gericht Fische, ab und zu ein Stück Fleisch, reichlich Kartoffeln und Schnaps, mehr braucht es nicht, um den Masuren zufrieden zu machen. Der Schnaps freilich gehört leider dazu. ihn glaubt er so nöthig zu haben wie die Luft zum Athmen. Der Schnaps ist sein Tröster, wenn er traurig ist, er stärkt ihn bei der Arbeit, wärmt ihn in der Kühle und kühlt ihn in der heißen Sommerzeit, er ist mit seinem ganzen Lebensgang aufs innigste verwachsen. Die Mutter, die sich durch ein Gläschen erquickt, verfehlt nicht, dem Kinde auf ihrem Schoße das Restchen mit dem Finger auf die Lippen zu wischen und dem Sterbenden wird die letzte Medizin – gewöhnlich der in jedem Bauernhaus anzutreffende „Pain-Expeller" – in einem Glase gewärmten Branntweins gereicht.

Eines Tages – es war um die Weihnachtszeit – begegnete ich der Frau unseres Holzhauermeisters auf dem Wege zur Stadt. „Nun, Michalska, woher des Weges?“ fragte ich.

„Aus der Stadt, junger Herr, ich habe eingekauft für die Feiertage. Zwei Pfündchen Mehl, ein Stückchen Fleisch und vier Stof Spiritus.“

Vier Stof Spiritus geben mit Wasser verdünnt etwas mehr als acht Liter Schnaps; daraus können Volkswirthschaftler – freilich unter Berücksichtigung der gehobenen Feiertagsstimmung – ungefähr das Verhältniß berechnen, in welchem der Branntweinverbrauch zu dem der übrigen Nahrungsmittel steht. Wer jedoch daraufhin die Leute des Alkoholismus zeihen wollte, würde sich eines bitteren Unrechts schuldig machen. Der Schnaps ist ihnen – leider – mehr ein nothwendiges Nahrungsmittel als ein Genußmittel. Und daß dem so ist, daran tragen diese armen Stiefkinder des Daseins nicht allein die Schuld.

Eine nicht minder große Rolle in dem Leben der masurischen Bevölkerung spielt das Wasser, freilich nicht als Getränk. Fast jeder männliche Bewohner der zahlreichen Seedörfer ist auch ein leidenschaftlicher Fischer, gleichgültig, ob er dazu berechtigt ist oder nicht. Die Frage der Berechtigung ist dabei eine sehr wichtige, denn fast alle Gewässer sind fiskalischer Besitz und verpachtet. Nur vereinzelt haben die grundbesitzenden Seeanwohner das noch dazu durch allerhand Klauseln beschränkte Recht, für ihren Hausbedarf mit kleinem Gezeuge, d. h. mit Angel und Verstelluetz, zu fischen. Der Masure sieht darin jedoch eine Beschränkung seiner natürlichen Menschenrechte. Es will ihm nicht in den harten Kopf, daß er auf das Wasser und ebenso auf den Wald, die beide doch ebenso ein von Anbeginn der Welt allen Menschen gegebenes Gottesgeschenk seien wie die freie Luft, kein Anrecht haben solle. Darum sieht derselbe Mann, dem es nicht einfallen würde, sich am privaten Eigenthum eines anderen zu vergreifen, in der Ausübung der Fischerei oder in dem Aneignen einer Last Brennholz kein Vergehen. Beides ist verboten, dagegen ist nun einmal nichts zu machen, und wenn er dabei erwischt wird, dann muß er Buße zahlen, Strafarbeit leisten oder auch ins Gefängniß wandern, je nach der Größe des „Objekts"; aber eine „Sünde“ kann er trotzdem nicht darin finden.

Daß in dieser „Beschränkung seiner Menschenrechte" eine weise Maßregel liegt, daß ohne dieselbe in Bälde in den masurischen Seen kein Fisch mehr schwimmen, in den Forsten kein Baum mehr stehen würde, das sagt er sich nicht, soweit denkt der Masure überhaupt nicht.

In den königlichen Forsten ist nun die Bethätigung solcher kommunistischen Ideen schon wegen der zahlreichen Aufsichtsbeamten eine erheblich schwierigere als auf dem Wasser. Die den einzelnen Fischereiaufsehern unterstellten Bezirke sind zu groß, als daß in ihnen eine erfolgreiche Ueberwachung durchgeführt werden könnte, und dann liegt es in der Natur der Sache, daß Fischdiebstähle schwerer zu entdecken sind als Holzdiedstähle. Der „Ofzér“, so hat der Masure sich das Wort Ausseher mundgerecht gemacht, „kann zu gleicher Zeit nicht auf drei Hochzeiten sein“ – das masurische Sprichwort lautet etwas derber – „und ebensowenig kann er die Fische im Wasser zählen.“ So blüht denn die Raubfischerei in allen Seedörfern, am meisten in der Regel dort, wo der Aufsichtsbeamte seinen Wohnsitz hat, und trägt einen Theil der Schuld an dem Rückgang des einst so reichen Fischbestandes der masurischen Gewässer. Das gegenwärtige Verpachtungssystem und die theilweise Aufhebung der strengen Schonzeit thun das übrige, so daß die masurische Fischerei schon längst abgewirthschaftet hätte, wenn nicht der ostpreußische Fischereiverein durch das Anlegen von Schonrevieren und Aussetzen von Fischbrut der gänzlichen Erschöpfung der Gewässer einen Riegel vorschieben würde.

Die Art und Weise der Fischerei ist unter den drei Generalpächtern, welche bis jetzt dieses ausgedehnte und gewinnbringende [499] Geschäft betrieben haben, so ziemlich dieselbe gebliebett, d. h., sie besteht in einer rücksichtslosen Ausbeutung des Fischbestandes in den gepachteten Gewässern. Sommer und Winter wird mit fünf bis sechs großen Schleppnetzen zu gleicher Zeit gefischt und soviel als möglich aus den Seen herausgeholt. Für die Erneuerung des Fischbestandes mag der Himmel sorgen, die Regierung und der Fischereiverein, der sich bei dem Pächter einer besonderen Unbeliebtheit erfreut; denn seinem Wirken schreibt er es hauptsächlich zu, wenn er in seinem Geschäftsbetrieb von allerhand lästigen Kontrollmaßregeln behelligt wird.

Die Haupterntezeit des Pächters fällt in die zweite Hälfte des Winters; einmal wegen des leichteren Betriebes der Fischerei auf dem Eise, andererseits weil während der „post“, der großen Fastenzeit, der stärkste Absatz nach Polen ist.

Der Ertrag der masurischen Seen wandert daher zu seinem größten Theile über die Grenze, im Winter in leichte Holzfässer, sogenannte Solanken, verpackt, im Sommer in großen eisgefüllten Bütten. So kommt es, daß im Inland ein ordentliches Gericht Fische oft ein seltener Leckerbissen ist. In der Stadt Lyck z. B., am fischreichen Lycksee und in der Nähe des Hauptquartiers des Generalpächters, ist es der Hausfrau zu Zeiten ganz unmöglich, ein Gericht Fische zu kaufen, falls sie nicht in einer Käthnersfrau aus den Seedörfern eine Lieferantin besitzt, die morgens vorsichtig im Korbe das Erträgniß des nächtlichen von ihrem Gatten unternommenen Beutezuges zur Stadt trägt. Die Ursache dieses bedauerlichen Zustandes liegt zum Theil darin, daß der Pächter in Polen weit höhere Preise erzielt als im Inland, zum Theil wohl auch darin, daß der ganze Betrieb seines Geschäftes auf einen Kleinverschleiß der gewonnenen Fische nicht eingerichtet ist.

Zu der Bedienung eines großen „Niewod“, eines Schleppnetzes, gehören außer einem Pferdegespann etwa zwanzig Mann und der Dienst dieser Fischer ist kein leichter. Er fordert wetterharte Gesellen, denen es gleichgültig sein muß, ob der rauhe Nordwind ihnen den Schnee ins Gesicht treibt, ob sie in schneidender Kälte mit frostgerötheten Händen die nassen Stricke schleppen oder im Frühjahr auf dem bereits morschen Eise in steter Gefahr bis an die Knie im Wasser waten.

Frühmorgens, wenn der Tag zu grauen beginnt, geht es hinaus auf das Eis. Der Fischmeister läßt im Eise die erforderlichen Löcher, die „Wuhnen“, schlagen, das Netz wird kunstgerecht versenkt und an langen Stangen werden die Schleppstricke unter dem Eise fortgeleitet bis in die Nähe der großen Oluga, der Auszugswuhne. Dort stehen tonnenförmige Winden, fest verankert; die Taue werden umgelegt, und nun beginnt die langwierige und beschwerliche Arbeit des Schleppens. Die Stricke ziehen an, die mächtigen Netzflügel breiten sich aus und langsam streicht der sich blähende Sack am Grunde hin, alles aufnehmend, was in seinen Bereich gelangt.

Allmählich wird die Umschlingung enger. Die Taue werden von den Winden gelöst, die Fischer scharen sich um die große Wuhne und vierzig Hände greifen zu, um das Netz an die Oberfläche zu schaffen. Jetzt erscheinen die Flügel, der Fischmeister tritt in die Mitte der beiden Männerreihen und läßt in kurzen Zwischenräumen den „Trimp“, eine geschmeidige Stange mit einem glockenförmigen Aufsatz am unteren Ende, in die Wuhne sausen, um durch das dröhnende Geräusch die vor dem Zuge fliehenden Fische in den Sack zurückzuscheuchen.

Ein gewaltiges Lärmen und Schreien, das unumgänglich zur Sache zu gehören scheint, begleitet die Arbeit. Die Fischer streiten um die ihnen zufallenden Fische aus den Netzflügeln, die sie behende während des Schleppens herauslesen und den hinter ihnen stehenden Weibern und Kindern zuwerfen oder in der bastgeflochtenen Umhängetasche bergen; dazwischeu schilt und poltert der Fischmeister und drängt zur Eile, das Eis um die große Wuhne beginnt sich unter dem Gewicht des durchnäßten Netzes und der drängenden Menschenmenge zu senken, so daß die Fischer bis über die Knöchel im Wasser stehen – endlich kommt der Sack. Mit einem kräftigen Zuge wird er auf das Eis gehoben, die Bindeschnur gelöst, und unter stetem Fluchen und Zetern des Fischmeisters, der Mühe hat, den diebisch von allen Seiten zugreifenden Händen zu wehren, wird die zappelnde Beute in den Solanken geborgen.

Eine kurze Ruhepause tritt ein. Die Männer verschnaufen ein paar Minuten von der anstrengenden Arbeit, die ihnen trotz der Winterkälte den Schweiß auf die Stirne getrieben hat, und stärken sich mit einem herzhaften Schlucke. Dann werden die Netze, Taue und Stangen auf die Schlitten geladen und die ganze Fischerkarawane setzt sich in Bewegung zum nächsten Zuge.

So geht es fort bis zur hereinbrechenden Dunkelheit. Der Abend findet dann meistens die harten Gesellen in der Schenke des Dorfes. Dort sitzen sie in ihren wasserverschlissenen Kleidern, den hohen Thranstiefeln, um die weißgescheuerten Holztische, qualmen aus ihren kurzen Pfeifen und lassen die grüne Flasche im Kreise wandern. Hier spielt unter schmetterndem Faustschlag ein Paar Sechsundsechzig mit Karten, deren Bedeutung infolge der starrenden Schmutzschicht nur ganz Eingeweihten klar ist, in einer Ecke hat sich eine dichte Gruppe gebildet, in deren Mitte ein Musikverständiger die Ziehharmonika handhabt, und bei alledem wird viel, sehr viel Schnaps getrunken. Wer möchte es den armen Teufeln verargen, daß sie sich die wenigen Stunden, in denen sie nicht Lastthiere sind, auf ihre Weise versüßen? Am anderen Morgen, bei Tagesgrauen, geht es wieder hinaus auf das Eis, an die Arbeit.

Von den zahlreichen sonstigen Arten der Fischerei kennt der Pächter nur noch das Stellen der Säcke zum Fang der Schleien und Karauschen sowie das Fischen mit der „Klepp“, einem dem großen Niewod ähnlichen Netze, nur von geringerem Umfang. Die „Klepp“ findet auf den kleinen Gewässern Verwendung, wie dies unsere Abbildung (rechts unten) veranschaulicht. Die übrigen Arten, das Fischen mit den „Ganten“, den Stellnetzen, der Angel, überläßt er, als zu wenig lohnend, den sonstigen Berechtigten und Unberechtigten. Und doch liegt gerade in ihrer Ausübung ein Zauber, der die Thatsache erklären hilft, daß ein großer Theil der Raubfischer mehr aus Leidenschaft seinem verbotenen Handwerk nachgeht als um des oft kärglich anfallenden Gewinnes willen.

Die stete Gefahr, dem auf der Streife befindlichen Aufseher in die Hände zu fällen, das Gefühl, nicht nur Jäger, sondern zu gleicher Zeit auch Gejagter zu sein, erhöht dem echten Raubfischer nur noch den Reiz seiner nächtlichen Fahrten. Stets auf der Hut zu sein, auf jedes verdächtige Geräusch zu passen – wie sich da die Ohren schärfen und die Augen das Dunkel der Nacht zu durchdringen suchen! Und ist es dem Aufseher einmal gelungen, sich an die Fischenden anzupürschen, und ertönt sein Ruf: „Halt, wer da?“, dann fliegt die Spitze des Kahnes herum nach dem offenen Wasser, und der Bursche an den Schlagrudern legt sich hinein, daß das Wasser gurgelnd am Buge schäumt und der schlanke Kahn wie ein Vogel über die Wellen streicht. Der Aufseher muß schon einen tüchtigen Ruderknecht haben, wenn er die Fliehenden einholen will, denn diese rudern um ihre Haut! Und wie die Burschen dann lachen, wenn sie, der Hetzjagd glücklich entronnen, daheim am Herdfeuer sitzen. Das Gefühl, dem verhaßten „Ofzer“ ein Schnippchen geschlagen zu haben, ist ihnen mehr werth als ein gelungener Fischzug.

Nicht immer verläuft jedoch ein solches Zusammentreffen so glimpflich. Es kommt vor, daß die Ueberraschten, in die Enge getrieben, sich zur Wehre setzen und, wenn sie in der Mehrzahl sind, dem Aufseher sammt seinen Gehilfen übel mitspielen. Die harten Strafen, mit denen das Gericht solche Vergehen ahndet, haben es jedoch zu Wege gebracht, daß dieselben immer seltener werden.

Weit harmloser sind diejenigen „Contravenienten“, die der Fischerei mit der Angel nachgehen. Sie begnügen sich damit, beim Erscheinen des Aufsehers ihr Geräth auf die Schulter zu nehmen und auszureißen, so schnell sie ihre Beine tragen wollen. Der Beamte läßt sich auch selten auf ihre Verfolgung ein, denn der Schaden, den sie dem Fischbestand zufügen, ist wahrlich kein großer.

Außer den zahlreichen Fischen aller Art, vom mächtigen Wels bis zum winzigen Stichling, bergen die masurischen Seen noch einen Bewohner, dem Berechtigte und Unberechtigte mit gleichem Eifer nachstellen, den Krebs.

Auch die Krebsfischerei ist verpachtet, und zwar an einen besonderen Generalpächter, der die Ausbeute der masurischen Seen nach Berlin und selbst bis nach Paris versendet. Da aber das schmackhafte Krustenthier von einheimischen Feinschmeckern nicht minder geschätzt wird als von den Berlinern und Parisern, so wird in allen Seedörfern der Krebsfang, natürlich der unerlaubte, [500] ebenso eifrig betrieben wie das Fischen. Unter den zahlreichen Arten, auf die dem harmlosen Panzerträger nachgestellt wird, erfreut sich das auf der Abbildung (links in der Mitte) dargestellte Krebsen bei Fackellicht einer besonderen Vorliebe, obwohl gerade darauf „im Betretungsfall“ eine empfindliche Strafe steht.

Gewöhnlich thun sich drei Mann zusammen. Der eine trägt den „Ganganiec“, die Leuchte, der zweite das erforderliche Kienholz, der dritte fängt die Krebse. In lauen und dunkeln Sommernächten, wenn der Krebs seine Schlupfwinkel verlassen hat und auf Beute lauernd im seichten Uferwasser sitzt, dann geht es hinaus an den schweigenden waldumrahmten See. Die Fackel wird entzündet, und vorsichtig waten die drei am Ufer entlang, gemächlich die von dem hellen Scheine geblendeten Krebse auflesend. Dem Kienträger liegt noch die Aufgabe ob, sich und seine Gefährten vor unliebsamen Ueberraschungen zu sichern. Scharfen Auges späht er den Waldrand ab, und nur selten gelingt es dem Aufseher, seine Wachsamkeit zu täuschen. Steht dieser aber wirklich einmal unvermuthet zwischen der überraschten Gesellschaft, dann fährt die Leuchte zischend in das Wasser, eine Handvoll nassen Sandes fliegt dem Häscher in die Augen und ein Knacken und Brechen in dem Unterholz belehrt ihn, wo er die Flüchtlinge zu suchen hätte, falls er Lust verspüren sollte, ihnen zu folgen. Gegen eine nachträgliche Ermittlung haben dieselben sich wohlweislich durch Schwärzen ihrer Gesichter geschützt.

Man würde jedoch irren, wollte man aus diesen häufigen Uebertretungen gewisser gesetzlicher Bestimmungen einen ungünstigen Schluß auf den masurischen Volkscharakter im allgemeinen ziehen.

Es ist oben bereits ausgeführt worden, daß der Masure in dem Holz- und Fischdiebstahl kein Vergehen sieht. Er glaubt eben damit, ein ihm zustehendes und zu Unrecht entzogenes Recht auszuüben, er befindet sich nach seiner Auffassung den Gesetzen gegenüber in dem Zustand erlaubter Nothwehr.

Im übrigen ist der Masure ein ehrlicher Kerl, gutmüthig und gastfreundlich wie ein Pole, der selten einen Bettler hungrig von der Schwelle weisen wird, nicht einmal dann, wenn er selbst kaum etwas zu brechen und zu beißen hat.

Der masurische Volkscharakter weist überhaupt viele verwandte Züge mit dem blutsverwandten polnischen auf. Hier wie dort dieselbe Leichtlebigkeit, dieselbe Sorglosigkeit gegenüber der Zukunft, dasselbe leicht aufbrausende und ebensoschnell wieder versöhnliche Temperament, schließlich auch dieselbe Vorliebe für den Spiritus in jeder Form, sei es, daß man ihn diesseit der Grenze „Gorzalka“ oder drüben „Wodka“, „Prosti“ oder „Okowit“ (aqua vitae) nennt. Ein Unterschied nur besteht zwischen den beiden stammverwandten Völkerschaften, das ist das religiöse Bekenntniß. Die Polen sind katholisch, die Masuren evangelisch.

Auch in der Sprache drückt sich die Stammesverwandtschaft aus. Das Masurische ist ein polnischer Dialekt, der sich zum reinen polnisch etwa verhält wie das Plattdeutsche zum Hochdeutschen. Der größte Theil der Worte ist beiden gemeinschaftlich, das Masurische unterscheidet sich nur durch die Aussprache, die breiter und lässiger ist als die polnische. Die Sprache der Masuren ist außerdem vielfach mit deutschen Worten durchsetzt, die nur oberflächlich der slavischen Zunge mundgerecht gemacht worden sind.

Die Zahl jener Masnren, die der deutschen Sprache vollkommen fremd gegenüberstehen, ist in stetem Rückgang begriffen. Die deutsche Schule und der Dienst beim Militär sind zwei gewaltige Förderer nicht nur der deutschen Sprache, sondern des Deutschthums überhaupt. Die Städte sind längst schon deutsch, auf dem flachen Lande vollzieht sich ebenfalls ein unaufhaltsamer Germanisierungsprozeß, der um so leichter von statten geht, als der Masure dem deutschen Wesen durchaus freundlich gegenübersteht.

Die Verdeutschung Masurens ist kein Kampf wie anderwärts, wo Deutsche und Slaven zusammenstoßen – vielleicht weil es an Elementen fehlt, die einen Vortheil davon haben könnten, die beiden Nationalitäten zu verhetzen – sondern wie bei den Wenden eine friedliche Durchsetzung der slavischen durch die deutsche Bevölkerung, ein Prozeß, bei welchem allerdings die unfähigen und untüchtigen Elemente abgestoßen werden und untergehen.

Schon heute erhält man vielfach von dem Masuren auf die Frage. „Was bist Du?“ die Antwort: „Jestem Prussak“ (ich bin ein Preuße). Die Zeit, in der er diese Antwort auf deutsch geben wird, ist nicht mehr so fern.


Der Klosterjäger.

Ein Hochlandsroman aus dem 14. Jahrhundert von Ludwig Ganghofer.

 (8. Fortsetzung.)


In frischem Trab ritt Herr Heinrich durch das frühlingsblühende Thal. Als er den See erreichte, sah er neben einer der Fischerhütten die mit Stangen ausgespreizte Bärenhaut zum Trocknen in der Sonne stehen.

Das Pferd wurde versorgt, und ein Knecht ruderte den Propst im Einbaum nach der Bartholomäer Klause.

Stiller Friede athmete um das steinerne Kirchlein, das den schwindelnd hoch gethürmten Wänden des Watzmann zu Füßen lag: ein Bröselein Menschenwerk neben dem ewigen Riesenbau des Schöpfers. Das Sonnenlicht glitzerte über dem weißen Kiesgrund, aber vom nahen Gletscher der „Eiskapelle“ wehte eine kühle Luft. Weit draußen in der Wiese sang ein Knecht, der am hohen Hag das von den Lawinen zerdrückte Flechtwerk besserte.

Nahe bei dem Kirchlein stand die aus Blöcken erbaute Klause, in welcher Pater Eusebius mit einem Laienbruder und zwei Knechten hauste. Eusebius, der das Boot schon hatte kommen sehen, erwartete den Propst am Ufer.

„Nun, wie geht es ihm?“ fragte Herr Heinrich, während sie zur Klause gingen.

Der Pater zuckte die Schultern. „Er kann noch Tage, noch Wochen kämpfen. Seine Riesennatur wehrt sich gegen den anstürmenden Tod wie im Bett des Wildbaches ein Felsblock gegen das anstürzende Wasser ... aber das Wasser läßt nimmer nach, der Block muß weichen. Bis vor einer Stunde lag der Mann in wildem Fieber ...“ Eusebius blieb stehen. „Wisset Ihr, Herr, daß der Mann eine schwere Schuld auf dem Gewissen hat?“

„Was meinst Du?“

„Er hat es im Fieber ausgeredet ... er war es, der den Haymo gestochen hat.“

Ich weiß es. Und Du, Eusebius, bewahre, was der Mann Dir im Fieber gebeichtet hat! Ist er jetzt bei Sinnen?“

„Ein Weilchen immer, bis die Schwäche wieder kommt.“

„Und daß er das Fieber überstand, das giebt keine Hoffnung?“

Eusebius schüttelte den weißen Kopf. „Es wird wieder kommen. Und die größte Gefahr liegt dort, wo ich nicht hin kann mit meinen Händen, in der Brust. Fast alle Rippen sind gebrochen und in die Lunge gedrückt. Die äußerlichen Wunden, die hätte seine Natur vielleicht noch überstehen können. Freilich, die rechte Schulter, du mein Gott, die sieht bös aus; alle Nervenstränge sind zerrissen, der Arm ist tot und die Schulter lahm.“

„Die rechte Schulter? ... In die rechte Schulter hat er dem Haymo das Messer gestoßen!“

„Ja, ja,“ sagte Eusebius, während ein feines Lächeln seine welken Lippen umspielte, „der liebe Gott schickt mitunter merkwürdige Zufälle.“

Herr Heinrich that, als hätte er das Wort überhört.

Sie traten in die Stube, in welcher Wolfrat gebettet lag; er ruhte auf blutigen Kissen, die Brust mit wulstigen Verbänden umschnürt, die Arme geschindelt und gebunden, damit er sie nicht rühren konnte, das Gesicht mit Leinwand überklebt, so daß man kaum die Augen und den Mund erkannte ... ein Bild des Jammers zum Erbarmen.

Er war bei Bewußtsein und erkannte den Propst. „Herr ... guter Herr!“ klang es mit leisem Stöhnen von seinen starren Lippen.

„Geh, Eusebius, laß mich allein mit ihm!“ sagte Herr Heinrich.

Eusebius verließ die Stube und setzte sich vor der Klause auf die sonnige Bank. Drinnen klang in Zwischenräumen die Stimme des Propstes, er schien Frage um Frage zu stellen, auf welche Wolfrat mit matten Lauten Antwort gab. Eusebius lauschte nicht. Mit verschränkten Armen saß er an die Wand gelehnt, [501] und seine klugen, forschenden Augen schauten mit langsam gleitenden Blicken umher, als läge die Natur vor ihm wie ein aufgerolltes Pergament; jeder Baum ein Buchstabe, jeder Fels ein Wort.

Da fühlte er ein leises Kribbeln auf der Hand; eine Ameise lief über seine Finger; er bückte sich und ließ das verirrte Thierchen von seiner Hand auf die Erde kriechen; hier fand es Gesellschaft, denn eine zweite Ameise kam eilig über den Kies gehuscht – auf einem flachen Steinchen trafen sich die beiden; sie stutzten voreinander, hielten erregte Zwiesprach mit den Fühlern, liefen ein wenig zurück, dann wieder vor, und plötzlich fielen sie sich kämpfend an.

„Es ist doch allweil das Gleiche!“ lächelte Pater Eusebius und tippte die Streitenden mit dem Finger an, daß sie erschrocken auseinander fuhren. „So groß ist die Welt – es könnt’ doch eines am andern vorbeigehen in Ruh’ und Fried’. Aber nein, just nicht ... raufen müssen sie, beißen, schlagen und stechen!“

Herr Heinrich trat aus der Klause. Eine tiefe Erregung sprach aus seinen Zügen und Augen. Mit eindringlichen Worten empfahl er den Sudmann der Pflege des Paters. „Und was ich Dir sagen will ... Du brauchst den Mann nicht mehr zu fragen wegen seiner Schwester!“ Mit raschen Schritten ging der Propst dem Ufer zu, um die Heimfahrt anzutreten.

Als er eine Stunde später am Haus des Sudmanns vorüberritt, sah er den Eggebauer schon im verlassenen Gehöft umherspazieren, die Hände auf dem Rücken, mit verdrossenen Augen das Dach und die Mauern musternd.

Der Bauer schien mit seiner Freundschaft für Wolfrat große Eile zu haben; denn schon am folgenden Morgen begann er die Arbeit, zum keifenden Verdruß seines Weibes, auf dessen scheltende Fragen der Bauer nur immer die kleinlaute Antwort wußte: „Es muß sein ... der Herr will’s haben! Frag’ ihn, warum!“

Verreist!
Nach einer Zeichnung von E. Unger.

Tag um Tag verging.

Bei Sepha war eine schwere Krankheit zum Ausbruch gekommen. Die Nachrichten aus der Bartholomäer Klause lauteten immer gleich: ein zähes, doch nutzloses Ringen wider den Tod. Mit den Salzfuhren aber ging alltäglich die freundliche Botschaft nach Salzburg: Gittli möge sich trösten, es stehe besser bei allen.

Nach der zweiten Woche war Haymo so weit genesen, daß er seinen Hegedienst wieder antreten konnte. Aber seine Wangen wollten sich nicht wieder röthen, seine Augen blieben trüb und müde. Aus dem heiteren, lebensfrohen Bursch war ein stiller, in sich versunkener Mann geworden. Mit eisernem Fleiß versah er seinen Dienst. Das Bleiben in der Hütte aber war ihm eine Qual; und als die Nächte wärmer wurden, legte er sich, wo der Abend ihn überraschte, unter freiem Himmel schlafen. Lange Stunden saß er oft dem Kreuz in der Röth’ zu Füßen und starrte die Nägel an, von denen der Föhnsturm Gittlis Schneerosen hinausgeweht hatte in die brausenden Lüfte. Wohin? Wohin?

Zwei weitere Wochen . . . und es war Almenzeit geworden. Die Niederalmen waren schon mit Jungvieh befahren; nun ging es mit den Milchkühen auf die Hochalmen.

An einem sonnigen Morgen war im Gehöft des Eggebauern alles Leben und Bewegung. Die freigelassenen Kühe rannten mit gestreckten Schweifen umher und brüllten ... aber noch lange nicht laut genug, um die kreischende Stimme der Eggebäuerin zu übertönen, welche seit Tagen schon das Krankessbett verlassen hatte und wieder in Haus und Hof umherfuhr wie ... der Bauer pflegte zu sagen: wie der ledige Teufel. Zwei Knechte standen vor einem Ziehkarren bereit, auf den das Almengeräth geladen war. Auch Zenza hatte sich schon zur Bergfahrt gerüstet, Hut und Griesbeil mit Blumen geschmückt.

Der Eggebauer schlich brummend umher, bis ihm Zenza zurief: „Was ist denn, Vater, wo bleibt denn der Hüter? Du wirst doch einen eingedingt haben!“

„Wohl wohl! Vor vier Wochen schon hat sich einer angetragen. Und nur die Zehrung hat er verlangt, keinen Heller Lohn. Da hab’ ich ihn freilich gleich genommen. Schau, dort kommt er.“

Zenza blickte auf und sah den Kropfenjörgi das Gehöft betreten. Ein zorniges Gelächter klang von ihren Lippen; aber sie sagte kein Wort.

Die Bergfahrer sammelten sich um die Bäuerin, welche den Almensegen sprach und Menschen und Vieh mit geweihtem Wasser besprengte. Dann begann die Almfahrt, mit Lärm und Geschrei, mit Brüllen und Läuten.

Spät am Abend wurde die Sennhütte in der Röth’ erreicht; am Morgen zogen die Knechte wieder ab, und am folgenden Tag war alles im Geleise. Mit fahriger Verdrossenheit that Zenza ihre Arbeit; über ihrem ganzen Wesen lag eine brennende Unruhe, die sich steigerte von Tag zu Tag.

Eines Abends ging Haymo nahe bei der Hütte vorüber. Zenza erblickte ihn durch das Fenster, und mit brennendem Gesichte sprang sie zur Thür’. „Haymo! Willst denn nicht ein lützel einkehren?“

„Vergelt’s Gott, Sennerin, aber ich hab’ keine Zeit!“ Er rückte die Kappe und stieg seines Weges weiter.

Erblassend trat sie in die Hütte zurück. Ihre Fäuste ballten sich. „Das war das letzte Wörtl, das ich ihm gegeben hab’.“

Der Kropfenjörgi kam; er erschrak, als er Zenzas Gesicht erblickte. „Was hast denn, Sennerin?“ fragte er stotternd. „Bist letz?“

„Laß mich in Ruh’, Du Tapp!“

Er setzte sich in den Herdwinkel und starrte sie unverwandt mit seinen glotzenden Augen an, bis sie ihn aus der Hütte jagte.

Tag um Tag verging, und Zenza wurde immer stiller und verdrossener. Der Kropfenjörgi hatte viel mit der Herde zu schaffen aber in jeder freien Minute lief er hinter dem Mädchen her wie ein Hund hinter seinem Herrn. Mit dem Spürsinn der Eifersucht fand er bald heraus, wo die Ursach’ ihrer schlimmen Laune zu suchen wäre. Zenzas Augen blickten ja nie so finster, als wenn Haymo auf seinem Hegergang in die Nähe des Almfeldes kam.

„Sennerin! Hat Dir der Jäger was angethan?“ so fragte der Kropfenjörgi zu dutzendmalen.

Doch Zenza hatte nur immer die gleiche Antwort. „Laß mich in Ruh’, Du Tapp!“

Eines Abends aber trat ihr der verschlossene Zorn doch auf die Lippen. Da saßen sie am Herdfeuer. Draußen ging ein Schritt vorüber, den sie alle beide kannten. Zenzas Augen flammten, und ihre Hände zitterten.

Jörgi schlich aus dem Winkel hervor. „Sennerin?“ fragte er mit heiserer Stimme. „Sag’ mir’s! Hat Dir der Jäger was angethan?“

[502] „Ja! Einen Schimpf hat er mir angethan, an dem ich erstick’! Und jetzt laß mich in Ruh’ und frag’ nimmer!“

Jörgi trat vor die Hütte. Ringsumher, mit leise klingenden Glocken, lagen die wiederkäuenden Rinder im Gras. Sie hatten alle den Kopf nach dem Jäger gewendet, der in der sinkenden Dämmerung über den Almenhang emporstieg. Jörgi ballte die Fäuste. „Wart’, Du – wir zwei, wir wachsen zusammen!“ zischte es durch seine Zähne, und seine funkelnden Blicke folgten der Gestalt des Jägers, bis sie im schwarzen Schatten des Waldes verschwand.


24.

Zwei Monate waren seit dem Ostertag vergangen, und es kam der Abend vor dem Sonnwendfeste. Walti, der dem Jäger frische Zehrung gebracht, hatte am Morgen die Hütte verlassen. Auf die Botschaft, daß Herr Heinrich dem Jäger gestatte, am Tag nach Sonnwend, am Fronleichnamsfeste, in das Kloster zu kommen, um dem feierlichen Umzug beizuwohnen, hatte Haymo kopfschüttelnd erwidert: „Ich kann nicht fort, das Hochwild ist in der Setzzeit, ich muß auf die jungen Kälber acht haben, daß mir keiner darüber kommt, der vier Füß’ hat oder weniger.“ Dann hatte er die Armbrust auf den Rücken genommen, hatte die Hütte gesperrt und war hinaus gewandert in die vom Sonnenduft des Morgens umflimmerten Berge.

Müde, aber mit Augen, die sich nach keinem Schlummer sehnten, kehrte er abends in die Hütte zurück. Er bereitete sich den Imbiß, löschte das Feuer und zog, gewaffnet, wie er gekommen, wieder hinaus in die sinkende Nacht. Nicht allzufern von der Hütte, auf einer Felskuppe, die das weite Steinthal beherrschte, ließ er sich nieder. Das war ein Lieblingsplätzchen seiner schlummerlosen Nächte.

Tausend Sterne funkelten über ihm, aber ihr Glanz erblaßte schon vor dem Schimmer des steigenden Mondes, dessen Scheibe voll und groß emporschwamm über die wie mattes Silber glänzenden Firnen des „Steinernen Meeres“. In zartem Grau, als wären sie nicht körperlich, sondern gebildet aus erstarrtem Nebel, hoben sich alle Grate, Zinnen und Kuppen der Berge mit duftverschwommenen Linien in den mondbleichen Himmel, und über sie alle hinaus ragte der Watzmann mit seinem schneebedeckten Haupt wie ein greiser Ahn inmitten seiner Kinder.

Haymo saß, die Arme um die aufgezogenen Knie geschlungen, das Haupt an den kühlen Fels gelehnt. Mit heißen Augen blickte er hinweg über alle Berge, weit, weit in die verschleierte Ferne, wo zwischen Göhl und Untersberg das finstere Thal gegen das ebene Land hinauskroch wie eine schwarze riesige Schlange. Dort draußen konnte Haymo, wenn es Tag und reiner Himmel war, die Thürme von Salzburg blinken sehen. Jetzt aber zeigte ihm die Ferne nichts als ein unentwirrbares, eintöniges Grau, in das der steigende Mond weder Helle noch Schatten brachte. Doch nein ... je länger Haymo in die Ferne starrte, desto deutlicher sah er ein sanftes Leuchten, wie von zwei Sternen, die ein dünner Nebel umflossen hält ... und immer näher schienen sie zu kommen, immer heller wurde ihr Glanz, und nun standen sie vor ihm, zum Greifen nahe, zwei große, schöne, räthselhafte Augen in einem schmalen, blassen Gesichtchen, das ihn anlächelte, selig und traurig zugleich.

„Gittli! Gittli!“ Er schrie den Namen mit schluchzenden Lauten in die Nacht hinaus und barg das Gesicht in den zitternden Händen.

Stunde um Stunde verging. Es mochte Mitternacht vorüber sein, als ein Geräusch den Jäger lauschen machte. Aus dem Steinthal klangen Schritte, welche immer aussetzten und nach einer Weile, gedämpft und näher, sich wieder hören ließen. Da kam einer emporgestiegen, der für seine Schritte die grasigen Stellen des Pfades zu suchen schien ... er mußte also Gründe haben, nicht gehört zu werden.

Lautlaus glitt Haymo über den Hang herab und barg sich im schwarzen Schatten eines Gebüsches. Da sah er einen dunklen, unförmlichen Klumpen langsam durch das Thal empor schwanken. Haymo vermochte lange nicht zu erkennen, was das wäre; endlich sah er: es war ein Mensch, der einen gewaltigen Pack von dürrem Reisig auf dem Kopfe trug. Nun erreichte der Fremde den freien Platz, auf welchem die Hütten standen, und legte vorsichtig den Pack zu Boden. Da erkannte Haymo im Mondlicht den nächtlichen Besucher ... es war Zenzas Hüter, der Kropfenjörgi.

„Was will denn der Unverstand?“ murmelte Haymo und schaute kopfschüttelnd zu, wie Jörgi die Schuhe von den Füßen streifte und auf die Jägerhütte zuglitt. Der Bursche lauschte an Thür und Fenster, dann schleppte er einen Felsblock herbei, holte einen zweiten, einen dritten ... und so thürmte er lautlos einen dicken Steinwall vor der Thür empor. Das Reisig vertheilte er um die Blockwand und kauerte sich mit leisem Kichern auf die Erde nieder. Ein Schwefelfaden leuchtete bläulich auf, und aus dem Reisig züngelte eine helle Flamme. Jörgi schlich davon und rief mit häßlichem Gelächter gegen die Hütte zurück: „Du wirst der Zenza keinen Schimpf mehr anthun!“

Da traf ihn ein Faustschlag, daß er bewußtlos zu Boden stürzte. Haymo eilte auf die Hütte zu, riß das brennende Reisig auseinander und zertrat die Flammen.

Jörgi kam zur Besinnung; er wollte sich erheben, aber der Jäger warf sich über ihn, und da half es dem Burschen nichts, ob er auch um sich schlug, biß und kratzte wie ein wildes Thier ... ein kurzer Kampf, und er lag wehrlos mit geknebelten Händen.

„Steh auf!“ sagte Haymo.

Jörgi erhob sich.

„Geh’ voran!“

Der Bursche schoß aus seinen schielenden Augen noch einen Blick des Hasses auf den Jäger, dann trottete er mit gesenktem Kopf auf dem Steig dahin. Mit geschultertem Griesbeil ging Haymo hinter ihm her.

Es war Morgen geworden, als sie die Almen erreichten. Die Kühe zogen schon läutend über das Feld; aber an Zenzas Hütte war die Thür noch geschlossen. Haymo stieß das Griesbeil gegen die Bohlen. „Sennerin! Mach’ auf!“

Man hörte in der Hütte eine stammelnde Stimme, ein Geräusch ... dann wurde die Thür aufgerissen, und Zenza erschien, mit ungeordnetem Haar und nackten Schultern, den Jäger anstarrend mit erschrockenem Blick.

„Da bring’ ich Dir Deinen Hüter!“ sagte Haymo. „Er hat mich in meiner Hütt’ verbrennen wollen ... damit ich Dir keinen Schimpf mehr anthu’!“

Zenza wurde kreidebleich, dann wieder schoß ihr brennende ZornrÖthe in die Wangen, mit heiserem Schrei stürzte sie auf Jörgi zu und schlug ihm, eh’ es Haymo verhindern konnte, die Faust ins Gesicht. Jörgi wankte, sein Gesicht verzerrte sich, aber kein Laut kam über seine Lippen, und mit gläsernem Blick hingen seine Augen an dem Mädchen.

Haymo hatte sich abgewandt und war davongegangen. Da kam ihm Zenza nachgerannt und umklammerte seinen Arm mit zitternden Händen. „Haymo! Haymo!“ stotterte sie. „Ich thu’ Dir schwören bei allem, was heilig ist im Himmel und auf der Welt, ich hab’s ihm nicht geschafft ... ich hab’ nichts gewußt davon ...“

„Das weiß ich, Zenza.“

„Schau’, Haymo, schau’, wenn’s geschehen wär’ ... ich hätt’ ja selber sterben müssen ...“

Er schaute sie mit traurigen Augen an, löste sanft ihre Hände von seinem Arm, nickte einen Gruß und ging seiner Wege.

Wie zu Stein verwandelt stand das Mädchen und starrte ihm nach. Sie strich mit der Hand über die Stirn und kehrte müden Ganges zur Hütte zurück. Mit einem Messer zerschnitt sie den Strick an Jörgis Händen.

„Geh’, sag’ ich, und komm’ mir nimmer unter die Augen!“

Der Bursch glotzte sie an und rührte sich nicht.

„Mach’ fort, sag’ ich! Und wenn Du hinunterkommst, dann richt’ meinem Vater aus, er soll mir einen anderen Hüter schicken.“

Jörgi stand unbeweglich; nur ein Zittern lief über seinen Körper, als Zenza in die Hütte trat; dann athmete er schwer auf, rieb die Knöchel seiner Hände, faßte die Geißel, die an der Hüttenwand lehnte, und begann wie alltäglich seinen Hüterdienst.

Als es Mittag wurde, sah ihn Zenza die Kühe zum Stall treiben. „Du bist noch allweil da?“ rief sie ihn mit zornbebender Stimme an.

Ein wildfunkelnder Blick traf sie aus seinen Augen. „Ich [503] geh’ nicht, Sennerin! Und wenn einer mit zehn Ross’ käm’ und thät’ mich fortziehen wollen ... ich bleib’, ich bleib’!“

Sie trat auf ihn zu, riß ihm die Geißel weg und hob sie zum Schlag. „Willst geh’n oder nicht?“

„Hau’ nur zu ... ich wehr’ mich nicht! Aber bleiben thu’ ich!“

Klatschend flog ihm die Schnur der Geißel ins Gesicht und zeichnete einen blaurothen Striemen über Stirn und Wange. Jörgi rührte sich nicht; aber das Wasser lief ihm aus den starren Augen.

Wieder fragte sie: „Willst geh’n oder nicht?“

Er biß die Lippen übereinander und schüttelte den Kopf.

Sie wollte aufs neue schlagen, allein ein Gefühl des Ekels überkam sie ... und sie wußte nicht, war es Ekel vor sich selbst oder Ekel vor diesem menschenähnlichen Thier. Sie warf ihm die Geißel vor die Füße und ging der Hütte zu.

Keuchend hob Jörgi die Geißel auf, ließ die Schnur durch die Finger gleiten und machte sich wieder an seine Arbeit. –

Gegen Abend wurde es lebendig auf der Alm. Eine Schar junger Burschen kam, mit ihnen ein Sackpfeifer und ein Zitherschläger. Die Spielleute begannen eine lustige Weise, während die Burschen singend und jauchzend den Holzstoß zum Sonnwendfeuer rüsteten. Dann wurde die Bahn für das Scheibenspiel geebnet. Auf dem untersten Hang des Almfeldes baute sich eine grasige Kuppe über den steil zum See abfallenden Bergwald hinaus; man mußte schwindelfreie Augen haben, um von dieser Stelle furchtlos hinunterzublicken in die gähnende Tiefe, in welcher der See gebettet lag. Ein geflochtener Zaun umschloß den Platz, um das grasende Vieh von der gefährlichen Stelle zurückzuhalten. Diesen Zaun entfernten jetzt die Burschen, und mit Holzpflöcken stampften und schlugen sie den sacht ansteigenden Grasboden der Kuppe glatt, um eine ebene Bahn für die rollenden Scheiben zu gewinnen; das machte ihnen nur wenig Mühe, denn der Boden war noch leidlich glatt vom vergangenen Sommer her. Es wurde ja auf dieser Kuppe, welche der „Feuerpalfen“[2] hieß, seit grauen Zeiten, Jahr um Jahr, das Sonnwendspiel gehalten.

Lange biegsame Stangen wurden zugerichtet, eine mächtige Fichte wurde gefällt, der Stamm mit der Säge in Scheiben zerschnitten, und aus jeder dieser Scheiben das Mark herausgebohrt.

Der Abend dämmerte schon, als alle Vorbereitungen getroffen waren. Der Gäste wurden es immer mehr – ein Bursch um den anderen kam aus dem Thal emporgestiegen, mit hellem Jauchzer sich ankündend; von allen Almen her, oft viele Stunde weit, kamen die Sennerinnen, und jede brachte ein mit geweihtem Wasser besprengtes Scheit zum Sonnwendfeuer und eine lange Kienfackel, um die heilige Flamme heimzutragen durch die finstere Nacht.

Als am dunklen Himmel das erste Sternlein blinkte, wurde Feuer an den Stoß gelegt. Alle standen schweigend im Kreis umher, um acht zu haben, wie hoch die erste Flamme emporzüngle: denn so hoch würde der Flachs gerathen in diesem Jahr.

Mit Knistern und Prasseln wuchs das Feuer, und es währte nicht lange, da loderte es baumhoch empor mit rauschenden Flammen, die sich durcheinander flochten und ringelten wie hundert glühende Schlangen. Und da begannen auch in der finsteren Ferne, auf allen sichtbaren Gebirgsstöcken, auf den Lattenbergen und dem Watzmann, auf dem Göhl und Untersberg, die Sonnwendfeuer aufzuleuchten, daß es anzusehen war, als hätte der Himmel seine Sterne wie feurige Flocken heruntergeschüttelt auf die Berge.

Die Pfeife klang, die Zither fiel ein, jeder Bursch faßte sein Mädchen um die Mitte, und in geschlossenem Reigen wirbelten die jauchzenden Paare rings um das Feuer, bis der Holzstoß zerfiel und die Flammen zu schrumpfen begannen. Da stellten sich die Paare ist langer Reihe auf.

„Springet, Dirnen und Buben,“ rief der Zitherschläger, „daß Euch beim Traidschneiden das Kreuz nicht weh thut!“

Und der Bursch, der zuvorderst in der Reihe stand, warf seinen Hut in die Luft und sang dazu:

0„Unterm Kopf, überm Kopf
Thu’ ich mein Hütl schwingen!
0Dirndl, wie lieber mich hast,
So höher mußt springen.“

Lachend reichte ihm sein Mädchen die Hand, in gleichem Schritt begann das Paar den immer flinker werdenden Anlauf ... „Hupp auf!“ schrien alle anderen ... und in hohem Schwung flog das Paar über die breite Gluth hinweg und durch die züngelnden Flammen. Jauchzender Zuruf folgte dem glücklichen Sprung, und der Bursch halste das Mädchen. „Schatzl! Wir haben uns ein glückselig Jahr erschwungen!“

Paar um Paar sprang über das Feuer; mißlang der Sprung, dann regnete es spottende Scherze über die Ungeschickten, die mit verdrossenen Gesichtern hinter die Reihe zurücktraten, um ihr Glück ein zweites Mal zu versuchen.

Zenza stand mit verschränkten Armen unter der Hüttenthür und schaute finsteren Blickes dem fröhlichen Treiben zu.

Da trat ein Bursch zu ihr. „Zenza, willst Dich nicht schwingen mit mir?“

Sie blickte auf, es war Ulei, der Bildschnitzer. Sie gab ihm keine Autwort, nicht einmal den Kopf schüttelte sie; schweigend trat sie aus der Thür, wendete dem Burschen den Rücken und wanderte mit langsamen Schritten in die Nacht hinaus.

Das letzte Paar war glücklich über das Feuer gesprungen, und nun begann das Scheibenspiel. Ein Bursch um den anderen faßte mit langer Stange eine der durchlöcherten Scheiben auf und hielt sie ins Feuer, bis sie zu glühen begann; dann sagte er den altherkömmlichen Scheibenspruch, setzte das glühende Rad auf die ebene Bahn und begann gegen den Feuerpalfen zu laufen; nahe vor dem Abgrund ließ er die rollende Scheibe mit kräftigem Schwung von der Stange gleiten, daß sie funkensprühend hinausflog in die Luft und verglimmend in die Tiefe sank. Auch hier gab es Lob und Spott, je nachdem der Wurf gelang. Unter den Scheiben war eine, mit welcher keinem Burschen der Schwung gelingen wollte, sie war zu plump und schwer gerathen; bald wollte sie nicht richtig glühen, bald brach unter ihrem Gewicht die Stange, bald wieder rollte sie seitwärts davon, noch ehe der Feuerpalfen erreicht war. Am Ende ließ man sie liegen und hielt sich an die leichteren Scheiben, die sich flink und lustig treiben ließen. Wohl eine Stunde währte das fröhliche Spiel, das sich wundersam ausnahm in der finsteren Nacht.[3]

Da kam noch ein Gast zum Sonnwendfeuer – Haymo, der Klosterjäger.

„Schenket mir auch eine Scheibe,“ sagte er zu den Burschen, die ihn mit herzlichem Willkomm’ empfingen.

„Schad’, Jäger, Du bist zu spät gekommen. Die Scheiben sind all’ schon vertrieben.“

„Dort liegt ja noch eine,“ sagte Haymo.

„Die will sich nicht treiben lassen.“

„Sie muß,“ murmelte der Jäger, packte den rußigen Klotz und warf ihn ins Feuer. Als die Scheibe um und um glühte, hob er sie mit der Stange aus den Flammen und sagte mit bebender Stimme den Spruch:

„Eine Scheiben
Will ich treiben
Meiner Herzallerliebsten zu Ehren!
Will’s einer wehren?“

Mit jähem Ruck setzte er den brennenden Klotz auf die verkohlte Grasbahn, fing zu laufen an und wirbelte die Scheibe, daß die Funken emporstoben wie aus einer Esse. Dicht vor dem Absturz hielt er inne. „Gittli, ich thu’ Dich grüßen,“ klang es von seinen Lippen mit zitterndem Ruf in die Nacht hinaus ... und von mächtigem Schwung getrieben, surrte das feurige Rad in weitem Bogen über den Abgrund.

Alles rannte zum Feuerpalfen. „Schauet, schauet,“ riefen die Dirnen, „so hat noch keiner eine Scheib’ getrieben.“

Inmitten der Lärmenden stand Haymo schweigend und blickte mit feuchten Augen seiner Scheibe nach, die einer fallenden Sonne gleich in die Tiefe sank und immer, immer noch keinen Grund erreichte.

„Schauet, schauet,“ rief es rings um ihn her, „sie fallt hinunter bis in den See!“

Tiefer und tiefer sank das kreisende Feuerrad, es wurde [504] kleiner und kleiner, nun glich es schon einem winzigen Stern, und jetzt ... die Scheibe mußte auf einen Fels gefallen und zersplittert sein ... jetzt sprühte der Stern in hundert Funken auseinander, welche sacht erloschen.

Zwei Zähren rollten über Haymos Wangen. So war sein leuchtendes Glück zerbrochen, versunken und erloschen.

Er wand sich aus dem jubelnden Kreis und trat in die Finsterniß des Waldes. Dort stand er im schwarzen Schatten der Bäume und starrte nach dem erlöschenden Sonnwendfeuer, dessen zuckende Flammen vor dem Licht des steigenden Mondes erblaßten. Er sah, wie eine Sennerin nach der anderen zum Feuer trat, um die Kienfackel zu entzünden. Paarweis zogen sie davon, bergab oder seitwärts über die Halden, jede Dirn’ mit ihrem Buben. Grüße, Jauchzer und Jodler hallten von allen Pfaden durch die mondhelle Nacht, und vom Steig herauf, der hinunterführte ins Klosterdorf, klangen noch die gurgelnden Töne der Sackpfeife. Bald waren die letzten Gestalten der Heimwärtsziehenden im Dämmerschein der Mondnacht entschwunden, und man sah auf allen Wegen nur noch die Fackeln ziehen, gleich gaukelnden Sternen ... und jeder von ihnen leuchtete einem heimlichen Glück, zärtlichem Geplauder und endlosen Küssen ...

Haymo wollte aus dem Walde hervortreten. Da sah er noch einen letzten zu dem erlöschenden Feuer treten. Jörgi war es. Er steckte ein Bündel Spähne in die Gluth, und als sie Feuer gefangen hatten, trng er die heilige Sonnwendflamme in Zenzas Hütte.

Haymo wollte ihm nicht begegnen; im Schatten des Waldes schritt er langsam dahin. Als er dann quer über das Almfeld wanderte, hörte er plötzlich in seiner Nähe ein bitterliches Weinen. Unter einer einsam stehenden Fichte sah er Zenza auf der Erde sitzen; sie hielt das Gesicht mit beiden Händen bedeckt, und ihr ganzer Körper erschauerte von Schluchzen. Sie hörte seine Schritte nicht; erst als er, leise ihren Namen nennend, die Hand auf ihre Schulter legte, blickte sie erschrocken auf, und da sie ihn erkannte, fuhr sie ihn mit rauher Stimme an: „Was willst von mir?“

Ich hab’ Dich weinen hören ... und das hat mir weh gethan! Und ich möchte Dir’s abbitten, wenn ich Dir was Ungutes angethan hab’ ... schau, Zenz’, ich kann ja nichts dafür.“

Sie lachte zornig auf und stieß seine Hand zurück.

„So mußt nicht sein, Zenza! Es kann ja doch keins was dafür ... es hat halt nicht sein mögen, daß wir zwei uns zusammenfinden in Freud’ und Fried’ ... schau, Zenz’, so laß uns halt jetzt zusammenstehen und gute Kameradschaft halten im Herzleid! Könntest nur hineinschauen in mich, wie’s ausschaut da drin ... ich weiß, Du thät’st mir nimmer zürnen, sondern thät’st ein Erbarmen mit mir haben.“ In einem müden Seufzer erlosch seine leise, zitternde Stimme.

„Haymo!“ stammelte sie und zog ihn mit beiden Händen an ihre Seite. „Komm, schau, thu’ Dich vor mir nicht scheuen! Vor mir kannst alles reden. Was hast denn für ein Herzleid? Sag’s, Haymo, sag’s!“

In heiß überquellendem Schmerze rang es sich von seinen Lippen: „Ich kann die Dirn’ halt nicht vergessen ... und ich würg’ mich und plag’ mich und zwing’ mich, und ich kann’s halt nicht vergessen. Wo ich hinschau’ bei Tag und Nacht, überall steht ihr Gesichtl und schaut mich an. Jedes Lüftl im Wald, jedes Wasserl, das ich rinnen hör’, alles hat der Dirn’ ihre Stimm’. Jedes schlanke Bäumerl, jedes Blümerl thut mich mahnen dran. Und den See, den darf ich schon gar nimmer anschauen. Und nienderst hab’ ich kein Bleiben nimmer. Bin ich draußen, so treibt’s mich heim, und bin ich daheim, so treibt’s mich wieder fort! Das ganze Herz brennt’s mir zusammen wie ein dürres Scheitl Holz ... ich spür’s, Zenza, ich spür’s ... ich muß versterben dran!“

„Haymo! Jesus Maria! Du mein lieber Bub’ ...“ Sie verstummte. Dann gleich wieder sprach sie weiter, mit ruhiger, fester Stimme. „Ja, weswegen sollst Du denn die Dirn’ vergessen müssen? Thut Dich vielleicht die Gittli nicht mögen? Aber geh’, so eine dumme Frag’! Wie soll denn Dich eins nicht lieb haben! Ich weiß schon ... ich hab’s ja auch gehört ... man hat die Dirn’ fortgeschafft, gelt?“

„Ja, Zenza, ja!“

„Und warum denn?“

„Ich weiß nicht, es hat geheißen, man thät’ ihr Glück machen.“

„Glück?“ murrte das Mädchen. „Das Glück, das die Herrenleut’ für unsereins übrig haben, das geb’ ich keiner Kuh zu fressen. Aber sag’, wo ist denn die Dirn’ hingekommen?“

„Nach Salzburg zu den Domfrauen.“

„Wo schafft sie denn dort? Im Stall oder in der Küch’?“

„Ich weiß es nicht!“

Zenza blickte sinnend vor sich hin; dann sprang sie auf. „Schau, es muß schon mitternächtige Zeit sein ... das Mondmandl steigt schon wieder hinunter über die Berg’. Geh’, Bub’, steh’ auf und mach’, daß Du heim kommst ... schau, bist ja so müd’ und übernächtig, daß Dich schier nimmer auf den Füßen heben kannst. Da ... da hast Dein Kappl und Dein Griesbeil! So! Und jetzt schau, daß Du heimkommst und leg’ Dich richtig schlafen! Gut’ Nacht, Bub’!“

„Gut’ Nacht, Zenza!“ sagte Haymo mit versagender Stimme. „Und ... Vergelt’s Gott für den Haimgart!“

„Wohl wohl! Kehr’ nur wieder einmal zu auf meiner Alm! Morgen ... morgen bin ich nicht daheim. Aber übermorgen, ich mein’, da find’st mich schon wieder.“ Ein schmerzliches Lächeln zuckte um ihre Lippen. „Und jetzt schau, daß Du heim kommst – und schlaf’ auch! Gelt?“

„Wenn ich’s fertig bring’! Gut’ Nacht, Zenza!“

„Gut’ Nacht, Haymo! Und Glück auf Sonnwend!“

Sie schüttelten sich die Hände, und müden Ganges stieg Haymo über den Almenhang empor.

Zenza stand und blickte ihm nach, bis seine Gestalt im Zwielicht der Mondnacht zerfloß. „Nein, Bub’,“ stammelte sie, während ihr die Zähren über die Wangen kollerten, „versterben sollst mir nicht, solang’ ich noch eine Zung’ hab’ und Füß’ am Leib!“

Sie eilte der Hütte zu. Als sie zur Thür kam, sah sie Feuer auf dem Herd, Jörgi kauerte im Winkel und glotzte in die züngelnden Flammen. Mit leisen Schritten entfernte sich Zenza wieder; als sie den Steig erreichte, der in das Klosterdorf hinunterführte, begann sie zu laufen. Der helle Mondschein leuchtete auf ihren Weg.




25.

Bei grauendem Morgen erreichte Zenza das Dorf. Sie rastete nicht. Eilenden Ganges wanderte sie auf der Straße weiter; sie hatte das Röcklein geschürzt und führte in der Hand einen Stab, den sie im Bergwald gebrochen. Noch stieg keine Rauchsäule aus den Dächern, und Stille herrschte über allen Feldern und Wiesen. Es war ja Fronleichnamstag, das höchste Fest des Jahres! Viele Häuser waren schon mit Birkenbäumchen und Laubkränzen geziert, und vor anderen Gebäuden, die noch ungeschmückt waren, lagen die Birken haufenweise bereit. Niemand begegnete ihr; die Leute schliefen noch; nur manchmal fuhr kläffend aus einem Gehöft ein Hund hervor, der ein schweres Scheit Holz an den Hals geknebelt trug, das ihn hindern sollte, in den Klosterwäldern ein kleines Jagdvergnügen aufzusuchen.

Zwei Stunden tüchtigen Marsches, und Zenza erreichte den Markt Schellenberg. Hier waren die Leute schon munter; Erwachsene zierten die Häuser, Kinder bestreuten die Straße mit Blumen, die Salzknappen schmückten das Sudhaus und bauten unter dem Thor desselben einen Altar.

Zenza hungerte es. Sie trat in die Taferne. „Grüß Dich Gott, Leutgeb!“ sagte sie zum Wirth. „Kennst mich?“

„Wenn ich recht mein’, bist Du dem Eggebauer seine Tochter?“

„Wohl wohl!“

„Wo gehst denn hin in aller Früh?“

„Auf Salzburg hinein.“

„Willst Dir den Umgang anschauen?“

„Wohl wohl! Und weißt, ich bin völlig überhops von meiner Alm davon und hab’ vergessen, daß ich einen Zehrpfennig mitgenommen hätt’. Willst mir Essen und Trinken geben? Mein Vater zahlt schon, wenn er vorbeikommt. Und wenn noch ein Uebriges thun magst, so gieb mir zwanzig Heller mit auf den Weg!“

Die Tochter des reichen Eggebauern hatte ein leichtes Fordern; hätte sie nicht zwanzig Heller sondern zwanzig Schilling begehrt, der Leutgeb hätte auch einen Katzebuckel gemacht und wär’ gesprungen, um den Kasten aufzuthun.

[505]

Die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm bei der Märchenerzählerin Frau Viehmann in Niederzwehren.
Nach einem Gemälde von L. Katzenstein.

[506] Zenza nickte nur zum Dank; die Münzen schob sie in die Tasche, den Stutzen Rothwein leerte sie auf einen Zug, Brot und Selchfleisch nahm sie in die Hand und begann zu essen, während sie weiter wanderte.

Abermals zwei Stunden, und der Untersberg lag hinter ihr. Weit und eben, noch von den zarten Nebeln des Morgens überflossen, dehnte sich das Grödiger Moos. Bald verwehte ein frischer Wind den grauen Duft, der über die Landschaft gebreitet war, und im Glanz der Morgensonne, stolz und schön, winkte ihr die leuchtende Stadt entgegen. Auf den ragenden Zinnen der Hohensalzburg, auf dem steilen Dach des Domes zu St. Peter, auf dem schlanken, zierlichen Thurm der Franziskanerkirche, auf jedem Herrenhaus, überall wehten die weißen und rothen Fahnen des Festes.

Als Zenza das Nonnthaler Thor erreichte, begannen schon alle Glocken zu läuten. Der junge Thorwächter hielt ihr die Hellebarde vor und wollte die Mauth von ihren Lippen erheben; aber statt eines Kusses zahlte sie mit einem Nasenstüber, schlug den Spieß beiseite und rannte die enge Gasse dahin, im Strom der Leute verschwindend, die zum Domplatz eilten. Sie überließ sich dem schiebenden Gedränge, rathlos, was sie nun beginnen sollte. Das Heim der Domfrauen würde sie wohl erfragen können. Aber wie sollte sie ins Kloster gelangen? Wie sollte sie Gelegenheit finden, Gittli ohne Zeugen zu sprechen? Während sie grübelte und sann, wurde sie gedrückt und geschoben; vom Hall der vielen Glocken, der alle Lüfte zittern machte, begannen ihr die Ohren zu singen; und mitten in dem hundertstimmigen Lärm, bei dem klappernden Getrappel der Pferde, bei dem Geschrei der vor den Hufen Flüchtenden wurde ihr völlig wirr und taub zu Sinne. Schließlich stand sie mitten in einem Knäuel Menschen auf einem großen Platz: rings umher Kirchen und ragende Gebäude, alle reich geziert mit Fahnen, Bildern, kostbaren Teppichen und Stickereien, mit Birkenbäumchen, Laubgewinden und leuchtenden Blumen.

Das Geläut der Glocken hatte ausgesetzt; nun mit einmal begann es wieder, und mit ihm vermischten sich, aus einer nahen Gasse schallend, die schmetternden Klänge der Posaunen, die hellen Töne der Zinken, die dumpfen Wirbel der Pauken, dazu ein mächtig anwachsender Gesang von Kinder-, Frauen und Männerstimmen, welche durcheinanderflossen wie brausende Wellen … Vor Zenzas Augen, deren Herz erzitterte in frommem Schauer, entwickelte sich mit funkelnder Pracht und überwältigender Wirkung die Prozession. Voran auf weißen Rossen die Herolde in goldgestickten Wappenröcken, dann die bunt gewandete Truppe der Bläser, Zinkenisten und Pauker, eine Schar Kriegsknechte, ein rasselnder Reitertrupp, die Fronboten und alles Gesinde des erzbischöflichen Hofes, die Richter im Scharlachkleid, die Räthe in schwarzen Talaren, mit schweren Goldketten; auf tänzelnden Pferden die Lehensritter in funkelndem Harnisch und mit blanken Schwertern, welche blitzten in der hellen Sonne; eine schier endlose Reihe von Mönchen und Laienpriestern, flackernde Lichter tragend; zwischen allen Gruppen wehende Kirchenfahnen und gaukelnde Laternen, heilige Statuen und Reliquienschreine; und jetzt der Baldachin, strotzend von Gold, mit nickenden Straußenfedern auf jeder Stange, behangen mit Bändern und Goldschnüren, deren Quasten in den Händen schmucker Edelknaben ruhten, umgeben von gepanzerten Wächtern, umwallt von duftenden Weihrauchwolken … und unter dem schwankenden „Himmel“ die Domherren im goldschweren Levitenkleid, in ihrer Mitte Herr Heinrich von Pirnbrunn, der neuerwählte Erzbischof von Salzburg, die weiße, goldgebänderte Inful auf dem Haupt, um die Schultern den von edlen Steinen blitzenden Rauchmantel, in den Händen die strahlende Monstranz …

Es stockte der Zug, der Erzbischof bestieg die Stufen des unter freiem Himmel erbauten Altars, der Gesang verstummte, die Posaunen und Zinken schwiegen, das Geläut der Glocken setzte jählings aus, über dem von Farben, Silber, Gold und Sonne leuchtenden Platz lag athemlose Stille … da schrillten die Klingeln, die Weihrauchwolken wallten, es hob sich die Monstranz, alles Volk sank in die Knie.

Ein Augenblick ... und alles war wieder Bewegung und Gewoge, Gesang und Tönen, Klang und Geläut’, Funkeln und Geflimmer …

Der Baldachin war an Zenza schon vorübergezogen, aber sie hatte immer noch zu schauen und zu staunen in Hülle und Fülle. Da kamen in prächtigen Gewändern die Edelherren und Edelfranen in langer, langer Reihe, dann wieder Mönche und Priester, singende Knaben und Mädchen, und jetzt …

Durch Zenzas Herz zuckte ein heißer Schreck, und mit brennenden Angen starrte sie in den Zug.

„Das sind die Domfrauen,“ sagte ein Weib an ihrer Seite, „und die adeligen Fräulen!“

Voran ging die Oberin mit sechs Schwestern, in schlichten blauen Gewändern, die blassen Züge überschattet von weißen Hauben, am Gürtel den Rosenkranz aus rothen Korallen. Ihnen folgte, einem wandelnden Blumengarten vergleichbar, eine blühende Mädchenschar, alle gleich gewandet, in weißen schleppenden Kleidern, die entblößten Schultern und Arme von zarten Schleiern übergossen, weiße Rosenkränzlein im gelösten Haar. Und von den Schönen die Schönsten, sechs an der Zahl, trugen auf duftender Blumenbahre ein liebliches Marienbild.

An einer dieser Trägerinnen hing Zenza mit starren Augen. Als die Bahre vorüber war, fuhr sie auf, wie aus einer Betäubung erwachend. Mit stoßenden Ellbogen drängte sie sich aus dem Knäuel der Menschen hinaus in die freie Gasse.

Der Zug hatte gewendet und zog nun an sich selbst vorüber. Es gab ein wirres Gedränge, bei welchen es niemand auffiel, daß eine neugierige Bauerndirn’ fast mitten in die Schar der adeligen Fräulein hineingestoßen wurde. Aus nächster Nähe starrte Zenza in das Gesicht der Marienträgerin, über deren schmächtige Wangen eine brennende Röthe flog.

„Kennst mich?“ flüsterte Zenza, während in der vorüberziehenden Spitze des Zuges die Posaunen schmetterten und die Zinken klangen.

„Kennst mich, Gittli?“ wiederholte sie und flüsterte weiter: „Deinetwegen bin ich gekommen! Du mußt davonlaufen aus dem Kloster! Noch heut’! Ich wart’ vor dem Klosterthor … den ganzen Tag … und wenn’s sein muß, die ganze Nacht. Aber kommen mußt Du ... Du mußt … der Haymo stirbt!“

Zenza hatte kaum ausgesprochen, als ein Stadtknecht sie mit unsanftem Arm zurückstieß in das Gedränge.

Der Zug gerieth in Stockung. Eine der Marienträgerinnen war ohnmächtig geworden, und als sie niedersank, konnten die hinzuspringenden Mädchen nur mit Mühe noch das heilige Bild vor dem Sturz bewahren. Zenza sah, wie Gittli von zwei Domfrauen an den Armen gestützt und fortgezogen wurde.

Es währte noch eine volle Stunde, bis die Feier vorüber war und das Gewoge der Menschen sich löste. Von Gasse zu Gasse fragte sich Zenza bis zum Heim der Domfrauen. Auf einem Eckstein kauerte sie sich nieder und wartete, bis die Domfrauen mit ihren Pfleglingen in das Kloster zurückkamen. Gittli war nicht dabei. Zwei Schwestern hatten sie schon vorher nach Hause geführt und zu Bett gebracht; die Ohnmacht wurde dem Staub und der Hitze zugeschrieben, und man legte es für Schwäche aus, als Gittli auf keine Frage Antwort gab. Geduldig ließ sie alles mit sich machen, nahm die stärkenden Tropfen, die man ihr reichte … und nun lag sie in ihrem Nestlein, von einer Schwester behütet, und starrte mit angstvollen Augen ins Leere. Wohl war es ihre erste Regung gewesen, auf den Knien und mit aufgehobenen Händen zu betteln: „Lasset mich heim!“ Aber das hatte sie ja seit jenem Tag, der sie ins Kloster brachte, schon zu hundert Malen nutzlos gethan. Sie mußte schweigen und den günstigen Augenblick zur Flucht erwarten; den Weg für eine solche Flucht hatte sie sich schon lange ausgesonnen, doch immer hatte ihr der Muth gefehlt, ihn zu betreten. Jetzt aber mußte sie fort, sie mußte. „Der Haymo stirbt!“ … dieses Wort hätte ihr den Muth gegeben, sich durch Feuer und Wasser hindurch zu schlagen. „Der Haymo stirbt!“ Immer, immer hörte sie nur dieses eine Wort. Das Herz schlug ihr wie ein Hammer, und dennoch rann das Blut so kalt wie Eis durch ihre zitternden Glieder. „Der Haymo stirbt!“ War er denn nicht genesen? Hatte Herr Heinrich gelogen, als er ihr diese Botschaft sandte … diese erste und einzige Freude, welche sie hier zwischen den dumpfen, ihren ganzen Lebensmuth erdrückenden Mauern erfahren hatte? Oder war Haymos Wunde wieder aufgebrochen? Oder hatte ihn neues Unheil getroffen? War er auf seinen gefährlichen Wegen gestürzt? Oder hatte ein Raubschütz, ein wildes Thier ihn angefallen? [507] Quälende Bilder stiegen vor ihren Augen auf, und aus jedem dieser Bilder schrie ihr eine jammernde Stimme zu: „Der Haymo stirbt! Der Haymo stirbt!“

Fröhlicher Lärm unterbrach sie in ihren martervollen Gedanken. Etwa zwanzig Mädchen stürmten in den großen Schlafsaal, um die Kleider zu wechseln und sich vom Straßenstaub zu reinigen. Rings an den Wänden standen die weißen Betten, jedes neben einem schmalen Schrein; die freie Mitte des Saales nahm der riesige Waschtisch ein, dessen Innenraum, einem gewaltigen flachen Trichter gleichend, mit blankem Kupfer ausgeschlagen war; rings auf dem breiten Rande war für jedes Mädchen ein Krüglein mit Wasser in Bereitschaft gestellt. Das gab nun ein lieblich heiteres Bild, wie sich all die Mädchen um den Waschtisch drängten, mit gelösten Haaren, im kurzen Unterkleid, mit nackten Armen und Schultern, plaudernd und kreischend, lachend und kichernd mit dem Wasser spritzend und plätschernd, die Augen leuchtend, die Wangen brennend ... Und daneben Gittli in den Kissen, stumm und bleich, verzehrende Angst in jedem Blick, in jedem Herzschlag zitternde Furcht und heiße Sehnsucht ...

Den ganzen Tag über blieb Gittli kaum ein Viertelstündchen allein; sie hatte ja so viele Freundinnen, als das Heim der Domfrauen junge Mädchen barg. Zu Anfang wohl hatten all’ diese anderen das scheue, unbeholfene Ding mißachtet, verspottet und gehänselt wegen seiner bäurischen Sprache, wegen seines furchtsamen Wesens und seiner ewigen Thränen. Aber das Geheimniß, das um die kleine „Brigitte von Dorfen“ gebreitet schien, reizte die Neugier, ihre stille, träumerische Schwermuth weckte das Mitleid, und schließlich bezwang Gittlis natürlicher Liebreiz auch das widerspenstigste dieser jungen Mädchenherzen. Allein sie nahm diese zärtlichen Freundschaften hin wie etwas Aufgezwungenes; sie lebte nur in sich selbst, und so war ihr alles, was sie hier umgab, an diesem letzten Tage noch so fremd und bedrückeud, wie es ihr am ersten Tag gewesen. Sie kam sich vor wie in einem Fastnachtsspiel, darin man ihr die Rolle der verwunschenen Prinzessin wider Willen aufgenöthigt hatte. Und wenn sie jetzt um Haymos willen in Angst und Bangen der Stunde entgegensah, welche ihre Flucht ermöglichen würde, so mischte sich in ihre beklemmende Marter doch auch ein Aufathmen, ein tröstendes Vorgefühl ihrer Erlösung aus diesen schrecklichen Mauern.

Als es zu dämmern begann, blieb Gittli, während im Refektorium die Abendmahlzeit gehalten wurde, eine halbe Stunde allein. Zitternd erhob sie sich und zog das Gewand an, welches neben dem Bette noch auf dem Sessel lag: das weiße, ausgeschnittene Schleppkleid und die gelben Schnabelschuhe. Ein Mäntelein, welches sie aus dem Schrein hervorholte, versteckte sie unter dem Kissen. So völlig angekleidet, legte sie sich wieder nieder.

Jetzt kamen Minuten quälender Angst; denn kaum hatte sie die Decke bis an das Kinn gezogen, da brachte ihr eine dienende Schwester das Abendessen. Zuerst stellte sie sich schlafend; und als sie geweckt wurde, betheuerte sie unter Stammeln und Thränen, daß sie nicht „ein lützel“ Hunger hätte ... denn um zu essen, hätte sie sich aufrichten und dabei verrathen müssen, daß sie angekleidet im Bette lag. Die Schwester ging, aber gleich wieder kam eine neue Gefahr: die Frau Oberin erschien, um sich nach Gittlis Befinden zu erkundigen.

„Dank der Nachfrag’, ehrwürdige Mutter,“ stotterte das Mädchen, „mir ist schon völlig wieder gut. Aber schläfrig bin ich halt ... so viel gern schlafen möcht’ ich!“

„So schlaf, mein Kind! Aber mummel’ Dich nicht so in die Decke; da muß Dir ja heiß werden, und dann wirst Du Dich in der Nacht erkälten!“

„Wenn mich aber so viel frieren thut!“ stammelte Gittli mit versagender Stimme und hielt die Decke krampfhaft fest.

„Frieren, Kind? Du wirst doch kein Fieber haben?“ sagte die Oberin ganz erschreckt. „Komm’, gieb Deine Hand her, ich will den Puls fühlen.“

Ein ganz klein wenig schob Gittli die zitternde Hand unter der Decke hervor.

„Ach Du armes Kind! Dein Händchen glüht ja wie Feuer, und Dein Puls fliegt ...“ Die Oberin eilte zur Thür und zog an einer Schellenschnur. Die dienende Schwester, welche auf dieses Zeichen erschien, wurde um eine fieberstillende Arznei geschickt. Und wie sich Gittli auch wehrte und sträubte ... sie mußte schlucken. Ein naßkaltes Tuch wurde ihr um die Stirn gebunden ... aber das „Fieber“ wollte nicht weichen, die Gluth ihrer zitternden Hände nicht verschwinden.

Die Oberin schickte die dienende Schwester um Essig fort und richtete an Gittli eine besorgte Frage um die andere. In der quälenden Angst vor der drohenden Entdeckung verwirrten sich die Antworten des Mädchens immer mehr, so daß es wahrhaftig den Anschein gewann, als spreche aus ihr das sinnverwirrende Fieber.

„Kind, Kind! Du wirst mir doch nicht ernstlich erkranken!“ jammerte die Oberin. „Gieb die Decke weg, ich höre die Schwester schon kommen, wir müssen Dich mit Essig waschen.“

Gittli schluchzte und bettelte ... aber es half ihr nichts ... die Oberin löste ihr die Hände und nahm die Decke fort. Trotz der tiefen Dämmerung, welche schon in dem Raum herrschte, erkannte die Oberin sofort, daß das Mädchen völlig gewandet mit den Schuhen im Bette lag.

„Brigitte! Was soll das heißen?“

Gittli hatte sich aufgerichtet, die Füße unter das Kleid gezogen und hielt die zitternden Arme über der Brust verschlungen, mit starren Augen zur Oberin aufblickend.

Da half keine Ausrede mehr; nun mußte man ihre Absicht durchschauen, man würde ihre Flucht verhindern ... und „der Haymo stirbt, der Haymo stirbt!“

Sie mußte fort, jetzt, gleich auf der Stelle, und wenn es ihr Leben galt! Sie sprang aus dem Bett, riß mit jähem Ruck das Mäntelein unter dem Kissen hervor, warf es um die Schultern und stürzte der Thür zu, als eben die Schwester mit der Essigschüssel eintreten wollte. Ein Schrei, ein Klatsch auf den Dielen, und vorüber an der taumelnden Nonne, welche die Schüssel hatte fallen lassen, rannte Gittli in den dunklen Säulegang hinaus. Hinter ihr her die beiden Frauen mit lautem Geschrei. Im Spielsaal verstummte der fröhliche Lärm, die Thür wurde aufgerissen, und mit erschreckten Gesichtern kamen die Mädchen herbeigelaufen.

„Was giebt es? Was ist geschehen?“ So rief es mit zwanzig Stimmen durcheinander.

Die beiden Nonnen konnten sich dem Ring, der sich um sie gebildet hatte, kaum entwinden ... Gittli gewann einen weiten Vorsprung, verschwand um die Ecke des Ganges, und während hinter ihr der Lärm der Stimmen verhallte, rannte sie Treppen auf und ab, durch dunkle Korridore, bis sie die Klosterkirche erreichte.

Sie öffnete die eiserne Thür, welche laut in ihren Angeln kreischte. Ein Schauer faßte ihr Herz, als sie zwischen den Säulen der Krypta den fahlen Schein des ewigen Lichtes zittern sah; ein stammelndes Gebet auf den Lippen, eilte sie der finsteren Thurmhöhle zu und hastete über die steile Treppe hinauf, bis sie das erste unvergitterte Fenster erreichte. Es lag über der Erde fast so hoch wie der Giebel an ihres Bruders Haus. Sie zögerte ... „Der Haymo stirbt!“ schrie es in ihr ... und da sprang sie. Der harte Sturz betäubte sie fast, aber nur einen Augenblick währte ihr Taumeln, dann rannte sie an der öden Mauer entlang und schrie mit gellender Stimme. „Zenza! Zenza!“

Wie ein Wiesel kam das Mädchen herbeigeschossen. „Bist endlich da! Ich hab’ mir ja die Seel’ schier herausgewartet.“

„Fort, fort, Zenza,“ stieß Gittli mit erlöschender Stimme aus keuchender Brust hervor, „oder sie kommen und holen mich wieder!“

Zenza faßte die Wankende am Arm und riß sie mit sich fort. Sie erreichten das Nonnthaler Thor und huschten hinaus, gerade bevor es geschlosen werden sollte.

Als sie aus dem dunklen Schatten der die Straße einfassenden Bäume hinausgelangten auf das offene Grödiger Moos, blieb Gittli stehen. „Ich kann nimmer laufen, das dumme Gewand kommt mir allweil unter die Füß’.“

„Ja,“ spottete Zenza, „fein hat man Dich aufgeputzt, das muß ich schon sagen! Wie ein Heiligenbild in der Kirch!“

„Gelt?“ jammerte Gittli, faßte das Kleid, riß um den ganzen Saum herum eine handbreite Borte mitsammt der Schleppe weg und warf sie in den Straßengraben.

Dann fingen sie wieder zu laufen an. Und im Laufen [508] fragte Gittli mit zagender Stimme. „Zenza, mein Gott sag’ mir doch ... was fehlt ihm denn?“

„Was wird ihm denn fehlen?“ lautete die murrende Antwort. „Du fehlst ihm!“

„Zenza!“ stammelte Gittli, und weiter brachte sie kein Wort mehr über die Lippen; nur ein erstickter Laut quoll aus ihrer Kehle, als wollte ihr das jählings schwellende Herz die Brust zersprengen; dazu schoßen ihr die heißen Thränen in die Augen, und sie hastete vorwärts, daß ihr Zenza kaum folgen konnte.

Noch ehe sie Schellenberg erreichten, waren die feinen Schnabelschuhe zertreten und die dünnen Sohlen durchgetreten. Gittli ließ sich auf einen Straßenstein nieder und zerrte die zerfetzten Schuhe von ihren Füßen.

„So ein Gelumpert!" brummte Zenza. „Aber was machst denn jetzt?“

„Ich lauf’ halt barfuß! Komm’ nur, komm’, komm’ ...“

Und weiter ging es, immer weiter auf der mondhell gewordenen Straße.


26.

Bald nach dem Ostertag war im Berchtesgadener Klosterland ein neues Sprichwort aufgetaucht. Wenn Sturm und Regen sich über Nacht in einen sonnigen Tag verwandelten, dann hieß es: „Das Wetter hat sich gewendt wie der Klostervogt!“ Und in der That, Herr Schluttemann war kaum mehr zu erkennen; die Leute wußten es nicht genug zu rühmen, wie gut und freundlich der Vogt sie jetzt behandle. Mit rechten Dingen könne das nicht zugegangen sein, darüber waren sie alle einig. Und es verbreitete sich die Märe: Herr Schluttemann habe an der Wand in seiner Amtsstube einen „Zauber wider die Galle“ hängen; wenn immer nur ein Fünklein Zorn in ihm aufsteige, dann thue er schnell einen Blick nach dem unheimlichen Ding an der Wand und sei plötzlich verwandelt in die leibhaftige Sanftmuth.

Der „Zauber“ hing unter dem Bilde, welches den heiligen Georg im Kampf mit dem Drachen darstellte, und sah einem zierlich beschriebenen, unter geschnitztem Rahmen verwahrten Pergamentblatt zum Verwechseln ähnlich.

Als Herr Schluttemann in der Woche nach Ostern eines Morgens seine Amtsstube betrat, gewahrte er den „Zauber“ an der Wand. Er trat mit verblüfften Augen näher, fuhr mit glühender Nase zurück ... und rannte wuthschnaubend in das Gemach des Propstes.

„Reverendissime! Alles kocht in mir!“

„Weshalb?“ fragte Herr Heinrich lächelnd.

„Man hat mich beschimpft, man hat mir einen schmählichen Possen angethan! Das Urtheil, Reverendissime, das Urtheil wider meine Hausfrau ...“

„Das sie Euch an den Kopf gehauen?“

„Ja ... das hat man in meiner Amtsstube aufgehangen! Aber ich will nimmer schlafen, bis ich den gefunden habe, der mir das angethan hat.“

„Da braucht Ihr nicht lange zu suchen. Das hab’ ich selbst gethan!“

„Re ... Re ...“ Herr Schluttemann wollte sagen: „Reverendissime!“ Allein der Schreck lähmte seine Zunge.

„Eurer Klugheit mag es überlassen bleiben, herauszufinden, weshalb es geschah. Wenn Euch das aber nicht gelingen sollte ...“ Herr Heinrich machte eine bedenkliche Pause. „Ihr wißt, mein Vogt im Pongau ist gestorben. Ich muß einen anderen an seine Stelle setzen. Es ist ein böser, mühsamer Posten. Indeß ... wenn Ihr drüben im Pongau mit den Leuten umschreiet, dann hör’ ich’s nicht.“ Herr Heinrich trat zu seinem Pult und begann in einem aufgeschlagenen Buch zu lesen.

Wie ein begossener Pudel ging Herr Schluttemann davon. Draußen in der Amtsstube stand er lange, lange mit gespreizten Beinen und verschränkten Armen vor dem „Zauber“. Dann plötzlich stülpte er den Hut über das borstige Haar und rannte nach Hause wie ein angeschossener Dachs in seinen Bau. Da ging nun ein Spektakel los, daß die Leute auf der Straße zusammenliefen und lauschend stehen blieben. Eine geraume Weile hörte man zwei Stimmen; dann nur noch eine: die donnernde Stimme des Vogtes. Frau Cäcilia hatte zum ersten Male in ihrem Leben den kürzeren gezogen.

Herr Schluttemann ließ sich den Vortheil dieses ermuthigenden Sieges nicht wieder entschlüpfen. Das merkte man ihm deutlich an, wenn er allmorgendlich behäbigen Ganges zur Amtsstube wanderte, gründlich ausgeschlafen, mit lachendem Gesicht.

Frau Cäcilia versenkte sich in stummen Groll; da sie aber schließlich merkte, wie wenig ihr das Grollen eintrug, spielte sie die Klügere ... und gab nach. Am Morgen des Fronleichnamstages wurde die Versöhnung geschlossen; und bei der feierlichen Prozession schritt Herr Schluttemann Hand in Hand mit seiner „getreuen Hausehre“, wie er jetzt zu sagen pflegte, hinter dem Baldachin einher.

Als er anderen Tages seine Amtsstube betrat, war der „Zauber“ verschwunden. Er stürzte in das Gemach des Propstes.

„Reverendissime! Das Ding ist weg von der Wand!“

„So?“ lächelte Herr Heinrich. „Da mag es wohl einer weggenommen haben, der gefunden hat, daß es nimmer nöthig wäre.“

(Fortsetzung folgt.)

Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[4]

Thiercharakterzeichnungen von Adolf und Karl Müller.
7.0 Segler der Lüfte.0 Mit Abbildungen von Marie Laux.
a.0 Unsere Schwalben.

Segler der Lüfte!“ Ja, das Luftmeer ist das wahre Element ihres Lebens! Selten kommen sie zur Erde, ihre körperliche Ausrüstung hat sie zum ewigen Fluge bestimmt, ihr Sinn strebt nach der Höhe und Weite, nach der Freiheit, der ungebundenen, schrankenlosen Bewegung. Auch ihre Nahrung bietet sich ihnen nur im Reiche der Luft.

Als die geflügelten Boten des Lenzes, als treue Mitbewohner unserer Städte und Dörfer und als unermüdliche Vertilger der Insekten in der Luft sind die Schwalben überall willkommen, und gern wird ihnen der wohlverdiente Schutz zu theil. Wenn auch viele der neuerrichteten Häuser nur in sehr geringem Grade den Bedingungen entsprechen, unter welchen die Schwalbe gerne nistet, wenn auch nicht wenige Hausbewohner des Schmutzes halber die Anfänge des Nestbaues mit Stöcken und Stangen zu entfernen bemüht sind, so giebt es doch unzählige Plätzchen mit warmer Lage, rauher Fläche und schützender Decke, welche den lieben Gästen friedlich winken, und Tausende von Hausbesitzern nehmen gern eine kleine Unannehmlichkeit mit in den Kauf, wenn sie den treuen, anhänglichen Thierchen Obdach zu bieten imstande sind. Freilich ist es der Schwalbe, der Rauch- wie der Hausschwalbe, am liebsten, wenn die menschlichen Wohnungen die Spuren des Alters und des Zerfalls an sich tragen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil damit die Gelegenheit zu bequemem Nisten sich mehrt. Wie manches Rauchschwalbenpaar ist schon durch das Ausbessern einer Fensterscheibe am Pferde- oder Kuhstall in bittere Verlegenheit gesetzt worden, weil ihm damit der einzige Weg zu seinem Neste verschlossen wurde!

Mit Sehnsucht wird die Ankunft der Schwalben im Frühling erwartet. Sind sie doch die Vorboten der schönen Sommerzeit. Einen eigenthümlichen Zauber haben die Töne der Rauchschwalbe, wenn sie am Morgen nach ihrem Erscheinen an der heimischen Stätte ihr „Wittwitt“ hören läßt, wenn sie zum ersten Male wieder mit ihrem Liedchen das Frühroth besingt. Und welch einen fesselnden Anblick bietet sie, wenn sie in kunstvollem Fluge die Luft durchschneidet, hier sanft dahinschwebt und nur zuweilen die Schwingen regt oder auch im plötzlich flatternden

[509]

Rauchschwalben.  

Aufschwung ein Kerbthier über sich hascht, dort in sausender Eile mit kühnen Zickzackwendungen dahinschießt, oder drüben über der Spiegelfläche des Teiches, über den schäumenden Wellen des Flusses in abwärts geschweiftem Bogenflug das Gefieder netzt und im Auftauchen es schüttelt! So sicher ist ihr Flug, daß sie durch Oeffnungen, welche nur den Umfang einer Mannsfaust haben, ohne Anstoß hindurchschlüpft. Nicht minder unterhaltend erscheint sie, wenn sie auf einem Gebäudevorsprung fußt, um zu ruhen oder ihre Federn zu putzen und zu ordnen. Umspielt vom lauen Windhauch, umschmeichelt von den Strahlen der Sonne, schlägt sie wohlig mit den Flügeln und singt eine Zeitlang, wetteifernd mit den Nachbarmännchen, ihr kurzes, aber angenehmes Liedchen.

Plötzlich verstummen die wohlgelaunten Sänger, denn es erscheint unter dem Warnruf „Dewihlik“ ein Gefährte, der den gefährlichen Räuber, den Baumfalken, erblickt hat. Hastig erheben sie sich alle in die Luft, weitausstrebend, als wollten sie in weite Ferne von dannen ziehen, oder sie flüchten, wenn die Gefahr nahe rückt, bestürzt in die sicheren Ställe und Scheunen.

Snell hat über die Signaltöne der Rauchschwalben eingehende Beobachtungen gemacht. „Sie signalisieren den Wanderfalken ebenso wie den Baumfalken. Die Rauchschwalben haben nämlich wie die meisten Vögel zweierlei Signaltöne: der eine, ein helles lautes Aufschreien, drückt mehr Zorn und plötzlichen Schrecken aus, der andere, ein tiefer flötender Ton (‚flüh, flüh‘), ist der Ausdruck der äußersten Angst. Diesen letzteren Alarmruf nun stoßen die Rauchschwalben beim Anblick des Wanderfalken aus, wofern er ihnen nicht schon unmittelbar auf den Fersen ist, und ergreifen zugleich eilends die Flucht. Dies ist so auffallend, daß man hiernach schon unterscheiden kann, ob ein Falco palumbarius (Habicht) oder ein Falco peregrinus (Wanderfalke) in Sicht ist.“

An schönen sonnigen Tagen erblickt man die Rauchschwalbe gleich ihren Verwandten in höheren Luftschichten, weil unter diesen günstigen Witterungsverhältnissen auch so mancherlei Kerbthiere sich zur Höhe erheben. Anders an rauhen naßkalten Tagen oder bei Sturm: da halten sich die stets auf Nahrung bedachten Vögel dicht an die Erde, um an geschützten Plätzen der so viel wie möglich trockene und warme Lagen suchenden Zwei- und Netzflügler habhaft zu werden. Dabei bekundet die Rauchschwalbe ein scharfes Sehvermögen. Im raschesten Fluge entdeckt sie die an den Wänden oder Fenstern der Häuser still sitzende Beute, streift sie mit einem Flügelschlag ab, um sie sofort mit dem weiten Sperrvogelschnabel zu erfassen. Das Nest der Rauchschwalbe haben wir in Ställen, Scheunen, Schornsteinen, gemauerten Ziehbrunnen, unter Balken, über Thorwegen und in Hausfluren gefunden. Sie liebt einen Vorsprung über dem Neste als Schutz und eine Erhebung unter demselben als Stützpunkt. Das Material besteht aus Erdklümpchen mit Halmen untermischt, welche mit Speichel verarbeitet werden. Die Absonderung dieses Speichels ist mit einer zitternden Bewegung des Kopfes und anstrengendem Würgen verbunden. Sind eine Anzahl Klümpchen auf- und aneinander geklebt, so lassen die Schwalben erst eine gewisse Zeit zum Trocknen verstreichen, ehe sie weiterarbeiten. Da nur der Morgen zum Baugeschäft verwendet wird, so dauert es längere Zeit, bis das Werk vollendet ist. Die Form des fertigen Nestes bildet den vierten Theil einer Hohlkugel, die Breite desselben beträgt etwa 25, die Tiefe etwa 12 Centimeter. Innen wird es mit zarten Halmen, Haaren, Federn und filzigen Stoffen mannigfacher Art ausgepolstert, und die Erneuerung dieses Polsters ist oft jahrelang die einzige Bauarbeit eines Rauchschwalbenpaares, da es ein und dasselbe Nest gern wieder benutzt. Nicht selten nimmt jedoch ein Paar aus irgend welchem unbekannten Grunde Anstand, das alte Nest zu beziehen, und baut lieber ein neues daneben oder darüber; so kann es kommen, daß nach und nach eine ganze Anzahl von Wohnungen an einem Balken des Stalles entsteht. Uebrigens trifft man auch kleine Kolonien von Nestern mehrerer Rauchschwalbenpaare an.

Vier bis sechs dünnschalige, blendendweiße, mit grauen und röthlichbraunen Punkten versehene Eier bilden das Frühjahrsgelege, welches von dem Weibchen zwölf bis dreizehn Tage bebrütet wird, während das Männchen für die Nahrung besorgt ist. Sind die Jungen einigermaßen flugfähig, so wagen sie sich gar bald auf die in der Nähe befindlichen, zum Fußen geeigneten Gegenstände, hocken im Gefühl ihrer Unsicherheit gern dicht nebeneinander und locken wie die Alten „witt witt“, welchen Ton sie rasch hintereinander ausstoßen, wenn die vor ihnen in der Luft stehenden Eltern sie füttern. Nach und nach erweitern sie ihren Flugkreis, kehren aber zu ihrer größeren Sicherheit abends zur Wohnstätte zurück. Sie halten sich noch längere Zeit vereinigt, bis sie selbst die Insektenjagd verstehen und betreiben. Zum zweiten Male brüten die Rauchschwalben im August, und beide Bruten sammeln sich im Herbste mit Scharen ihrer Brüder und Schwestern im Rohrdickicht, auf Thürmen und Häusern und verlassen uns des Nachts. Nur einzelne bleiben etwas länger und folgen endlich auch den vorangezogenen Schwärmen.

Zur Zeit der Herbstwanderung sieht man mit der Rauchschwalbe öfters eine andere Schwalbenart vereinigt, welche sonst gänzlich von jener geschieden ist, ja zuweilen mit ihr wie unter sich in Zank und Streit geräth: die Mehlschwalbe (Chelidon urbica). Sie bildet eine andere Sippe, ähnelt aber der Rauchschwalbe sehr in der Lebensweise. Ihre Ankunft fällt in den April, einige Tage nach der Rückkehr der Rauchschwalbe. Da sie einer außerordentlichen Menge von Kerbthieren zur Nahrung bedarf, so wird sie durch den zeitweisen Rückschlag der Witterung manchmal in Noth versetzt, und oft haben wir solche Thierchen traurig und matt durch die Straßen fliegen sehen, die tags zuvor noch fröhlich im Aether sich gewiegt hatten.

Während das Rauchschwalbennest nur den vierten Theil einer Hohlkugel ausmacht und demnach oben offen steht, bildet das Mehlschwalbennest in der Regel die Hälfte einer solchen und hat nur seitlich ein Flugloch. Aeußere Umstände können freilich diese Halbhohlkugel etwas verändern, auch bauen viele Schwalbenpaare ihre Nester kolonienweise neben- und selbst aufeinander. Das Baugeschäft wird ebenfalls nur morgens vorgenommen. Man sieht gewöhnlich mehrere Paare eine in Frage kommende Stelle umkreisen und untersuchen. Sie probieren und prüfen erst, ohne Material herbeizutragen, wobei es zu Zänkereien und Drohungen mit dem geöffneten Schnabel kommt. Wird ein besonders günstiges Plätzchen entdeckt, so sammelt sich alsbald wie auf Verabredung die ganze baulustige Schwalbengesellschaft der Nachbarschaft, und nun bietet sich dem Beobachter ein wirklich unterhaltendes Schauspiel dar, wenn die trippelnden, im Gehen so unbeholfenen Vögel bohnengroße Klümpchen Erde im Schnabel ansammeln und den Nestern zutragen. Selten, weit seltener als die Rauchschwalben, mischen sie der Erde Strohhälmchen bei. Die Füße klammern sich mit großem Geschick an der Wand fest, und der ausgebreitete seicht gegabelte Schwanz dient zur Stütze.

Die Klümpchen werden in derselben Weise wie von der Rauchschwalbe mit Speichel bereitet und sorgfältig aufgeklebt, [510] keineswegs aber geglättet, sondern rauh gelassen. Zuerst entsteht ein halbbogenförmiger Kranz von unten, auf welchem die Schwalbe nun einen bequemen Sitz hat und rüstig weiter mauern kann. Dabei wechselt sie nach Bedürfniß ihre Stellung. Bald hängt sie sich außen an die Nestwand an, bald schaut sie von innen heraus. Letzteres geschieht insbesondere dann, wenn das Flugloch angelegt wird. Im Innern füttert die Mehlschwalbe gleich ihrer Verwandten das Nest mit Stroh und Grashälmchen, Federn, Wolle und sonstigen weichen Stoffen aus. Das Weibchen brütet allein über den vier bis sechs dünnschaligen, weißen Eiern, bei günstigem Witterungsverlauf zwölf bis dreizehn Tage, bei ungünstigem etwas länger, weil es alsdann wegen der mangelhaften Fütterung von seiten des Männchens das Gelege verlassen und sich selbst auf die Jagd begeben muß. Die flügge gewordenen Jungen bleiben verhältnißmäßig lange im Neste; kommen die Eltern mit Speise zurück, so machen sich die älteren von der Brut zirpend an das Flugloch vor und die jüngeren müßten bei der Fütterung zu kurz kommen und bald verhungern, wenn die Alten nicht ein Einsehen hätten und sich in die Tiefe des Nestes zu ihnen drängten. Noch des Nachts hört man die Brut unruhig zirpen, und es ist nur zu verwundern, daß alt und jung in dem engen Raume überhaupt Platz findet. Manchmal giebt freilich auch die Nestwand nach, und die ganze Gesellschaft wird an die Luft gesetzt. Infolge dessen bemerkt man wohl da und dort ein noch nicht flugfähiges Schwälbchen, welches verlassen auf dem Bauche liegt, mühsam mit den Flügelchen sich stützt und sehnsüchtigen Blickes nach der Höhe um Hilfe schreit. Sind die Jungen ausgeflogen, so besuchen sie noch eine Zeitlang allabendlich ihre Geburtsstätte, bis es ihnen von den Eltern verwehrt wird, die zu einer zweiten, weniger fruchtbaren Brut schreiten. Die Atzung findet nunmehr in der Luft statt. Die alte und junge Schwalbe fliegen sich entgegen, steigen ein wenig voreinander in die Höhe, und unter Gezirp empfängt der Pflegling die Liebesgabe. Mitten unter großen Flügen erkennen alle Schwalbenpaare unfehlbar ihre eigenen Jungen.

Uferschwalben.

Ein merkwürdiges Beispiel von der Fürsorge eines alten Mehlschwalbenpaares für die Erhaltung seiner Jungen müssen wir noch erzählen. Das Nest der Familie war gesprengt worden, und die Jungen lagen halb flügge am Boden. Menschliche Hilfe bereitete den Kleinen einen bequemen Sitz auf einem am geborstenen Neste angebrachten Brette. Doch gerieth das eine und andere Schwälbchen infolge seiner Unruhe über den Rand hinaus, so daß es wieder hinabfiel. Da fingen plötzlich die Eltern an, Baumaterial herbeizutragen und um die noch auf dem Brette sitzenden jüngsten Kinder einen Kranz zu kitten, auf welchem sie alsdann weiter mauerten, bis eine genügende Wölbung hinlänglichen Schutz gegen das Hinabfallen bot. Es ist dies der erste Fall von einer derartigen Veranstaltung zum Schutze der Brut nach Zersprengung des ersten Nestes, welcher uns bekannt geworden ist.

Bewundernswürdig erscheint unter den Seglern der Lüfte die Uferschwalbe durch die Art, wie sie ihre Nisthöhlen bereitet. Diese sind nämlich mit Vorliebe und meist in großer Anzahl nebeneinander in die steilen Wände und Böschungen eines Flußufers, Hohlwegs oder dergleichen gegraben.

Bei oberflächlichem Blicke hält man es für unmöglich, daß das schmächtige Vögelchen eine solche Arbeit vollbringen kann, aber bei näherer Betrachtung erkennen wir in dem kurzen, harten, schneidig gekanteten und scharf zugespitzten Schnäbelchen sowie in den außerordentlich scharfkralligen Füßen die wirksamsten Werkzeuge zur Herstellung der tiefgehenden Höhlungen, welche nicht bloß in Lehm-, sondern sogar in Sandsteinwänden zu finden sind. Wir haben die kleinen Vögel in ihrer mühevollen Arbeit eingehend beobachtet und das Ergebniß unserer sorgfältigen Bemühungen in der Schilderung der Nestbaukunst der Vögel in unserem Werke „Thiere der Heimath“ niedergelegt. Das Schnäbelchen des kleinen Minierers vertritt die Stelle des Spitzhammers, die Füße dienen als natürliche Steigeisen; hin- und herrückend oder in kurz abgesetzten Bogenflügen sucht er nach einer passenden Stelle, die nicht zu locker und auch nicht zu fest ist für seinen Zweck; hier und da hackt der Schnabel versuchsweise in die Wand, bis endlich das richtige Plätzchen gefunden ist. Dann beginnt ein ganz eigenthümliches Verfahren: das Schwälbchen beschreibt mit dem Hinterleib und den Füßen einen Kreis um seinen Kopf, dessen Schnabel sich in die Wand bohrt.

Emsig und ausdauernd wird so weiter gegraben, nach allen Seiten springt das Material weg und in kurzer Zeit hat das scharfe Werkzeug eine runde Vertiefung geschaffen – das zukünftige Flugloch der Nisthöhle – in welcher das Thierchen festen Fuß fassen kann. Rasch fördert es die Arbeit, so daß es bald in der Wand verschwunden ist. Mit dem Fernrohr gewahrt man es nun bald seitlich, bald oben oder unten in der erweiterten Höhlung hängend, die es fortwährend im Kreise mit dem Schnabel bearbeitet. Der sich ansammelnde Schutt wird mit den Füßen herausgescharrt, größere Brocken schiebt der Vogelleib gemächlich nach dem Ausgang, um sie dann durch ein plötzliches Anstemmen über den Rand hinabzustoßen. So schafft sich der kleine Erdarbeiter allmählich ins Innere, indem er einen etwas schräg nach oben verlaufenden runden Gang herstellt, so daß eindringendes Regenwasser sogleich wieder abfließen kann. Das am höchsten liegende hintere Ende wird für das kunstlose, aus einer einfachen Unterlage von Genist und Federn bestehende Nest ausgehöhlt. Der Gang ist meist in gerader Richtung angelegt, bisweilen muß er sich aber auch um Steine oder Wurzeln herumwinden; er dringt gewöhnlich einen halben Meter, manchmal aber auch bis zu dreiviertel Meter tief in die Erde.

Die Wände, an welchen sich die kolonienweise nistenden Uferschwalben ansiedeln, erscheinen wie vielfach durchlöchert. Ueberall nimmt man Stellen wahr, wo Versuche, Anfänge zu Höhlungen gemacht worden sind, die aber wegen irgend eines Hindernisses, vielleicht auch aus Laune wieder aufgegeben wurden. Um sich vor den Wasserratten, den Wieseln etc. zu schützen, legen die vorsorglichen Vögel ihre Nestlöcher nie in der Tiefe an, sondern ungefähr von der Mitte der Wand an aufwärts bis zu einem [511] Meter von dem oberen Rande. Häufig sind die Wohnungen so dicht neben- und übereinander gelegen, daß nur eine Handbreite sie voneinander trennt. Die Kolonie bietet den Anblick eines äußerst bewegten, munteren Treibens. Unaufhörlich schaffen die fleißigen Gesellen, ganze Abtheilungen fliegen plötzlich ab, um ein Luftspiel vorzunehmen oder sich mit Nahrung zu versehen, andere Abtheilungen kehren zurück, um von neuem an die unterbrochene Arbeit zu gehen.

b.0 Segler.

Mauersegler.

Auf hohen steinernen Gebäuden, die mit geeigneten Mauerhöhlen und Ritzen versehen sind, liegt die Wohnung des Mauerseglers.

In Friedberg, dieser alten Festung, namentlich in dem Burgtheil, lernten wir als Knaben zuerst ihn kennen; dort war er Kamerad der Seminaristen an dem steinernen Seminargebäude und Hausgenosse der Familie des Thurmwächters an dem alten runden Thurme, sowie an der Stadtkirche. Vom ersten Mai an bis zum August umschwärmte er die hohen Gebäude und jagte mit solch gellendem Geschrei durch die Straßen, daß man seines Treibens oft müde ward. Am frühen Morgen schon folgte das Auge dem unvergleichlichen Segler, wenn er aus einer Mauerspalte hervorkam und in niedertauchendem Bogen gleichsam erst Luft fing, um seine Bewegungen im weiten Luftmeer, seinem wahren Lebenselement, zu beginnen. Hoch schwang sich bei hellem Himmel der mit außerordentlich langen, spitzen Schwingen ausgerüstete Vogel empor und schwebte dann wie ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln kreisend dahin.

Wie der Mauersegler in der Luft sich nährt, so vermeidet er es selbst beim Ansammeln der Baustoffe für sein Nest, sich auf den Boden niederzulassen; er greift das Nothwendige soviel wie möglich fliegend auf; wird er jedoch gezwungen, die Erde zu berühren, so zeigt er sich da gänzlich unfähig zum Sitzen, geschweige denn zum Gehen. Auf seine Schwingen gestützt, liegt er da und schnellt sich beim Aufschwung kräftig mit denselben empor. So macht er es auch, wenn er an Pfützen und seichten Ufern trinkt. Sein Gesicht ist scharf und die Größe seines Auges auffallend, während er im übrigen nicht als feinsinniges Thier bezeichnet werden kann. Sein Charakter drückt sich in stürmischem, unfriedlichem Wesen und in einer großen Stumpfheit gegenüber allem aus, was nicht in den einförmigen Bereich seines Wandels gehört. Oft geräth er mit seinem Nächsten in blutige Raufereien, die in der Luft ausgekämpft werden und manchmal tödliche Folgen haben, oder er stört in der herrschsüchtigsten Weise den häuslichen Frieden anderer Vogelarten, so z. B. der Sperlinge, wenn ihm ihre Höhle als Nistplatz zusagt. Unwillig schleudert er Eier und junge Sperlinge aus dem Neste, um sich selbst darin wohnlich einzurichten. Und seine Wohnung ist eben nichts anderes als eine Lage von buntem Allerlei in der Höhle. Der Geruch, der von ihr ausströmt, erregt Ekel, und sie dient vielem Ungeziefer zur Herberge. Anfang August aber, früher als die Schwalben, zieht auch er in die Fremde, dem warmen Süden zu.


Arbeiterheime.

Von Dr. Kuno Frankenstein.

Das rasche Wachsthum der städtischen Bevölkerung, das Zusammenströmen großer Arbeitermassen nach den Stätten der Industrie, die allgemeine Vertheuerung der Lebensbedürfnisse, mit welcher die Steigerung des Erwerbs nicht überall gleichen Schritt halten konnte, haben in ihrem Zusammenwirken soziale Mißstände geschaffen, deren Bekämpfung eine ebenso ernste wie dringende Pflicht der Gegenwart bildet. Und in der That ist diese Aufgabe an vielen Punkten unseres deutschen Vaterlandes mit redlichem Eifer und Opfermuth in Angriff genommen worden; einzelne Arbeitgeber, Vereine und Genossenschaften aller Art haben durch Beschaffung billiger gesunder Wohnungen, durch Speisehäuser, Volkskaffees, Kantinen, in denen für verhältnißmäßig niedrigen Preis Gelegenheit zu kräftiger Ernährung geboten wird, wesentlich an der Besserung dieser Verhältnisse gearbeitet. Naturgemäß richtete sich ihre Thätigkeit, soweit sie die Wohnung betraf, in erster Linie auf die verheiratheten Arbeiter, auf die Familien. Ueber dieser gewiß in erster Linie stehenden Sorge blieb aber ein Feld unbebaut, das auf die Dauer nicht vernachlässigt werden darf, wenn die Hilfe nicht eine halbe bleiben soll: wir meinen die Fürsorge für die unverheiratheten Arbeiter. Gerade ihnen drohen nicht bloß wirthschaftliche, sondern noch mehr sittliche Gefahren, welche die ernsteste Aufmerksamkeit aller Volksfreunde fordern.

Wie die Dinge heute liegen, ist die der Schule entwachsene männliche Arbeiterjugend meist darauf angewiesen, das Elternhaus zu verlassen, sich vorzugsweise in größeren Städten ihr Brot zu verdienen und bei fremden Leuten ein Unterkommen zu suchen. Erbarmungslos in den Kampf ums Dasein hinausgestoßen, noch nicht genug oder gar nicht zum Charakter erzogen, treten die jungen Leute in eine Welt ein, die ihnen fremd ist, lernen Verhältnisse kennen, die sie nicht zu begreifen vermögen, und werden durch Dinge geblendet, die sie nicht zu beurtheilen verstehen. Mit Neid und Mißgunst betrachten sie den besser Gestellten; jeder Versuchung preisgegeben, gelüstet es sie nach Lebensgenüssen, die ihnen versagt sind, und so treiben sie schließlich, unzufrieden mit ihrem Schicksal, ihrem sittlichen Verderben entgegen. Und das um so leichter, je mehr die halbreifen Burschen in Umgang mit solchen Personen gerathen, die schon im Leben Schiffbruch gelitten haben.

Es ist eine traurige, oft erörterte Thatsache, daß gerade durch die Wohnverhältnisse unserer Großstädte ein derartiger Umgang dem unverheiratheten Arbeiter nahegerückt, so oft geradezu aufgedrungen wird. Es ist eben soweit gekommen, daß die ledigen Arbeiter einschließlich der neuerdings mehr und mehr außer dem Hause ihres Arbeitgebers wohnenden Handwerkslehrlinge und Gewerbsgehilfen nicht in der Lage sind, ein den gesundheitlichen Anforderungen wenigstens einigermaßen entsprechendes Zimmer zur ausschließlichen Benutzung zu miethen, sie müssen sich vielmehr damit begnügen, eine Schlafstelle bei Leuten zu beziehen, die ihre eigenen knapp bemessenen Wohnräume noch mit einer unverhältnißmäßig großen Anzahl fremder Schlafgänger theilen. Dieses Schlafstellenwesen, das insbesondere in Berlin, Breslau, Leipzig etc. recht dunkle Schatten auf die Wohnzustände wirft, führt aber zu einer Reihe von überaus bedenklichen Unzuträglichkeiten, auf die ja auch die „Gartenlaube“ erst kürzlich in anderem Zusammenhang hingewiesen hat (vergleiche den Artikel über „Polizei- und Verbrecherthum in Berlin[512] in Halbheft 12 dieses Jahrgangs). Diesen Uebelständen wird begegnet werden können einmal durch die Errichtung von Lehrlingsheimen, welche für die im Alter von 14 bis 17 Jahren stehenden jugendlichen Arbeiter und Lehrlinge bestimmt und dementsprechend einzurichten sind, dann aber durch Erbauung von Wohn- und Kosthäusern, „Heimen“ für die jenem Alter entwachsenen ledigen Arbeiter. Die Anstalten ersterer Art lassen wir für heute außer Betracht. Vielleicht kommen wir später einmal auf sie zurück.

Es ist ja nicht zu leugnen, daß menschenfreundliche Arbeitgeber schon mancherlei gethan haben, um die traurigen Wohnverhältnisse ihrer ledigen Arbeiter zu bessern. Aber ebenso sicher ist, daß eine sehr große Anzahl dies bis jetzt unterlassen hat, und daß insbesondere in den Großstädten nach dieser Richtung hin so gut wie nichts geschehen ist. Die kleineren Unternehmer sind meist nicht imstande, aus eigenen Kräften eine Besserung herbeizuführen. Es bleibt sonach nur die Gesellschaft übrig, die, vielleicht mit Beihilfe der Gemeinden oder des Staates, die vorhandenen Uebelstände zu beseitigen vermag und zu beseitigen auch die Pflicht hat. Leider hat auch diese sich bis jetzt sehr lässig gezeigt und nur in ganz vereinzelten Fällen die Wohnungsnoth der Arbeiter ledigen Standes durch die Errichtung von Arbeiterheimen zu lindern versucht.

Wir berichten im folgenden über zwei derartige Anstalten, deren Begründung dem Eintreten der Gesellschaft verdankt wird, über die Arbeiterheime zu Halle und Stuttgart.

Das Arbeiterheim zu Halle wurde in Verbindung mit einen Volks-Speisehaus – beide unter dem Namen „Volks-Speise- und Logierhaus" – auf Veranlassung des Halleschen Vereins für Volkswohl errichtet und im Mai 1890 dem Verkehr übergeben. Es befindet sich in einem mit Ausschluß des Erdgeschosses ermietheten, sehr zweckentsprechend gelegenen Hause, das im ersten Stockwerk Speiseräume für 250 bis 300 Gäste und einem Lesesaal für etwa 100 Personen, im zweiten, dritten und vierten Stocke von je 33 Fenstern Front Schlafzimmer mit 1, 2 und 4, theilweise auch noch mehr Betten enthält. Die innere Einrichtung und Ausstattung des Hauses ist behaglich und zweckmäßig, der Bau selbst entspricht in allen seinen Einzelheiten den strengsten hygieinischen Anforderungen und läßt namentlich dem Lichte und der Luft den freiesten Zutritt.

In dem Logierhaus, das nur in den Stunden von 12 Uhr nachts bis 5 Uhr morgens geschlossen bleibt, beträgt das im voraus zu zahlende Miethgeld in der Woche für eine Schlafstelle in einem Schlafraum mit

mehr als 4 Betten (20 cbm Luftraum für eine Person) 1,00 Mark
mehr mit 4 Betten im 4. Geschoß raum eine Person) 1,25 Mark
mehr mit 4 Betten im 3. Geschoß raum eine Person) 1,50 Mark
mehr mit 4 Betten im 2. Geschoß raum eine Person) 1,75 Mark
mehr mit 2 Betten im 4. Geschoß raum eine Person) 1,50 Mark
mehr mit 2 Betten im 3. Geschoß raum eine Person) 1,75 Mark
mehr mit 2 Betten im 2. Geschoß raum eine Person) 2,00 Mark
für ein möbliertes Zimmer mit 1 Bette im 3. Geschoß 2,25 Mark
für ein möbliertes Zimmer mit 1 Bette im 2. Geschoß 2,50 Mark

Auf einzelne Tage werden die Plätze nicht abgegeben, vielmehr beträgt die kürzeste Dauer des Miethsverhältnisses immer eine volle Woche.

Nicht minder billig als die Wohnung ist die Kost in dem Speisehaus, welches der „Verein für Volkswohl“ unter Leitung einer bewährten Kraft in eigener Verwaltung führt. Eine einfache, aber kräftige Mittagsmahlzeit ist schon für 25 Pfennig, eine kleinere Portion sogar für 15 Pfennig zu haben; Abendbrot, kalt oder warm, wird um 15 Pfennig berechnet, und Lagerbier zum Preise von 10 Pfennig für 4/10 Liter ausgeschenkt.

Ein Arbeiter also, welcher hier täglich 30 Pfennig für Frühstück und Abendbrot, 25 Pfennig für den Mittagstisch und 20 Pfennig für Bier ausgiebt, braucht in der Woche für seine ausreichende Verköstigung 5 Mark 25 Pfennig. Rechnet man 1 Mark 75 Pfennig Miethpreis für ein besseres Zimmer hinzu, so macht das eine Gesammtausgabe von 7 Mark wöchentlich. Da nun selbst niedrig bezahlte Arbeiter in Halle selten unter 15 Mark die Woche verdienen, so ergiebt sich, welche Vortheile das Volks-Speise- und Logierhaus der arbeitenden Bevölkerung bietet. Die Gelegenheit und die Möglichkeit zum Sparen wird aber gerade für die ledigen Arbeiter von ganz besonderem Werthe sein.

Das Arbeiterheim zu Stuttgart ist von dem dortigen „Arbeiterbildungsverein“ in Verbindung mit dem „Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen“ ins Leben gerufen und Ende November eröffnet worden. Der stattliche, architektonisch äußerst wirksame Bau umfaßt im ganzen 225 Räume und besteht aus zwei Theilen, deren einer die Arbeiterwohnungen, der andere die Wirthschaftsräume, Bibliothek, Lese- und Unterrichtszimmer sowie einen größeren, für Versammlungen und Festlichkeiten des Arbeiterbildungsvereins bestimmten Saal enthält. Gegen 125 Zimmer zu 1 und 2 Betten dienen den ledigen Arbeitern zu Wohnstätten. Der Miethpreis schwankt zwischen 1 Mark 20 Pfennig und 2 Mark 50 Pfennig für die Woche, bei wöchentlicher Kündigung; Passanten, d. h. solche, die am Orte noch keine bestimmte Arbeit gefunden und daher noch keinen dauernden Aufenthalt genommen haben, zahlen, soweit sie Platz finden, für die Nacht 30 Pfennig.

Die Einrichtung der Wohnzimmer ist sehr behaglich und besteht aus der mit einer guten Matratze versehenen Bettstelle, ferner aus Kleiderschrank, Waschtisch, Tisch, Stuhl und Spiegel, in den besseren und theureren Zimmern tritt als weiteres Möbel ein Kanapee hinzu, im 2. Stockwerk endlich wird die Annehmlichkeit gesunden Wohnens noch durch einen Balkon mit freier, hübscher Aussicht über die Stadt erhöht. Der Heizungs- und Beleuchtungsbedarf wird den Miethern von der Heimverwaltung äußerst billig berechnet. Nicht minder billig und gut ist die Kost; denn eine aus Suppe, Fleisch und Gemüse bestehende Mahlzeit ist schon für 25 Pfennig zu haben, während man den Luxus dreier Gänge sich für den Preis von 45 Pfennig verschaffen kann.

Daß das Stuttgarter und das Hallesche Arbeiterheim dazu beigetragen haben, gewisse Nothstände, die in beiden Städten herrschten, wenigstens zu mildern, darf mit Bestimmtheit behauptet werden; daß sie auch weiterhin in gesundheitlicher wie sittlicher Beziehung einen vortheilhaften Einfluß ausüben werden, läßt sich annehmen. Aber nichtsdestoweniger gleicht all’ das nur einem Tropfen auf einen heißen Stein. Soll eine allgemeine und anhaltende Besserung erzielt werden, so ist es einerseits nöthig, daß an allen Orten mit einer zahlreichen industriellen Bevölkerung in hinreichendem Maße und in zweckentsprechender Weise für den Bau von Arbeiterheimen, sei es durch die Arbeitgeber, sei es durch gemeinnützige Vereine etc., Sorge getragen wird; andererseits ist zu verlangen, daß der Staat und die Gemeinden solche Bestrebungen in wirksamer Weise unterstützen.

Für wünschenswerth würden wir halten, daß man die Arbeiterheime in Verbindung mit Volksheimen oder im Anschluß an solche errichten möchte. Geschähe das, so wären weitere Anknüpfungspunkte für einen zwanglosen geselligen Verkehr und Gedankenaustausch zwischen den Angehörigen der verschiedenen Stände geschaffen und infolge dessen die Möglichkeit eines Ausgleiches der ungesunden gesellschaftlichen Gegensätze gegeben. Auf einen solchen Ausgleich mit allen Kräften hinzuarbeiten, ist eine der vornehmsten sittlichen Pflichten des lebenden Geschlechts.

0


Blätter und Blüthen.


Bismarck in München. (Zu den Bildern S. 488 und S. 489.) Ein Wiederaufleben der Begeisterung vom Jahre 1870, ein hohes Aufflammen des Patriotismus in den Herzen der Jugend, ein tausendstimmiger Dank- und Ehrenruf fär den Mitbegründer des Deutschen Reiches, auch von seiten solcher, die in Fragen der inneren Politik nicht immer mit ihm einig gewesen – das waren die jüngstvergangenen Bismarcktage in München.

Viele Tausende drängte es, dem großen aus Amt und Würden Geschiedenen zuzurufen: Dein Volk ist nicht undankbar, du lebst auf ewig in unseren Herzen! Und die Hoffnung, daß der Widerhall dieses Rufes manche Bitterkeit in dem seinigen sänftigen dürfte, trieb zu Kundgebungen, wie sie gewaltiger und rührender dem Fürsten kaum irgendwo dargebracht wurden.

Auch bekam München nicht den „eisernen Kanzler“ zu sehen, sondern einen mildgewordenen Mann, der nur die ehrfurchtgebietende Ruhe des Alters, aber keine seiner Hinfälligkeiten zeigt. Stramm bewegte sich die hohe Gestalt ohne Zeichen von Ermüdung noch am letzten Abend dieser vielbesetzten Tage, aufs liebenswürdigfte dankte der Fürst wieder und wieder für den stets neu aufbrausenden Jubelruf um seinen Wagen, wenn er die Villa Lenbach verließ, vor welcher den ganzen Tag Hunderte gedrängt standen. Die Münchener haben ihn auch östers sprechen hören: im Glaspalast, im Rathhaus und bei den großen Ovationen, am heitersten wohl der Kreis seiner Verehrer in der Künstlergesellschaft „Allotria“, wo er, von Lenbach geleitet, Sonnabend den 24. Juni eintrat und einen Ehrentrunk aus der großen, vom Willkomm im Jahre 1886 her benannten „Bismarckkanne“ thun mußte. Indem der Fürst sich entschuldigte, es nicht jenem Bürgermeister von Rothenburg nachmachen zu können, der durch das Leeren einer solchen Kanne die Stadt rettete, that er doch einen herzhaften Zug und sprach dann seinen Dank für den festlichen Empfang aus, mit der humoristischen Wendung schließend:

„Wir haben im Norden auch ein Bier, es ist zwar naß, aber nicht das! Ich trinke auf das Wohl des Vereins, Sie müssen aber mit einstimmen, sonst ist mein Hoch zu dünn!“ Wie daraufhin eingestimmt wurde, kann man sich wohl leicht vorstellen.

Abends aber, als Musik und Trommelschlag von den Propyläen her erklang und in ungeheurem Zuge die männliche Jugend von München, Schüler, Studenten, Künstler, Sänger, Turner, Schützen und Vereine aller Art, Standarten und Kränze tragend, vor der weit herausspringenden Gartenterrasse des Lenbachhauses vorbeidefilierte, während auf dieser hochaufgerichtet die mächtige Greisengestalt stand und auf den unermeßlichen Jubel herabschaute, da hatte jeder aus der dichtgedrängten Zuschauermenge das Gefühl eines unvergeßlichen geschichtlichen Momentes.

Nachdem dann Lieder und Ansprachen verklungen waren, trat Bismarck zum Reden vor; in die plötzlich eingetretene athemlose Stille hinein erschallte seine Stimme, und in beweglichen Worten legte er der Jugend die Treue gegen das große Vaterland ans Herz. Aus allen seinen Münchener Reden war in immer neuer Wendung die gleiche Mahnung zu hören; am feierlichsten erklang sie aber an diesem Abend, und in Tausenden von jungen Herzen fand sie einen Widerhall, der so lange dauern wird, als diese selbst schlagen. Es lag wie eine große Weihe auf der vieltausendköpfigen Versammlung, jeder mochte die Bedeutung dieser Stunde fühlen; denn nachdem Bismarck geendet, brach ein Jubel aus, der alles Frühere weit überbot, die Fahnen wehten, Blumen wurden zu ihm emporgeworfen. Die allgemeine Begeisterung kannte keine Grenzen und beruhigte sich erst, als der Fürst und seine Umgebung die Terrasse schon lange verlassen hatten. R. A. 

[513]

Hahn im Korbe.
Nach einem Aquarell von J. R. Wehle.

[514] Nicht so viel Handgepäck! Kaum irgendwo im modernen Leben tritt die Rücksichtslosigkeit gegen Recht und Behagen des Nebenmenschen greller zu Tage als in den durchgehenden Wagen eines sehr besetzten Eilzuges zur Hauptreisezeit auf den süddeutschen Bahnen, die kein Freigepäck zugestehen. Man traut als Unbetheiligter seinen Augen nicht, welche Masse von Päcken, Ballen und Koffern einer einzigen Person in den Eisenbahnwagen nachfolgen, als Betheiligter aber hat man öfters einen sehr ernsthaften Kampf zu bestehen, um sein Recht auf das Gitter oberhalb des eigenen Platzes zu wahren. Einen solchen Kampf sah Einsender dieses kürzlich mit an, wo sich von dem allen verfügbaren Platz einnehmenden Handgepäck eines nur mit drei Personen besetzten Nichtrauchcoupés sieben große Stücke als Eigenthum zweier Damen auswiesen, so daß ein Neuankommender mit seinem bescheidenen Köfferchen rathlos dastand und dasselbe endlich zwischen den Füßen seiner Mitreisenden unterbringen mußte, nicht ohne unangenehmen Wortwechsel mit den Besitzerinnen so vieler Nothwendigkeiten. An wem liegt die Schuld? Die Schaffner drücken begreiflicherweise gern ein Auge zu, um nicht durch einfaches Bestehen auf der Vorschrift eine Abreise im letzten Augenblick unmöglich zu machen, das Publikum hat die bekannte menschliche Neigung, jede Vergünstigung bis zum Mißbrauch in Anspruch zu nehmen. Hier kann nur eines helfen: Herabsetzung des Personengepäcktarifs. Mit Anhängen eines einzigen Wagens würde der gesammte ärgerliche Ballast eines Schnellzuges untergebracht sein, eine mäßige Taxe dafür würden die Besitzer zahlen, um selbst der Unbequemlichkeit enthoben zu sein. Dann aber könnte die strengste Durchführung der Bestimmung, daß jeder nur den über seinem Platze befindlichen Raum belegen darf, verlangt und vom Publikum selbst mithelfend vollzogen werden. Man sollte denken, es bedürfe nur des guten Willens der Bahnverwaltungen, um diese so sehr wünschenswerthen Einrichtungen zu treffen! – n.     

Das Ballwerfen. (Zu nebenstehendem Bilde.) Die Bewegung des Wurfes ist, als körperliche Uebung betrachtet, von großem Werthe; denn nicht bloß der werfende Arm hat seine Muskelarbeit zu vollbringen – auch der gesammte Oberkörper und die Beine werden in Mitleidenschaft gezogen, nehmen also auch theil an dem gesundheitlichen Nutzen dieser Leistung. Wird vollends das Werfen nach einem Ziele, das Treffen, geübt, so tritt als weiterer Mitarbeiter und ebendamit als weiterer Nutznießer das Auge hinzu.

Zielscheibe für Ballwerfen.

Das letztere ist nicht zu unterschätzen. Es hat sich gezeigt, daß anhaltende planmäßige Wurfübungen nach Zielen einen nicht unwesentlichen Einfluß auf die Schärfe des Auges ausüben. An der kgl. Kreisrealschule zu Kaiserslautern in der Pfalz betreibt der Turnlehrer G. Pöppl das Ballwerfen mit vielem Eifer und Verständniß. Und als man in den Kaiserslauterner Schulanstalten die Augen von ärztlicher Seite untersuchte, da fand man in der Realschule 7,8 Prozent, in der Lehrerbildungsanstalt 26,8 Prozent und im Gymnasium 31,7 Prozent Kurzsichtige! Selbstverständlich ist an diesen Zahlenverhältnissen das Ballwerfen nicht allein schuld; aber daß es mit dazu beitrug, die Kurzsichtigkeit in der Realschule auf einer so niederen Stufe zu halten, das dürfte kaum zu bezweifeln sein. Thatsächlich giebt es schon aus dem Jahre 1843 einen bayerischen Ministerialerlaß, welcher „das Werfen nach Zielen vorschreibt, um der überhandnehmenden Kurzsichtigkeit der jungen Leute entgegenzutreten.“

Zum Werfen nach einem Ziele bietet sich in der freien Natur draußen zwanglos vielfache Gelegenheit – nicht so leicht aber in der Enge der menschlichen Wohnstätten, auf den Turnplätzen, in der nächsten Umgebung der Schulen. Der schon genannte Turnlehrer Pöppl hat darum die obenstehend abgebildete Scheibe ersonnen, welche nicht bloß als zweckmäßiges Ziel dienen kann, sondern auch das richtige Treffen selbstthätig anzeigt. Ihr Bau ist von äußerster Einfachheit, giebt aber für große Dauerhaftigkeit alle Gewähr. Ein starker eiserner Träger wird mit zwei Schrauben an einem hölzernen Pfosten, einer Wand oder dergleichen befestigt. Auf ihm läuft in zwei Lagern ein kräftiger eiserner Bolzen, der an seinem vorderen Ende die 20 cm im Durchmesser haltende, schwarzlackierte, nur in der Mitte mit einem 5 cm breiten weißen Punkte versehene Scheibe trägt und durch eine Spiralfeder nach vorwärts gedrückt wird. Das hintere Ende des Bolzens stößt, wenn ein Wurf kräftig die Mitte der Scheibe getroffen hat, einen Zeiger – eine schwarze oder weiße 1 – in die Höhe, welcher stehen bleibt, bis ihn eine einfache Vorrichtung wieder fallen läßt.

Diese Ballwurfscheibe wird den Wetteifer der jungen Leute in hübscher Weise anregen und damit dem erziehlichen Werthe der Uebung den Reiz des Unterhaltenden geben. Auf Turn- und Spielplätzen wird sie ganz am Platze sein, vielleicht verfügt da und dort ein glücklicher Vater auch über einen günstigen Hofraum, in welchem er ein so nützliches Turn- und Spielgeräth für seine heranwachsende Jugend anbringen kann.

Scheffels „Episteln“. Scheffels Humor und Scheffels Wanderlust – wem sind sie nicht aus seinen Gestalten und Liedern herzerfrischend entgegengetreten wie klarer leuchtender Maientag, wer hätte dabei nicht den Wunsch empfunden, daß solcher Gaben seines Geistes noch mehr zu genießen sein möchten! Ein jüngst erschienenes Buch (Stuttgart, Bonz und Comp.) kommt diesem Wunsche entgegen und bringt eine Reihe köstlicher „Episteln“, die den Aufenthalt des Dichters in Säkkingen, Reiseerlebnisse in der Schweiz, in Italien, in Meran mit goldener Laune schildern. Viel Worte über die Eigenart dieser Briefe thun’s nicht, man muß sie selbst lesen in ihrem biederen Chronistenton, hinter dem alle neckischen Geister ihr loses Spiel treiben, man muß namentlich in die Bilder sich versenken, die der „Säkkinger Rechtspraktikant“ von seiner Umgebung, seinem Thun und Treiben entwirft. Recht verwunderlich muß es manchmal in dem alten Städtchen am Rheine ausgeschaut haben für die nicht eben juristisch gestrengen Augen des poetischen Rechtsbeflissenen, wie verwunderlich – davon mag folgende Probe aus der ersten Säkkinger Epistel vom 6. Januar 1850 einen Begriff geben:

„Seitab vom Marktplatz von Säkkingen, von der Kirche weg nach dem Rheine hin, steht eine Reihe hochgiebliger alter Gebäude mit spitzbogigen Thüren, vergitterten Fenstern etc. In diesen haust der Staat, das heißt: das Amtsrevisorat, die Bezirksforstei und das Bezirksamt. Das stattlichste der Gebäude, ein dreistöckiges Haus, ist das Amthaus. Durch eine alte Bogenthüre tritt man ein in die Vorhalle, die, mit Gewölbestellungen versehen und auf zwei Säulenpfosten ruhend, den Weg nach den verschiedenen Amtsstuben eröffnet. Wir gehen aber noch nicht so schnell weiter, sondern verweilen eine Zeitlang bei den sinnigen Inschriften der Halle. Bei den Türken ist’s eine schöne Sitte, die Wände der Moscheen und öffentlichen Gebäude mit Sprüchen aus dem Koran zu versehen. Der deutsche bureaukratische Staat kennt nur einfach geweißelte Wände. Aber der biedere Sinn des Volkes hat hier ergänzend gewirkt und mit zarten Sprüchen aus dem Hauensteiner Koran die kahlen Mauerwände geschmückt. Ich setze einige bei, wie ich sie aus der bunten Sammlung noch im Gedächtniß habe. Also z. B.: ‚Wenn doch nur ein heiliges Kreuzdonnerwetter das ganze Amthaus verschlüge!‘ – oder ‚Allmächtiger Vater, schenk’ doch den Amtsherren einen besseren Verstand, daß sie bürgerliche Rechtspflege besser führen!‘ – oder ‚Lange warten müssen macht zornig!‘ – oder ‚Heute ist Johannes N. von Herrischried hier gewesen und hat dem Amtmann tüchtig die Wahrheit gesagt!‘ – oder ‚Eine Republik wär’ halt doch das allerbeste!‘ – oder ‚Wenn sich alles von selbst erledigte, dann wäre gut Oberamtmann sein!‘ u. a. m.

Nachdem wir den Duft aus diesen Blüthen des Volksgeistes eingesogen, treten wir links zur zweiten Thür ein. (Die Damen werden gut thun, beim Eintritt ihren Flacon vorzuhalten.) Hier ist meine Höhle. Aber ich hause nicht allein in ihr. Das Bezirksamt Säkkingen hat sich jene Hauptregel der Historienmalerei, nämlich die möglichst ‚ökonomische Vertheilung der Figuren im Raume‘, gründlich zu eigen gemacht. In dieser Stube gehört nur ein Schreibtisch, ein Aktenfach und ein geringer Flächenraum mir. In einem anderen Drittel der Stube haust der eigentliche Herr und Gebieter derselben, der Amtsdiener, und im Rest derselben halten sich in Winterszeit die vorgeladenen Parteien auf, die Gerichtsboten gehen ab und zu, die Gendarmen pflegen der Privatunterhaltung mit Seiner Hochwürden dem Amtsdiener – kurz es geht hier und da äußerst gemüthlich zu. Ich bin eigentlich mehr geduldet, als daß ich etwas zu befehlen habe; im Volksbewußtsein ist der Amtsdiener der Hauptinsasse. Wenn einer hereinkommt, so heißt es zuerst mit einem Bückling: ‚’fel mich Ihnen, Herr Hauser, wie geht’s?‘ etc. Dann noch so beiläufig zu mir und dem Aktuar: ‚Guten Morgen, ihr Herren!‘ Das ist übrigens von jeher die soziale Position des Säkkinger Rechtspraktikanten gewesen – warum sollte ich’s anders verlangen … Ich bin jetzt so vollständig in meine Umgebung eingebürgert, daß ich meine, es könne gar nicht anders sein. Dazu hat nicht wenig der Grundsatz des Aktuars beigetragen, den ich mir alsbald angeeignet habe. Der pflegt nämlich zu seiner Beruhigung bei jeder Tageszeit und bei jeder Gelegenheit, mag er nun ein und dieselbe Verfügung dreiunddreißig Mal abzuschreiben haben, oder mag ihm ein biederer Gastfreund eine Flasche Rheinwein anbieten, den Spruch anzuführen: ‚Sei mir heute nichts zuwider!‘ und mit dieser Parole habe ich denn auch beschlossen, mich frisch und unbeirrt durch alles Liebsame und Unliebsame durchzuschlagen.“

Naturalphotographie. In letzter Zeit hat ein Württemberger, Eugen Hackh, nach mehrjähriger Arbeit eine Erfindung auf dem Gebiet der Photographie gemacht, welche geeignet ist, die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf sich zu ziehen. Sie ermöglicht die Aufnahme von Augenblicksbildnissen, und zwar unmittelbar in Lebensgröße, so daß man sich also jetzt nicht mehr mit den umständlichen und nicht immer gut ausfallenden Vergrößerungen behelfen muß. Hackh bedient sich für seine Aufnahmen einerseits eines außerordentlich starken künstlichen Lichtes, andererseits eines Raumes, in welchem das verwendete Licht ohne Verlust und zugleich in künstlerischer Weise wirken kann. Schon vorher wurde vielfach, namentlich von Liebhaberphotographen, das künstliche Magnesiumlicht, sogenanntes Blitzlicht, für Augenblicksaufnahmen von Porträts angewandt. Aber wie die Fachmänner, so kamen auch die Liebhaber infolge vielfachen Mißglückens ihrer Versuche mehr und mehr wieder davon ab. Hackh ist es nun gelungen, eine Lichtpatrone so zusammenzusetzen, daß bei ganz geringem Rauch und Knall ein ungewöhnlich helles Licht gewonnen wird, und eine Art Atelier mit verstellbaren, aber immer zusammenschließenden Wänden zu bauen, in welchem das entwickelte Licht nicht nur in seiner Gesammtheit ausgenützt, sondern zugleich auch durch die von seitwärts und vom Rücken her wirkenden Reflexe ein weiches und plastisches Bild erzeugt wird. Welche Bedeutung die Hackhsche Erfindung besitzt, mag man einem Schreiben Franz Lenbachs entnehmen, in welchem dieser dem Verfahren und den mit seiner Hilfe hergestellten Bildern großen Werth selbst für den Künstler zumißt; dem Porträtmaler werde es für die psychologische Seite seiner Arbeit große Dienste leisten. Für weite Kreise dürfte die Erfindung deshalb von Wichtigkeit sein, weil durch sie auch dem, welcher weder Zeit noch Mittel besitzt, sich für die Seinen malen zu lassen, die Aussicht geboten wird, seiner Familie ein lebensgroßes, künstlerisches und [515] durch den Ausdruck des Augenblicks belebtes Bild zu geben, das frei ist von den Mängeln, welche den erst nachträglich vergrößerten Aufnahmen anhaften.

Die Brüder Grimm bei der Märchenerzählerin. (Zu dem Bilde S. 505.) Wer sollte ihn nicht kennen, den köstlichen Schatz der „Kinder- und Hausmärchen“, welchen die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm für uns gehoben und gesichert haben, wer sollte nicht in seinen Kindertagen mit namenlosem Entzücken der Geschichte vom Wolfe und den sieben jungen Geißlein, von Hänsel und Grethel, vom Rothkäppchen und Aschenputtel, vom „Tischchen deck’ dich“, vom Dornröschen, Sneewittchen, Daumerling, und wie sie alle heißen, gelauscht haben, wer sollte ihrer nicht noch in seinen reifen Jahren mit andächtiger Rührung gedenken! In jahrelanger treuer und eifriger Sammelarbeit haben die Brüder Grimm sie unmittelbar aus der Quelle, aus der mündlichen Volksüberlieferung geschöpft und so aus der schon schwindenden Fülle reiche Reste für uns gerettet.

Mancher günstige Zufall kam ihnen dabei zu statten. Als der erste Band ihrer Sammlung 1812 erschienen war, da haben auch verständige Freunde manches werthvolle Kleinod zugetragen. Ganz besonders ergiebig aber erwies sich eine Fundgrube: in dem bei Kassel gelegenen Dorfe Niederzwehren lernten die Brüder eine Bäuerin kennen, die in ihrem Gedächtniß eine ganz erstaunliche Fülle der schönsten Märchen barg. Es war eine Frau Viehmann. Lassen wir uns von den Brüdern selbst über diese Frau erzählen!

„Die Frau Viehmännin,“ so schreiben sie in der Vorrede zu ihrem Märchenbuch, „war noch rüstig und nicht viel über fünfzig Jahre alt. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Festes, Verständiges und Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf. Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtniß und sagte wohl selbst, daß diese Gabe nicht jedem verliehen sei und mancher gar nichts im Zusammenhange behalten könne. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig, mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte. Wer an leichte Verfälschung der Ueberlieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung und daher an Unmöglichkeit langer Dauer als Regel glaubt, der hätte hören müssen, wie genau sie immer bei der Erzählung blieb und auf ihre Richtigkeit eifrig war; sie änderte niemals bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab und besserte ein Versehen, sobald sie es bemerkte, mitten in der Rede gleich selber.“

Durch den Krieg gerieth die Frau Viehmännin in Elend und Unglück. Der Vater ihrer zahlreichen Enkel starb am Nervenfieber, die Waisen brachten Krankheit und die höchste Noth in ihre ohnedies schon arme Hütte. Sie ward siech und starb am 17. November 1816. Das deutsche Volk aber darf ihr wohl ein dankbares Andenken bewahren für das kostbare Erbe, das aus ihrem Besitze in den seinigen, ja in den der ganzen gesitteten Menschheit übergegangen ist, ein dankbares Andenken aber auch den beiden genialen Brüdern, die ihres Amtes als Vermittler dieser Erbschaft so treulich gewaltet haben.

Die VI. internationale Kunstausstellung in München. Für die Münchener sowohl, als für den großen Strom der über München in die Alpen Reisenden ist die Kunstausstellung bereits zur alljährlich festen Nummer im Vergnügungsprogramm geworden. Der alte Glaspalast hat sich unter die Hauptanziehungspunkte der Sommermonate eingereiht, und seine Innenräume, zu deren Ausschmückung die ersten Künstler opferfreudig zusammenwirken, bieten jedes Jahr einen neuen und überraschenden Anblick. Wohl sind die Bilder und Skulpturen die Hauptsache, und keine noch so prunkvolle Umgebung könnte über einen Niedergang der Leistungen hinwegtäuschen. Wo aber eine so reiche Fülle schöner Werke von einem gefunden, hochstehenden und höchst mannigfaltigen Kunstleben Zeugniß ablegt, da erfreut sich das Auge gern auch an der vorzüglichen Aufstellung und der ruhigen Pracht des Hintergrundes. Man geht voll Wohlbehagen durch die langgestreckte Säulenhalle, wo das Oberlicht so angenehm über die prächtigen Bilderreihen fällt, man ersteigt den vom vorigen Jahre her so genannten „Prinzregenten-Pavillon“ und genießt von seiner Höhe aus einen reizvollen Niederblick in den anstoßenden Marmorsaal voll schöner Skulpturen. Und zum Schlusse, nach Durchwanderung der endlosen blumen- und teppichgeschmückten Räume, kann man sich ausruhen in dem von Lenbach persönlich eingerichteten und abgetönten „Saal alter Meister“, dessen dunkle Vorhänge, Gobelins und alterthümliche Möbel in so vollendeter Harmonie zu den darin aufgestellten Bildnißschätzen stehen. Daß man aber aus diesem zauberhaften Helldunkel gern und mit Interesse in das Tageslicht der heutigen Kunst zurückkehrt, das ist gewiß ein erfreuliches Zeichen für die Ausstellung von 1892, welche wohl in einzelnen Effektstücken, aber nicht an allgemeinem Werthe, von früheren Ausstellungen übertroffen werden mag. Bn.     

Die Leiden eines Buches. Bücher haben ihre Schicksale und gerade die guten nicht die freundlichsten – davon wäre manche Geschichte zu erzählen, aber kaum eine, die durch schlichte Geradheit, gehaltene tiefe Stimmung unmittelbarer zu Herzen ginge als „Phaläna“, eine neue Novelle von Karl Weitbrecht (Schröter, Zürich), für welche eben die Leiden eines Buches, die unverdienten eines guten natürlich, den Mittelpunkt abgeben – oder eigentlich nicht die Leiden des Buches selbst, sondern der ganzen idealen Anschauung, die darin lebt, des Dichters, der sich diese durch ein Dasein der Noth und Enttäuschung, der bitteren Einsamkeit hindurch nicht hat nehmen lassen und ihr, ein Sechzigjähriger, in seiner letzten Gedichtsammlung „Phaläna“ noch einmal ergreifenden Ausdruck gegeben hat. Die Schicksale eines Exemplars dieser Gedichtsammlung sind es nun, die uns erzählt werden, seine Wanderungen von der Buchhandlung der Stadt aus, in welcher der Dichter Paulus Wikram lebt. Ueberallhin wird es gesandt, wo ein Liebhaber dafür vermuthet wird, von überallher kommt es zurück, um endlich von Wikram selbst gekauft zu werden, der ein Geschenk damit machen will. Aber – das Buch ist von seiner Odysseusfahrt nicht unbeschädigt zurückgekehrt; als Wikram es daheim aus dem Futteral zieht und aufschlägt, blicken ihm schmutzige Flecken entgegen und ein Zettel, auf dem eine freundliche Schwester in Apoll „den Poeten bedauert, der es geschrieben. Verse bringen nichts.“ Da schleudert er erst den Band hinter den Ofen und läßt ihn dann säuberlich verbrennen: die Leiden des Buches sind zu Ende – nicht seine eigenen.

In diesen einfachen Rahmen, der nur Platz zu haben scheint für eine Anzahl getrennter, einzeln nebeneinanderstehender Skizzen, hat Weitbrecht ein einheitliches Bild voll wahrer dichterischer Kraft gestellt, auf dem eine Reihe der prächtigsten Gestalten sich abhebt, vor allem die des einsamen Doktor Wikram, des Telegraphisten Böhringer mit seiner ruhigen Pflichttreue, seiner verborgenen Gefühlswelt, des genialen Pferdezeichners Jakob Kleinknecht, dem es darauf ankommt, daß „einer ein Kerl ist“, und der sich als „Beduine zwischen seinen Pferden“ sehr auf seine eigene Weise mit Welt und Litteratur abfindet. Dabei wechselt Ernst des Gedankens und der Stimmung mit jenem echten Humor, der die schneidenden Gegensätze und Widersprüche des Lebens in stilles Lächeln aufzulösen weiß; nur auf handwerksmäßiges Streberthum und sinnloses, anmaßendes Wortgeklingel in der Litteratur der Gegenwart fällt ein scharf satirisches Licht, das in einem poetischen Anhang „Seefahrt“ in gesteigertem Maße funkelt. Die Erzählung selbst klingt mit dem Tode Paul Wikrams wehmüthig aus: Weib und Kind hat ihm der Tod schon vor einem Jahrzehnt geraubt, aber in Maja, der Tochter der Frau, welcher er einst seine erste große Liebe dargebracht hat, wird ihm am Abend seines Lebens noch einmal ein Gemüth, das ihm in treuer Freundschaft anhängt und ihn versteht, in dem sein hoher Sinn eine Heimath findet. Allein nur Monate dauert dieses Aufleben – Wikram wird von tödlicher Seuche ergriffen und stirbt in dem Spital, in das Maja als Krankenpflegerin eingetreten ist. Sie drückt „die erloschenen Dichteraugen zu, die sich satt getrunken hatten an Leid und Schönheit, an Gram und Liebe“, und wie sie nun die einsame Totenwacht hält, da ruht ihr Schmerz aus in dem ergreifenden Verse des Geschiedenen:

„Wenn ich Abschied nehme, will ich leise geh’n,
Keine Hand mehr drücken, nimmer rückwärts seh’n.
In dem lauten Saale denkt mir keiner nach,
Dankt mir keine Seele, was die meine sprach.
Morgendämmrung weht mir draußen um das Haupt,
Und sie kommt, die Sonne, der ich doch geglaubt.
Lärmt bei euren Lampen und vergeßt mich schnell!
Lösche meine Lampe! Bald ist alles hell.“

Damit schließt die Erzählung. Auch sie bringt da und dort etwas, was man gern ein bißchen anders haben möchte, aber nichts, was den Eindruck des Ganzen stören könnte, den Eindruck, der sich in den Wunsch kleidet: möchten diesem Buche, frisch und ehrlich und erquickend, wie es ist, die Leiden erspart sein!

Ein Bild der Frau Rath Goethe. Goethes Mutter ist eine der liebenswürdigsten und volksthümlichsten Frauengestalten, deren in der Geschichte unserer klassischen Litteratur Erwähnung geschieht. Es ist nur ein einziges Bild von ihr vorhanden, dessen Nachahmung sich in Goethes Geburtshause befindet. Das Urbild gehört einer Ururenkelin der Frau Rath, einer Frau Bertha Hauser, geb. Nikolovius in Köln, und sie hatte es vor einiger Zeit für eine Versammlung der Goethegesellschaft in Weimar hergeliehen. Im Junosaal des Goethemuseums war das Pastellbrustbild der Frau Rath auf einer Staffelei ausgestellt. Das Bild ist mit großer künstlerischer Feinheit ausgeführt; es zeigt uns die Mutter des unsterblichen deutschen Dichters in einer großen weißen Haube; auf die halbentblößten Schultern fällt ein schwarzes Spitzentuch; aus den großen hellbraunen Augen spricht in lebendiger Weise jene Schelmerei, die alle Freunde der Frau Rath stets so unwiderstehlich anzogen. In der That, so denkt man sich die Frau, deren „Frohnatur“ und „Lust am Fabuliren“ ein so glückliches Erbtheil des Sohnes geworden ist. Das Andenken an sie hat auch dem unnahbaren Jupiter Weimars, als welcher Goethe in seinen späteren Lebensjahren erschien, Zuneigung in den weiten bürgerlichen Kreisen des deutschen Volkes gesichert. †      

0


KLEINER BRIEFKASTEN.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

D. C., Washington. Wir haben vor diesem Schwindel wiederholt gewarnt! Nehmen Sie bei derartigen Reklamen über Geheimmittel bis zum Beweis des Gegentheils immer getrost an, daß Sie es mit einem auf Ausbeutung des Käufers berechneten Unternehmen zu thun haben.

P. F. in Duisburg. Am besten ist’s, Sie legen sich ein Sammelbuch für die Bescheinigungen über ausgebrauchte Quittungskarten der Invaliditäts- und Altersversicherung an; Sie werden so am wenigsten der Gefahr ausgesetzt sein, eine der Bescheinigungen, auf welche sich später Ihr Rentenanspruch stützt, zu verlieren. Ein derartiges Sammelbuch hat z. B. der expedierende Sekretär und Kalkulator im Reichsversicherungsamt E. Götze zusammengestellt (Berlin, Carl Heymanns Verlag), welches neben einer reichlichen Anzahl Bescheinigungsformulare einen Auszug aus den hierher gehörigen Gesetzesbestimmungen enthält.

Türkei. Ein Cigarettenfabrikant, der seinen deutschen Namens ins Türkische übersetzen will, setzt sich einem bedenklichen Verdacht aus! Wir möchten also die Hände davon lassen.

H. M. in N. 1) Zum Supernumerariat der Reichs- und Staatseisenbahn berechtigt nur das Zeugniß eines einjährigen erfolgreichen Besuchs der Prima eines Gymnasiums. 2) und 3) Ja.

Ein Vogel- und Naturfreund. Der Verfasser des Artikels über „Deutsche Singvögel als Delikatesse“ ist gern bereit, Ihre Wünsche zu erfüllen und Ihnen sachgemäße Aufklärung über die obwaltenden Verhältnisse zu geben, wenn Sie Ihre Adresse mittheilen.

A. Ph. in Mülhausen. Der Roman „Der Graf von Monte-Christo“ ist von dem älteren Alexander Dumas. Wenn Sie diesen Roman übrigens gelesen haben, so wird es Sie interessiren, daß es in der That eine Insel Monte-Christo giebt, die in der Nähe der durch Napoleon berühmt gewordenen Insel Elba und zwar im Süden derselben liegt. Jetzt erfährt man, daß ein Marchese aus Florenz, der dem Helden des Dumasschen Romans in Bezug auf Reichthümer nahe kommt, die Insel angekauft hat und sich dort ein schönes Schloß bauen will. Die Insel soll in einen Garten umgewandelt werden, eine anmuthige Villa an der Meeresküste, eine melancholische Einsiedelei im Innern sollen für wechselnde Stimmungen einen Zufluchtsort gewähren. Es wird also jetzt zwar keinen leibhaftigen Grafen, aber einen Marchese von Monte-Christo geben.

W. A. in Altenburg. Es werden gegenwärtig in einzelnen Batterien der deutschen Artillerie Versuche mit Lafetten gemacht, die ganz aus Eisen sind. Von dem Ergebniß dieser Versuche wird es abhängen, ob eine allgemeine Einführung beschlossen wird oder nicht.

[516]
Allerlei Kurzweil.


Schachaufgabe Nr. 6.
(Im 7. Aufgaben turnier des Deutschen Schachbundes mit dem ersten Preise gekrönt. Dresden 1892. Motto: Po Labl.)

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.

Bilderräthsel.

Arithmetische Aufgabe.

Die in obiger Figur eingeschriebenen Zahlen sind so zu ordnen, daß die Summe der vier Zahlen, von einer Spitze zur andern addiert, immer „26“ ergiebt.

Hans von der Mürz.     

Räthsel.

Ein künstlich’ Dasein ist’s, ein eig’ner Schlag,
Wodurch die erste Silbe sich dir kündet.
Der Zweiten freust du dich so manchen Tag,
Da sie sich um dein Lieblingsplätzchen windet.
Und hast das Ganze glücklich du erlangt
Als kurzer Freiheit sich’res Unterpfand,
So nütz’ es, eh’s mit Erster abgelaufen.
Die Erste ist – das Ganze nicht – zu kaufen.


Buchstabenscherzräthsel.

Es ruft ins Leben mich zumeist,
Wer heiter ist und witzig,
Und jeder, der ins Ausland reist,
Führt ohne Kopf mich mit sich.


Logogriph.

Der Rache fürchterliche Schar
Wirst du in mir mit u gewahr.

Mit e begrüßt mich jederzeit
Der Schüler voller Freudigkeit.


Scherzräthsel.

Zum Silberbräut’gam sprach ich: „Sag’ mir, bitte,
Schuf Dir der Ehestand die Erste nimmer’?“
Doch lächelnd rief die Zweite er und Dritte,
„Wir lebten in dem schönsten Ganzen immer.“
 Oskar Leede.


Buchstabenräthsel. Aus den 3 großen und den 27 kleinen Buchstaben der Wörter „Kreis“, „Stil“, „Jagd“, „bauen“, „werfen“ und „zornig“ läßt sich die Anfangszeile eines Uhlandschen Gedichtes bilden. Wie lautet dieselbe? A. St.


Charade.

Die Erste ist, das glaube mir,
Der Zweiten liebste Speise,
Das Ganze, ein behendes Thier,
Singt auf besond’re Weise.


Auflösung des Bilderräthsels „Kotillonorden“ auf S. 484:
Ordnet man die Buchstaben arithmetisch nach der Anzahl der Perlen bei jedem Buchstaben, wobei erst die weißen und dann die schwarzen Perlen folgen, so erhält man die Worte:       a) In Amors 0 b) Fesseln.

Auflösung des Königsmarschs auf S. 484:

Willst die Welt du klar erschauen,
Schaue erst, was vor dir liegt,
Wie aus Stoffen und aus Kräften
Sich ein Ban zusammenfügt.

Laß die Starrheit des Gewordnen
Künden, was belebend treibt;
In dem Wechsel der Erscheinung
Ahne das, was ewig bleibt.

Aus dem Dunkel eignen Meinens
Nur entkeimt die frische Saat,
Im Nachdenken nur erschwingt sich
Menschcngeist zur Schöpferthat.   Victor von Scheffel.


Auflösung der Verwandlungsaufgabe auf S. 484:
Kupfer Kuppel Kurbel Wirbel Wiefel Riegel Sieger Silber.


Auflösung des Räthsels auf S. 484: 0 Treue – Reue.

Auflösung des Logogriphs auf S. 484: 0 Weiher – Reiher.

Auflösung des Homonyms auf S. 484: 0 Dietrich.

Auflösung des Versteckräthsels auf S. 484:
1. Unerschütterliche Gelassenheit. 2. Defreggers. 3. Fuchsin dient. 4. Lenormand. 5. Der Laubthaler.

Hegel, Egge, Indien, Norma, Erlau.
Heine – Lenau.


Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 484:
Leder, Leiter, Garde, Orkan, Borte, Weichsel, Miene, Orgel, Ruhm, Brauch, Meter, Arkas, Leid, Elisa, Band, Stiel, Garbe, Heber, Araber, Brion, Hamm, Seele, Gans.
Der Krieg hat kein Erbarmen. 
Schiller, Wallensteins Lager, 6. Auftritt.     
Auflösung der Skataufgabe Nr. 5 auf S. 484:
Der Spieler würde mit je D, Z, 9 und 8 in 2 Farben und mit 2 blanken Zehnen, zu welchen die Däuser im Skat liegen, also z. B. mit folgenden Karten:
eZ, r8, r9, rZ, rZ, rD, sD, sZ, s9, s8, gZ
gleichviel ob er in Vor-, Mittel- oder Hinterhand sitzt, jedes Spiel (also ohne 4 Matadore) gewinnen, wenn eD, gD im Skat liegt und die übrigen Karten so vertheilt sind:
rW, r7, e7, e8, e9, g9, g8, g7, s7, sW.
rO, rK, eK, eO, eW, gW, gO, gK, sK, sO.

Es ist nur zu bemerken, daß der Spieler im Tournée und Frage Trumpf-Daus und -Zehn drücken wird. Im Null macht der Gegner mit der letztgedachten (in der Aufgabe angegebenen) Karte alle Stiche. Im Ramsch fängt der letztere den Ramsch bei richtiger Spielführung und der andere Gegner würde Jungfer bleiben.




Professor Bock’s Kleine Gesundheitslehre. 0 Ein Volksbuch in neuer Bearbeitung.


In dem unterzeichneten Verlag ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

Kleine Gesundheitslehre.
Zum Kennenlernen, Gesunderhalten und Gesundmachen des Menschen.
Von Professor Dr. Karl Ernst Bock.0 Siebente Auflage, neu bearbeitet von Dr. Max von Zimmermann.
Preis in elegantem Ganzleinenband 1 Mark.

Eine kurze Anleitung zur Kenntniß des menschlichen Körpers und seiner Pflege im gesunden und kranken Zustand, wie sie „Bock’s Kleine Gesundheitslehre“ bietet, ist für Jedermann unentbehrlich, der auf die Erhaltung des ersten und wichtigsten Gutes, die Gesundheit, Werth legt.

„Bock’s Kleine Gesundheitslehre“ ist in den meisten Buchhandlungen zu haben. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, bestelle man unter Beifügung von 1 Mark und 20 Pf. (für Porto) in Briefmarken direkt bei der

Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. In neuerer Zeit ist eine lebhafte Bewegung im Gange, Masuren auch dem Touristenverkehr zu erschließen. Es hat sich eine „Gesellschaft zur Erleichterung des Personenverkehrs auf den masurischen Seen“ gebildet, die zunächst ein kurzes Schriftchen erscheinen ließ, „Wie bereist man das masurische Seengebiet“ (gedruckt bei J. van Riesen in Lötzen), und mit deren Unterstützung A. Hensel kürzlich einen ausführlicheren Wegweiser durch das Seengebiet von Masuren und seine Nachbarschaft veröffentlicht hat (Königsberg, Hartungsche Verlagsdruckerei). Auch Dr. K. E. Schmidt in Lötzen hat unter dem Titel „Von Masurens Seen“ historische und landschaftliche Schilderungen aus dieser Gegend herausgegeben (Wien, Hartleben). Den beidem letztgenannten Schriften sind auch zweckmäßige Spezialkarten beigefügt.
  2. Palfen = Felsen.
  3. Das „Scheibentreiben“, welches in früheren Jahrhunderten fast im ganzen Gebirge als beilige Sitte gepflogen wurde, hat sich in Garmisch bis in die Gegenwart erhalten. Die glühende, in den finsteren Abgrund versinkende Scheibe ist als Sinnbild des niedergehenden Sonnenrades zu deuten.
  4. Vergl. Halbheft 11 dieses Jahrgangs.