Die Gartenlaube (1891)/Heft 32
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Nr. 32. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Alle Rechte vorbehalten.
Baronin Müller.
(5. Fortsetzung.)
Als der Schreiber Franz hinausgeführt worden war, blieb Tannhauser einen Augenblick nachsinnend stehen, dann fuhr er, zu dem regungslosen Vitus gewendet, in seinem Redestrom fort: „Mir ist bloß eins noch nicht klar: wann verließ ‚Pfannen Gide’ die Burg und warum schleppte er die eiserne Kasse mit weg, statt sie gleich zu leeren?“
Er klingelte; Strobel trat ein und fragte demüthig: „Sie befehlen?“
„Sie! Ich erwarte ein Bekenntniß Ihrer gestrigen Fahrlässigkeit.“
Ach, die neuen Besen! dachte der Amtsdiener, die neuen Besen! Er bekannte sich ohne Umschweife schuldig, schuldig der Uebertretung der Hausregeln. Allein die Hitze war so groß und sein Durst „enorm“. Auch habe er vorschriftsmäßig die Riegel vorgeschoben.
„Auch das Schloß zugesperrt?“
Strobel sah Vitus Müller an. Nun stellte sich heraus, daß aus Sparsamkeitsgründen nur ein Thorschlüssel vorhanden war, der sich im Besitze des Richters befand. Wenn Vitus den Abend auswärts verbrachte, schloß er das Thor ab, und dann wurden die Riegel vorgelegt; blieb die Familie zu Hause, so begnügte man sich mit der Sicherung durch die Riegel, welche Strobel um neun Uhr vorzuschieben hatte.
„Auch ich bin für Sparsamkeit,“ sprach der Nachfolger mit der Würde eines Ministers, „aber man darf einer kleinen Ersparniß nicht jede Vorsicht opfern.“
„Ich bitte Sie, Herr Amtsrichter,“ fiel der Alte ein, „die Riegel sind auch allein so fest, daß kein Riese sie sprengt. Indessen die Festung hat schwache Punkte. Da ist die Hinterthür mit einem Schloß, das der jüngste Gauner mittels eines Nagels öffnet. Hier oben sind die Schlösser gut, allein das Holzwerk taugt nichts.“
„Um so sträflicher ist Ihr heimlicher Ausgang!“
„Herr Amtsrichter, angenommen, ich wäre gestern daheim gewesen: entweder hätte ich geschlafen, dann mögen Sie mit Kanonen schießen, mich wecken Sie nicht; oder ich wäre wach gewesen, dann hätte ich vor der himmlischen Kanonade nichts gehört.“
„Beweis, daß Sie den Pflichten eines Hauswarts nicht mehr gewachsen sind. Wo waren Sie und wann kamen Sie heim?“
„Ich war in der Braustube im Schloßkeller und gönnte mir nach des Tages Hitze ein Glas Bier. Eben will ich aufbrechen, da geht das Donnerwetter los. ‚Warte ab!’ sagen alle. Ich warte ab und warte ab, aber das nimmt kein Ende. Wie der Himmel schließlich Ruhe giebt, geht das Getute und Trommeln der Feuerwehr los. Ich weiß nicht mehr, wer fragen ging – es sei wegen des Hochwassers, hieß es. An den Aufstieg in dieser nassen Finsterniß war nicht mehr zu denken; ich wollte jedoch die Burg wenigstens in der Nähe haben, und so bat ich um eine Nothmaß
[534] und um Nachtherberge in der Braustube. Das viele und wegen des Wetters laute Sprechen hatte mich müde gemacht, ich schlief bis in den hellen Tag hinein.“
„Wie lange?“
„Bis sieben,“ versetzte Strobel kleinlaut. „Der Hausknecht vergaß, mich zu wecken. Ueber glatte Steine und Windbruch arbeitete ich mich mühsam den Schloßberg herauf. Daß ich am Lugaus die Thür offen fand, machte mich nicht lange unruhig; die Frau Baronin oder Fräulein Verena konnte im Garten gewesen sein. Da komme ich in den Hof und lasse die Augen umhergehen. Teufel! Die Thür zum Amtsgericht ist ja sperrangelweit auf! Sollte der neue Herr Amtsrichter schon droben sein? Ich laufe Sturm, und da sehe ich die Bescherung. Alle Kasten und Schubladen erbrochen, die Schriften – Herr Amtsrichter, ich bitte“ – er zeigte auf den Wirrwarr ringsum.
„Und von dem Thäter entdeckten Sie keine Spur?“
„Nein, er hat nicht auf mich gewartet, Herr Amtsrichter. Allein meine unmaßgebliche Meinung ist, daß er sich über den Lugaus davon gemacht hat, dem Schloßkeller zu.“
„Ist der ‚Pfannen-Gide‘ mit den Oertlichkeiten des Schloßkellers vertraut?“
„Wie mit dem Rabenbier!“
„Glauben Sie, daß ihn die Hunde kennen?“
„Er kennt alle Hunde. Bürgermeister Zappel drohte ihm einmal beim Betteln mit seinem Sultan. Da zieht der Lumpazi eine Zehnguldennote aus der Tasche und sagt: ‚Ich wette einen Zehner, Ihr Sultan thut mir nichts.‘“
„Ein frecher Mensch!“ knurrte der Amtsschreiber, aber es klang wie höchste Bewunderung.
„Es ist klar,“ rief Tannhauser, „der Einbrecher entwischte über den Steig durch den Schloßkeller. Aber warum mit der Kasse? Doch vielleicht ließ ihm das Wetter keine Muße zum Oeffnen, irgendwelche Umstände verhinderten ihn an der Ueberfahrt, und als er endlich heute früh dazu kam, die Kasse aufzusprengen, wurde er von dem Lieutenant überrascht. So war der Verlauf. Was meinen Sie, Herr Kollege?“
„Ich werde die Werthe unter allen Umständen ersetzen.“
„Dazu sind Sie nicht verpflichtet. Uebrigens erlangen wir heute noch das Gestohlene. Das Hochwasser treibt den Flüchtling den Gendarmen in die Arme. Stellen Sie sich die Auen im gegenwärtigen Zustande vor. Er kann dort nicht bleiben, und geht er heraus, so haben wir ihn.“
„Wie dem auch sei,“ sagte Vitus ungeduldig und schlug mit der Hand aufs Knie, „ich komme für den Schaden auf!“
„Halten Sie das, wie Sie wollen! Ich würde es nicht thun. Auch ist der Schadenersatz Ihrerseits kaum zulässig.“
„Oho!“
„Nicht zulässig! Indessen, mich und meine Zeit nimmt die Pflicht in Anspruch. Mit Ihrer werthen Erlaubniß werde ich nun Ihre verehrliche Familie und das Gesinde vernehmen.“
Vitus zitterte vor diesem Verhör, aber er fühlte doch eine gewisse Erleichterung, als er bemerkte, daß Tannhauser nicht mehr der Schneidige von heute nacht war. Der neue Amtsrichter spürte jetzt die Anstrengungen, die hinter ihm lagen; bald war ihm heiß, bald kalt, und alle Zähne thaten ihm weh.
Beim Eintritt Idas erhob ihr Gatte zum ersten Male die Augen. Obwohl er die Brille abgenommen hatte, blickte er fest und stet und zwang Ida, ihn anzusehen; so lange sie sprach, ruhten ihre Blicke ineinander.
Die Richterin gab der Wahrheit gemäß zu Protokoll, daß sie den ganzen Abend zu Hause gewesen sei, bis gegen Morgen gewacht, aber nur Wind und Wetter gehört habe. Allerdings habe es geklungen, als fegten tausend Hexen durch die Gänge, allein so sei es bei jedem Sturm.
Verenas Aussage lautete ähnlich. Sie sei erst am Morgen durch die Mägde von dem Einbruch verständigt worden, und Strobel habe vorhin noch hinzugefügt, daß ihr Verlobter den Dieb unterwegs überrascht hätte. Helmuth sei doch hoffentlich ohne Unfall weggekommen?
„Ihr Bräutigam ist heil und gesund!“ erwiderte Tannhauser, trotz aller Hoheit unter dem Zauber der schönen Augen. „Er läßt die Baronesse grüßen und wird bald drüben sein. weshalb ich die Damen nicht länger stören will.“ –
Die Köchin faßte die Frage, ob sie zuweilen nach Thorschluß noch ausgehe, als Beleidigung auf. Sie gehe überhaupt außer auf den Markt und zur Kirche niemals aus.
„Niemals?“ fragte Tannhauser spöttisch. „Und doch wurden Sie am Pfingstsonntag nach elf Uhr mit einem jungen Mann im Schloßkeller gesehen!“
Diese Allwissenheit mußte auch die Unschuld verwirren. „Das war mein Vetter, der Schullehrer von Jöching,“ gestand sie verschämt, „und die Gnädige –“
„Wie war’s gestern?“
Gestern war sie beim Ausbruch des Gewitters schon zu Bett. Sie sprach laut ein Gebet nach dem andern und entschlief glücklich, etwa während des vierten. Täglich um sechs Uhr klopft Strobel an ihre Thür, bis sie aufwacht. Heute klopfte er nicht und so habe sie „richtig“ die Zeit verschlafen.
Tannhauser sah die brave Köchin mit einem Blicke an, als wenn er mit Ueberwindung tausend Zweifel an ihrer außerordentlichen Biederkeit in seinen Busen zurückdränge, und entließ sie. Die Kleine mit der großen Schürze, die ihrer Küchengebieterin folgte, wußte vollends nichts auszusagen. Aengstlich stammelte sie, daß sie vor Gewittern große Furcht hege und sich deshalb nach dem Schlafengehen beide Ohren mit den Kissen zugehalten habe. So sei es ihr unmöglich gewesen, etwas zu vernehmen, und bald müsse sie nicht mehr gewacht haben. Es habe ihr dann allerdings viel Merkwürdiges geträumt, erst von einem Festessen, das die Frau Baronin ganz allein gekocht habe, nachher von –“
„Schon gut!“ unterbrach sie Tannhauser ungeduldig. „Du kannst gehen, wir wissen genug.“
Da zunächst weitere Anhaltspunkte in der Sache nicht zu gewinnen waren, ersuchte der neue Amtsrichter seinen Vorgänger um Uebergabe der Bücher. Vitus kam stillschweigend der Aufforderung nach. Alles mar in guter Ordnung. Aus dem Vorzimmer hörte man unterdessen ein Aus und Ein, ein Räuspern und Wispern: Parteien warteten, Rechtsanwalt und Notar erschienen. Die laufenden Geschäfte nahmen beide Richter vollauf in Anspruch, es war Mittag, ehe sie sich dessen versahen. Tannhauser beantragte den Schluß der Verhandlungen.
„Ich werde heute noch Herrn Haspinger schreiben,“ sprach er, „daß er den Antritt seiner neuen Stellung beschleunigt. Mir ahnt eine schwere Krankheit, Nervenfieber und so weiter. Ich habe mich heute nacht in diesem Unwetter verdorben, in meinen Zähnen tobt’s wie in einem Vulkan.“
Strobel brachte ihm Hut und Stock; Tannhauser holte die schwarzseidene Binde aus der Tasche und legte sie wehmüthig um.
„Strobel!“
„Herr Amtsrichter?“
„Ich habe einen Auftrag für Sie, warten Sie unten! – Was ich noch sagen wollte, Herr Kollege. machen wir die Nummern der Werthpapiere erst heute abend bekannt! Eine Gefahr, daß der Flüchtling die Scheine an den Mann bringt, besteht nicht, im Gegentheil ist seine Festnahme sicher. Zu weit westlich verschlagen, hat er die Ueberfahrt bei Nacht verpaßt, und wer jetzt über den Fluß wollte, der hätte hüben und drüben Zuschauer. Der Gauner muß also auf unserer Uferseite bleiben, und da sind ihm die Gendarmen sicher schon auf den Fersen. Warten wir also! Wenn wir die Werthe ohne Ausschreiben wiederbekommen, steht die Klugheit der Justiz in ihrer ganzen Größe vor den Leuten. Deshalb meine ich, wir unterlassen vorläuflg die Bekanntmachung.“
„Wie Sie meinen, jedenfalls fühle ich mich zum Ersatz verpflichtet, wenn die gestohlene Summe nicht mehr beigebracht werden kann.“
„Zum Ersatz verpflichtet? Das sind Sie nicht, wie ich schon mehrmals Ihnen erklären mußte. Weshalb in aller Welt halten Sie so hartnäckig an diesem Gedanken fest? Wollen Sie dem Staate für die Nichtbeachtung Ihrer berechtigten Beschwerden eine Schenkung machen? Da werden Sie schön ankommen! Man dürfte oben ein solches Anerbieten unverständlich oder, wenn man nach einem Verständniß sucht, verdächtig finden.“
„Was wollen Sie damit sagen?“ fuhr Vitus in jäher Gluth auf, sodaß Tannhauser rasch einen Schritt zurücktrat.
[535] „Ich spreche ja nicht von mir, sondern von den Gründen, welche das Urtheil der Oberbehörde leiten könnten, und es lag mir nichts ferner, als Sie beleidigen zu wollen. Aber ich merke, der Herr Kollege ist von den Ereignissen nicht weniger angegriffen als ich; ich will Sie nicht länger stören.“
Im Bogengang drüben trat Ida wie eine jener Feen in alten Zauberstücken hinter Blumenbüschen hervor und legte den Finger auf den Mund.
„Helmuth ist da.“
Die Gatten reichten sich die Hände.
„Helmuth erzählte uns alles,“ sagte sie leise. „Die Kasse –?“
„Sie stand während Deiner Vernehmung auf dem Tisch.“
„Ich sah nur Dich. Nun ist alles gut!“
„Gut? Wenn sie den Dieb ergreifen, kommt die Wahrheit ans Licht. Weißt Du, warum er auf Helmuth schoß? Aus Wuth über die Enttäuschung.“
„Aber Vitus! Wer traut denn einem Einbrecher zu, daß er die Wahrheit sagt? Niemand, selbst Tannhauser nicht, wird zwischen Dir und ‚Pfannen-Gide‘ schwanken.“
Vitus stöhnte. „Ich habe eine Bitte an Dich.“
„Endlich einmal!“
„Bewege Helmuth, daß er bei Tische von der Sache nicht spricht! Bedenke, was ich schon litt! Ich bin krank und wund.“
Sie drückte ihm aufs neue die Hand.
Als die Herren beim Kaffee saßen, wurde ein Brief Tannhausers an Vitus abgegeben. Der neue Amtsrichter bat um Nachsicht, er könne heute nachmittag nicht in die Kanzlei kommen. Zu seinem rheumatischen Uebel habe sich noch Schüttelfrost gesellt; er sei nicht imstande, die Feder, geschweige denn die Gedanken festzuhalten; der Bezirksarzt schreibe für ihn diese Zeilen. Vom Flüchtling habe er noch keine Kunde, aber er vertraue auf die Hochfluth und die Gendarmen. –
„Verehrter Herr und Freund!“ lautete eine Nachschrift, „unser Tannhauser ist jetzt ernstlich krank, hohes Fieber!“
„Ich fahre zum Onkel,“ sagte Vitus, indem er seiner Frau den Brief hinreichte. Sie las, sah ihren Gemahl an und gab ihm recht. Der Lieutenant wandte ein, daß wahrscheinlich sein Vater heute abend ankomme, doch Vitus versicherte, daß er bis dahin zurück sein werde.
Die Fahrt nach Steinberg war für einen Sorgenlosen herrlich. Die Luft wehte kühl, Wiese und Wald waren nach dem nächtlichen Bade von sattem Grün. Und es ging den Bergen entgegen, man glaubte sie höher und höher in den Himmel wachsen zu sehen. Aber Vitus war nicht sorgenlos. Sein Blick suchte immer nur den Fluß, der, das einzig Düstere im Bilde, schmutzig gelb dahin schoß. Die Auen bildeten einen spiegelglatten, blauen See, der anmuthig herüberwinkte; nur die schwanken Baumkronen, die aus dem Gewässer emporragten, verriethen seine Tücke …
„Meinen ergebensten Glückwunsch, Herr Stadtrichter!“ rief der Bahnbeamte zur Begrüßung dem Reisenden zu, der als einziger beim Halteplatz Steinberg den Zug verließ. „Ich habe mich über Ihre Depesche ebenso gefreut wie der Herr Onkel. Wie geht’s der Frau Baronin und dem Fräulein Braut? Das sind Neuigkeiten über Neuigkeiten!“
„Mein Onkel ist also noch da?“
„Ja freilich, dem schmeckt’s bei uns! Entschuldigen Sie –“ Und der Freundliche wurde im Nu feierlich stramm. „Abläuten!“
„Fertig!“ schnarrte der Zugführer.
Vitus hielt sich nicht auf. Im kühlen Flur des „Rappen“ lag Azor, er rührte sich nicht, aber er knurrte. „Jesus! der Herr Stadtrichter!“ rief die Kellnerin, die aus der Schenkstube trat. So schnell verbreitet sich jede Nachricht, dachte Vitus, als er auch hier schon mit dem neuen Titel empfangen wurde. Sein Onkel, der sein Mittagsschläfchen im Sommerhause des Wirthsgartens hielt, war durch den Bahnlärm wach geworden. Er rieb sich die Augen und sprang auf.
„Neffe Stadtrichter, schön, daß Du kommst! Soeben wollte ich Dir schreiben!“ Furtenbacher wurde von einer Lüge nicht roth. „Mich freut’s namentlich wegen der Frau Baronin, die gehört in eine Großstadt. Dir wird der Abschied von den Spieß- und Pfahlbürgern dort auch nicht schwer werden. Doch? Ist es zu glauben! Was hattest Du denn in Hohenwart? Arbeit und Undank und zuguterletzt einen Einbruch. Der Bahninspektor brachte die Nachricht, die ihm telegraphisch zugegangen war, an den Mittagstisch. Du kannst von Glück sagen, daß die Spitzbuben nicht auch bei Dir einbrachen.“
„Sie würden bei mir nichts gefunden haben.“
Furtenbacher kraute sich hinterm Ohr. „Ach so,“ versetzte er zögernd, „Du kommst deswegen?“
„Ja, ich komme deswegen. Am Abend Deiner Ankunft –“
„Erinnere mich nicht an den! Mit dem Lieutenant fing’s an, und womit der Tag aufhörte, wirst Du von der Kathi gehört haben. Die läßt mir den Garten verwüsten und verliebt sich hinter meinem Rücken in den Burschen des witzigen Lieutenants. Sieht sie ihren Undank und ihre bodenlose Falschheit noch nicht ein? Natürlich nicht. So kann man wie ein Engel kochen und doch eine Schlange sein. Aber es giebt noch andere Küchenengel. Hier –“
„Lieder Onkel, verzeih’! Ich möchte um fünf Uhr wieder heimfahren.“
„Was fällt Dir ein? Heute abend kommt der Fischer-Sepp mit Krebsen.“
„Ich kann nicht bleiben, wenn Du also die Güte hättest –“
Doch da zwängte sich die kugelrunde Rappenwirthin durch die Thür, klatschte in die Hände und rief: „Gehorsame Dienerin, Herr Stadtgerichtsrath! Auch mal wieder die Ehre? Wünsch’ Ihnen halt recht schön Glück. Warum sind denn die Gnädigen nicht mitgekommen? Aber ich kann mir’s denken, der Schreck um dem Diebstahl! Mein Mann meint, für den Schaden müsse der Aerar aufkommen, und dem Aerar, meint er, schadet das nichts.“
Und jetzt erschien er selbst, der kluge Wirth, und dann die Schwiegertochter, und zuletzt holte die Hausherrin ihre Enkel herbei. Vitus litt unter dieser gutmüthigen Zudringlichkeit unsäglich, und Onkel Anton kam ihm nicht zu Hilfe, denn diesem war an einem Selbander wenig gelegen.
Im Sommerhause war auf kein Alleinsein mehr zu hoffen, so schlug Vitus dem Alten einen Spaziergang vor.
„Hm, meinetwegen!“ erwiderte Furtenbacher zaudernd, „dem Azorl thut Bewegung noth.“
Zwischen dem Dorf und der westlichen Gebirgswand erhob sich ein vereinzelter, mäßig hoher Hügel mit einem „Leidensweg“, einigen kleinen Kapellen hüben und drüben und drei Kreuzen auf dem Gipfel. Dahinauf stiegen die beiden. Droben setzte sich Onkel Anton auf eine Bank, blickte in die Landschaft hinaus und tätschelte den Hund, der ebenso schnaufte wie sein Herr. Müller trug stehend seine Bitte vor.
Der Onkel antwortete mit einer langen Geschichte von Vertrauensbrüchen und Geldverlusten. aber Vitus sei ein sicherer Mann und sein Schwestersohn, da müsse das älteste Glied der Familie ein Einsehen haben. Also nach der Rückkehr in ein paar Tagen!
„Nein, Onkel, Du mußt mir sogleich helfen: Nicht mehr Verenas Heirath ist meine nächste und schwerste Sorge, sondern der Ersatz der Mündelgelder. Ein Makel hat sich rasch an einen guten Namen geheftet. Du mußt selbst sagen, daß ich Hohenwart unter diesem Eindruck nicht verlassen, meine fünfzehnjährige Thätigkeit nicht damit beschließen kann!“
„Womit? Was geht Dich die Sache an? Du warst Amtsrichter, nicht Hauswart. Warum verlegt der Staat das Amtsgericht in einen baufälligen Ritterkasten, anstatt irgend einen steuerzahlenden Hausbesitzer etwas verdienen zu lassen! Du bist aufgeregt, morgen wirst Du über Deinen Großmuthsdusel lachen. Seit wann schenkt der Arme dem Reichen?“
„Das ist Gefühlssache, Onkel. Bevor sich der Staat zur Zahlung entschließt, giebt es eine endlose Untersuchung, man wird dies und das an meiner Amtsführung bemäkeln, und ich komme, wenn’s gut geht, mit blauem Auge davon. Wenn ich jemals wieder des Lebens froh werden soll, muß ich, ich das Geld ersetzen.“
Furtenbacher stand auf und steckte die Hände in die Taschen. „Mein lieber Neffe, ein letztes Wort! Ich mache mir nichts, gar nichts aus der Excellenz und dem thierquälenden Lieutenant; [536] trotzdem würde ich das Nöthige zur Heirath beigesteuert haben. Aber nachdem Du mir mit diesem verrückten Gedanken kommst – für Ueberschwang habe ich weder Verständniß noch Geld. Punktum!“
Bei diesem „Punktum!“ nahm ihm der Wind, der da oben kräftig blies, den Hut fort. „Such’, such’!“ rief Furtenbacher, allein Azor rührte sich nicht; der dicke Herr mußte dem Flüchtling selbst nachspringen. Vitus blieb stehen und schaute thalauf, thalab, ohne der Schönheit rings gewahr zu werden; den Schuldigen grüßt nicht der Glanz der Welt. – –
In der Hohenwarter Bahnhalle wurde Vitus vom Bürgermeister und vom Gerichtsschreiber erwartet und sofort in die Mitte genommen. „Er ist gefunden!“ sagte Zappel mit seiner dumpfen Stimme. Vitus warf einen scheuen Blick auf ihn.
„Der – der Dieb?“
„Ja, tot, ertrunken. So gegen vier trieb beim Fährhaus ein Leichnam vorbei. Die Arbeiter fischten ihn heraus. Grausig war er zugerichtet, doch männiglich erkannte den ‚Pfannen–Gide‘. Das Wasser muß ihn über Gestein und Gestrüpp geschleift haben, denn er hat tiefe Risse am Leibe.“
„Ja, und die Papiere treiben wer weiß wo im Fluß,“ fiel der Schreiber ein, „die kriegen wir nimmer!“
„Ich ließ den Todten einstweilen in der Wache aufbahren. Da Herr Tannhauser krank daniederliegt, haben wir mit der Protokollaufnahme bis zu Ihrer Ankunft gewartet.“
Im Zwielicht der Wachtstube lag der Verunglückte auf einem Schragen. Sein Gesicht war nicht viel blässer als das des Richters.
Nach einem häßlichen Leben ein häßliches Ende! Da lag er, von niemand betrauert, der Trunkenbold, Wegelagerer und Dieb und – Vitus wandte sich bebend ab – der Ehrenretter dessen, der sein Richter war.
„Und nun,“ sagte Herr Zappel, während er sich Bahn brach durch den Haufen Kinder, die mit scheuer und doch neugieriger Miene vor der Wache standen, „nun, da wir das traurige Geschäft hinter uns haben, sollen Sie etwas Erfreuliches hören, Herr Stadtrichter. Der Erbprinz hat die Regierung übernommen und der Vater Ihres Herrn Schwiegersohnes ist Ministerpräsident geworden! Sehen Sie nur, alle Läden sind geschlossen, denn die ganze Bevölkerung ist im Schloßkeller oder auf dem Weg dahin. Ein Ausschuß ist in aller Eile zusammengetreten, um über den Empfang Seiner Excellenz zu berathen. Morgen wird alle Welt erfahren, daß der neue Minister die Hohenwarter Moorbäder gebraucht. Und Sie wußten wirklich von all diesen Ereignissen nichts?“
„Man kann vorbereitet sein und doch überrascht werden.“ Vitus ging müde neben seinem strammen Begleiter her und erwiderte gedankenlos die Grüße. Der Bürgermeister blieb stehen.
„So geht’s!“ rief er. „Immer kommt alles auf einmal. Während sonst Monate lang der Tag nichts bringt als höchstens eine neue Grenzsperre, die uns arme Fleischer zu Grunde richtet, reißt seit gestern der Faden nicht ab. Ueberschwemmung, Einbruch, gewaltsamer Tod, Richter, und Ministerwechsel! Gestern waren die Leute noch ganz hingenommen von der Nachricht, die Sie betraf, und heute versetzen andere Dinge, die nicht nur uns angehen, die Gemüther in Aufruhr. Aber Sie dürfen nicht glauben, Herr Stadtrichter, daß wir über den Angelegenheiten der großen Politik Sie selbst vergessen und das, was wir mit Ihnen verlieren: einen Ehrenmann, den rechtschaffensten Beamten des ganzen Landes! Glauben Sie mir, Ihre Versetzung ist für jeden Hohenwarter ein Familienfall.“
Vitus hing bei den letzten Worten mit dürstendem Blick am Munde des Redenden: ein Ehrenmann, ein rechtschaffener Beamter? Ja, niemand kann ihm das bestreiten. Der, welcher dort in der Wache liegt, dessen Mund allerdings – doch die Toten schweigen!
Nach dem Befunde des Arztes ist Gide schon mehrere Stunden tot. Wahrscheinlich stürzte er in der Hast von einem Steg, verletzte sich beim Fall und wurde bewußtlos vom Wasser fortgewirbelt. Hat er zwischen seiner Entdeckung durch Helmuth und seinem Sturz noch jemand gesprochen? Möglich, aber nicht wahrscheinlich.
Er war verfolgt und auf einem Gebiete, das auch für den erfahrenen Schmuggler ein gefährliches war. Der Boden war durchwühlt, alles in Bewegung, alles Schlund, Wirbel, Falle. Da war sicher außer dem Flüchtling keine Menschenseele in dieser todbringenden Gegend gewesen. Er ging unter, ohne das Geheimniß der Kasse verrathen zu können, morgen deckt es die Erde. Und Vitus scheidet als Ehrenmann, als rechtschaffener Beamter!
Denn auch Tannhauser ist nicht mehr zu fürchten. Wie der Fall jetzt liegt, bietet er selbst für den größten Tiftler und Schwarzseher keine Haken und Schlingen mehr, um einen Dritten zu fangen; die Sache ist klar und abgethan. Der Schreiber Franz wird für seine verbrecherische Absicht verdientermaßen bestraft, und Vitus Müller, als gekränkter feinfühliger Mann, ersetzt das Geld. Wenn er die Uebersiedlung in die Hauptstadt zum Vorwand nimmt, kann er sein Hab und Gut zu Gelde machen und den Ersatz leisten. Nach den gebuchten Nummern der Werthpapiere wird dann wohl niemand fragen; ist kein Mensch weiter geschädigt, so wird auch nirgends die Unterlassung des Ausschreibens auffallen. Und wenn so die Gefahr der Entdeckung beseitigt, die Schuld gesühnt ist, dann darf Vitus die Vergangenheit vergessen!
Was hat er denn überhaupt verbrochen? Zum ersten Male kommt ihm der kühne Glaube, daß nicht alle Handlungen unter das Urtheil eines Paragraphen gebracht werden dürfen. Er spricht sich, er fühlt sich frei! Und sein braver Begleiter hat nicht übertrieben: das Scheiden des Richters geht den Bürgern nahe. Nie haben ihn die Frauen und Mädchen so freundlich, die Männer so tief gegrüßt wie heute. Er ist jetzt sehr aufmerksam auf die Vorgänge und Erscheinungen um sich her, er prüft die Mienen und liest in allen: ein Ehrenmann, der rechtschaffenste Beamte!
Am Eingang des Kurgartens erwartete Ida ihren Gemahl und nahm ihn dem Bürgermeister ab. Als sie nach dem Bahnhof gewollt hatte, war sie von Helmuth über die traurige Pflicht aufgeklärt worden, die der Richter bei seiner Ankunft zunächst zu erfüllen habe.
Während das Brautpaar in der Kurhalle mit Bekannten sich erging, harrte Ida wohl eine Stunde lang vor dem Garten und sah auf das Gewoge der heiteren Menge, nicht kummervoll, aber mit ernsten Augen. Alles hatte der Himmel zu glücklichem Ende gefügt, dennoch fand sie den gewohnten leichten Sinn nicht mehr. Zu tief und nachhaltig war sie in ihrem innersten Wesen erschüttert. Sie rühmte sich niemals großer Belesenheit und war aus naheliegendem Grunde sparsam mit geflügelten Worten. In dieser Stunde qualvollen Wartens jedoch – eine verschwindende Spanne Zeit und ein unendliches Maß von Leid! – fiel ihr ein Vers ein. Sie wußte nicht, wo sie ihn gelesen oder gehört hatte, er kam ihr angeflogen und verließ sie nicht mehr, wie uns zuweilen eine Melodie verfolgt:
„Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein …“
Nein, der Himmel hatte sie nicht verlassen, der Himmel war ihr gnädig. Dort kam ihr Gemahl, Arm in Arm mit dem ersten Bürger der Stadt, und trug den Kopf hoch und grüßte heiter nach rechts und links.
Während das Ehepaar tiefer in den Garten ging, um sich unter die Gesellschaft zu mischen, fragte Ida leise: „Geschwind, geschwind, Vitus! Bist Du jetzt zufrieden? Hast Du nichts mehr zu fürchten?“
„Nichts mehr.“
„Gott sei gelobt! Gott, ich danke Dir!“ Ihre Lippen zitterten, ihre Augen schwammen in Thränen.
Deutsche Originalcharaktere aus dem achtzehnten Jahrhundert.
Alle Rechte vorbehalten.
Ein merkwürdiges Jahrhundert, dies Jahrhundert der Aufklärung, in welchem soviel Spuk, Geisterseherei und Geisterbeschwörung noch bis gegen den Schluß hin Platz fand. Für vieles Unbegreifliche hat uns erst die neueste Zeit den Schlüssel gegeben. Räthselhaft mußte es erscheinen, daß Männer von hoher geistiger Bildung jenem abenteuerlichen Treiben ihre Theilnahme zuwenden konnten, und man hat diese Thatsache in jeder Hinsicht abzuschwächen gesucht; jetzt, nachdem mehr als hundert Jahre zwischen uns und jener Zeit liegen, haben wir es ja selbst erlebt, daß namhafte Gelehrte und Naturforscher nicht nur einen unerschütterlichen Glauben an den Spuk der Geisterbeschwörer hegten, sondern ihn sogar wissenschaftlich zu erklären suchten und dafür neu erfundene Formeln zu Hilfe nahmen. Wenn dies im Jahrhundert der Eisenbahnen und Telegraphen möglich war, so braucht man über ähnliche Vorgänge in dem vorausgehenden Säculum, in welchem noch Hexen verbrannt wurden, nicht zu staunen.
Unter den Magiern jener Zeit, von denen sich der Italiener Cagliostro und der Franzose Saint Germain einen Weltruf erworben haben, befindet sich auch ein Deutscher, dessen Name kaum über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus genannt wurde, der in bürgerlichen Verhältnissen lebte und nicht durch alle europäischen Salons abenteuerte, der aber dennoch Einfluß und Macht in seltenem Maße gewann, Johann Georg Schrepfer (oder Schröpfer). Er war Kaffeewirth in Leipzig und gewiß der einzige unter seinen Berufsgenossen, um den ein geheimnißvolles Dunkel schwebte, denn in den Lokalen, in denen der Mokkatrank kredenzt wird, pflegt ja stets die lauteste Oeffentlichkeit zu herrschen. Schrepfer war 1730 geboren. In seiner Jugend war er Kellner in einem Leipziger Gasthofe, und gerade in diesem Gasthof hielten die Freimaurer ihre Versammlungen ab; er wurde als Mitglied unter die dienenden Brüder des Ordens aufgenommen. Später soll er als preußischer Husar mehrere Jahre gedient haben; dann wurde er soweit vom Glück begünstigt, daß er die Laufbahn, die er anfangs als Kellner eingeschlagen, weiter verfolgen konnte: ein nicht unvermögendes Mädchen wendete ihm seine Neigung zu, er heirathete es und eröffnete in der Leipziger Klostergasse ein Kaffeehaus, dem es nicht an Gästen fehlte. Bei diesen wußte er sich bald durch seine Kenntniß des Maurerthums ein Ansehen zu geben. Er deutete indeß an, daß er darüber hinaus Geheimnisse besitze, welche den meisten Maurern verschlossen seien, unterwarf die bestehenden Logen einer scharfen Kritik und fand bei ihnen nichts als Spiegelfechterei; in das Geheimniß der Maurerei, welches Gewalt über die Geister gebe, seien nur wenige eingedrungen. Darauf aber gerade ging das unruhige Streben auch guter Köpfe. Der Schauspieler Brückner in Berlin, obschon mit Lessing befreundet, strebte mit Eifer nach dieser geheimen Weisheit, die nach seiner Ansicht die Tempelherren einst besessen hatten. Er berichtete seinem Freunde, dem Kaufmann Schlegel in Leipzig, daß es noch sieben Personen in Preußen gebe, die von den Tempelherren herstammten und sich einmal des Jahres in einer alten Kapelle in Güstrow versammelten, um dort „wahre Arbeiten“ zu verrichten. Einen dieser Männer werde er demnächst selbst kennenlernen; er lebe ganz nahe bei Berlin in der Stille und gehe mit einem blauen Mantel, mit verschnittenen Haaren und einem Stutzbärtchen.
Johann Samuel Benedikt Schlegel, an den der beliebte Bühnenkünstler diese Zeilen schrieb, stand mit Schrepfer im nächsten Verkehr und hat auch ein Tagebuch über seine Erlebnisse dabei herausgegeben. Er war ein ehrlicher braver Mann, ein durchaus anständiger Charakter und trat darum Schrepfer anfangs schroff gegenüber, als dieser das Maurerthum und besonders die Loge „Minerva“, welcher Schlegel angehörte, mit Schmähungen überhäufte; ja, er verklagte ihn sogar bei dieser Loge, ohne daß indessen etwas gegen Schrepfer unternommen worden wäre. Dieser war inzwischen Schlegel persönlich nähergetreten, hatte lange Zwiegespräche mit ihm über das Geheimniß der Maurerei gehabt, und ihm endlich erklärt, er werde ihn durch Thatsachen überzeugen. Schlegel möge einer Probe seiner Kunst beiwohnen. Dieser erklärte sich dazu bereit und der Erfolg war, daß er ein überzeugter Anhänger des Geisterbeschwörers wurde.
Wie es bei diesen Proben oder sogenannten „Arbeiten“ zuging, darüber berichten uns andere Zeitgenossen. Zuerst wurden bei einer anregenden Punschbowle Gespräche geführt, wie sie in maurerischen Kreisen üblich waren; dabei zeichnete sich Schrepfer durch eine sinnverwirrende Beredsamkeit aus, welche die Zeichen und Symbole aus der Geheimwissenschaft aller Zeiten spielend durcheinander warf. Nachdem die Anwesenden durch den Punsch und das Hexeneinmaleins des Zauberers in die rechte Stimmung versetzt worden waren, traten sie in den Billardsaal und stellten sich vor dem Billard auf. Hinter demselben hatte „der Meister“ im Priesterornat an einem schwarz verhangenen Tisch, der einen Altar vorstellte, Platz genommen; dann mußten alle niederknieen und inbrünstig für den Erfolg der heiligen Arbeit beten; Schrepfer las darauf die Messe und flehte die überirdischen Mächte an, ihm hilfreich zu sein und die von ihm herbeibeschworenen Personen erscheinen zu lassen. Bei diesen Beschwörungen verzerrte er seine Züge, seine Gebärden hatten etwas krampfhaft Schauerliches, nicht minder seine Ausrufungen, der Aufschrei, mit dem er die Pforten des Geisterreichs öffnete. Dann stieg vor dem Altar ein glänzender Nebel auf, in dem sich die herbeigebannte Gestalt zeigte. Oft aber benahmen sich auch die Geister wie die lärmfrohen Klopfgeister des neunzehnten Jahrhunderts: sie kündigten ihr Erscheinen durch Klopfen und Poltern an, die Thür erdröhnte von ihren Schlägen, unter wildem Getöse, unter Zischen und Pfeifen traten sie in den Kreis der Endlichkeit. Schrepfer drohte jedem der Zuschauer den Tod an, der sich vom Platze rühren würde. Was nun die Geister sprachen, ob sie geistreich und tiefsinnig sich äußerten, darüber schweigt die Kunde; vielleicht waren sie so geistlos und alltäglich wie die neuesten Gespenster. Allzu bekannte Zeit- oder Stadtgenossen herbeizubeschwören, weigerte sich Schrepfer, indem er erklärte, er habe nicht über alle Geister Macht. So vermochte er nicht, den Wunsch seiner Zuhörer zu erfüllen, welche den Geist des jüngstverstorbenen Gellert zu sehen verlangten. Den liebenswürdigen Dichter kannte jedes Kind in Leipzig – und da wären doch wohl auch in gläubigen Gemüthern Zweifel wegen mangelnder Porträtähnlichkeit aufgestiegen.
Solche Bedenken fielen fort, wenn Schrepfer die beiden vor kurzem hingerichteten Grafen Struensee und Brandt erscheinen ließ; denn diese trugen die abgeschlagenen Köpfe unter dem Arm und erschwerten so eine Prüfung ihrer Gesichtszüge. Bisweilen begegnete aber doch den Geistern das Unangenehme, daß sich beim genauen Studium ihres Kostüms die allzuirdische Herkunft einiger Bestandtheile desselben ergab. Schlegel hatte sich einmal, ehe Schrepfer erschien, unter dem als Altar hergerichteten Tisch versteckt; da bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß der eine Geist Schuhschnallen trug, die ihm sehr bekannt vorkamen, denn der Oberkellner aus dem Kaffeehause Schrepfers hatte sie tags zuvor in Schlegels eigenem Laden gekauft. Auch sonst machten zweifelsüchtige Freunde oft Entdeckungen, welche ihren Argwohn nur vermehren konnten: bei verriegelter Thür konnten z. B. die Geister nicht herein. Bisweilen erschienen dieselben in verschiedenem Licht in dem verfinsterten Zimmer; es kam eben, so wurde erklärt, auf den Grad der Seligkeit an, den sie drüben erlangt hatten, ob sie sich weiß oder rötlich oder dunkelbraun zeigten. Um diese Unterscheidung herbeizuführen, bedurfte es aber besonderer Anstrengungen des Geisterbanners, der oft stundenlang betend auf der Erde lag und dann mit Weihwasser, geweihten Kerzen und einem Kruzifix, das er beschwörend in der Luft umherschwang, die Macht seiner Bannsprüche verstärkte. Schrepfer ließ, gegen die Sitte des Maurerthums, auch Frauen in männlichen Kleidern an den Logenarbeiten theilnehmen, überließ es auch bisweilen, wenn er verreist war, seinen Zöglingen allein, die erlangte Zaubermacht zu prüfen. Dabei machten diese aber sehr entmuthigende Erfahrungen. Schlegel berichtet, wie ihrer sieben, obschon sie sich mit wahrer Rührung der Seele und des Geistes der Arbeit gewidmet hatten, doch nichts auszurichten vermochten, wie kein Geist kam und wie er selbst in dem Zauberspiegel, in welchem er nach Schrepfers Verheißung Wunderdinge schauen sollte, nichts gesehen habe als sein eigenes altmodisches Gesicht und noch dazu mit einem kahlen Kopfe. Dieser Jünger fing überhaupt an, gefährlich zu werden; es regte [539] sich in ihm der böse Geist der Aufklärung welcher prüfend umhertastete. So schloß man ihn allmählich von den Versammlungen aus, in denen die tieferen Geheimnisse der neuen Loge geoffenbart wurden, und zuletzt wurde er ein Ungläubiger, der grollend beiseite stand.
Von den berühmten Meistern der Beschwörungskunst unterschied sich Schrepfer durch die Kühnheit, mit welcher er sich selbst und seinem Zauberwerk einen streng kirchlichen Anstrich gab. Er behauptete, ein heimlich geweihter katholischer Priester zu sein, und in der That hatte er unbestreitbar geheime Beziehungen zu den Jesuiten, welche damals in die Freimaurerei eine Bresche zu schießen suchten, indem sie die nur auf geistige Erkenntniß gerichteten Bestrebungen der schottischen Logen durch Goldmacherei und Geisterspuk verfälschten; jedenfalls steht auch sein tragisches Ende damit in Zusammenhang. Ein Brief Schrepfers an den Grafen Brühl in Dresden beweist deutlich, daß beide einer geheimen Gesellschaft angehörten, welche wohl auch aus der Freimaurerei herausgewachsen, aber keineswegs mit ihr ganz gleichartig war. Aus den Zeichen und Symbolen kann man herauslesen, daß es sich um Zwecke handelte, welche sogar der höheren Politik dienstbar waren, sofern es galt, die vertriebenen Stuarts zu rächen oder wieder in ihr Land einzuführen.
Jener Brief enthält eine Beschwerde Schrepfers über die Behandlung, welche seine Genossen Schlegel und Becker in der Loge „Minerva“ gefunden hatten. Der Meister vom Stuhl hatte ihnen mit Ausschließung gedroht, hauptsächlich wohl deshalb, weil sie in Schrepfers Orden eingetreten waren. Dieser streute zur Nachtzeit in den Straßen Leipzigs Zettel aus, auf denen Schmähungen gegen die Loge „Minerva“ standen; ja, er erschien eines Tages in derselben mit geladener Pistole, die er freilich, nachdem er damit seinen bösen, auf gewaltsames Einschreiten gerichteten Sinn verrathen hatte, dem Meister vom Stuhl übergeben mußte. Später veröffentlichte er neue Schmähschriften und ließ sie sogar an den Straßenecken anschlagen. Da wandte sich die Loge an die Behörden, und als Schrepfer unbefugterweise den Herzog Karl von Kurland, den Sohn des Kurfürsten von Sachsen, den obersten Schutzherrn der sächsischen Freimaurer, mit hereingezogen und behauptet hatte, er sei von diesem zu allem, was er thue, ermächtigt worden, begab es sich, daß ein Offizier, Obristlieutenant von Sydow, nach Leipzig geschickt wurde, um Schrepfer für seine Anmaßung zu züchtigen. Der Magier wurde von vier Unteroffizieren nach der Hauptwache geführt und erhielt hier hundert Stockprügel, über die er noch die folgende Quittung ausstellen mußte:
„Ich Endesunterschriebener bekenne hierdurch und kraft dieses, daß ich die von Sr. K. H. des Prinzen C. von Curland mir dekretirten ein Hundert Prügel dato richtig erhalten habe.Leipzig, den 18. September 1773.
Später beschwerte er sich bei dem „hochweisen Rath der hochberühmten Handelsstadt Leipzig“ über diese Mißhandlung, die zugleich als ein Eingriff in die Rechte des Rathes erscheine, dessen treuer und rechtschaffener Unterthan er sei. In den Blättern stellte er jedoch die Thatsache selbst in Abrede; es kam zu Verhandlangen zwischen dem Rath und dem Herzog, die aber im Sande verliefen.
Bald sah indeß der Herzog ein, daß er in seinem Verfahren gegen Schrepfer einen falschen Weg eingeschlagen habe und daß es für ihn vortheilhafter sei, den klugen Kopf des Magiers sich nutzbar zu machen. Wir sehen nicht lange darauf den letzteren in vornehmen Dresdener Kreisen verkehren, und gerade im Palais des gänzlich bekehrten Prinzen von Kurland durfte er seine Geisterbeschwörungen einem ausgewählten Publikum zur Schau stellen. Zu seinen Genossen und „Brüdern“ gehörte der Minister von Wurmb und der Kammerherr von Bischofswerder, derselbe, welcher später den König Friedrich Wilhelm II. von Preußen durch die gleichen Gaukeleien beherrschte, die er von dem Geisterseher überkommen hatte. Der Kaffeewirth aus der Leipziger Klostergasse bewegte sich in diesen Kreisen mit überraschender Gewandtheit; er war ein stattlicher schlanker Mann, der sich geltend zu machen verstand und auch einen überlegenen Geist bekundete. Ohne Frage verfügte er für seine Schaustellungen über physikalische Kenntnisse und Hilfsmittel und auch über die Kunst der Bauchrednerei, da er seine Geister oft seufzen, oft in unkenntlichem Ton sprechen, oft lärmen und brüllen ließ. Das Merkwürdigste aber war, daß er durch die Sicherheit seines Auftretens hochgestellte Hofherren in eine Art von Abhängigkeitsverhältniß zu sich brachte und ihnen sogar Gehälter auszuzahlen versprach; er behauptete, einen ihm von den Jesuiten übergebenen Schatz von etwa einer Million Reichsthalern in sächsischen Steuerscheinen zur Verfügung zu haben, um damit hochverdiente Männer der Regierung zu belohnen, die zum Besten des Vaterlandes gewirkt hätten. Der Schatz sei bei einem Frankfurter Bankhause verwahrt. Nachforschungen ergaben, daß sich dort in der That eine Kiste befand, welche anscheinend Papiere enthielt. Ein Brief des Ministers von Wurmb an seinen „verehrungswürdigen Bruder“ Schrepfer mahnt diesen, ja seine Versprechungen zu erfüllen. Welcher Art diese Versprechungen waren, geht aus einem dem Schreiben beiliegenden Vertragsentwurfe hervor, demzufolge die Gelder in der Schweiz ausgezahlt werden sollten und niemand danach fragen dürfe, woher sie kämen; der Herzog von Kurland sollte drei Jahre hintereinander je 16 000 Thaler erhalten, der Minister von Wurmb 6000 Thaler; „nach Verfließung der drei Jahre sollte die Summe verstärkt werden;“ sie sollten dafür die Logen, die bezeichnet wurden, besuchen und die Mitglieder zur Tugend ermahnen, das heißt, die im Dienste der Jesuiten stehenden maurerischen Bestrebungen Schrepfers unterstützen. Noch andere Personen waren zu gleicher Zeit mit Gehältern von 1000 Thalern bedacht. Der Leipziger Kaffeewirth bestach Prinzen und höchste Staatsbeamte mit Geldern, die gar nicht vorhanden waren – eine unglaubliche, aber doch wohlverbürgte Thatsache! Der „Bruder“ der Wurmb und Bischofswerder konnte natürlich jetzt in Leipzig anders auftreten als früher; die Loge „Minerva“ empfing ihn sogar mit außerordentlichen Ehrenbezeigungen. An der Seite des Herrn von Bischofswerder fuhr er in offenem Wagen durch die Stadt, und zwar in der Uniform eines Offiziers; er trug ein Portepee von Silber, das mit blauer Seide durchwirkt war, und gab sich für einen französischen Obristen und den Sohn des Herzogs von Orleans aus, so daß sich der französische Gesandte in Dresden veranlaßt sah, von Schrepfer die Vorlegung seines Offizierspatents zu verlangen, widrigenfalls er seine Verhaftung beantragen müßte.
Das Maß der Gaukeleien und Gaunereien war allmählich voll geworden. Der Betrug mit dem geheimnißvollen Schatze der Jesuiten mußte zu Tage kommen und Schrepfer wußte keinen Ausweg mehr; er wurde in immer neue Schulden verstrickt und hatte wahrscheinlich auf ähnliche Kisten wie die Frankfurter bei reichen Freunden und Brüdern Darlehen aufgenommen.
Im September 1774 kehrte er von Dresden, wo er im Palais des Herzogs von Kurland den Chevalier de Saxe herbeibeschworen hatte tiefverstimmt nach Leipzig zurück. Sein ganzes Wesen schien verändert; doch allmählich fand er die Herrschaft über seine Stimmungen wieder, betrieb die Maurerei aufs eifrigste und machte seine gewohnten Reisen.
Anfangs Oktober, zur Zeit der Michaelismesse, lud er seine Freunde zu einer Punschbowle ein. Er war besonders heiter und lustig und machte den Vorschlag, am nächsten Morgen in der Frühe einen gemeinsamen Spaziergang ins Rosenthal zu unternehmen; er selbst stand schon um vier Uhr auf, schrieb mehrere Briefe, steckte seine Geldbörse und goldene Uhr in die Kleidertasche seiner Frau und fand sich dann bei den Genossen im Gastzimmer ein, die schon auf ihn warteten. Es waren der Kammerherr von Bischofswerder, Freiherr von Hopfgarten, zwei Kaufleute aus Görlitz und Sorau und ein Advokat aus Leipzig. Das Rosenthal, Leipzigs schöner Stadtpark, begann sich bereits herbstlich zu färben; das Frühlicht schimmerte auf dem bunten Laubschmuck. Der Schließer am Parkthor öffnete das Gitter und die Freunde wandelten in lebhaftem Gespräche durch die Gänge des Parks. Schrepfer hatte schon den Abend vorher den Genossen verkündet, er werde sie ein Wunder sehen lassen, wie sie es noch niemals erschaut hätten und bei dem sie einen gewaltigen Knall hören würden. Man wunderte sich daher nicht, als er die Begleiter bat, etwas zurückzubleiben, und dann eine Strecke allein in der Hauptallee des Parks vorausging. Plötzlich kehrte er um, umarmte den Kaufmann Fröhlich mit den Worten. „Ich habe Dich recht lieb,“ und entfernte sich wieder. Die Freunde sahen, wie er einen Seitenweg einschlug. Kurz darauf fiel ein Schuß. Man wartete anfangs auf irgend ein Schauspiel, das damit angekündigt würde – doch alles blieb still. Jetzt trat man näher und sah [540] Schrepfer auf der Erde in seinem Blute liegen: er hatte sich mit einem Terzerol in den Mund geschossen.
Noch in seinen letzten Briefen hatte er Andeutungen gegeben, daß eine fremde Hand für ihn zahlen werde, doch nichts derartiges geschah. In dem Kistchen des Frankfurter Bankhauses fanden sich werthlose Zettel und – Erde: die vornehmen Dresdener Brüder hatten das Nachsehen. Das Volk aber glaubte an Schrepfers Zaubermacht, und es hieß, er sei keines natürlichen Todes gestorben; man habe ihn unverletzt und die Kugel in seinem Munde gefunden, er sei durch die Macht seiner Geister der Erde entrückt worden.
Es ist ein trauriges Bild, welches uns dieser kurze Lebensabriß Schrepfers bietet; der Aberglaube und die Leichtgläubigkeit bei Hoch und Gering, welche zu jener Zeit in Deutschland herrschten, treten uns hier in greller Beleuchtung entgegen. Wohl ist eine Existenz wie diejenige Schrepfers heutzutage nicht möglich; aber es fehlt doch auch in unserer besseren Gegenwart nicht an einzelnen Spuren, welche es angezeigt erscheinen lassen, ihr einmal wieder ein warnendes Beispiel aus den Tagen der Cagliostro und Saint Germain vorzuhalten.
Rudolf von Gottschall.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Kamerunerin.
(2. Fortsetzung.)
Während der nächsten zwei Tage erwähnte Gerlach nichts davon, ob und mit welchem Erfolge er der Grützburger Post einen Besuch abgestattet habe, und Claudius nahm an, er betrachte den Scherz als erledigt. Um so mehr überraschte es ihn, den Unermüdlichen am dritten Abend wieder mit einem Briefe in der Hand bei sich eintreten zu sehen, mit einem umfangreichen, viereckigen Briefumschlag, welchen er lustig in der Luft schwenkte.
„Nachernte, Doktor, soeben im Schweiße meines Angesichts eingeheimst! Da müssen Sie schon verzeihen, daß ich Ihre stumme Zwiesprache mit dem griechischen Weisen auf Ihrem Schreibtische für einige Minuten unterbreche.“
„Kommen Sie näher, Gerlach! Nun, dieser Brief sieht wenigstens vertrauenerweckend aus. Das starke, elfenbeinfarbige Papier, die schöne, kräftige Handschrift nehmen gleich zu Anfang ein. Da fühle ich übrigens etwas Steifes, Festes; sollte das eine Photographie sein?“
„Zweifellos, öffnen Sie nur! Es geziemt sich, daß Ihre Hand das Bildniß entschleiert.“
Während Claudius nach dem Papiermesser langte, überkam ihn plötzlich ein Gefühl, als müsse dieser Brief etwas Besonderes für ihn enthalten, – ein Stück Schicksal, dem er sich mit dem ersten Messerschnitt für alle Ewigkeit verpflichte. Da erklang schon wieder die frische Stimme seines Gefährten:
„Warum zögern Sie? Ich brenne vor Ungeduld! Eine Ahnung sagt mir, daß Nummer fünf in Wort und Bild unsere Erwartungen weit übertreffen wird.“
Zwei schnelle, scharfe Schnitte und Brief und Porträtkarte lagen vor ihnen. Fast gleichzeitig brachen beide in ein heiteres Gelächter aus. Was sie sahen, übertraf in der That ihr Erwarten, wenn auch in anderm Sinne, als Gerlach gemeint hatte. Die Photographie – sie war übrigens aus einem der ersten hauptstädtischen Ateliers hervorgegangen und trug auf der Rückseite die Firma des Verfertigers – stellte ein weibliches Wesen von ganz besonderer Beschaffenheit dar, eine mahagonibraune, jugendliche Schöne mit riesigen Gliedmaßen, krausem Wollhaar, fabelhafter Stülpnase und breiten Polsterlippen, deren wohlwollendes Grinsen das große vergnügte Gesicht in zwei Hälften theilte. Diese junge Wilde hatte ihren dicken Hals und die unförmlichen Arme über und über mit Schnüren von Glasperlen und sonstigem Flittertand behängt und mochte wohl so ihres Eindrucks auf „Jung Afrika“ nicht verfehlen. Die beiden Ritter von der Drachenburg jedoch huldigten einem andern Schönheitsbegriff und konnten deshalb nicht umhin, sich bei dem unerwarteten Anblick dieser fremdartigen Reize ehrlich zu entsetzen. Andrerseits blickte das dicke Mädchen so harmlos freundlich und sein Grinsen wirkte so unwiderstehlich erheiternd, daß man ihm trotz seiner Scheußlichkeit beinahe gut sein mußte. Jedenfalls war der Scherz – daß es sich um einen solchen handle, stand ja außer Frage – drollig genug, um selbst das Opfer desselben, Ernst Claudius, aufrichtig zu ergötzen. „Nun hat meine Thorheit noch zuguterletzt irgend einem Spaßvogel die erwünschte Gelegenheit zur Ausführung eines lustigen Einfalls gegeben,“ sagte er gutmüthig. „Sei’s denn! Ich muß meinen Kelch nun schon bis zur Hefe leeren.“
Die ‚Hefe‘ ist in diesem Falle der Brief. Also – die schwarzbraune Jungfrau bittet ums Wort:
‚Mein Herr!
Sie müssen in der That recht wenig von den Mädchen Ihrer Zone, insbesondere von jenen Ihrer eigenen Bildungsstufe wissen, um sich einzubilden, eine wohlerzogene junge Dame mit den von Ihnen erwähnten Eigenschaften werde Ihre Anfrage der Beachtung, geschweige denn der Beantwortung werth halten! Ach, und von welcher Art müssen Sie selbst sein, um sich das Wohlwollen einer Frau von Bildung und Gemüth auf einem solchen Umweg, durch ein solches gegen jedes zarte Gefühl verstoßende Mittel erwerben zu wollen!
Sie wünschen ein weibliches Wesen zu finden, welches sich von der für Sie unleidlichen deutschen Durchschnittsjungfrau vortheilhaft unterscheidet, indem es in seinem Aeußern die vollste Unabhängigkeit von der herrschenden Tagesmode zur Schau trägt, unbeengt von Anerzogenem und Vorgeschriebenem handelt und lebt, wünschen seine Bekanntschaft zu machen unter Umgehung des ‚herkömmlichen Weges‘, also ohne Rücksicht auf alle sonst in der guten Gesellschaft unerläßlichen Formen – – und Sie suchen dieses Wesen unter den Töchtern des gebildeten Deutschland?! Zuviel Ehre für Ihre Landsmänninnen, in der That! Warum wenden Sie sich nicht lieber nach Kamerun, mein Herr? Dort können Sie ‚ungestraft unter Palmen wandeln‘, das heißt ohne die Zwangsjacke der gesellschaftlichen Sitte umherlaufen, aufs formloseste Bekanntschaften anknüpfen und Seelenfreundschaften mit einer Schnur Glaskorallen einleiten. Luxusartikel wie Takt und Zartgefühl werden da nicht verlangt, auch stellt dort das weibliche Geschlecht nicht wie bei Ihnen die lächerliche Forderung auf, für etwas Besonderes angesehen, hochgehalten und verehrt, mit Rücksicht und Feinsinn behandelt zu werden. Keine modern europäische Erziehungsanstalt, keine Pariser Kleidermode, keine Nummer des ‚Bazar‘ oder der ‚Modenwelt‘ beleidigt in Kamerun Ihr Auge; dieses erfreut sich vielmehr überall an der wohlthuendsten Natürlichkeit … Daß die weibliche Jugend von Kamerun trotzdem nicht der Anmuth und Lieblichkeit entbehrt, beweist Ihnen die beifolgende Photographie, welche, wie Sie sehen, ein Duallamädchen in seiner ebenso geschmackvollen als anspruchslosen Nationaltracht darstellt. Wäre es nicht eine anziehende und lohnende Aufgabe für Herrn Freimuth aus Grützburg, sich dieses vom Gifthauch der Civilisation unberührte, durch keine europäische Erziehungspresse verdorbene Kind der Natur zu dem Edelstein heranzubilden, welchen er sonst niemals und nirgends finden dürfte –?
Es würde der Schreiberin dieser Zeilen eine große Genugthuung gewähren, Herrn Freimuth aus Grützburg zur Klarheit über seine Wünsche und zur Aussicht auf deren Verwirklichung verholfen zu haben.‘“
„Weiter, lieber Gerlach, weiter!“
„Der Brief ist aus, Doktor. Ich meine auch, wir könnten an dem Genossenen reichlich genug haben. Es läßt sich nicht gerade behaupten, daß Nummer fünf ein Blatt vor den Mund genommen hätte!“
„Durchaus nicht!“ entgegnete Claudius vergnügt. „Aber das ist ja gerade das Hübsche an der Sache! Verdiente ich denn nicht eine Bestrafung? Wahrhaftig, Gerlach, mich hat diese geharnischte Epistel einer für die Ehre ihres Geschlechtes Kämpfenden erfrischt und erquickt wie bei dreißig Grad Réaumur ein Quellbad! Es giebt also doch noch Mädchen, welche das Herz auf dem rechten Flecke haben!“
„Und die Zunge, bester Freund! Daß Nummer fünf das letzte Wort behalten will, ist auch echt weiblich. Der Brief hat keine Unterschrift, also will man keine Antwort.“
[541] „Auch das gefällt mir, weil daraus hervorgeht, daß es die Briefschreiberin nicht auf eine kokette Plänkelei abgesehen hat, sondern es mit ihrer Empörung ehrlich meint.“ Damit ergriff Claudius den Umschlag des Briefes und begann den Poststempel zu entziffern. „Hirschberg in Schlesien. Nun, das ist wenigstens etwas. Ich hätte nicht übel Lust, diesen Nasenstüber, den mir Nummer fünf versetzt hat, anmuthig heimzugeben.“
„Damit wäre ich ganz einverstanden. Aber wie? Wir haben ja keine Adresse!“
Eilig warf Claudius einige Bleistiftzeilen auf den vor ihm liegenden Briefumschlag und schob ihn Gerlach zu. „Wenn dieses sofort an die ‚Norddeutsche Allgemeine‘ abginge? ‚Kamerunerin wird zum Zweck nothwendiger Mittheilungen dringend um Adressenangabe postlagernd G … burg ersucht. Freimuth.‘“
„Sie wird nicht antworten,“ meinte Gerlach, „indessen, der Versuch könnte ja gemacht werden, zumal da ich zur Zeit hier bin, um einen etwaigen Postlagernden von Grützburg abzuholen.“
So geschah es. Ein ahnungsvolles Vorgefühl sagte dem Fabrikherrn, daß sein Inserat nicht ohne Erwiderung bleiben werde, keineswegs aber hatte er diese so rasch erhofft, als sie in der That eintraf. Auch Gerlach war überrascht. „Ich fürchte, unsere ‚Kamerunerin‘ entpuppt sich jetzt, nachdem ihre Schlauheit den Fisch zum Anbeißen gebracht hat, doch noch als ‚europäische Durchschnittsjungfrau‘,“ sagte er lachend.
Inzwischen hatte Claudius den Brief geöffnet und begann halblaut zu lesen:
„Mein Herr!
Es erscheint mir unbillig, nachdem ich das Recht einer rückhaltslosen Meinungsäußerung für mich in Anspruch genommen habe, Ihnen nicht die gleiche Freiheit zugestehen zu wollen. So senden Sie mir denn die ‚nothwendigen Mittheilungen‘ unter: ‚Kamerunerin, postlagernd Hirschberg‘, aber bedenken Sie es wohl: ich gestatte Ihnen nur einmal, an mich zu schreiben, ich würde auf einen weiteren
Briefwechsel unter keinen Umständen eingehen und niemals wieder auf der Hirschberger Post nach postlagernden Briefen fragen, selbst wenn sich dieses Gebäude bis unter das Dach mit ‚nothwendigen Mittheilungen‘ des Herrn Freimuth aus Grützburg anfüllen sollte.“
[542] Soviel und kein Wörtlein mehr schrieb Nummer fünf, und Gerlach mußte gestehen, daß ihre zweite Kundgebung gleichfalls nicht unter Zuhilfenahme eines Komplimentierbuches verfaßt sein konnte. „Ich nehme meinen Verdacht reuevoll zurück,“ scherzte er. „Sie bleibt sich treu. Sie ist offenbar von Natur ein stachliges Ding! Mein Fall wäre das nicht!“
„Aber meiner!“ entgegnete Claudius lebhaft. „Und heute abend will ich mir die Erlaubniß dieser dornenreichen Rose zu nutze machen.“
Als die Geschäfte des Tages erledigt waren, zog sich Claudius in sein Heiligthum zurück, um die Antwort für Nummer fünf zu entwerfen. Allein das rechte Wort für den Anfang wollte leider nicht kommen. Trotz der friedlichen Abendstille, trotz der Havanna, einer Mitarbeiterin von erprobter Tüchtigkeit, trotz der Fülle an Stoff wollte die Sache nicht in Fluß gerathen. Da trat plötzlich etwas wie eine Wolke, etwas Lichtes, unbestimmt Gestaltetes in Ernsts Erinnerung, da stand es fast greifbar vor seinen Augen – sein Traumbild, die verschleierte Gestalt seiner „Namenlosen“! Und ebenso plötzlich floß diese mit der jener geheimnißvollen Korrespondentin in eins zusammen! Und da begann auch schon seine Feder ganz leise, wie von selbst, über das Papier zu laufen.
„Mein Fräulein!
Zunächst muß ich Ihnen sagen, daß die Zurechtweisung, welche Sie mir ertheilen wollten, ihren ursprünglichen Zweck zweimal verfehlt hat. Erstens empfand ich beim Lesen Ihres Briefes statt der mir zugedachten, unangenehmen Ueberraschnng ein aufrichtiges Vergnügen, zweitens enthielt er fast nichts, was ich mir nicht vorher schon selbst gesagt hätte!
Warum aber sandte ,Herr Freimuth aus Grützburg’ ein derartiges Inserat in die Welt, wenn er sich über dessen Wirkung auf jedes wohlerzogene, feinfühlige Mädchen im voraus so klar war? höre ich Sie fragen.
Ja, mein Fräulein, um das zu begreifen, müßten Sie meine ganze Lebens- und Entwicklungsgeschichte kennen, müßten wissen, wie weltfern, wie einsiedlerisch ich meine Jünglingsjahre verbracht habe. Das Schicksal gab mir damals keine Zeit, mit den Frauen Fühlung zu suchen. So lange es jeden Tag Neues zu lernen und Erlerntes in Thaten umzusetzen galt, ward mir der Mangel in meinem Dasein nicht fühlbar; jetzt, da ich Zeit habe, von selbstgewonnenen Lebenshöhen zurückzuschauen, empfinde ich es plötzlich, daß ich alleinstehe! Und aus diesem neuen, fremden ,Heimwehgefühl’ heraus entstand jenes thörichte Inserat! Allerlei äußere Eindrücke, unterstützt durch den Zauber des nahen Weihnachtsfestes, machten mich auf einige Tage beinah wundergläubig, wie ich es einst als Kind gewesen war. Ich meinte, es müsse irgendwo eine gleichgestimmte Seele sein, die mir vom Himmel bestimmt sei, die auf meinen Ruf antworten werde. So entschloß ich mich zu jenem Inserat, das sofort versandt wurde. Bei einem für gewöhnlich nichts weniger als empfindsamen Geschäftsmanne können Stimmungen der geschilderten Art – und stiegen sie auch aus den natürlichsten Quellen – naturgemäß nicht lange anhalten. Das Alltagsgesicht seiner Umgebung, die trockene Einförmigkeit seines Lebens verscheuchen schnell genug die dichterischen Träume, welche ihn vielleicht einmal heimlich in stiller Raststunde aufsuchen, wenn irgend eine äußere Anregung besondere Saiten in seiner Seele zum Tönen gebracht hat. So erging es auch mir. Auf den Gefühlsrausch folgte schnell das Erwachen und brachte Erkenntniß und Reue mit. Aber was half das? Lief doch meine Thorheit bereits gedruckt durch die Lande! Ich beschloß, der Sache den Rücken zu kehren, sie zu vergessen. Selbst die etwa einlaufenden Antworten sollten ungelesen bleiben. Ihnen zu erzählen, was mich diesem Entschlusse schließlich doch noch untreu machte, würde zu weit führen. Ich wiederhole nur, daß Ihr Schreiben mich außerordentlich angesprochen hat. Sie besitzen Muth und innere Selbständigkeit, jenen richtigen Stolz, ohne welchen ein echtes Weib nicht denkbar ist; kurz und gut, Sie verhalfen mir zu der angenehmen Erfahrung, daß es Mädchen von der Art meiner ‚Erträumten‘ in der That auch heute giebt! … Eines nur hätte ich von jener, von meiner Erträumten, anders erwartet: die Form der Zurechtweisung; ich vermisse darin neben dem Spott die weibliche Milde, die Töne eines freundlichen Herzens.
Sehen Sie, mein Fräulein, ich mußte Ihnen das sagen! Sie sollen ein wahrheitsgetreues Bild des Mannes erhalten, auf welchen Sie Ihre scharf gespitzten Pfeile gerichtet haben, sowie der Eindrücke, die der Gemaßregelte empfing. Das ist der Zweck meines Briefes. Die Hoffnung, bei Ihnen nach dieser rückhaltlosen Aussprache einiges Verständniß und im Anschluß daran richtigere und wohlwollendere Beurtheilung zu finden, wird das freundlichste Lichtlein meines einsamen Weihnachtsabends sein.
Freimuth.“
Der Brief war ganz anders ausgefallen, als Claudius ursprünglich im Sinne hatte; gern würde er einiges, zumal den gefühlsseligen Schlußsatz, gestrichen haben, allein er entschloß sich nach besserer Ueberlegung, das Schriftstück unverändert abzusenden. Handelte es sich doch für ihn hauptsächlich darum, daß das Mädchen ihn und sein Verhalten so bald als möglich im richtigen Lichte sah, selbst wenn sie niemals wieder von einander hörten.
Wie alljährlich so auch diesmal hatten Eberhards den Doktor Claudius zur Feier des Christabends in ihr trauliches Heim eingeladen, und wie alljährlich hatte er diese Einladung abgelehnt. Er wollte ruhig daheim bleiben und den Abend mit einem vernünftigen Buche zubringen.
In Kronfurth waren inzwischen Gerlachs geheimnißvolle Ritte nach der Nachbarstadt bekannt geworden und man machte sich seinen Vers darauf; natürlich einen, der die Wahrheit nicht im entferntesten streifte. Frau Edith war recht böse, als ihr die schön ausgeschmückte Mär durch die jüngste und unternehmendste Trägerin eines Mozartzopfes zugebracht wurde.
„Albert soll eine Liebelei mit der Grützburger Postmeisterstochter angebändelt haben! Wie findest Du das?“ sagte sie gleich nach Aufbruch der Besucherin höchst aufgebracht zu ihrem Gatten. „Das Mädchen hat gar keine Erziehung und nicht einen Heller Vermögen! Da müssen wir sofort eingreifen!“
„Zunächst empfiehlt es sich, die Nachricht auf ihre Begründung zu prüfen, Mäuschen,“ erwiderte der bedächtigere Professor.
„Emmy Weinland, von der ich die Sache gehört habe, lügt nicht, lieber Mann.“
„Nein, aber sie verbreitet Erlogenes, und das ist fast gleichbedeutend. Sie trägt unbedenklich weiter, was beim Kronfurther Kaffee ersonnen wurde.“
„Nun, wir werden sehen. Jedenfalls ist es unsere Pflicht, Albert von thörichten Streichen abzuhalten, und ich hoffe, daß Du mich darin unterstützen wirst.“ –
Obschon Claudius für sich selbst von einer eigentlichen Weihnachtsfeier absah, that er doch alles dazu, um seine Angestellten zu erfreuen und insbesondere seinem Hause einen heitern, festtägigen Anstrich zu verleihen. Er dachte an alles und an alle. Sogar Fräulein Adele Finnig, die Verfasserin der „Trübsalstropfen“, war mit einer Kiste stärkenden Weines bedacht worden, und Albert Gerlach hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, jede Flasche mit der Nebenetikette „Trostestropfen“ zu versehen.
Nun saßen die beiden Freunde nach Besorgung dieser Überraschungen noch bei einem Glase Wein zusammen. Es war am Nachmittag vor dem Christabend.
„Ihr Wein ist gut, Doktor!“ begann Gerlach das Gespräch, „gut namentlich für mich, der ich mir Muth trinken muß. Meine Schwester scheint nämlich – nach der Kürze und dem eigenthümlichen Tone ihres Handschreibens zu urtheilen – etwas Besonderes, eine moralische Kopfwaschung oder dergleichen, für mich in Absicht zu haben. Da will ich, Ihre gütige Erlaubniß vorausgesetzt, nachher hinüberreiten, um der Sache auf den Grund zu kommen!“
„Dem steht nichts im Wege, nur hätte ich Sie gern um sechs Uhr, zur Leutebescherung, wieder hier. Sie könnten übrigens meinen Wagen nehmen und mir den Gefallen thun, meine kleinen Weihnachtsscherze für Eberhards bei dieser Gelegenheit abzuliefern. Man möge die bereits überschriebenen Päckchen unter den Christbaum legen und, wenn die Lichter brennen, freundlich des Sonderlings von der Drachenburg gedenken!“
„Soll bestens besorgt werden! Und um sechs Uhr bin ich sicher zur Stelle.“ –
Was für ein stiller Nachmittag das war! Niemand kam, dem einsamen Fabrikherrn einen Weihnachtsbesuch abzustatten, nicht einmal sein Traumbild! Claudius saß im Dunkeln am Fenster des [543] Speisezimmers und blickte in den Hof hinaus. Der war freundlich erhellt. Geschäftig, leuchtende Laternchen in den Händen, liefen feine Leute hin und her. Jedermann that heute seine Pflicht doppelt schnell, um nachher frei zu sein, jedermann besaß irgend ein Wesen in der Welt, um dessenwillen ihm der Weihnachtsabend zum echten, rechten Herzensfeste wurde! Nur er selbst hatte kein Heim, welches die Liebe zur wirklichen Heimath gemacht hätte, er kam sich verarmt vor inmitten der Behaglichkeit seines von vielen beneideten Junggesellenlebens.
So verstrich die Zeit. Kopfschüttelnd erschien der schöne Amadeus, um die Gaskronen anzuzünden. Er verstand seinen Doktor nicht mehr. Dieses stundenlange unthätige Sitzen im Dunkeln war kein gutes Zeichen. Die Mertens meinte es auch. Sie hatte die Karten zu Rathe gezogen und „Veränderung im Hause“ herausgelesen. „Und die kommt durch eine schwarze Frauensperson, Herr Amadeus, darauf können Sie Gift nehmen!“ Das that der Herr Amadeus nun gerade nicht. Er nahm statt dessen einen Schluck von seines Herrn altem Cognac und begnügte sich damit, der Pique-Dame, welcher die Mertens ihren dicken Zeigefinger auf die Brust gesetzt hatte, einen drohenden Blick zuzuwerfen. Aber die Sache ging ihm im Kopfe herum, zumal als er seinen Doktor jetzt so geistesabwesend am Fenster sitzen und in die Dunkelheit hinausstarren sah!
Nun schlug es fünf auf der Hermannsthaler Fabrikuhr. Und da rollte auch schon der Wagen mit Gerlach zum Hofthor herein. Gleich darauf trat dieser ins Zimmer und brachte eine Fluth frischer, reiner Winterluft mit.
„Grüß’ Gott, Doktor! Ich wollte nicht zögern, mich vom Urlaub zurückzumelden.“
„Brav, lieber Gerlach! Die ‚Kopfwaschung‘ scheint übrigens, nach Ihrer heiteren Miene zu urtheilen, nicht sonderlich schlimm ausgefallen zu sein.“
Der junge Mann warf seinen Ueberrock mit einer gewandten Bewegung ab und trat nun in tadellosem schwarzen Abendanzuge dicht vor den Fabrikherrn. „Schauen Sie mich an!“ sagte er mit Pathos. „So und nicht anders sieht ein Märtyrer der Freundschaft aus!“
„Nicht übel! Und für wen, wenn man fragen darf, hat dieser ‚Salon-Märtyrer‘ geblutet?“
„Für den, der fragt, Verehrtester! Ja, ja – im Ernst. Die Kopfwaschung betraf nämlich meine häufigen Ritte nach Grützburg, von denen Eberhards eine allerliebste Auslegung erhalten haben müssen! Edith eröffnete mir sogleich, daß ganz Kronfurth um meine nahen Beziehungen zu der Grützburger Postmeisterstochter wisse, und fügte wohlwollend hinzu, ich möge mich schämen, wenn mir die Fähigkeit dazu nicht etwa auch abhanden gekommen sei! Mein Schwager nahm die Sache ruhiger, aber selbst er hielt es für nöthig, mir vorzustellen: ich hätte vorsichtiger sein und die Unmöglichkeit einer Verbindung mit jenem Mädchen rechtzeitig bedenken müssen. Jetzt wäre wohl auch ich verdientermaßen zu Worte gekommen, hätte sich nicht das ‚herzige Nellychen‘ gerade diesen entscheidungsvollen Augenblick ausgewählt, um kopfüber in einen vermuthlich zu ganz anderm Zweck bestimmten Eimer voll Seifenwasser hineinzuschießen! Diese eigenartige Festaufführung nahm das erschrockene Elternpaar derart in Anspruch, daß an eine erfolgreiche Vertheidigungsrede meinerseits nicht mehr zu denken war. So benutzte ich denn die allgemeine Verwirrung, um zu entfliehen, in den Wagen zu springen und – hier bin ich!“
Claudius lachte herzlich. „Da haben Sie in der That für mich geblutet, armer Freund. Aber ich werde die Sache sowohl Eberhards als ‚ganz Kronfurth‘ gegenüber bald aufklären, dessen dürfen Sie gewiß sein.“
„Daran liegt mir nichts. Meine völlige Schuldlosigkeit gegenüber der vielleicht sehr verführerischen, leider von mir noch nie gesehenen Postmeisterstochter muß ja schließlich durch das Mädchen selbst an den Tag kommen. Lassen wir also den Dingen ihren Lauf, schon um Ihres kleinen Romans willen.“
„Der ist beendet und – halb vergessen.“ Sie wußten beide, daß das nicht der Wahrheit entsprach, aber jetzt fehlte die Zeit zu weiterem Gedankenaustausche. Die Stunde der Leutebescherung war da. Fröhlich ging die Feier heute wie allemal von statten, beschlossen durch einen vom Kronfurther Pfarrvicar gespielten Choral, in welchen groß und klein voll andächtiger Freudigkeit einstimmte.
Der schöne Amadeus und die Mertens erhielten ihre Gaben besonders und zogen sich dann sehr vergnügt in die punschdurchdufteten unteren Regionen der Drachenburg zurück.
„Nun sind wir frei,“ sagte Claudius, als er schließlich mit Gerlach in dem großen Bescherungssaal allein zurückgeblieben war. „Aber ich will Sie den Geschwistern nicht ungebührlich lange entziehen. Meine kleinen Freundschaftsgaben wird Ihnen Frau Edith in Kronfurth bescheren.“
„Sie beschämen mich, Doktor! Besonderer Gaben bedarf es wahrlich nicht, wo Ihr Vertrauen, Ihre Zuneigung mich täglich aufs neue so reich machen! Aus eigenem Können weiß ich nichts auch nur annähernd Gleichwerthiges dafür zu bieten. Doch hier“ – er zog einen Brief aus der Brusttasche seines Rockes und legte ihn unter den Tannenbaum, neben welchem sie standen – „hier ist eine kleine Festgabe, die Ihnen vielleicht Freude bringt. Ich fuhr nach dem Kronfurther Verhör noch schnell zur Grützburger Post hinüber. Eine Ahnung sagte mir, der vierundzwanzigste Dezember werde Ihnen ein Gedenkzeichen von Nummer fünf bringen!“
„Gerlach!“
„Lesen Sie den Brief nur erst, bester Freund! Vielleicht ist er recht stachlig, so stachlig wie die beiden andern, und dann werden Sie mir kaum noch Dank dafür wissen … Indessen gehe ich, mich zu meiner Fahrt nach Kronfurth zu rüsten.“
Kaum war Claudius in der Stille des Aristoteleszimmers allein, so öffnete er den Brief. Nummer fünf befleißigte sich auch diesmal der gewohnten Kürze, aber sie hatte ein offenbar vom eigenen Weihnachtsbaum gebrochenes, frischduftendes Tannenreis beigefügt. – „Noch einmal schreibe ich Ihnen, mein Herr! Das letzte Mal. Allein ich muß Ihnen sagen, wie leid es mir thut, Sie verkannt zu haben. Ja, verkannt! Ihr Inserat machte mir einen gesuchten, gekünstelten, mit einem Wort einen unwahren Eindruck. Nur die höchste Anmaßung und Verschrobenheit oder ein schlechter, sehr schlechter Scherz konnten nach meiner ersten Empfindung der Sache zugrunde liegen. Ich weiß nun, daß ich irrte, und bitte Sie, mir zu vergeben. Etwas möchte ich Ihnen außerdem sagen, etwas aufrichtig Gutgemeintes: stellen Sie sich den Frauen gegenüber auf einen neuen, einen richtigeren Standpunkt! Dann werden Sie auch – ich prophezeie es Ihnen – eines Tages jene ‚gleichgestimmte Seele‘ finden.“
„Du selbst bist es – die gleichgestimmte Seele!“ murmelte Claudius, und seine Hand schloß sich fester um das Tannenreis. Dann las er weiter: „Glauben Sie mir, Herr Freimuth, die Ihnen so verhaßte moderne Mädchenerziehung ist bei weitem nicht das, was Sie aus der Vogelschau in ihr erblicken. Geschraubtheit und Unnatur hat es immer gegeben, sie sind keine ausschließlichen Eigenschaften unserer Zeit. Auch die Mode, gegen welche Ihr Inserat gleichfalls einen kleinen Ausfall macht, brachte immer neben Gutem und Nützlichem Unschönes und Verkehrtes – und immer ließen sich hier und da selbst vernünftige Frauen durch Beispiel und Gewohnheit zu kleinen Geschmacksverirrungen verleiten, ohne dadurch ihres innern Werthes verlustig zu gehen. Und nicht selten ist die äußere Erscheinung das Ergebniß zwingender, namentlich materieller Lebensumstände, sodaß sich in geschmackloser oder gar lächerlicher Hülle eine köstliche Perle bergen kann. Damit ist nicht gesagt, daß Herr Freimuth aus Grützburg fortan jeder Vogelscheuche nachlaufen und sie auf ihren inneren Werth hin prüfen soll; aber gut acht haben, nicht von oben herab vorschnell verurtheilen, was er nicht kennt, und vor allem das Schöne und Gute seiner Zeit nicht über nutzlosen Träumen übersehen und versäumen – das soll er!
Lachen Sie nicht über diese Sittenpredigt! Ich habe gerade darüber viel nachgedacht. Mein Leben gleicht in seinen äußeren Umrissen einigermaßen dem Ihren. Auch ich wuchs weltfremd empor in eigenartiger geistiger Luft, durch die Verhältnisse vom rechten, echten ‚Jungsein‘ zurückgehalten, und finde nun den Weg in die Welt der Andern nicht mehr, ohne aber deshalb diese Welt zu verkennen oder gering zu achten. Ein Bekenntniß für das andere, Herr Freimuth! Sehen Sie in dem meinigen ein Zeichen der Achtung!
Und zuguterletzt: dieses Zweiglein soll Ihnen: ‚Fröhliche Weihnachten!‘ wünschen und fürs kommende Jahr ein reiches, echtes Glück!
Antworten Sie mir nicht, denn weitere Zuschriften würden nicht in meine Hände gelangen. Gott mit Ihnen!
Die ‚Kamerunerin‘.“
[544] „Und fürs kommende Jahr ein reiches, echtes Glück!“ Wär’s nicht, als habe das eine sanfte Frauenstimme in seine Einsamkeit hereingerufen?. „Ich werde Dich finden, auch wenn ich Dir nicht mehr schreiben darf!“ sagte Ernst Claudius in tiefem Sinnen. Da schob sich der schöne Amadeus, dessen bescheidenes Anklopfen der Fabrikherr offenbar überhört hatte, lautlos wie ein Schatten zur Thür herein, scharfen Auges die Lage überschauend. Seltsam! Da stand sein Herr, selbstbewußt und hochaufgerichtet wie einer, der vor einer wichtigen Unternehmung steht, und ein siegesgewisses Lächeln schwebte um seine Lippen.
„Was giebt es, Amadeus?“
„Herr Gerlach ist im Begriff, nach Kronfurth zu fahren, Herr Doktor. Er möchte sich verabschieden.“
„Schon recht. Bringen Sie ihm das hier!“
Es war ein Blättchen, worauf der Fabrikherr geschrieben hatte: „Warten Sie zehn Minuten! Ich fahre mit.“
Albert Gerlach war angenehm überrascht, als Claudius bald darauf zu ihm in den Wagen stieg. Der Fabrikherr schien trefflicher Laune zu sein.
„Lassen Sie mich Ihre Rechtfertigung bei Edith übernehmen, lieber Freund!“ äußerte er. „Ich denke, wir werden nachher alle miteinander einen recht fröhlichen Weihnachtsabend haben.“
Gerlach ahnte wohl, was den Fabrikherrn so plötzlich äußerlich und innerlich verwandelt hatte, aber er sprach sein Verständniß nicht in Worten, sondern nur durch einen kräftigen Händedruck aus. Dann fuhren sie in zufriedenem Schweigen nach Kronfurth.
Alle Rechte vorbehalten.
Unschuldig verurtheilt!
Wie es sich in dem zuletzt erzählten Falle des Schuhmacherlehrling B. gezeigt hat, kann die Täuschung über die geistige Zurechnungsfähigkeit eines Angeklagten zur Verurtheilung eines wenn auch nicht der Thatsache, so doch der rechtlichen Haftbarkeit nach Unschuldigen führen. Dieselbe Täuschung wirkt aber leicht auch dann verhängnißvoll, wenn sie nicht die geistige Gesundheit des muthmaßlichen Thäters selbst, sondern die eines Zeugen betrifft. Das beweist ein neuerer Fall aus der österreichischen Justiz.
Peter Pabst, Hausbesitzer und Heger bei der gräflich Weißenwolf’schen Forstverwaltung in Steyregg, wurde im September 1888 vom Schwurgerichte zu Linz hauptsächlich auf Grund der Aussage des Forstpraktikanten Karl Breitwieser wegen Diebstahls und Brandstiftung zu zwölf Jahren schweren Kerkers verurtheilt. Nachdem er bereits einunddreiviertel Jahre von dieser Strafe verbüßt hatte, brachte jener Breitwieser bei Gericht zur Anzeige, daß an ihm ein Raubmordversuch verübt worden sei. Die eingeleitete Untersuchung ließ indeß Zweifel an der Wahrheit dieser Anzeige und mit ihnen weitere Zweifel an der geistigen Zurechnungsfähigkeit Breitwiesers aufkommen; die nach dieser Richtung vorgenommenen Erhebungen ergaben, daß derselbe schon seit Jahren an der Fallsucht (Epilepsie) litt. Dabei entlockte ihm der prüfende Gerichtsarzt zugleich das Geständniß, daß er jenen Brand, dessen er den verurtheilten Pabst bezichtigt, selbst angelegt habe. Als er das verhängnißvolle Zeugniß ablegte, war er mit „transitorischer Manie“ d. h. mit vorübergehenden Wahnvorstellungen behaftet und von krankhaftem Hasse gegen Pabst erfüllt, Fabulant und Verleumder. Das spätere Geständniß war nur die Frucht eines lichten Augenblicks, in welchem das schlafende Gewissen zu seinem Rechte kam. Pabst wurde darauf aus der Strafhaft entlassen, aber sein Vermögen war verloren und ein anhaltendes Blutbrechen hatte seine Gesundheit untergraben. Es ist indeß zu hoffen, daß ihm infolge seiner an das österreichische Abgeordnetenhaus gerichteten Eingabe wenigstens der Schaden an Geld und Gut wieder ersetzt werde.
Manche Uebelthäter suchen das Gewicht ihrer Verschuldung dadurch zu verringern, daß sie angeben, sie seien von andern Personen zu der verbrecherischen That verleitet worden; in heimtückischer Bosheit ziehen sie auf diese Weise oft Unschuldige mit in das Verderben.
Am 20. September 1888 stand der Dienstknecht Franz Wallner vor dem Schwurgericht zu Graz, angeklagt der absichtlichen Brandlegung an den Wirthschaftsgebäuden des Gutsbesitzers Blasius Karner in Emporsdorf bei Wildon. Er hatte zugleich seinen Dienstherrn, den Gutsbesitzer Franz Fedl und dessen Frau, sowie die Magd Marie Wagner der Verleitung zu diesem Verbrechen bezichtigt und mit sich auf die Anklagebank gebracht. Der Brand bei Karner hatte furchtbare Folgen gehabt. Die Hausfrau hatte bei der Rettung des Viehs so schwere Brandwunden erlitten, daß sie daran starb. Die Pflegetochter war infolge des ausgestandenen Schreckens irrsinnig geworden und ebenfalls nach kurzer Zeit gestorben.
Was den Verdacht der Urheberschaft an dieser folgenschweren That auf die Bewohner des dem Gutsbesitzer Franz Fedl gehörigen Nachbargehöfts lenkte, war zunächst der auffallende Umstand, daß sie die einzigen Nachbarn im Dorfe waren, welche nicht auf der Brandstätte erschienen, ja daß sie sogar zu Hause während des Feuers nach den Klängen einer Ziehharmonika lustig und munter tanzten. Kurze Zeit vor diesem Ereigniß waren ferner Franz Fedl und sein Knecht Wallner von Karner, der zugleich Jagdaufseher war, wegen Wilddiebstahls angezeigt und vom Bezirksgericht Wildon bestraft worden. Damit war auch ein Beweggrund gefunden: die Bestraften hatten sich offenbar an Karner rächen wollen.
Franz Wallner war auch der That geständig, er behauptete aber, sein auf Karner erboster Dienstherr habe ihn wiederholt dazu aufgefordert. Um ihm Muth zu machen, habe er ihm an dem Tage viel zu trinken gegeben, auch ein Päckchen Zündhölzer zugesteckt mit dem Bemerken, er solle warten, bis alles schlafe, und dann das Gehöft des verhaßten Jagdaufsehers anzünden. Marie Wagner, die Dienstmagd, welche für ihre Person jede Betheiligung bestritt, wollte doch dabei gewesen sein, wie Franz Fedl dem Wallner für das Anzünden des Karnerschen Gehöfts fünf Gulden und die Frau Fedl noch einen weitern Gulden versprochen habe. Zwei junge Burschen, welche sich an dem Tanze im Fedlschen Hause betheiligt hatten, konnten bezeugen, daß sie von den Fedlschen Eheleuten abgehalten worden seien, dem bedrohten Nachbar beizuspringen. Das Ergebniß war, daß die Frau und die Magd freigesprochen, bei Wallner die Schuldfrage einstimmig und bei Franz Fedl die Frage der Verleitung mit zehn von den zwölf Stimmen bejaht wurde. Das Urtheil lautete demgemäß bei jenem auf zehn Jahre schweren Kerkers, bei diesem auf lebenslänglichen schweren und geschärften Kerker.
Beide traten ihre Strafe an. Franz Fedl stellte jedoch jegliche Verleitung, jegliche Einwirkung auf seinen Knecht in Abrede. Er machte wiederholt Anstrengungen, die Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen, allein sie blieben ohne Erfolg, bis endlich den Wallner eine schwere, voraussichtlich tödliche Krankheit befiel. Da schlug ihm das Gewissen und seinem Munde entrang sich das Bekenntniß, daß er, um seine Schuld abzuschwächen, seinen Dienstherrn mit Unrecht als seinen Verführer beschuldigt habe. Er nahm alle hierauf gerichteten Angaben zurück.
Das Verfahren wurde nun wieder aufgenommen und auf Grund der neuen Erhebungen das alte Urtheil für nichtig erklärt. Fedl verließ den Kerker, in dem er zwei Jahre lang die durch das Bewußtsein seiner Unschuld verschärften Qualen eines Verurtheilten erduldet hatte. Man kann den Gedanken nur mit Entsetzen ausdenken, daß dieser Mann ohne das Bekenntniß eines Sterbenden sein ganzes Leben in schwerer Kerkerhaft hätte verbringen müssen. Und doch lag nach menschlichem Ermessen die Sache so, daß die Verurtheilung Fedls gar nicht Wunder nehmen konnte. Denn gegen jene Bosheit und Niedertracht, wie sie in dem Verfahren des Knechts Wallner lag, ist der Richter waffenlos. Er muß eben vor allem glauben, daß es die Wahrheit ist, was er aus dem Munde eines des Lügens nicht verdächtigen Zeugen vernimmt, muß es um so mehr glauben, wenn dieser Zeuge seine
[545][546] Angaben mit einem Eide bekräftigt; der Eid ist die letzte, äußerste Vorsichtsmaßregel, welche das Gesetz dem Richter an die Hand giebt, und nicht umsonst wird er mit den feierlichsten Formen umkleidet. Aber leider muß man wieder und wieder die Erfahrung machen, daß auch dieser ernsteste Anruf an das Wahrhaftigkeitsgefühl in der Menschenbrust keine vollkommene Sicherung gegen die Lüge bildet.
Das trat ist erschreckender Weise in einem Straffalle zu Tage, der sich im Jahre 1880 zu Berlin abspielte. Hier wurde eine Frau Luise Ernestine Steigerwald, Ehefrau eines Restaurateurs, das Opfer eines ganz niederträchtigen Komplotts falscher Zeugen.
Die Steigerwaldschen Eheleute lebten in kinderloser Ehe und hatten deshalb ein junges Mädchen, Edwine M., aus dem Waisenhause an Kindesstatt angenommen. Die Wahl war keine gute gewesen. Das Kind erwies sich als undankbar und durch und durch lügnerisch. Diese schlimmen Eigenschaften wußte das Dienstmädchen S. für ihre Zwecke auszubeuten. Sie war von ihrer Dienstherrin mit einem schlechten Zeugnisse entlassen worden und sann nun auf Rache. So beschloß sie, die Frau Steigerwald in Untersuchung und Strafe zu bringen, indem sie dieselbe der fortgesetzten schweren Mißhandlung der Pflegetochter beschuldigte. Um der Anzeige Erfolg zu verschaffen, verleitete sie das zwölfjährige Kind zu allerlei falschen Angaben. Es mußte vor Gericht aussagen, daß es von der Pflegemutter immer aufs strengste und gröbste behandelt und häufig mit einem dicken Stricke geschlagen worden sei; man habe es sogar unter fortgesetzten Drohungen gezwungen, die ekelhaftesten Dinge zu verzehren. Die S. zog auch den Stiefbruder ihrer Herrin, einen Füsilier E., der mit seiner Stiefschwester nicht in gutem Einvernehmen stand, mit in das Komplott und wußte ihn zu bestimmen, daß er als Belastungszeuge auftrat. Da die S. die Aussage des Kindes mit ihrem Eide bestätigte, so wurde den Betheuerungen der Frau Steigerwald, daß ihre Pflegetochter durch und durch unwahrhaftig sei, kein Glaube geschenkt; die unglückliche Frau wurde vielmehr wegen schwerer Mißhandlung zu einer dreijährigen Gefängnißstrafe verurtheilt.
Jetzt machte es sich aber ein Bekannter der Familie Steigerwald namens Bornstedt zur Aufgabe, die Wahrheit ans Licht zu ziehen, nachdem es ihm zunächst gelungen war, auf Grund ärztlicher Zeugnisse eine vorläufige Haftentlassung der einst kräftigen und gesunden, jetzt ganz hinfälligen Gefangenen zu erzielen. Er bediente sich dabei einer List. Er reiste nach Brandenburg, wo der Stiefbruder der Frau Steigerwald in Garnison stand, gewann dessen Vertrauen und erfuhr von ihm, daß er mit der Hauptzeugin, dem früheren Steigerwaldschen Dienstmädchen, noch in Briefwechsel stehe und daß deren Aufenthalt Berlin sei. Nunmehr sandte er an diese eine Mittelsperson, welche sie im angeblichen Auftrag des E. bestimmte, ihre Briefe, um sie einer etwaigen Beschlagnahme zu entziehen, durch die Hand Bornstedts laufen zu lassen. Die S. ging in die ihr gestellte Falle. Bornstedt behielt die Originalbriefe und schickte dem E. bloß Abschriften. Einige verrätherische Bemerkungen darin brachten das heimtückische Komplott an den Tag, und die Untersuchung wurde wieder aufgenommen. Zwar betheuerte in der neuen Hauptverhandlung das Dienstmädchen wiederholt die Richtigkeit ihrer früheren Aussage – durch einen Widerruf hätte sie sich ja selbst eines Meineids überführt – aber die von Bornstedt vorgelegten Schriftstücke legten ein vernichtendes Zeugniß wider sie ab. Der Stiefbruder zog es vor, von dem ihm als Verwandten zustehenden Rechte der Zeugnißverweigerung Gebrauch zu machen, dagegen sagte eine neue Zeugin, Frau Kothe, bei welcher die S. nach ihrem Abzuge von der Frau Steigerwald einige Zeit gedient hatte, unter anderem aus, ihre damalige Hausgenossin habe kurz vor der falschen Anzeige zu ihr geäußert, sie werde die Steigerwald schon hereinlegen, deren Stiefbruder werde ihr dazu verhelfen und den Eid werde sie schon leisten, den brauche man ja nur nachzuplappern. Auch die mittlerweile in einer Zwangspflege untergebrachte Edwine M. war inzwischen in sich gegangen und erklärte ihre frühere Aussage für erlogen. Sie habe dieselbe nur auf Zureden der S. gemacht.
Nach Schluß der Beweisaufnahme beantragte der Staatsanwalt, die Frau Steigerwald freizusprechen und die S. wegen Meineids in Haft zu nehmen. Es sei ihm, führte er aus, ganz zweifellos, daß die Angeklagte unschuldig verurtheilt worden sei auf Grund eines empörenden Lügengewebes, welches die S. gesponnen habe. Es handle sich hier um ein furchtbares Unglück, welches über die Frau hereingebrochen sei. Die Sache habe dasselbe Gewicht, wie wenn jemand ermordet oder dem Arzte, der helfen und operieren wolle, hinterrücks ein vergiftetes Instrument zugesteckt würde. Mit solchen vergifteten Instrumenten habe in diesem Falle der Gerichtshof operieren müssen, und deshalb falle die Schuld nur auf das Haupt derer, welche die Frevelthat verbrochen hätten. Das Gericht sprach denn auch, wie nicht anders möglich, die Frau Steigerwald frei und legte dem Staate die Tragung sämmtlicher Kosten und Auslagen auf. Der Vorsitzende erklärte nach Verkündigung dieses Urtheils, daß er bedauere, der schuldlosen Frau nach Lage der Gesetzgebung nicht mehr gewähren zu können.
Sie hatte anderthalb Jahre im Gefängniß gesessen und ihre Gesundheit eingebüßt.
Ein besonders greller Fall, der seiner Zeit großes Aufsehen erregte und die Theilnahme der Presse und des Publikums bis über den Ocean hinüber gewann, war derjenige des Mühlknappen Schrader in Kroppenstedt, welcher wegen Brandstiftung zu einer fünfzehnjährigen Zuchthausstrafe verurtheilt wurde; er hatte schon sieben Jahre davon verbüßt, als endlich das Licht erlösender Wahrheit in seine Kerkerzelle fiel. Auch in diesem Falle handelt es sich um eine, vom eigentlichen Thäter mit teuflischer List ins Werk gesetzte Ablenkung des Verdachts auf einen unschuldigen Dritten.
Am 3. November 1867 – wir folgen hier einem ausführlichen Berichte der „Magdeburger Zeitung“ – brannnte die dem Müllermeister Ferdinand Könnecke zu Kroppenstedt gehörige, in kurzer Entfernung vor dem Kirchthore daselbst gelegene Bockwindmühle ab, auf welcher der Mühlknappe Friedrich Schrader vom Sommer 1866 bis dahin 1867 gearbeitet hatte. Der Brandstifter wurde nicht ermittelt und Könnecke baute an derselben Stelle eine neue Mühle auf. Auch in dieser brach am 2. Mai 1869 morgens gegen drei Uhr Feuer aus, Feldarbeiler, die in der Morgenfrühe vorüber gingen, hatten die Mühle offen stehen und einen dunklen Gegenstand die Treppe hinab kollern sehen. Beim Näherkommen fanden sie den Müllerburschen Günther in scheinbar bewußtlosem Zustande dort liegen. Die Beine waren ihm mit einem Stricke und die Hände mit einem Stücke Weißzeug zusammengebunden. In der Mundhöhle stak ein Taschentuch. Die Jacke hatte bereits Feuer gefangen. Durch ärztliche Hilfe wieder ins Bewußtsein zurückgerufen, machte er die Angabe, es habe nachts zwei Uhr an der verschlossenen Eingangsthür der Mühle geklopft und eine Stimme habe gerufen: „Mach’ auf!“ Als er öffnete, seien zwei Männer mit geschwärzten Gesichtern eingetreten, von denen er den einen als den Mühlknappen Schrader erkannt habe. Dieser habe ihn sofort gepackt und dann, während der andere ihn von hinten festhielt, einen Stricks und ein Vorhemdchen herbeigeholt, um ihm Beine und Hände zusammenzubinden. Zuletzt habe Schrader ihm das Taschentuch aus der Tasche gezogen und in den Mund gestopft. Dann sei der zweite, ihm nicht bekannte Mann daran gegangen, den größeren Cylinder in der Mühle in Brand zu setzen, und da ihm dies nicht gelang, habe er den Versuch bei dem kleineren wiederholt, der dann auch bald in hellen Flammen aufgelodert sei. Darauf hätten sich die Eindringlinge entfernt. Ihm selbst habe die Angst vor dem Feuertode noch soviel Kräfte verliehen, daß er sich bis an die von den Brandstiftern offen gelassene Thür habe schleppen können, um sich von dort die Treppe hinab fallen zu lassen, worauf ihm das Bewußtsein geschwunden sei. Den ihm gegenüber gestellten Schrader bezeichnet er nochmals bestimmt als einen der Thäter auch der Kleidung nach, nur habe er eine andere und zwar eine rothgestreifte Jacke getragen. Schrader versicherte dagegen, überhaupt nur eine Jacke zu besitzen. Bei der Haussuchung fand sich indeß noch eine zweite und zwar rothgestreifte Jacke vor, welche allerdings ganz zerlumpt war.
Dieser Umstand und der weitere, daß Schrader während seiner Dienstzeit bei Könnecke einmal geäußert hatte, er werde an diesem schon noch Rache nehmen, ließen die Aussage des Günther begründet erscheinen. Am 12. Juli 1869 wurde der Angeklagte trotz seines beharrlichen Leugnens von dem Schwurgerichte zu Halberstadt der vorsätzlichen Brandstiftung und des versuchten Mordes für schuldig erklärt und zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurtheilt.
Am 21. Juli 1869 trat er seine Strafe im Zuchthause zu Halle an. Zwei Gesuche um Wiederaufnahme des Verfahrens blieben ohne Erfolg. Dabei wurde indeß doch etwas ermittelt, [547] was das Zeugniß Günthers in ein eigenthümliches Licht stellte. Dieser hatte inzwischen bei dem Müllermeister Hackeborn in Arbeit gestanden. Wegen schlechten Betragens wurde er entlassen und – zwei Tage darauf brannte die Mühle nieder. Auch die Verwendung des Magistrats zu Kroppenstedt und der Versuch, im Wege der Gnade eine Aenderung in Schraders Schicksal herbeizuführen, blieben ohne Erfolg. Alle Mittel schienen somit erschöpft.
Da – es war am 31. Oktober 1876, also sieben Jahre nach jener Verurtheilung – meldete sich Günther beim Fürstenwallposten zu Magdeburg und gab an, daß er die Könneckesche Mühle am 2. Mai 1869 selbst angesteckt habe, daß seine Erzählung von der Thäterschaft Schraders erlogen gewesen sei. Dieses Bekenntniß wiederholte er auch vor Gericht.
Danach sollte sich die Sache folgendermaßen zugetragen haben:
Ein Ziegeldecker zu Kroppenstedt verleitete Günther am Abend des 1. Mai 1869 dazu, seinem Dienstherrn einen halben Scheffel Roggenmehl zu entwenden und ihm für sechs Groschen zu überlassen. Die Furcht vor Entdeckung dieses Diebstahls brachte in Günther den Entschluß zur Reife, die Mühle in Brand zu stecken und damit die Spuren des Vergehens zu verwischen. Gegen ein Uhr nachts legt er das Feuer an. Als die Flammen rasch um sich greifen, fesselt er sich an Händen und Füßen in der Absicht, sich selbst mit zu verbrennen. Aus einer Ohnmacht wieder zu sich gekommen, hört er den Namen Schraders rufen, und um die Thäterschaft von sich abzulenken, bezeichnet er ihn als Brandstifter. Der Zufall will es dann, daß eine von ihm aufs Gerathewohl beschriebene Jacke sich wirklich in Schraders Besitz befindet.
Obwohl die angestellten Erhebungen das Selbstbekenntniß Günthers nicht in allen Punkten bestätigten, namentlich nicht in Betreff des Beweggrundes, so blieb doch kein Zweifel übrig, daß Schrader schuldlos verurtheilt worden war. Eine irrenärztliche Prüfung ließ auch die Zurechnungsfähigkeit Günthers als ganz zweifellos erscheinen. In Uebereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft wurde auf Freisprechung Schraders erkannt und nunmehr Günther wegen vorsätzlicher Brandstiftung und Meineids mit sechs Jahren Gefängniß bestraft.
Das Schicksal Schraders erweckte, wie erwähnt, eine weitgehende Theilnahme. Namentlich war es die „Magdeburger Zeitung“, welche in einigen warmen Artikeln für die Sache des unschuldig Verurtheilten eintrat. „Sein Besitzthum,“ schrieb sie, „ist verkauft; seine Familie zerstreut. Entblößt von allem, ist er des Mitleids wohlthätiger Menschen werth.“ Dieser Ruf an die Menschenliebe verhallte nicht ungehört. Sie trat ein in die von der Gesetzgebung offen gelassene Lücke und brachte in kurzer Zeit die Summe von dreißigtausend Mark auf als Sühnegeld für das dem armen Müllergesellen zugefügte Unrecht.
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Die von uns gesammelten Beispiele haben gezeigt, wie viele Ursachen zusammen wirken können, um einen falschen Urtheilsspruch zustande zu bringen. Einsichtsvolle Geschworene, gewissenhafte Richter, die feierlichsten Einrichtungen, welche menschliche Bildung und menschliche Sitte geschaffen haben, um das heilige Recht aufrecht zu erhalten, werden hier zu willenlosen Spielbällen eines äffenden Zufalls, heimtückischer Bosheit, kindischer Schwachheit, wissenschaftlicher Fehlgriffe. Nicht Absicht oder böser Wille auf seiten derer, welche berufen sind, das Recht zu finden, liegen hier vor, nur der Irrthum ist es, der obwaltet, dessen letzter Grund aber wieder in der Unvollkommenheit aller menschlichen Weisheit und Erkenntniß liegt.
„Was ist Wahrheit?“ Diese Frage des römischen Landpflegers wird immer eine offene sein und bleiben, solange nicht der Himmel zur Erde steigt. Nur geistige Beschränktheit und eitle Selbstgefälligkeit wird meinen, ihr Ausspruch sei unfehlbar. Und es liegt ein tiefer Sinn drin, wenn der mohammedanische Richter, indem er vor der Weisheit eines Höhern sich beugt, seine Urtheile stets mit dem Ausruf schließt: „Allah weiß es besser.“
Unter den Urtheilen, welche jährlich zu Tausenden in die Welt hinausgehen, bilden indeß diejenigen, welche einen Unschuldigen irrthümlich der Strafe zeihen, nur einen sehr geringen Prozentsatz, und es steht andererseits fest, daß mehr Schuldige freigesprochen als Unschuldige verurtheilt werden. Wo aber dennoch das letztere geschah und wo dann eine glückliche Wendung die Wahrheit an den Tag förderte, die Unschuld des Verurtheilten zu unbestreitbarer Gewißheit erhob, da, meinen wir, sollte es der Staat als seine heilige Pflicht betrachten, das einem seiner Bürger widerfahrene Unrecht zu sühnen, soweit es überhaupt geschehen kann, ihm Ersatz zu leisten wenigstens für den Ausfall an materiellen Gütern. Es bleiben ja doch, wie sich uns wiederholt enthüllt hat, Schädigungen moralischer Art genug übrig, die auszugleichen in keines Menschen Macht steht. Nur dann, wenn der Staat nicht bloß den Schuldigen straft, sondern auch den unschuldig Gestraften nach einem alten Rechtsausdruck „wieder einsetzt in den vorigen Stand“, nur dann ist er, was er sein soll, ein – nach menschlichem Maße gemessen – vollkommener Hüter des Rechts. Fr. Helbig.
Blätter und Blüthen.
Alice Barbi. (Zu dem Bildnisse S. 533, nach einer Photographie aus dem Atelier Krziwanek in Wien.) Fast wie das Mädchen aus der Fremde ist sie vor zwei Jahren in Wien erschienen. Niemand wußte, woher sie kam, und jedem brachte sie eine Gabe, dem Verehrer altitalienischer Musik wie dem Bewunderer von Beethoven und dem Liebhaber des deutschen Liedes. Das Halbdunkel, welches auf den Anfängen von Alice Barbi, der heute allenthalben hochgefeierten italienischen Sängerin, liegt, ist noch immer nicht ganz zerstreut, und alles, was man uns erfahren läßt, ist in wenigen Worten zusammen zu fassen: Alice Barbi ist um die Mitte der fünfziger Jahre geboren, und zwar zu Florenz oder wenigstens in der Nähe der Arnostadt. Ihre arme Familie konnte nichts für die Ausbildung ihres Gesangtalentes thun, aber das Glück ließ sie eine reiche Persönlichkeit des toskanischen Adels finden, welche großmüthig die Kosten hiefür trug. Und nun ist die Künstlerin imstande, durch ihren Ruhm die ihr erwiesene Unterstützung zu belohnen und zugleich als gute Tochter und Schwester den Ihrigen zu helfen.
Wird somit die Neugier, welche das Vorleben Alice Barbis erforschen möchte, nur halb befriedigt, so hat die Sängerin selbst gleich beim ersten Eintritt in die deutsche Musikwelt alle Titel aufgewiesen, die ihr eine glänzende Aufnahme sichern mußten. Wir erinnern uns noch lebhaft ihres ersten Auftretens in Wien – es war Ende Januar 1889 – bei einem Liederabend im Bösendorfer-Saale. Durch ihre prächtige Erscheinung und besonders durch ein fein geschnittenes Profil das Auge gewinnend, erschien sie dem Hörer alsbald als das wahre, edle Vorbild des „Schöngesangs“, des Bel canto, durch Tadellosigkeit in Ton und Aussprache, durch Biegsamkeit und Weichheit der Stimme, durch Verzicht auf jede Effekthascherei, durch Gleichmäßigkeit und Reinheit des Trillers. Mit wachsendem Staunen hörten wir erst den Vortrag von Kompositionen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, dann Beethovens Arie „Ah perfido“, und als sie vollends mit bestrickender Anmuth ein Schubertsches Lied um das andere sang, da wollte der Beifall der sonst etwas verwöhnten Wiener kein Ende mehr nehmen.
Schon bei ihrem zweiten Konzerte konnte der große Musikvereinssaal die Menge derjenigen nicht mehr fassen, die herbeiströmten, um die mit einem Schlag berühmt gewordene italienische Sängerin zu bewundern. Und siehe da, selbst in diesem großen Raume reichte ihre Stimme, die dieser und jener anfänglich etwas schwach hatte finden wollen, so vollständig aus, daß auch noch ihr Pianissimo bis in die entferntesten Winkel drang. Charakteristisch im Tone bei jeder Arie und jedem Liede, ergreifend, übermüthig, sinnig oder leidenschaftlich, wie es das Wesen der wechselnden Kompositionen erforderte – überschritt sie, eine echte und wahre Künstlerin, niemals die Linie der unbedingten Schönheit. Seither hat sie einen förmlichen Siegeszug durch Deutschland gehalten, und es ist wohl nicht zu kühn, wenn man ihr eine nicht minder glänzende Ruhmeslaufbahn voraussagt wie einer Adeline Patti oder Jenny Lind. l.
Das Jubiläum eines Adlerjägers. (Zu dem Bilde S. 548.) „Und die Adlerfeder auf Deinem Hute hast Du Dir wohl höchst eigenhändig erbeutet?“ so fragte mich in etwas ironischem Tone der Freund, der mich bei meiner Rückkehr von einem kleinen Pfingstausflug ins bayerische Algäu am Bahnhof abgeholt hatte und nun behaglich mit mir hinter einer Flasche Landwein saß.
„Das nun gerade nicht, mein Lieber, aber ein Andenken ist sie mir doch, beinahe so werth, als wenn ich sie selbst mit einem glücklichen Schuß aus den Lüften heruntergeholt hätte. Sie stammt von Leo Dorn.“
„Von Leo Dorn? Verzeih’, wer ist das? Ich habe leider nicht das Vergnügen!“
„Nun, hast Du vielleicht einmal das Bild von Fritz August Kaulbach gesehen, den prächtigen Kopf des Jägers mit dem kühn gezeichneten Profil, den blitzenden durchbohrenden Augen –“
„Und mit dem staatsmäßigen Vollbart – o ja, gewiß, ein Charakterkopf erster Güte –“
„Nun, das ist Leo Dorn von Hindelang im bayerischen Algäu. Also Du kennst ihn, von ihm hab’ ich die Adlerfeder. Und zwar ist es durchaus keine gemeine Steinadlerfeder, wie sie jeder bekommen kann, der mit einem freundlichen Gesicht und einem freundlichen Wort Dorns Haus betritt – die Feder gehörte einst einem Adler, der das ausgesuchte Glück [548] hatte, just als der fünfzigste seines Geschlechts von Leo erlegt, dieserhalb mit einem eigenen Schützenfest gefeiert und in ausgestopftem Zustande als begehrter Preis herausgeschossen zu werden.“
„Das nenn ich mir einen noblen Adler. Und Du warst mit bei dem Schützenfeste?“
„Selbstverständlich; ich habe mir sogar eine Photographie mitgebracht vom Festzuge. Siehst Du, hier mitten im Vordergrunde, das ist der Held selber. Ein Schützenfest von solch eigenartiger Bedeutung feiert selbst unsere mit Schützenfesten keineswegs kargende Zeit nicht alle Tage. Und Dorn that es ersichtlich wohl, sich so geehrt zu sehen. Er ist sonst ein ganz einfacher, stiller Mann, maßvoll und stetig in all seinem Thun und Treiben, bescheiden trotz der Unzahl von Schießpreisen, die er aus allen Gegenden unseres Vaterlandes mit nach Hause brachte – aber in diesen Pfingsttagen, da wurde ihm warm ums Herz, wie man ihn so als ‚Adlerkönig‘ feierte.“
„Sehr begreiflich. Ginge mir auch so. Aber was ist dieser Wackere denn eigentlich seines Zeichens?“
„Oberjäger des Prinz–Regenten von Bayern. Die Wilderer fürchten ihn wie nicht leicht einen auf viele Stunden im Umkreis, und manchen hat er schon erwischt, der sich nichts Böses versah. In seinem Hause ist ein ganzes Museum gekaperter Wildererbüchsen zu sehen, die mit allen erdenklichen Schlauheiten maskiert sind. Ja, Leo Dorn kennt die Wilderer und ihre Schliche unheimlich genau!“
„So, so! Und nun hat er es also jetzt glücklich bis zu seinem fünfzigsten Adler gebracht? Alle Achtung! Aber verzeih – hat er wohl auch so genau nachgezählt? Du weißt, die Jäger stehen mit der Statistik nicht immer auf dem besten –“
„Halt, Freund! Keine Verdächtigung! Ich versichere Dich, Leo Dorn versteht die Jägerei aus dem ff, nur eines hat er nie gelernt – das Jägerlatein. Also mit den fünfzig Adlern hat es seine Richtigkeit.“
„Nimm mir’s nicht übel, mein Lieber, es war ja nicht bös gemeint. Wahrhaftig, wenn’s gut geht, so sieht das nächste Pfingstfest mich selber in Hindelang auf den Spuren Deines wackeren Adlerjägers. Darauf – Kellner, noch so eine Flasche!“ W. P.
Dekorative Vorbilder. Wie wir schon öfter an dieser Stelle betonten, hält die Beschaffung guter farbiger Vorlagen nur mühsam Schritt mit dem erfreulichen Aufschwung des kunstgewerblichen Unterrichts in Dilettantenkreisen. Um so mehr sehen wir uns stets veranlaßt, diejenigen Erscheinungen hervorzuheben, welche in Gedanken und Ausführung Mustergültiges bieten, denn durch sie allein wird die erlernte Technik zur selbständigen Weiterarbeit nutzbar gemacht. Hierher gehört in erster Linie das Werk „Dekorative Vorbilder“, eine Sammlung von figürlichen Darstellungen und kunstgewerblichen Verzierungen (Stuttgart, J. Hoffmann). Nach Aquarellen und Zeichnungen geschickter Künstler in stattlicher Heftfolge geordnet, bietet es einen großen Reichthum der verschiedenartigsten Motive: Einzelgruppen und kleine Bilder, Friese, Vignetten, japanische Kleinigkeiten, dekorative Pflanzengruppen, Ornamente für Holzbrand, Porzellan- und Majolikamalerei, kleine Landschaften, Vorlagen für Metall-Aetzen, holländische und russische Motive, ernste und humoristische Figurenbilder für Teller, Amoretten mit Thieren und Pflanzen – kurz alles mögliche, was zur Ausführung einladet. Die Farben sind zart und schön, man sieht in jedem Blatt die Rücksicht auf Deutlichkeit und möglichste Wirkung. Die Hefte enthalten noch manches Kunstgewerbliche im weiteren Sinne, wie Wappenbilder, Reliefs, Säulenkapitäle und Kandelaber, doch überwiegen die rein malerischen Motive bedeutend. Wir stehen nicht an, das schöne und verhältnißmäßig billige Werk unsern Lesern als wahre Fundgrube für die häusliche Kunstübung zu empfehlen. Bn.
Die erste Uniform. (Zu dem Bilde S. 537.) Ein feierlicher Augenblick! Wie hat er sich darauf gefreut, der junge Krieger, bis er zum ersten Male in jene ungarische Husarenuniform schlüpfen durfte, die ihm schon lange in die Augen stach, als er selbst noch ein grüner Junge war, weit entfernt von dem militärpflichtigen Alter. Und jetzt ist sie da, die große Stunde. In leidlich strammer Haltung steht er vor den Eltern und Geschwistern, – noch fehlt ihm ja die eigentliche Schule des Dienstes – und läßt mit einer Mischung von Verlegenheit und Selbstgefälligkeit die mancherlei Kundgebungen aus dem Familienkreise über sich ergehen.
Verhältnißmäßig am ruhigsten nimmt die etwas behäbige Mutter den Fall auf: sie ist sich wohl, in militärischen Dingen unerfahren, über die Charge nicht recht klar, welche ihr Sohn von nun ab bekleidet. Mehr Verständniß entwickelt schon die jüngere Schwester; sie verknüpft, ihren hausmütterlichen Neigungen entsprechend, mit dem neuen Rock des Bruders zweckmäßige Vorstellungen von reichlichen Vesperportionen nebst den dazu gehörigen Getränken. Das reine ästhetische Entzücken – oder thut sie nur so – vertritt die ältere Schwester, während es dem Herrn Vater entschieden nicht ganz wohl bei der Sache ist. „Kost’ mich noch ein Heidengeld, der Bengel!“ liest man in seinen nicht gerade erbauten Gesichtszügen, und der Herr Vater dürfte recht haben.
Kleiner Briefkasten.
Ch. A. in München. 1843 wurde in Preußen der lederne, mit Metallbeschlag versehene Helm (Pickelhaube) angenommen, welcher gegenwärtig von den meisten Truppengattungen des deutschen Heeres getragen wird. Die Kürassiere trugen bereits im Anfang des 19. Jahrhunderts Helme.
P. Fr. in Kassel. Sie haben recht. Die Unterschrift des Bildes „Altdeutsche Spiele“ soll nicht A. Tademann, sondern A. Tadema heißen.
R. T., Mühlhausen, Thüringen. Sie wenden sich am besten an die nächste Universitätsklinik, wo Ihnen im Nothfall weiterer Rath ertheilt wird.
Inhalt: Baronin Müller. Roman von Karl v. Heigel (5. Fortsetzung). S. 533 – Alice Barbi. Bildniß. S. 533. – Die erste Uniform. Bild. S. 537. – Deutsche Originalcharaktere aus dem achtzehnten Jahrhundert. Johann Georg Schrepfer. Von Rudolf von Gotschall. S. 538. – Die Kamerunerin. Eine romantische Geschichte von H. v. Götzendorff-Grabowski (2. Fortsetzung). S. 540. – In der Sommerfrische. Bild. S. 541. – Unschuldig verurtheilt! Beiträge zur Geschichte des menschlichen Irrthums. Neue Folge. IV. Von Fr. Helbig. S. 544. – Vertieft. Bild. S. 545. – Blätter und Blüthen: Alice Barbi. S. 547. (Zu dem Bildniß S. 533.) – Das Jubiläum eines Adlerjägers. S. 547. (Mit Abbildung S. 548.) – Dekorative Vorbilder. S. 548. – Die erste Uniform. S. 548. (Zu dem Bilde S. 537.) – Kleiner Briefkasten. S. 548.