Polizei und Verbrecherthum in Berlin/Die Schlupfwinkel der Verbrecher

Textdaten
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Autor: Paul Lindenberg
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Titel: Die Schlupfwinkel der Verbrecher
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aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 365–368
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Reihe: Polizei und Verbrecherthum in Berlin
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Polizei und Verbrecherthum in Berlin.[1]

Von Paul Lindenberg. Mit Abbildungen von L. Manzel.
Die Schlupfwinkel der Verbrecher.

Die millionenbevölkerte Großstadt mit ihrem Gewirr und Getriebe erleichtert das Verbrechen und erschwert die Entdeckung. So umfangreich und ausgedehnt auch die Einrichtungen der Berliner Polizei sind, die jeden Einwohner mit den nöthigsten biographischen Notizen in ihren Personalakten verzeichnet hat, so genau die An- und Abmeldungen Zu- und Fortziehender seitens der einzelnen Polizeibureaus verfolgt werden, so sorgfältig auch die Kontrolle der unter Polizeiaufsicht stehenden Personen geführt und die Kriminalpolizei durch ihre Vigilanten über den zeitweiligen Aufenthalt bestimmter Verbrecher auf dem Laufenden erhalten wird – die Weltstadt ermöglicht es doch dem einzelnen, in ihrem Menschenstrudel auf kürzere oder längere Zeit zu verschwinden und, falls nicht Zufall oder Verrath dies verhindern, erst wieder an die Oberfläche des öffentlichen Lebens emporzutauchen wenn eine Entdeckung nicht mehr zu befürchten ist.

Betrachten wir die Schlupfwinkel der Verbrecher, so müssen wir in erster Linie des Schlafstellenwesens (richtiger: -unwesens) gedenken, welches in Berlin besonders stark ausgeprägt ist und die schlimmsten sittlichen Schäden in sich birgt. Die Höhe der Berliner Miethpreise zwingt Tausende und Abertausende von Familien, um die Miethe überhaupt aufbringen zu können, noch aus ihrer Wohnung Kapital zu schlagen, indem sie deren Räume zum Theil als Schlafstellen vermiethen und sogenannte „Schlafburschen“ oder „Schlafmädchen“ bei sich aufnehmen. Diese gehören größtentheils dem Stande der Fabrikarbeiter an, aber auch die gering besoldeten Angestellten anderer Berufszweige, wie kaufmännischer Geschäfte, der Eisenbahn und Post, der Pferdebahnen etc., gesellen sich ihnen zu und lassen die Zahl dieser Schlafstellen-Inhaber auf viele Tausende anschwellen. Die Vermiether kümmern sich wenig oder gar nicht um ihre Schlafburschen; die Persönlichkeit derselben ist ihnen gleichgültig, sie sind zufrieden, wenn die Miethe pünktlich bezahlt wird, und haben keine Veranlassung und kein Interesse, sich um Herkunft, Vorleben oder gegenwärtige Beschäftigung ihrer Miether zu sorgen, wie sie es auch nicht so streng mit deren polizeilicher Anmeldung nehmen und unter Umständen von einer solchen gänzlich absehen.

Bei „Mutter Grün.“

Bei derartigen Schlafstellenvermiethern finden die Verbrecher, von deren Thätigkeit jene selbstverständlich nichts wissen, jederzeit Unterschlupf und können sich so wochen- und monatelang den Augen der Polizei entziehen; der Vermiether oder, da dieser ja auch stets in irgend einem Arbeitsverhältniß steht, dessen Frau läßt den angeblich „arbeitslosen“ Schlafstellenbesitzer, falls er eine Kleinigkeit bezahlt oder sich im Haushalt nützlich macht, gern auch während des Tages in der Wohnung; die Anmeldung bei der Polizei ist auf seinen Wunsch unterblieben, da er vorgiebt, irgend eine kleine Ordnungsstrafe wegen Lärmens, Betrunkenheit oder einer Prügelei bezahlen zu müssen und dazu nicht in der Lage zu sein; sein Kommen und Gehen wird in diesen verkehrsreichen Häusern, unter denen einzelne Hunderte von Bewohnern zählen, von niemand kontrolliert, wie es auch keinem einfällt, nachzuforschen, woher er das Geld zum Leben nimmt, oder, wenn er fortbleibt, wo er die Tage und Nächte zubringt – genug, er ist für die Behörden plötzlich verschwunden.

Einen willkommenen, wenn auch nie ganz sicheren Unterschlupf bieten ferner die „Pennen“, die über ganz Berlin verstreut sind, Herbergen der niedrigsten Art, welche während der Nacht die Aermsten der Armen und die Verworfensten der Verworfenen bei sich aufnehmen. In niedrigen, vor Unsauberkeit starrenden Zimmern, in elenden Kellerlöchern, in verfallenen Schuppen und einstigen Ställen wird den darum Bittenden das Nachtlager angewiesen, dessen Preis von fünf Pfennig bis auf dreißig Pfennig steigt. Und wie ist dieses Nachtlager beschaffen! Zerrissene Säcke, halbverfaulte Strohschichten, zerbrochene Pferdekrippen, Stühle, Bänke und Tische, sehr oft die bloße Erde. Ohne sich zu entkleiden, ohne etwas zum Zudecken zu haben, schlafen hier eng zusammengedrängt jene, die für ihr müdes Haupt kein anderes Obdach erschwingen können oder – wollen, Drehorgler und Hausierer, Lumpensammler und beschäftigungslose Arbeiter, herabgekommene Handwerker und einstige Kaufleute, eine buntgemischte Gesellschaft, von der sich mancher nicht hat träumen lassen, daß er dereinst auf solchem Lager seine Ruhe werde suchen müssen!

Eine Penne.

Sind diese Pennen im Winter gewöhnlich überfüllt, so stehen sie im Sommer häufig leer, denn ihre Stammgäste ziehen dann ein Quartier bei „Mutter Grün“ vor oder wählen sich ein anderes nächtliches Heim. Die Auswahl ist ja groß, und der Obdachlose greift ohne Bedenken zu! Ganz gern läßt er sich in einem Neubau nieder, den er oft auf gefährlichem Leiterwege erklimmen muß, auch Böden und Dächer in bewohnten Häusern werden aufgesucht, nicht minder beliebt sind Eisenbahnwagen, dann Scheunen und Ställe, Droschken, Omnibusse und Möbelwagen. Letztere erfreuen sich einer besonderen Werthschätzung, sie sind geräumig, enthalten fast immer alte Decken, bleiben, wenn nicht gerade Umzugszeit ist, monatelang unberührt auf demselben Fleck stehen und können gleich eine ganze Anzahl von Pennbrüdern und Strolchen aufnehmen, denn auch diese ziehen Gesellschaftslager dem Einzelquartier vor. Durch einen Zufall entdeckte man einmal in einem solchen Möbelwagen, der auf einem etwas entlegenen Gehöft stand, ein ganzes Nest von Herumtreibern. Ein Kriminalschutzmann patrouillierte zu später Abendstunde eine der einsamen, [366] neuen Straßen im Norden Berlins ab und vernahm hinter einem Zaune Stimmen. Er kletterte hinauf, konnte jedoch niemand bemerken, sah dafür aber aus einem Möbelwagen durch einen Ritz Licht schimmern und vernahm auch von dort verhaltenes Sprechen. Nachdem er zur Unterstützung einige Bewohner des Hauses herbeigeholt hatte, ging man an eine Untersuchung des Möbelwagens: behutsam hob mab das an der Rückwand angebrachte Plantuch hoch, und siehe da – nicht weniger als zwölf Bummler hatten es sich im Innern des Wagens sehr bequem gemacht und spielten bei dem Schein einer Lampe in höchster Gemüthlichkeit Karten. Brot, Wurst-, Schinken- und Speckreste ließen auf ein reichliches Abendbrot schließen, und aus anderen Anzeichen ging hervor, daß die Herren, unter denen sich mehrere von der Polizei seit langem gesuchte Individnen befanden, hier schon Wochen hindurch behagtich gelebt hatten. So gut treffen es nun nicht alle Obdachlosen und Flüchtigen, man fand und findet sie auch in Müllgruben und in den Fässern der Brauereien, in Wasser- und Abflußrohren, in leeren Kisten und selbst in Dampfkesseln, die wegen eines folgenden Feiertages nicht geheizt werden! Groß ist sodann die Auswahl bei „Mutter Grün“: da giebt’s Bänke und Lauben im Thiergarten und Friedrichshain, stille Plätzchen unter dichten Gebüschen und unter zusammengekehrten Laubhaufen; mit Vorliebe aufgesucht werden die Stellen unter Brücken und Stadtbahnbögen, und Verbrecher, die bei einer nächtlichen polizeilichen Razzia nicht ergriffen werden wollen, scheuen auch nicht vor einem Nachtlager auf dem Ast eines Baumes zurück.

Andere gelegentliche Schlupfwinkel bilden die Herbergen zur Hemath und die Asyle für Obdachlose, obgleich hier meist nach Legitimationspapieren geforscht wird – aber wie leicht kann sich ein Verbrecher falsche verschaffen, sei es, daß er sie stiehlt, sei es, daß er sie von guten Bekannten, auf welche die Polizei noch nicht aufmerksam ist, entlehnt. Die Herbergen zur Heimath, von denen es gegenwärtig vier in Berlin giebt, sind ebenso wie die Asyle Wohlthätigkeitsanstalten und wurden von dem „Evangelischen Verein für kirchliche Zwecke“ errichtet, in der Absicht, zuziehenden mittellosen Handwerkern, Kaufleuten, Arbeitern etc. ein billiges, sauberes Quartier zu schaffen und sie durch die Aufnahme vor den sittlichen Gefahren der Großstadt zu bewahren. So edel und anerkennenswerth das Bestreben ist, so ist es doch unmöglich, nur unbescholtenen Leuten Einlaß zu gewähren und mehrere vielgenannte Kriminalprozesse haben bewiesen, daß sich gefährliche Verbrecher gerade in jenen christlichen Herbergen am sichersten wähnten, dort sich durch Tausch und Verkauf verdächtiger Gegenstände entledigten und Gefährten für ihre dunklen Thaten unter den daselbst Wohnenden zu gewinnen suchten und auch fanden.

Ein Schlafsaal im „Asyl für Obdachlose“.

Diese Thatsache enthält keinen Vorwurf gegen die Verwaltung, die an sich musterhaft ist und die wärmste Unterstützung verdient; sie bildet nur einen neuen Beweis dafür, daß in dem wechselvollen Trubel des Berliner Lebens auch der unschuldigste in persönliche Berührung mit Angehörigen des Verbrecherthums gerathen kann, sei es in den Herbergen, sei es in einem vielbesuchten Hotel, in einem eleganten Wiener Café, in einem vornehmen Restaurant, in einem Vergnügungslokal oder in einem Volks-Café.

Von Asylen giebt es zwei in Berlin, das aus privaten Mitteln gegründete und erhaltene „Asyl für Obdachlose“ in der Büschingstraße und das auf städtische Kosten erbaute „Städtische Obdach“ an der Prenzlauer Allee. Ersteres macht seinem Namen insofern besondere Ehre, als es von den Einlaßbegehrenden keinerlei Personalausweise verlangt und die Polizei, ohne besondere Erlaubniß der Verwaltung, seine Schwelle nicht übertreten darf. Letzteres fordert für die Aufnahme eine Legitimation und steht auch sonst zur Polizei in näheren Beziehungen, indem man ihr hier solche Personen, die öfter als fünfmal im Monat Unterkunft verlangen, als arbeitsscheu übergiebt. Beide Asyle werden zahlreich besucht; stundenlang vor ihrer Eröffnung drängt sich eine dichtgescharte Menge vor ihren Thüren, und neben den fragwürdigsten Erscheinungen, welchen man die Verwobenheit und eine lange Gefängnißstrafe schon von fern ansieht, trifft man auch solche, deren ganzes Wesen errathen läßt, daß sie durch Unglück, verschuldetes oder unverschuldetes, allmählich tiefer und tiefer gesunken sind und noch voll verzehrender Sehnsncht jener Tage gedenken, wo es ihnen besser ergangen ist, wo sie nicht geahnt, daß sie einst im Verein mit Bettlern und Strolchen hier um Obdach stehen würden. Auch diese Asyle mögen wiederholt schuldbeladene Verbrecher auf kurze Zeit den verfolgenden Blicken der Polizei entziehen, aber wer möchte deshalb gegen sie sprechen und ihnen daraus einen Vorwurf machen! Tausende und Abertausende Bedrängter und Bedrückter haben sie vor der Verzweiflung gerettet, indem sie ihnen, ohne einen Pfennig Entgelt zu nehmen, menschenwürdige Aufnahme gewährten, indem sie dieselben mit Trank und Speise erquickten und den erschlafften Körper durch ein Bad stärkten, indem sie vor allem aber bei diesen Tausenden von Unglücklichen das Bewußtsein erweckten, daß sie in der Millionenstadt nicht ganz verloren seien. [2]

Haben wir in Vorstehendem die nächtlichen, zu Wohnungszwecken dienenden Schlupfwinkel der Verbrecher angeführt, so erübrigt es uns noch, ihre anderen Aufenthalts- und Versammlungsorte zu betrachten. Ueber diese bestehen im Publikum die seltsamsten Vermuthungen, und der Phantasie wird hier der freieste Spielraum gelassen in dem Erdenken und in der Ausmalung der geheimnißvollsten, von allen Schauern des unheimlichen umgebenen Oertlichkeiten, aus denen die übrigen Sterblichen, falls sie auf irgend eine Weise überhaupt hineingelangt sind, nur mit Gefahr ihres Lebens wieder herauskommen. Nichts falscher als das! Das moderne Berlin kennt nichts von unterirdischen Verstecken, von Höhlen und Fallthüren, von nur auf Schleichwegen zu erreichenden Zufluchtsorten, wo die gestohlenen Schätze verborgen liegen und neue verbrecherische Pläne ausgebrütet werden, von Diebsspelunken mit Doppelwänden, zwischen denen sich die Verfolgten verbergen können, und mit räthselhaften Schränken, deren Rückwände auf versteckte Gänge führen, die eine schleunige Flucht ermöglichen, wie es in früheren Kriminalgeschichten so anschaulich beschrieben wurde. Nein, der „moderne“ Verbrecher fühlt sich, wenn er sich nicht selbst aus bestimmten Gründen vor der Polizei verbergen will und seine Kleidung eine anständige ist, nirgends sicherer und ungenierter, als an jenen Orten, wo der harmloseste Verkehr herrscht, und am bezeichnendsten hierfür ist es, daß sich neuerdings ganze Verbrechercliquen zu ihren Zusammenkünften Volks-Cafés erwählt haben und sich dort in den Vormittagsstunden zu ihren „Berathungen“ versammeln.

Aber auch an anderen Orten können wir sie finden, im [367] Café Bauer ebenso gut wie in einem lebhaften Bräu der Friedrichstraße, in einem einfachen Weißbierrestaurant wie in dem stark besuchten Rathhauskeller, in dem lauten Menscheugewirr der Passage wie in den stillen Sälen eines Museums. Daneben bevorzugen allerdings viele von ihnen, sei es aus Gewohnheit, sei es, um ungestörter mit den Gefährten zusammen zu sein, gewisse Nachtcafés in den vom Centrum entfernter gelegenen Stadttheilen; mit einer schäbigen Eleganz eingerichtet, mit Wiener Kellnerbedienung und einem Berliner robusten Hausknecht, der, wenn nöthig – und das ist oft der Fall – persönlich eingreift, um Lärmmacher an die frische Luft zu befördern, zeigen diese Cafés uns zu später nächtlicher Stunde die zweifelhaftesten Besucher und geben oft den Hintergrund ab zu den widerwärtigsten Scenen. Falschspieler, Bauernfänger, Taschen- und Ladendiebe, allerhand andere Gauner und Betrüger trifft man besonders häufig an, und der Polizei ist hier schon mancher gute Fang gelungen.

Im Asyl: Ankunft der Obdachsuchenden und Austheilung der Abendsuppe.

Noch eine Stufe tiefer stehen die sogenannen „Verbrecherlokale“; wir betonen absichtlich das „sogenannt“, denn eigentliche Verbrecherlokale, mit anderen Worten Gaststätten, wo ausschließlich Verbrecher verkehren, giebt es nur noch wenige in Berlin, und auch jene „sogenannten“ sind mehr und mehr aus den kurz vorher erwähnten Gründen im Abnehmen begriffen, so daß sich ihre Gesammtzahl auf etwa dreißig belaufen wird, während sie noch vor wenigen Jahren das Doppelte und mehr betrug. Fast immer liegen diese Lokale im Keller, hin und wieder auch zu ebener Erde, damit nöthigenfalls die Flucht beim Nahen der Polizeimannschaften nicht mit Schwierigkeiten verbunden ist; aus dem nämlichen Grunde besitzt ein Theil derselben, und zwar gewöhnlich diejenigen, die sich in einem Eckhause befinden, zwei vordere Eingänge von zwei verschiedenen Straßen aus, so daß der Unbetheiligte keine Ahnung von ihrem Zusammenhange hat. Auch sonst lieben diese Lokale es nicht, die besondere Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich zu ziehen, selten zeigen sie ein Schild und eine Laterne und selten dringt ein verstohlener Lichtschimmer hinter den dunklen Vorhängen der kaum über den Erdboden hinwegragenden Fenster und aus der auf steiler schmaler Treppe zu erreichenden, tief gelegenen Thür hervor. Ein „Unberufener“ wird sich daher schwerlich in diese Schankstätten verirren und die „Berufenen“ kennen den Weg sehr wohl, ebenso wie sie den Wirthen und Gästen hinlänglich bekannt sind. All diese Lokale ähneln sich untereinander: ein langer, niedriger, dumpfer Raum, trübe beleuchtet durch matt brennende Gasflammen oder Petroleumlampen, an den kahlen Wänden eine schmutzige, vielfach zerrissene Tapete, oft auch nur ein zerbröckelnder, in den räthselhaftesten Farben schimmernder Anstrich, in der Mitte oder in einer Ecke ein fadenscheiniges Billard, dann einige Dutzend wackelige Stühle und kleine Tische – das ist alles. Der Schankraum befindet sich gewöhnlich abgesondert in einem Gemach, in welches man zunächst von der Treppe aus eintritt; hier schaltet hinter dem mit gekochten Eiern, Würsten, Schinken, kalten „Klöpsen“, mit verschiedenen, unter einer Glasglocke aufbewahrten Käsesorten, sowie mit Butter und Brot besetzten „Buffet“ der behäbige, mit blauer Arbeitsschürze versehene Wirth, der je nachdem pfiffig, dumm, grob, freundlich, harmlos, durchtrieben, herrisch, unterthänig aussehen kann, ganz wie es die Sachlage verlangt. Mit seinen Gästen steht er auf vertrautem Fuß, trotzdem er viele nur mit ihren Spitznamen kennt – desto besser weiß er freilich ihre „Beschäftigung“, was sie außerhalb seiner vier Wände thun und treiben, kümmert ihn nichts, falls er nicht, was selten geschieht, mit ihnen unter einer Decke steckt und wohl gar den Hehler für die gestohlenen Waren abgiebt; er ist mit Umsicht und Bereitwilligkeit auf ihre leibliche Pflege bedacht, allerdings auch nur gegen baare Bezahlung, denn vom Borgen ist er kein Freund und kündigt dies deutlich durch allerhand recht verständliche Plakate an.

Die Gesellschaft in diesen Lokalen ist bunt zusammengewürfelt und besteht größtentheils aus vorbestraften Personen; aber selbst ihnen wohnt ein gewisser Corpsgeist inne und sie sondern sich wieder in einzelne engere Kreise ab, die streng zusammenhalten und sich in bestimmten Lokalen treffen, um in mündlichem Austausche von früheren gemeinsamen Thaten zu plaudern und neue zu verabreden. Wie die Mienen der „Stammäste“ dieser Restaurants, so weisen auch ihre Kleidungen die mannigfachsten Abstufungen auf, von dem mit auffälliger Eleganz gekleideten Falschspieler und Bauernfänger an bis zu dem strolchenhaft ausehenden Bodendieb, dessen Kostüm aus den verschiedensten gestohlenen Sachen zusammengesetzt ist und eine wahre Musterkarte von Geschmacklosigkeit bildet. Die Unterhaltung wird in reinstem „Berlinisch“ geführt, vermischt mit den zahllosen Ausdrücken der Verbrechersprache, so daß ein Uneingeweihter einen vollständig fremden Dialekt zu hören vermeint.

Die Kriminalpolizei kennt natürlich all diese Lokale ganz genau, hat aber keine Veranlassung, sie aufzuheben, da sie ja das Ergreifen gesuchter Verbrecher erleichtern. Je nach Bedarf werden wöchentlich oder monatlich ein oder mehrere Male Razzias durch diese Kneipen unternommen. Eine Anzahl Kriminalbeamter, acht, zehn, fünfzehn, zwanzig, trifft sich zu abendlicher Stunde an einem bestimmten vom regsten Verkehr etwas abgelegenen Punkte Berlins, und der leitende Wachtmeister oder Kommissar ertheilt die erforderlichen Anweisungen, die sich auf Umstellung der zu durchsuchenden Lokale, auf die Persönlichkeiten der zu verhaftenden Verbrecher, auf Signalements zugereister Schwindler etc. beziehen; selbst bei diesen nächtlichen Fahrten verschmähen häufig die Kriminalbeamten die Mitnahme eines Revolvers und verlassen sich ganz auf ihre Körperkraft und den stets mitgeführten, zuweilen bleiausgegossenen Stock. In kleineren Trupps begiebt sich die Schar, der man nicht das geringste Auffällige anmerkt, nach den einzelnen Lokalen, deren Ein- und Ausgänge, auch die nach dem Hofe zugehenden, besetzt werden. Dann erst betreten mehrere Beamte das Innere. Ihr Erscheinen, selbst in den überfülltesten Lokalen, erregt nie größeren Aufruhr; dieser und jener, dessen Gewissen nicht ganz frei ist, erblaßt wohl im ersten Augenblick, faßt sich aber schnell wieder und nimmt ein möglichst gleichgültiges Wesen an, die übrigen lassen sich kaum in ihrer nur etwas gedämpfter als vorher geführten Unterhaltung, in ihrem Trinken und Kartenspielen stören, sie begrüßen in aller Gemüthlichkeit die ihnen persönlich bekannten Beamten, und auch letztere treten diesen „guten Freunden“, denen sie schon manches Jahr stiller Zurückgezogenheit hinter Gefängnißmauern verschafft haben, keineswegs streng dienstlich [368] gegenüber, sondern plaudern mit ihnen in zwangloser Weise und erfahren dabei manches Wissenswerthe.

Um jedoch „Ungewißheiten“ zu vermeiden, erklärt der leitende Beamte mit lauter Stimme: „Wir sind Kriminalpolizisten! Alles hat sich zu legitimieren! Wer keine Legitimation hat, tritt bei Seite und folgt zur Wache!“ Sofort ziehen die Anwesenden ihre Papiere heraus, falls sie im Besitze solcher sind, und weisen sie vor, oft mit spöttischen oder witzigen Bemerkungen; der eine und andere von ihnen wird trotzdem visitiert; trifft man auf einen der gesuchten Verbrecher, so wird er selbstverständlich sogleich verhaftet und mit den Nichtlegitimierten nach der nächsten Revierwache geführt. Zu den größten Seltenheiten gehört es, daß bei diesen Razzias Widerstand geleistet wird; die Anwesenden wissen, daß das Lokal umstellt ist, daß ein Pfiff dreifache Hilfe herbeiruft und daß sie ihre Sache durch Widersetzlichkeit nur bedeutend verschlimmern.

Razzia in einem Verbrecherlokal.

Der gefundene Verbrecher wird mit dem nächsten „Grünen Wagen“ von der Revierwache nach dem Polizeiamt am Alexanderplatz gebracht und dort verhört. Dasselbe Schicksal trifft jene Legitimationslosen, die keine feste Arbeitsstelle nachweisen können und nicht polizeilich angemeldet sind; hierüber und ob ihre Aussagen der Wahrheit entsprechen, giebt der Telegraph binnen kurzem Auskunft. Kommt aus dem Revier, in welchem der Betreffende wohnen will, die Nachricht, daß er dort angemeldet ist und nichts gegen ihn vorliegt, so wird er sogleich entlassen, im entgegengesetzten Fall erhält er wegen Versäumens der polizeilichen Anmeldung beziehungsweise wegen Arbeitsscheu seine Strafe. Da die Kriminalbeamten nicht das Signalement aller gesuchten Verbrecher im Kopf behalten können, so liegt ein alphabetisch geordnetes, genau ins einzelne gehendes Verzeichniß derselben in jeder Polizeiwache auf, und man kann auf diese Weise leicht gleich dort ermitteln, ob sich unter den Verhafteten ein bestimmter Gesuchter befindet. Ist dies der Fall, so kann er der Freiheit auf längere Zeit Lebewohl sagen; alle Schlupfwinkel der Weltstadt helfen ihm nichts mehr, und bald nimmt ihn eine enge Zelle, zunächst die der Untersuchungshaft, dann die des Gefängnisses oder Zuchthauses auf.



  1. Vergl. „Gartenlaube“ 1891, Halbheft 8, 15, 22 und 26.
  2. Lassen wir Zahlen sprechen: das private Asyl für Obdachlose wurde allein im Jahre 1890 in 123519 Fällen in Anspruch genommen, darunter in 108072 von Männern und in 15447 von Frauen, Mädchen und Kindern; der nächtliche Durchschnittsbesuch bezifferte sich auf etwa 340. Seit seinem Bestehen, 1870, hat dieses private Asyl in 2209714 Fällen Obdach gewährt. Die musterhafte Verwaltung plant eine bedeutende Vergrößerung, damit die doppelte Zahl Obdachloser Aufnahme finden kann. Möchten hierzu die Mittel recht reichlich fließen! Zuwendungen nimmt der Vorsitzende des Verwaltungsrathes, Herr Gustav Thölde in Berlin, Zimmerstraße 95, entgegen.