Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[293]

Nr. 18.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Lea und Rahel.

Roman von Ida Boy-Ed.

(1. Fortsetzung.)

2.

Römpker athmete auf wie ein Kind, welches den Schluß der Schulstunde schlagen hört, als er endlich im Sattel saß.

Zu Pferde fühlte er sich stets besonders jung, kraftvoll, zu Thaten wie zur Freude aufgelegt. Er war ein eleganter Reiter und war sich dessen stark bewußt. Seine ganze Stimmung hing immer von den Dingen ab, die ihn umgaben. In einem schlechtsitzenden, unkleidsamen Rock kam er sich alt, häßlich, unmanierlich vor. Bei Regenwetter erweckte die kleinste Mißhelligkeit seinen stärksten Unmuth und er hielt sich für ein Stiefkind des Glücks.

Er dachte nicht „ich will nach Kohlhütte“; er dachte überhaupt nicht „ich will so und so lange reiten und da und da hin.“ Er ritt aufs Gerathewohl die Landstraße entlang und bog wie mechanisch in den Heckenweg ein, der nach Kohlhütte führte. In dem Hasel- und Schlehenbuschwerk der Hecken raschelte ein leiser, angenehmer Wind. Fern und fein hörte man das Trilliren einer Lerche. Mit zarten Sinnen für die Schönheiten der Natur ausgestattet, empfand Römpker dies alles mit Genuß. Eine Art Rührung über die Herrlichkeit dieser Gotteswelt überkam ihn, eine gegenstandslose Sentimentalität, in welcher ihn das Verlangen ergriff, gut zu sein und Gutes zu thun. An ihm sollte es nicht liegen, wenn seine Lea nicht glücklich würde. Das mit Clairon war ja Unsinn – vielleicht ein bißchen Sport bei Lea, denn Clairon war der umworbenste Mann der Gegend. Aber er wollte ihr besser als bisher Gelegenheit geben, einen Gatten zu finden, ohne daß die unpraktischen und wahrhaft thörichten, kleinbürgerlichen Sparsamkeitsideen Rahels verwirklicht zu werden brauchten.

Wenn er seine eigene jährliche Badereise aufgäbe und dafür mit Lea diesen Winter an den Hof ginge?

O, Aufsehen würde sie schon machen und mehr als ein Bewerber dürfte sich finden, mindestens von Clairons Rang und reich obendrein.

Freilich, die Badereisen waren so nett gewesen! –

Aber er war ein Vater, der Opfer bringen konnte.

Hier wurden seine Gedanken, die sich ihm schnell und bunt aneinanderreihten, dadurch unterbrochen, daß er Kohlhütte vor sich liegen sah. Das rothe Dach des alten langgestreckten Gebäudes schimmerte durch die Pappeln, die es in regelmäßiger Reihe umstanden. Zu beiden Seiten von dem Herrenhause breitete sich das grüne Busch- und Baumwerk einer bescheidenen Parkanlage aus. Die Anfahrt ging durch schlechte Rasenplätze und an verkommenen Beeten vorbei. Für den Schmuck war auf dem Gut des wohlhabenden Junggesellen weder Zeit noch Geld übrig.

Römpker hielt sein Pferd an und bedachte sich. Ein fast unwiderstehliches Verlangen trieb ihn dahin, wo er wußte, daß man ihm hell entgegenjubeln würde, wo sehr lustige Stunden seinen Geburtstag doch noch zu einem wirklichen Festtag machen würden, und Raimar braute bei solchen Gelegenheiten eine Bowle -


Arco.
Nach einer Zeichnung von Tony Grubhofer.

[294] der plötzliche Durst nach diesem Getränk trocknete Römpker die Zunge.

Aber seine Frau und seine Töchter fielen ihm ein, und daß er ihnen zeigen wollte, wie auch er Opfer bringen könne. Sollten sie heute allein dasitzen beim trübseligen Abendbrot? Und die umsichtige Rahel hatte wahrscheinlich für seine Leibspeisen gesorgt. Gewiß waren frisch gekochte Krebse da. Er sah im Geist die drei Frauen voll Wehmuth vor der ungewürdigten und vergebens beschafften Schüssel sitzen.

Das ergriff ihn. Nein, sein Platz war daheim bei den Seinen.

Und er wandte sein Roß und galoppirte davon, als sollte er dem Teufel entrinnen. –

Bald nach ihm schickte sich auch seine älteste Tochter an, das Haus zu verlassen. Sie setzte sich ihren großen weißen Gartenhut auf, den eine Fülle rother Mohnblumen zierte, und zog sich langsam und mit Bedacht ihre langen, hellbraunen Marseiller Handschuhe an.

„Du willst noch ausgehen?“ fragte Rahel verwundert, denn ihre Schwester hatte sonst keine Vorliebe für Promenaden. Sie behauptete von sich, sie sei eine Salonpflanze und es mache sie nervös, wenn sie ihre feinen und gutsitzenden Schuhe auf den Landwegen vertreten müsse.

Heute aber schien sie anders gestimmt zu sein. „Ich will allein spazieren gehen,“ antwortete sie vor dem Spiegel, wo sie noch ihre Erscheinung mit einem forschenden Blicke musterte.

Rahel schwieg. Aber ihr Auge haftete fest auf dem Bild der Schwester im Spiegel; und endlich fühlte Lea das und ihre Blicke trafen sich im Glase. Es war etwas in diesem festen, klaren Blick Rahels, was Leas Ungeduld erregte, aber auch die Wahrheit von ihr forderte.

„Nun ja,“ sagte sie, als wäre eine laute Frage an sie ergangen, „ich will ihn treffen. Mir scheint, das müßtest heute selbst Du begreifen.“

„Natürlich begreife ich es,“ erwiderte Rahel.

„Weshalb siehst Du mich denn so an?“ fragte die andere grollend. Aber mit einem kurzen „Adieu“ schritt sie unmittelbar danach aus dem Zimmer, als fürchtete sie doch die Antwort.

Rahel stellte sich an das Fenster und wartete, ob die Schwester drunten erscheinen würde. Sie bewohnten drei parkwärts gelegene Zimmer im ersten Stockwerk; das mittlere diente ihnen als gemeinsames Toilettenzimmer.

Ach, Rahel hätte wohl gewünscht, daß Lea an Clairon festhalte, denn diese bedurfte gewiß einer festen Hand, die sie durchs Leben leiten mußte. Von Erziehung war ja auf Römpkerhof keine Rede gewesen, man hatte die Töchter aufwachsen lassen, ohne sich je um ihre besonderen Fehler oder Eigenschaften zu kümmern. – Clairon aber hatte Charakter. Vielleicht war er auch wie Lea ein wenig Weltkind und voll von Standesvorurtheil, aber Rahel glaubte, daß gemeinsame Fehler zum besseren gegenseitigen Verstehen führen; denn sie sah bei ihren Eltern, wie keines die Fehler des anderen verstand und daher nicht imstande war, sie zu dulden oder zu bessern.

Da tauchte Lea unten auf. Sie brauchte den geschlossenen weißen Sonnenschirm als Stock und pflanzte ihn bei jedem Schritt immer weit vor sich her. Rahel kannte die Welt zu wenig, um zu wissen, daß dies unschön sei. Sie bewunderte ehrlich die Schwester, welche als unerreichbares Muster des „Chic“ in der Gegend galt.

Sie verfolgte sie mit tausend heißen Wünschen auf ihrem Weg und dachte immer wieder: „Hielte sie doch an diesem Mann fest, er und die Liebe könnten das Höchste aus ihr machen, wozu sie fähig ist.“

Leas Brust war von weniger weichherzigen Gedanken erfüllt. Um ihren stolzen Mund zog sich ein bitteres Lächeln, sie ging ohne jede Hast ihres Weges, hielt sich neben den großen Rasenflächen, die sich vom Schloß bis zum See erstreckten, und bog am Wasser rechts in einen Pfad ein, der sich hart am Ufer hinzog. Erlen bildeten hier eine Art Allee, an der Wasserseite tauchten die Bäume ihre Zweige tief in die Fluth. Aus einem schmalen Saum von Schilf, Krauseminze und Rasen stiegen die grauen, rissigen Stämme auf. Das Wasser, welches draußen im Abendsonnenschein funkelte, war hier im Schatten der belaubten Aeste schwarz. Eine sanfte Schwermuth schien zwischen diesen dunklen Erlen zu wohnen. Rechts hinter ihnen stand dichtes Unterholz.

Dieser Weg ging so zwischen Wasser und Wald, ohne seinen Charakter zu verändern, am Ufer hin bis zu jener Stelle, die dem Schlosse gegenüber freies Feld zeigte. Hier wandte er sich dann quer durch eine Brachkoppel und an Getreidebeständen entlang der Stadt zu.

Clairon hatte versprochen, diesen Weg dahergeritten zu kommen. Lea erwartete, ihn nicht vor dem Ende des Waldes zu finden, denn das Reiten unter den Erlen hatte seine Schwierigkeiten. Die Aeste hingen tief, der Boden war durchwurzelt. Aber er, von nur zu erklärlicher Ungeduld getrieben, hatte sich früher aufgemacht, als sie verabredet hatten.

Lea sah ihn daherkommen, sein Pferd am Zügel neben sich führend. Die schmale Allee schloß sich hinter ihm zu einem dunklen Hintergrund zusammen, vor welchem seine hohe Gestalt in der heitern Husarenuniform neben dem schönen Fuchs ein prächtiges Bild abgab.

Leas Auge leuchtete auf. Sie fand wieder wie jedesmal, wenn er ihr entgegentrat, daß er eine vorzügliche, ja fast blendende Erscheinung war. Seine Größe war für die Waffe, bei welcher er diente, ungewöhnlich und hätte ihn eher zum Kürassier geeignet erscheinen lassen. Aber durch seine schlanke Geschmeidigkeit glich sich das aus. Clairon war blond und trug einen Schnurrbart mit lang herabhängenden Enden, was seinem Gesicht im Verein mit der gebogenen Nase zugleich etwas Kühnes und Ernstes gab. Sein helles Auge blickte gerade und scharf.

Als er Lea sah, ließ er seines Pferdes Zügel los und lief ihr entgegen; zu gleicher Zeit hatte auch sie einige Schritte gemacht. Doch als sie nun nahe voreinander standen, waren sie beide von jäher Verlegenheit befallen.

„O Lea!“ sagte Clairon und griff nach ihrer Hand.

Leas Herz klopfte so stark wie das eines Menschen. der sich außer Athem gelaufen hat.

„Der Fuchs!“ sprach sie.

Clairon wandte sich nach seinem Thiere um. Das stand, nachdem es sich zweimal gedreht, hilflos und unmuthig da. Er that einen Pfiff und der Fuchs kam sogleich zu ihm her.

„Bitte um Verzeihung,“ sagte Clairon und hängte den Zügel sicher über einen Ast.

Dann kehrte er zu Lea zurück. Dieser kleine Vorgang, anstatt ihre Verlegenheit zu zerstreuen, hatte beide nur noch befangener gemacht. Sie fühlten beide, daß es sehr merkwürdig war, wie sie so voreinander standen, anstatt sich unter der Gewalt leidenschaftlicher und gefährdeter Liebe in die Arme zu sinken.

Clairon nahm wieder die Hand der Geliebten und hielt sie fest.

„Wie danke ich Dir, Lea, daß Du gekommen bist! Es war ein fürchterlicher Tag,“ sagte er. „Und nicht wahr, Du wirst mir dies Räthsel erklären?“

Lea nickte und sah ihn mit ihren großen dunklen Augen an.

„Als ich Dir vorgestern meine Neigung gestand, Lea, gebotest Du mir, an Deines Vaters Geburtstag zur Werbung zu kommen. Ich habe mir heute immer wieder Deinen Ton und Deine Miene dabei vorgestellt und immer wieder mir sagen müssen, daß auch Du, Geliebte. keine Ahnung davon hattest, unserer Vereinigung könnten sich Schwierigkeiten in den Weg stellen. Du meintest, das gäbe ein hübsches Doppelfest und eine reizende Ueberraschung für Eure Freunde. Also auch Du warst unserer Sache sicher.“

Er drückte ihr heftig die Hand und fuhr fort:

„Da kannst Du Dir nun denken. daß es für mich kein beneidenswerther Augenblick war, als Dein Vater mir anstatt des freudigen Ja ein verlegenes Nein antwortete. Ich, Nobert Clairon – und ein Korb!“

„Ich liebe Dich,“ rief Lea ausbrechend. „Sprich nicht so!“

Und da erst fanden sie die Unmittelbarkeit des Gefühls: Clairon breitete die Arme aus und Lea hing in stummer Leidenschaft an seinem Hals. Er fühlte. wie sie erschüttert war, denn durch ihre ganze Gestalt ging ein Zittern.

„Nicht wahr,“ flüsterte er dann, „Du wirst nichts verschweigen? Du wirst so ehrlich mit mir sprechen, als wäre ich schon Dein rechtmäßiger Gefährte und Beschützer?“

„Ja!“ sagte Lea.

Er nahm nun ihren Arm und langsam schritten sie im schattenvollen Baumgang auf und ab.

„Hat Dein Vater einen andern Gatten für Dich bestimmt?“ fragte er, und da sie heftig den Kopf schüttelte, fuhr er fort:

[295] „Das konnte ich mir auch nur schwer vorstellen. Ein solcher Lebenskünstler wie Dein Vater ist viel zu bequem, um sich mit tyrannischen Gedanken zu befassen. Ich dachte, gerade ihm sollte meine Persönlichkeit, mein Name und mein Stand angenehm sein.“

„So ist es auch. Du wärest der Schwiegersohn seiner Wünsche, wenn Du nicht einen Fehler hättest, mein armer Robert,“ sagte Lea.

Clairon, der sich schon seit dem Vormittag in der beleidigten Stimmung eines Mannes befand, den man in seinem Stolz verwundet hat, ohne daß er sich wehren kann, rief gereizt:

„Nun, so nenne mir diesen schrecklichen Fehler! Ich will ihn ablegen, wenn es geht.“

Lea hemmte ihren Schritt. Sie stand still und besah ihren Sonnenschirmknauf, als wäre er ganz neu und merkwürdig. Das häßliche Wort wollte nicht so glatt von ihren Lippen. Dann wallte wieder ihr unbändiges und trotziges Blut auf und sie dachte: warum nicht die Dinge beim rechten Namen nennen, wenn diese Dinge doch so wichtig sind, daß man daran zu Grunde gehen kann!

„Du hast kein Geld,“ sagte sie hart.

Unaussprechlich erschreckt und durch diese fast brutale Art verletzt, sprach er, indem er langsam und tief erröthete:

„Allerdings. Ich bin der zweite Sohn und mein kleines mütterliches Erbe giebt mir kaum die Zinsen, welche ich bei meiner Waffe nothwendig als Zuschuß brauche; die Güte meines Bruders ergänzt das Fehlende. Aber ich habe geglaubt, mit meiner Stellung und meinem Namen ...“

Die Erregung machte seine Stimme heiser. Er konnte nicht weiter sprechen.

„O Robert,“ rief Lea wieder in weichster Hingebung und warf sich an seine Brust, „nicht wahr, Du fühlst es, das ist schmachvoll! Das ist kein stolzes Werben mehr und kein freudiges Hingeben. Das ist nicht die Art, wie Robert Clairon und Lea von Römpker zueinander kommen dürfen. Wir müssen uns entsagen.“

„Lea,“ schrie er auf. „Besinne Dich! Bevor man solche Worte spricht, muß alles verloren sein. Ich habe kein Vermögen? Was soll denn das heißen? Das wußten wir ja alle, ohne daß je davon gesprochen wurde. Das ist ja nebensächlich in Eurer und meiner Stellung. Hilf mir doch begreifen! Das wenige, was der Staat fordert, hast Du doch. Und das ist uns genug. Hörst Du – ich will nichts vom Vermögen Deines Vaters, nichts. Ich will Dich und Deine Liebe. Den zufälligen Umstand, daß Du den Besitzstand nachweisen kannst, der für unsere Eheschließung nöthig ist, empfinde ich nicht als Demüthigung. Das wäre albern. Wir wollen ja nicht handeln – wir wollen heirathen!“

„Ja,“ sprach Lea voll Feuer, „das wollten wir. Heirathen, vornehm, in großem Sinne! Und deshalb müssen wir uns entsagen. Oder willst Du mich, soll ich Dich in endlosen Unterhandlungen – erschachern?! Fahre nicht auf! Es ist so. Meine Mitgift ist verloren gegangen. Einerlei, wie. Genug, sie ist fort.“

„Dein Vater?“ fuhr er fragend auf.

Leas Blick glitt über ihn hin, blitzschnell, aber fremd und ablehnend.

„Nein,“ sagte sie kalt, „ohne meines Vaters Schuld.“

Vielleicht war mehr ihr Familienhochmuth denn ihre Kindesliebe der Grund, daß sie niemand außer sich selbst ein richtendes Wort über ihren Vater gestattete.

„Verzeihe mir!“ bat er und küßte ihre Hand.

Sie aber hatte durch seine Frage ihre Fassung wieder gefunden.

„Du weißt,“ sprach sie rasch, als wolle sie nun möglichst schnell über das Peinliche hinwegkommen, „daß Römpkerhof eine Million und mehr werth ist und völlig unverschuldet. Aber Du weißt, daß man einen solchen Besitz in Feldern und Wäldern und doch keine verfügbaren Mittel haben kann.“

„Das ist eine alte Geschichte,“ bestätigte er, „die Herren Großgrundbesitzer haben oft genug Schwierigkeiten, zu ihren Terminen ihren Verpflichtungen nachzukommen. Aber Römpkerhof, sagst Du, ist schuldenfrei!“

Lea hielt sich die Ohren zu.

„Ich will mit Dir das ganze häßliche Thema nicht wieder durchnehmen,“ rief sie. „Rahel hat mich schon krank damit gemacht.“

„Rahel?“ fragte er erstaunt. Rahel war ihm unaussprechlich gleichgültig und er hatte sie für eine völlige Null im Hause angesehen. Also Rahel hatte auch Meinungen und eine Stimme?

„Ja, Rahel ist unglaublich praktisch. Sie ist aber leider nüchtern und ihr fehlt der rechte, hohe Stolz, der hier brennt.“ Sie legte die Hand gegen ihre Brust. „Was hat sie mir nicht alles vorgefabelt! Man würde Papa doch schließlich bestimmen können, auf unser Gut eine Hypothek zu nehmen. – Auf Römpkerhof – eine Hypothek – es ist zum Lachen! Unser herrliches Besitzthum mit fremdem Geld beflecken! Oder Dein Bruder sollte zum Schein das Kommißvermögen geben und Papa nachher in Wirklichkeit soviel Zuschüsse, als die Zinsen betrügen. O. ich bin ganz schwindlig. So viel niedrige Dinge habe ich in meinem ganzen Leben nicht hören müssen. Robert,“ rief sie, als sie sah, daß sein Antlitz sich wie in ehernem Ernst versteinerte, „ich fühle es, ich sehe es, Du empfindest wie ich. Dieses Rechnen ist Dir grauenvoll. O, ich wußte es, auch Dein Stolz lehnt sich gegen die Erbärmlichkeit auf.“

„Ich leugne es nicht,“ sagte er halblaut.

Sein vornehmes Gefühl lehnte sich in der That gegen diese Schwierigkeiten auf. Nicht weil es Schwierigkeiten, sondern weil sie so kleinlich geartet waren. Wie Lea es ausgesprochen hatte: vornehm und in großem Sinne wollte er freien. Nicht den Kameraden, nicht der Gegend zum Gespräch werden, wie er es zahllose Male bei andern erlebt hatte, von denen jedermann wußte, woher die Mittel gekommen waren. wie knapp oder wie ausgiebig sie gewesen, durch welche Anleihen, durch wessen Großmuth sie beschafft worden waren.

Sein ganzer Hochmuth wurde wach.

„Nicht wahr,“ fuhr Lea fort, indem sie sich in immer größere Erregung hineinredete. „Rahel versteht nichts von der Liebe. wenn sie meint. daß wir in ihr stark bleiben müßten trotz allem und, wenn’s gar nicht anders ginge, auf Dein Rittmeisterpatent warten. Das ist für die kleinen, für die engen Leute. Das ist unsrer unwürdig! Siehst Du, ich habe oft in mir das Gefühl gehabt, als empfände ich größer und schaute weiter ins Leben als die Menschen um mich her. Und gerade in diesen gegenwärtigen Stunden fühle ich es klarer als je: meine Liebe für Dich ist unaussprechlich, riesengroß. Soll dies göttliche Gefühl durch den Staub des Alltags geschleift werden? Nein! Soll es kranken und vergehen in jämmerlichen Kämpfen um schnöden Mammon? Nein! Sollst Du fortan Dein geliebtes stolzes Haupt weniger frei tragen, weil die Glorie der Unabhängigkeit davon genommen ist? Sollen wir der Gegenstand der Theilnahme werden in einem schwierigen Brautstand? Tausendmal nein!“

Ihr feuriger Redefluß, all die Thatsachen, welche sich noch unverarbeitet in seinem Hirn drängten. der niedersinkende Abend und im Schatten vor ihm die schlanke Gestalt mit dem weißen Gesicht – all dies zusammen wirkte wie berauschend auf ihn und nahm ihm die Denkklarheit.

Er zog Lea an sich.

„Was, ich beschwöre Dich, was soll denn werden? Giebt es keinen Ausweg?“

Lea glaubte im vollen Ernst groß zu handeln und hochsinnig zu empfinden, als sie feierlich sprach:

„Unsere Liebe muß so groß sein, daß sie die Kraft zum Entsagen hat.“

„Lea!“ rief er schmerzvoll aus.

In tiefer Erschütterung hielten sie sich umschlungen.

Lea kostete voll schmerzlicher Leidenschaft die Schauer dieser Stunde aus. Das, ihr selbst völlig unbewußt, in ihr liegende Bedürfniß nach Poesie und Erregung ward in diesem Augenblick voll befriedigt. Sie fand sich von einem außerordentlichen Schicksal zermalmt und fühlte in sich die Verpflichtung, diesem Schicksal groß gegenüber zu stehen.

Wer weiß. ob sie sich gleich in den Wechsel zu finden gewußt hätte, wenn jemand wie im Märchen aus dem Gebüsch getreten wäre und gesagt haben würde: nimm ihn, alle Hindernisse sind gehoben!

Sie schwelgte in dem Gram der Entsagung und liebte Clairon viel mehr als vorgestern bei der ersten Liebeswerbung.

Er fühlte in ihr nur die erhöhte Leidenschaft. Die tiefgründigen und feinverzweigten Wurzeln dieser stärkeren Gefühle zu erkennen, dazu war er sicher ein zu einfacher Mensch und obendrein kannte

[296]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in Berlin.

Die neueste Klatschgeschichte.
Nach dem Gemälde von W. F. Yeams.

[297] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [298] er Lea noch zu wenig. Er wußte nicht, daß Hochmuth und Phantasie eine so seltsame Verwirrung in einem Frauenkopf anrichten können. Er fühlte deutlich nur zwei Dinge: daß sein Stolz maßlos gekränkt war durch die Vorstellung, wie er sein Ziel, die Heirath mit der Geliebten, nur durch kleinliche und demüthigende Beschwerden würde erreichen können, und weiter: daß er gar nicht das Recht habe, noch um Lea zu werben, wenn sie selbst es unter diesen Verhältnissen nicht wünschte.

„So müssen wir uns trennen? Su muß ich fort von hier?“ fragte er schmerzlich.

Lea riß sich von ihm los und sah ihn beinah zornig an.

„Fort?“ rief sie. „Welche Grausamkeit und welche Thorheit! Fort? Damit die Leute sagen sollen, Du habest einen Korb von mir bekommen? Oder gar der Wahrheit nachspüren? Ich beschwöre Dich, bleibe, wenn Du mich liebst!“

„Geliebte,“ sagte er innig, „das Bleiben ist aber ebenso grausam wie das Gehen. Ich soll Dir nach wie vor begegnen, als hätten diese lieben Arme sich niemals um meinen Hals geschlungen – als wären diese süßen Lippen nie den meinen begegnet? Ich soll vielleicht gar Zeuge sein, wie andere Männer Dich umwerben? Und endlich gar, wie Du Dich einem andern vermählst und aufhörst, mich zu lieben?“

„Das wird nie geschehen,“ rief sie wie in einem heiligen Schwur, „ich werde Dich ewig lieben! Und wenn wir vor den andern Menschen auch wie vordem freundlich und höflich mit einander verkehren müssen, ein Blick, ein Wort wird immer Dir und mir sagen, was in unsern Seelen brennt. Und ich werde darauf sinnen, Tag und Nacht, wie ich meine Lage ändern kann, die so, Gott weiß es, unerträglich ist. Aber verlaß mich nicht! Bleibe mit nahe! So lange, bis meine Zukunft klar ist.“

„So heißest Du mich wirklich bleiben?“ fragte er noch einmal.

„Ja, Robert, bleibe!“

„Leb wohl,“ flüsterte er, „für heute. Und laß mir die Hoffnung, daß ich Dich zuweilen so wiedersehe. Willst Du?“

Sie versprach es ihm nur mit einem glühenden, langen Blick. Und dann schieden sie mit vielen feurigen Flüsterworten heißester Liebe. –

Wie Lea so dahinschritt im Abendschatten und dann, aus der Baum Enge heraustretend, im Park noch den helleren Nachschein der eben erst untergegangenen Sonne fand, fühlte sie sich merkwürdig erregt. Der Sommerabend schien ihr voll von wunderbarer Melancholie; die gekräuselte Wasserfläche, die hohen Bäume und die duftenden Blüthenbüsche sprachen zu ihr. Die ganze Natur schien ihr ein Gedicht, ein großes und wehmüthiges.

Ihr war nicht zu Muthe wie einer, die eben über ihr Schicksal entschieden hat und ihres Lebens Glück dabei verlor, sondern etwa wie jemand, der aus dem Theater kommt, wo er ein poesievolles und traurig endendes Stück gesehen hat. In die Ergriffenheit über das Geschaute mischt sich die Freude an der minder traurigen Wahrheit ringsum und ein gewisser schöpferischer Drang.

Lea fühlte sich gleichsam bewaffnet, sie hatte die Begierde nach Ereignissen und den Willen zu einer neuen Lebensgestaltung mit hinweggenommen von diesem Abschied. War es ein Abschied? Und war dies kraftvolle Emporschießen heißen Lebensdranges nicht unbewußt das Gegentheil von Entsagung?

Sie grübelte jetzt nicht über sich selbst nach und gab sich nur voll ihrer Stimmung hin. –

Unterdessen hatten Rahel und die Mutter im Wohnzimmer neben dem Speisesaal miteinander gesessen. Frau von Römpker machte eine endlose Handarbeit aus bunten Seidenflicken, die sie zusammen auf eine Unterlage heftete und bei deren Farbenzusammenstellung sie in beständiger Rathlosigkeit war. Rahe saß ihr gegenüber an einem Tischchen, das vor einem offenen Fenster stand, und rechnete im Haushaltungsbuch, dessen ewige Fehler sie fast täglich für die Mutter in Ordnung zu bringen hatte.

Als die Zeit zum Abendessen nahte, kam der Diener und fragte, wo er den Tisch decken solle.

Frau von Römpker sah ihn mit einer Gegenfrage an, die deutlich auf ihrem Gesicht geschrieben stand.

Ludwig, dem man den gedienten Kavalleristen auf den ersten Blick ansah, hatte ein offenes, gutes Gesicht, mit hellen Augen, räthlicher Farbe und kurzgeschorenem Blondhaar darüber. Er stand, den Daumen an der Hosennaht – eine Haltung, welche ersich auch in der Livree nicht abzugewöhnen vermochte – und wartete.

„Hat mein Mann oder meine Tochter nichts darüber hinterlassen?“ fragte sie endlich.

„Weder der Herr noch das gnädige Fräulein haben Befehle gegeben,“ sagte Ludwig. Er sprach einen stark ostpreußischen Dialekt und sagte „jejeb’n“.

„Ich meine, Ludwig sollte hier decken. Da wir allein sind, ist es gemüthlicher,“ bemerkte Rahel, ohne von ihrem Bleistift, der eine Zahlenreihe entlang ging, aufzusehen. Nun wandte Frau von Römpker das bange Gesicht der Tochter zu.

„Wenn es Lea nur recht ist!“

„Ich glaube, es wird gerade ihr besonders recht sein.“

„Nun, Ludwig, decken Sie hier!“ befahl darauf Frau von Römpker.

Als er hinausgegangen war, sagte Rahel, indem sie eine Schlußziffer unter ihre Addition setzte:

„Mama, wie würdest Du darüber denken, wenn ich Dir fortan den ganzen Hausstand abnähme? Ich meine Geld und Schlüssel. Du weißt, ich kann ein bißchen rechnen und wirthschaften und würde Dich natürlich immer um Rath fragen.“

Raher hatte sich ausgedacht, daß dies ihr das Leben sehr vereinfachen würde, denn jetzt mußte sie doch alles nachrechnen und jede kleine Angelegenheit fünfmal mit der Mama besprechen. Außerdem fanden sich in dem Haushaltungsbuche Ausgaben, deren Höhe unwahrscheinlich und deren Nothwendigkeit unerfindlich war. Rahel wollte einmal sehen, ob sie nicht denselben glänzenden Hausstand mit weniger Mitteln führen könnte.

„Aber mein Kind,“ rief Frau von Römpker, über den Muth und die Eigenmächtigkeit Rahels sehr erstaunt, „wie könnten wir uns erlauben, einen so großen und wichtigen Entschluß zu fassen, ohne zu wissen, ob Papa und Lea ihn billigen! Und wie schwierig die Ausführung wäre, stellst Du Dir gar nicht vor. Denke nur, ich müßte Die ja alles feierlich überantworten, Dir das Silber und die Wäsche vorzählen, Dir die Einnahmen des Geflügelhofes vorrechnen.“

Rahel lachte. Sie hatte eine liebe Art, zu lachen, so halb in Rührung und halb in Belustigung über ihre hilflose kleine Mama.

„Ich weiß das ja alles schon, Mama. Du brauchst mir nur Dein Körbchen mit den Schlüsseln an den Arm zu hängen – das ist der ganze Akt der Uebergabe. Und mit Lea will ich schon sprechen. Papa bleibt, wie Du weißt, am liebsten mit dergleichen Fragen verschont.“

Ja, wenn Rahel mit Lea sprechen wollte, dann hatte die Mutter auch nichts dagegen!

Rahel besichtigte den Abendtisch und begab sich dann selbst in die Küche, um zu sehen, ob die Wirthschafterin auch die Schüssel mit Krebsen recht hübsch verziere. Als sie später wieder ins Zimmer kam, fand sie ihre Mutter beinahe in Verzweiflungsthränen.

„Papa kommt gar nicht. Er ist gewiß nach Kohlhütte geritten.“

„Aber Mama, er wird doch nicht!“

„Und Lea! Wo ist Lea? Wenn sie sich ein Leid anthut! Wenn sie mit Clairon fortgeht! O der Kummer und die Schmach!“

Rahel streichelte ihrer Mama die Wangen.

„Lea ist nicht danach, etwas Tolles und Schmachvolles zu thun, Mama,“ sagte sie, „beruhige Dich doch! Ich glaube gar nicht, daß sie die Sache so tragisch nimmt. Sie ist es ja auch gar nicht, und wenn Lea nur an Clairon festhält, sind die Schwierigkeiten – meiner Meinung nach – spielend leicht geebnet.“

„Sie sind unübersteiglich!“ jammerte die Frau.

„Unübersteiglich ist nur der alberne Hochmuth, welcher davor bebt, Geldangelegenheiten entschlossen anzufassen,“ sagte Rahel.

Ihr Mutter sah sie an und verstummte vor Erstaunen. Was Rahel sich heute nur alles herausnahm!

Dann fiel ihr wieder der Gatte ein.

„Er ist gewiß nach Kohlhütte geritten – alle Freunde merken es dann, daß bei uns etwas vorgefallen ist.“

Händeringend ging sie auf und ab. Rahel hatte in ihrem Herzen selbst recht wenig Glauben an die Wiederkehr ihres Vaters und vermochte nur schwach zu trösten.

[299] Da that sich die Thür auf und Lea trat herein, hinter ihr Ludwig mit einer brennenden Lampe.

Lea strahlte in Schönheit, ihre Augen leuchteten, ihr Mund lächelte ein wenig, sie trug ihr Haupt besonders stolz. Für ihr rothes Kleid hatte sie im Vorbeigehen einen Strauß weißer Blumen gepflückt und ihn etwas über Gürtelhöhe an der Taille vorn befestigt. Sie sah aus wie eine Siegerin. Rahel wußte sich das nicht zu deuten.

„Wir wollen doch ein wenig festlich beleuchten,“ sagte Rahel und wies Ludwig an, noch mehr Lampen anzuzünden, während sie die Vorhänge dicht schloß.

Bald war der ganze Raum von einem rosigen Licht durchzogen. Das Geburtstagskind konnte kommen. Und es kam.

Stürmisch that sich die Thür auf. Römpker erschien auf der Schwelle und umfaßte mit einem Blick das Gemach. Wie behaglich! Vier große Lampen unter riesigen viereckigen Dächern von Spitzen und Seide – auf dem reizend gedeckten Tisch, zwischen andern angenehmen Sachen, richtig die grellrothen Krebse im grünen Kranz – und da seine drei Lieben, offenbar beglückt durch sein Erscheinen.

Herr von Römpker fühlte sein Herz weit und groß werden. Wie hübsch von ihm, daß er heimgekommen war! Rührung stieg in ihm auf über sein vortreffliches Benehmen.

Er umarmte alle drei nach der Reihe. Er plauderte so liebenswürdig, so voll heiterer und leichter Abwechselung der Gegenstände, als wäre er in Gesellschaft und gäbe sich Mühe, seinen Nuf als „reizender Mensch“ zu wahren. Dabei schmeckte es ihm vortrefflich, und die Seinigen deuteten naturlich mit keinem Wort auf alle schwebenden Fragen hin.

Als man abgegessen hatte, war er wieder völlig auf der Höhe seiner Daseinsfreudigkeit. „Das Leben ist doch ein Vergnügen,“ dachte er, als er behaglich dasaß und Leas schönem Gesang zuhörte, „wenn mir der liebe Gott nur meinen guten Magen erhält.“

Frau von Römpker arbeitete wieder an ihren Seidenflicken und Rahel hörte mit Entzücken, wie ihre Schwester, die herrliche Mezzosopranstimme groß erhebend, Schuberts „Sei mir gegrüßt“ sang.

Als Lea das Lied beendet hatte, saß sie noch ein Weilchen still. Dann griff sie wieder leise in die Tasten und wiederholte für sich eine Phrase aus dem Liede:

„Mit meiner Seele glühendstem Ergusse,
Sei mir geküßt, sei mir gegrüßt.“

Rahel war wenig musikalisch begabt, aber als die Schwester diese Töne wieder und wieder spielte, prägten sie sich ihr doch unverlierbar ein.

„Und sie liebt ihn ja doch gewaltig genug, um für ihn zu kämpfen,“ sagte sie sich.

(Fortsetzung folgt.)




Erinnerungen an Schliemann.

Von Rudolf Virchow.
III.

Es war im Beginn des Jahres 1879, als ich mich entschloß, den dringenden Einladungen Schliemanns zu einem Besuche der Troas nachzugeben. Er lockte mich vorzugsweise mit der Aussicht auf eine umfassende Untersuchung der Heroengräber, die er auszuführen gedachte und zu der er meine Mitwirkung verlangte. Im Jahre 1877, als er seine denkwürdigen Ausgrabungen in Mykenä veranstaltete, hatte ich einer ähnlichen Einladung nicht nachkommen können, und er warf mir seitdem vor, daß nur meine Abwesenheit den beklagenswerthen Umstand verschuldet habe, daß auch nicht ein einziger der „Atriden“-Schädel unversehrt und in einer für wissenschaftliche Bestimmungen brauchbaren Gestalt erhalten worden war. Diese Anklage lastete in der That schwer auf mir. Wie hätte ich nun widerstehen können, wo die seit dem Alterthum berühmten Grabhügel des Achilleus und des Patroklos und so mancher anderen Helden geöffnet werden sollten!

Aber es war noch ein anderer sehr wichtiger Grund vorhanden. Gerade damals hatte sich die Opposition gegen Schliemann unter den älteren und fast noch mehr unter den jüngeren Fachgelehrten, namentlich unter den Archäologen und Philologen, zu einer Art von Hochfluth gesteigert. Man sprach in Deutschland mit einer wachsenden Geringschätzung von dem „Autodidakten“, der sich anmaßte, eine Frage entscheiden zu wollen, an welcher die Schulweisheit von Jahrtausenden sich ohne Erfolg abgemüht hatte. Die ganze Unternehmung erschien so hoffnungslos, daß bedeutende Philologen die Existenz sowohl Homers, als Trojas in Zweifel zogen und daß sie es für Aberwitz erklärten, nach Ueberresten von Troja zu suchen.

Nahezu von allen Seiten preisgegeben, appellirte Schliemann an meine Hilfe. „Ich habe nie daran gezweifelt,“ schrieb er, „daß Sie mich verstanden und würdigten; auch gab mir Ihr Diplom, wofür ich Ihnen ewig dankbar bin, einen eklatanten Beweis davon.“ Er meinte hier das Diplom als Ehrenmitglied, welches ihm die Deutsche anthropologische Gesellschaft 1877 ertheilt hatte. Aber dieses Diplom hatte auf die öffentliche Meinung in Deutschland keinen entscheidenden Einfluß ausgeübt. Sollte ich nicht den Versuch machen, durch genauere Kenntnißnahme an Ort und Stelle ein eigenes Urtheil zu gewinnen, um nachher in der Heimath ein unparteiisches Zeugniß abzulegen? Wenn ich auch mein Zeugniß nicht so hoch veranschlagen konnte, wie es Schliemann in seiner enthusiastischen Weise that, indem er schrieb: „Ihre Anwesenheit in Troja ist eine Nothwendigkeit für die Wissenschaft und für mich von allerhöchstem Interesse“, so durfte ich doch ermarten, daß meine Berichte eine gerechtere Beurtheilung des wackeren Mannes herbeiführen würden. Und vor allem durfte ich als sicher annehmen, daß meine persönliche Theilnahme an seinen Arbeiten seine Meinung von der parteiischen Stellungnahme der deutschen Gelehrten einigermaßen mildern werde.

Das war im Februar. Ich verweilte dann bei ihm in der Troas bis gegen Ende April. Im Herbst desselben Jahres sagte ich ihm zu, mit ihm in London zusammenzutreffen, wo er mir seine trojanische Sammlung, die im South Kensington Museum aufgestellt war, selbst zeigen und erläutern wollte. Ich kann es mir nicht versagen, aus einem seiner Briefe, den ich kurz vor dieser Reise erhielt, eine Stelle wiederzugeben. Es heißt darin (Boulogne sur Mer, 9. September 1879): „Sie haben mich wieder mit Deutschland ausgesöhnt, infolgedessen letzteres in meinem Testament, welches ich heute umschrieb, ansehnlich bedacht ist. Außer Virchow wäre niemand dazu imstande gewesen.“

Und doch hatte ich nichts gethan, als was jeder andere Kritiker auch hätte thun können und thun müssen. Niemals hatte ich ihm eine Rede gehalten über seine Pflicht, des Vaterlandes zu gedenken, und niemals hatte ich ihn aufgefordert, seine trojanische Sammlung aus England fortzunehmen und nach Deutschland zu bringen. Nur wenn ihm selber solche Gedanken kamen und er sie mir gegenüber, meist nur in der Form einer Ueberlegung, äußerte, fand er begreiflicherweise bei mir freudigen Widerhall. Und ich durfte dem um so offener Ausdruck geben, als es mir nicht unbekannt war, daß Frau Schliemann seit langer Zeit in diesem Sinne auf ihren Mann eingewirkt hatte.

Unser Aufenthalt in der Troas war von vornherein so eingerichtet, daß jedem Theilnehmer in der kleinen Gesellschaft die größte Freiheit für seine Studien gelassen war. Außer mir und dem türkischen Bevollmächtigten war nur noch Mr. E. Burnouf, der frühere Direktor der französischen archäologischen Schule in Athen, daselbst anwesend. Wir beide waren an demselben Tage, obwohl von ganz verschiedenen Seiten kommend, in den Dardanellen gelandet. Schliemann hatte uns mit den Worten empfangen: „Nun richten Sie sich ganz nach Belieben ein; bei mir ist Republik.“ Das war sein voller Ernst, und so konnte denn jeder seine besondere Aufgabe verfolgen. Mr. Burnouf trieb seine astronomischen und geodätischen Studien. zeichnete Situationspläne und ermittelte die Anordnung der alten Bauten. Ich machte meine naturwissenschaftlichen Untersuchungen über die Geologie der Troas und speciell über die Entstehung der „troischen Ebene“ über die Flußläufe und Quellen, über Menschen, Thiere und Pflanzen. Nur bei den Ausgrabungen und bei dem Nachtmahl trafen wir sämmtlich [300] zusammen. Aber Schliemann überholte uns bei weitem durch die Ausdauer seiner Leistungen. Wenn mir beide morgens um 7 Uhr aus unserer Holzkammer traten, hatte Schliemann schon ein gutes Stück seines Tagewerks hinter sich. Vor dem Aufgang der Sonne war er nach dem etwa 3/4 Stunden entfernten Hellespont geritten. um sein tägliches Seebad zu nehmen; nach der Rückkehr hatte er gefrühstückt, den Aufruf der Arbeiter überwacht, die Anordnungen für die Ausgrabungen des Tages getroffen, und wenn wir den Berg heranstiegen, fanden wir ihn auf einem der beherrschenden Punkte, wie er nach allen Seiten beobachtete und durch neue Befehle den Gang der Arbeiten bestimmte. Dann zerstreuten wir uns, wie es jedem paßte; jeder aß zu der ihm gefälligen Zeit, und nur an Tagen, wo, gewöhnlich nachmittags, irgend ein entfernterer Punkt in Untersuchung genommen werden sollte, vereinigten wir uns zu einem gemeinschaftlichen Ritt.

Nur ein Verhältniß gab es, wo Schliemann sich zeitweise von der Beaufsichtigung seiner Arbeiter loslöste, und gerade das ist für die Beurtheilung des Mannes von besonderer Bedeutung. Es dauerte nicht lange, da war es in der ganzen vorderen Troas bekannt, daß auf Hissarlik ein „großer Hakim“ (Arzt) weile. Schliemann selbst hatte nicht wenig dazu beigetragen, diese Kunde zu verbreiten. In der Sorge für Kranke war er unermüdlich. In gewöhnlichen Zeiten kurirte er selbst, soweit seine Mittel reichten und soweit seine Erfahrung ihm gewisse Anhaltspunkte bot, aber, da ich nun da war. führte er die Kranken zu mir und diente mir als Dolmetscher und als Heilgehilfe. Alle Tage wurden es der Kranken mehr. aber niemals versagte er seine Dienste. Selbst auf unseren kleinen Reisen legte er seiner sonst so schwer zu beruhigenden Ungeduld Zügel an, und es wird mir stets unvergeßlich bleiben, wie er selbst ganz spät, wenn wir von einem längeren Ritt heimkehrten, noch mit mir in die Hütten der benachbarten Dörfer eintrat und mir geduldig das Licht hielt, bis ich meine Untersuchung beendet und die nöthigsten Anordnungen getroffen hatte. Gab es doch fast auf 10 Stunden in die Runde keinen eigentlichen Arzt, an den wir die Armen hätten weisen können! Und auf die griechischen Priester, die sonst in Nothfällen angerufen wurden, hatte Schliemann einen großen und gerechten Zorn, denn sie hielten noch fest an der überkommenen Gewohnheit des steten Blutlassens, welches für Menschen, die durch die Einwirkung der Malaria und durch häufiges und strenges Fasten blutarm geworden waren, doppelt gefährlich ist.

Diesem tief menschlichen Mitgefühl stand bei Schliemann ein auffälliger Mangel in der Auffassung der Natur gegenüber. Niemals in seiner langen Lehrzeit war er mit einem der vielen Zweige der Naturwissenschaft in nähere Berührung getreten. Sein Auge war daher für die feinere Beobachtung der Naturprodukte nicht geschärft, und er war sehr geneigt, auf Grund oberflächlicher Merkmale Angaben zu machen. welche vor einer wissenschaftlichen Bestimmung nicht standhielten.

So hatte er die Bausteine in den Mauern der alten Ansiedelungen als „Muschelkalk“ bezeichnet, ganz unbekümmert darum, daß weit und breit in der Gegend jenes Gestein nicht ansteht, welches die Geologen so nennen. Allerdings sind diese Steine voll von Muscheln, aber sie gehören der Tertiärformation an, einer viel jüngeren Bildung, aus welcher die benachbarten Höhenzüge bestehen. Ganz besonders trat aber seine Gleichgültigkeit gegen die Natur in botanischen Dingen hervor. Beide Male, wo ich ihn in der Troas besuchte, traf ich die erste Frühjahrszeit. Ein Baum, ein Strauch nach dem andern entfaltete seinen Blätterschmuck; auf Bergen und in der Ebene, ja in den Wasserläufen und Sümpfen trieben Blüthen hervor; in entzückender Mannigfaltigkeit bedeckte sich die ganze Pflanzenwelt mit immer neuem, zum Theil in den schönsten Farben strahlendem Schmuck. Wenn unser Ritt uns in neue Gebiete führte, so stießen wir auch wieder auf neue Blumen, und da die Schnelligkeit unserer Bewegungen es mir unmöglich machte, jedesmal abzusteigen, so mußte den Fußgängern unserer Begleitung häufig Auftrag gegeben werden, bestimmte Blumen zu pflücken. Schliemann übermittelte willig meine Aufträge, aber so schwer wurde es mir, ihm selbst klar zu machen, welche Blumen ich haben wollte, daß ich häufig genug andere erhielt, als ich bezeichnet hatte. Schließlich wurden unsere Leute so sehr gewöhnt an diese Thätigkeit, daß sie freiwillig sammelten und mir ihre Erwerbungen überbrachten. Ich erinnere mich immer noch mit Rührung, wie im Anfange unserer Idareise eines Tages in den syenitischen Vorbergen unser Faktotum, der treffliche Nicola, mit seinem schwerbeladenen Klepper einen abschüssigen Fels hinaufsprengte und mir mit triumphirendem Blick eine große rothe Blume herabbrachte: es war freilich nur eine Distel, aber ich steckte sie doch mit freudigem Dank an meine Mütze.

Es machte nicht wenig Mühe, alle diese Pflanzen in erträglichem Erhaltungszustande nach Hause zu bringen, und noch mehr, sie in ordnungsmäßiger Weise einzulegen und zu trocknen. Ich verbrauchte nicht selten einen größeren Theil der Nacht zu dieser Arbeit, und die Wächter, die unsere Hütten umwandelten, waren sehr erstaunt, noch so spät Licht in meinem kleinen Fenster zu sehen. Durch sie erfuhr auch Schliemann davon, und so sehr er mir abrieth, die Nacht zur Hilfe zu nehmen, so begann er doch, mehr und mehr Werth zu legen auf die Erforschung der damals noch recht wenig bekannten Flora des Landes. Er wünschte eine Uebersicht derselben in die neue Ausgabe von „Ilios“ aufzunehmen, und als er später mit der Abfassung dieses Werkes beschäftigt war, drängte er unaufhörlich, die Liste zu erhalten. Ich theilte ihm mit, daß dies nicht so leicht sei und daß Professor Ascherson, dem ich nach meiner Rückkehr das gesammelte Herbarium übergeben hatte, Zeit brauche zu den Bestimmungen, zumal da sich schon ein paar neue Arten darin gefunden hätten. Aber selbst die Anzeige, daß eine dieser Arten seinen, eine andere meinen Namen tragen sollte, mäßigte seine Ungeduld nicht. Im Gegentheil, unter dem 29. Oktober 1879 schrieb er mir: „Die beiden unbekannten Pflanzen müssen natürlich nach Ihnen, dem gelehrten Forscher, benannt werden. Sie nach jemand zu benennen, der nichts damit zu tun hatte und nichts davon versteht, würde eine Parodie sein, deren Sie nicht fähig sind.“ Indeß hinderte diese Erwägung Herrn Ascherson nicht, eine Fritillaria Schliemanni aufzustellen und für mich den Astragalus Virchowii auszuwählen.

Die Fritillaria war gut zu bestimmen, denn ich traf sie in voller Blüthe. Dagegen sah es mit dem Astragalus schlimm genug aus. Es war ganz im Anfange meines ersten Besuches in der Troas. auf einem Ritt zum Grabe des Achilleus, als ich ein üppig treibendes Exemplar davon am Nordende des Vorgebirges Sigeion fand; aber noch war keine Blüthe getrieben. Vergeblich suchte ich nach einem zweiten Exemplar. Auch alle späteren Aufträge blieben erfolglos; selbst als geschulte Botaniker die Troas durchstreiften, die besonders darauf aufmerksam gemacht waren, gelang es ihnen nicht, die Lücke auszufüllen. Erst im vorigen Frühling, als wir eines Tages längs des Sigeion gegen Neochori ritten, stieß ich plötzlich unter dem Dimitri Tepe auf eine Anzahl blühender Exemplare dieser großen schönen Papilionacee. Aber so wenig erfaßte das Auge meines Freundes die Eigenthümlichkeiten der Pflanze, daß er später wiederholt bei ihr vorüberritt, ohne sie wiederzuerkennen.

Bei Pflanzen ließ ihn sogar seine sonst so lebendige Jugenderinnerung im Stich. Eines Tages kamen wir nach Ghiekli, einem Dorfe an der Küste des ägäischen Meeres, gegenüber von Tenedos. Ein Mann kam tief betrübt herbei und erbat Hilfe für seine schwer erkrankte Frau. Seine Sorge war so groß, daß er alle Bedenken des Orientalen überwand und uns an das Krankenbett der Frau führte. Aber wir waren fast ohne Arzneimittel, und als ich den Mann fragte, ob eine Apotheke erreichbar sei, erklärte er, dazu müsse er auf einem Boote nach Tenedos hinüberfahren oder nach den Dardanellen gehen. Wir entschieden nach einiger Ueberlegung für die Fahrt nach Tenedos, aber ich rieth, in der Zwischenzeit Umschläge mit Chamillenthee zu machen. Schliemann erinnerte sich, den Namen gehört zu haben. aber er war höchlich erstaunt, als ich ihm mittheilte, daß wir kurz vor dem Dorfe über ein Feld geritten seien, das ganz mit blühenden wilden Chamillen bestanden war. Auch der Eingeborene hatte keine Ahnung von dem Namen der Pflanze, die ich ihm zeigte, und noch weniger von ihrem Werte als Hausmittel.

Dieser Mangel an botanischem Verständniß ließ sich bei Schliemann natürlich in der Eile nicht beseitigen. Aber als er zwei Jahre später zum ersten Male den Gipfel des Ida erstieg, da brachte er von oben herab die köstlichen Blumen, die schon Homer im 14. Gesange der Ilias nennt:

„Lotos mit thauiger Blum’ und Krokos sammt Hyakinthos.“

Freilich that er es nicht der Blumen, sondern nur der homerischen Stelle wegen. Denn gerade unter dem Gipfel des Ida, tief [301] versteckt, liegt eine lauschige Thalmulde, ganz wie geschaffen für eine heimliche Brautnacht. Als wir im letzten Frühjahr dort waren, sah sie wie ein Blumengarten aus, so dicht standen Krokus und Corydalis und blaue Hyazinthen (Scillen).

Die Reise von 1881, wo er ganz allein war, zeigte überhaupt in überraschender Weise, mit welcher Schnelligkeit Schliemann auch naturwissenschaflliche Aufgaben erfaßte und sich die genaueren Methoden zu eigen zu machen wußte. Er bestimmte auf derselben mit größter Sorgfalt die Höhen der Berge, maß die Temperatur der Quellen und führte ein genaues meteorologisches Tagebuch. Jede Begegnung mit einem Naturforscher steigerte sein Verständniß, nicht in bloß mechanischer Weise, sondern in sachlicher Einsicht. Denn er wurde nicht müde, die Unterhaltung bis auf den Grund der Dinge fortzuführen. Seine lange Gewöhnung an Rechnen machte ihn besonders befähigt, alles das zu erfassen, was auf Zahlen zurückzuführen war. Daher imponirte ihm vor allem die Astronomie und er trug sich lange mit dem Gedanken, seinen Sohn Agamemnon, der damals noch ein zartes Kind war, zum Astronomen ausbilden zu lassen. In gleichem Sinne legte er auch das größte Gewicht auf genaueste Kenntniß der Geschichtszahlen, ohne welche ihm die Geschichte selbst gänzlich unverständlich erschien.

Das Sammeln der Steckmuschel in den Salzseen auf Meleda.
Nach einer Zeichnung von F. Schlegel.

Es war ein sonderbares Geschick, daß es gerade ihm, dem Zahlenmann, beschieden war, alle seine großen Entdeckungen in so ferne Zeiten verfolgen zu müssen, wo die Geschichtszahlen aufhören. Schon sein erster Anfang auf Hissarlik führte ihn sehr schnell in eine Tiefe der Ausgrabungen, wo nur noch die Prähistorie zu sprechen hat. Da giebt es keine Münze mehr! Schliemann hat mit ebensoviel Geschick als Glück eine schöne seltene Sammlung von Münzen aus der klassischen Zeit zusammengebracht. Auch die oberflächlichen Schichten von Hifsarlik, mehr noch die benachbarten Felder und Hänge von Neu-Ilion sind voll von hellenischen, römischen und byzantinischen Münzen. Aber gegen die Tiefe hin hört das bald auf. In den oberen Schichten giebt es auch noch Inschriften, besonders griechische, zum Theil recht lange. In den prähistorischen Lagen trifft man nur noch auf Fundstücke aus Thon, besonders Wirtel in reichster Fülle, auf denen häufig sonderbare Einritzungen sind, die wie Schriftzüge aussehen, aber nur einzelne kühne Forscher glauben, darin lesbare Zeichen erkannt zu haben. selbst wenn man ihre Deutungen anerkennt, kommt man damit nicht weiter, als daß man diese Stücke mit anderen aus benachbarten Gegenden der Mittelmeerländer, z. B. solchen aus Cypern, zusammenstellen kann, aber Geschichtszahlen folgen daraus nicht. Wo in der Geschichte Jahre genannt werden, da ist man in der Prähistorie auf Jahrhunderte, zuweilen auf Jahrtausende angewiesen.

Schliemann hat sich nach und nach in diese Nothwendigkeit gefunden. Aber es war eine sehr harte Aufgabe für ihn, zu deren Ueberwindung er Jahre gebraucht hat. Galt es doch, auf den Gedanken zu verzichten, daß diese Ueberreste der homerischen Stadt dem Ilios von Priamos und Hektor angehört haben. Freilich nicht in dem Sinne, wie manche angenommen haben, daß nun erst recht die Ansicht bewiesen sei, auch die Grundlage der Dichtung beruhe auf freier Erfindung, und es sei niemals in diesem Lande ein Krieg abendländischer und morgenländischer Völker geführt worden, der mit der Zerstörung einer Königsburg und der Vernichtung des Herrschergeschlechts sein Ende gefunden. Im Gegentheil – und das ist das Bedeutende in den Entdeckungen Schliemanns – es wurden die Trümmer einer uralten Burg aufgedeckt, welche durch Brand zerstört sein muß und welche nach ihrer Anlage und der Bedeutung der darin gefundenen Gegenstände nur einem reichen und mächtigen Herrscher als Sitz gedient haben kann. Auf den Trümmern dieser Burg haben spätere, allem Anschein nach fremdartige Ansiedler Gebäude errichtet, und auch diese Gebäude sind wieder zerstört und zum Theil verbrannt, und auf und aus ihrem Schutt haben neue Bewohner ihre Wohnungen hergestellt. Das sind die über einander folgenden Schichten, welche Schliemann etwas zu volltönig „Städte“ genannt hat. Ungeheure Schutt- und Trümmerlagen bezeugen die Thatsache, daß gerade dieser Platz schon in vorgeschichtlicher Zeit als ein besonders fester und gewiß [302] auch berühmter gegolten hat, um welchen sich rin reicherer Schatz von Sagen sammelte, als um irgend einen anderen Platz der Troas. Gewiß ist es bedeutungsvoll, daß bis jetzt in der ganzen Troas auch nicht ein einziger anderer Platz entdeckt worden ist, der seiner ursprünglichen Anlage nach oder seiner immer erneuten Besiedelung wegen auch nur entfernt mit dem Trümmerhügel Hissarlik verglichen werden kann.

Hier ist nachher auch in historischer Zeit fortgebaut worden. Hier treffen wir die aus Quadern errichteten Mauern der makedonischen Zeit, hier sind in weiter Ausdehnung, selbst über den Burgberg hinaus, die Felder mit den Trümmern der römischen Kolonie Neu-Ilion bedeckt, hier wurden zweifellose Ueberreste der Byzantiner ausgegraben. Mit dem Zerfall der oströmischen Herrschaft hörte auch die Bebauung des Hügels auf. Nur noch nomadisierende Hirten weideten auf demselben ihre Heerden. Damit schwand die Kontinuität der Sage, aber glücklicherweise auch der Anreiz zur Nachgrabung und Zerstörung des noch Vorhandenen. Erst der „Traum“ eines mecklenburgischen Knaben, in früher Zeit angeregt durch die Erzählungen eines Vaters von gelehrter Bildung und durch ein an sich werthloses Bildwerk, sollte sich in einer tiefgehenden Untersuchung verwirklichen, welche der gereifte Mann nach einem langen und arbeitsvollen Leben mit den großen, darin erworbenen Mitteln unternommen und fast ganz zu Ende geführt hat.

Zu der Zeit, wo Homer lebte oder, falls er nicht gelebt haben sollte, wo die mit seinem Namen bezeichneten Dichtungen entstanden, konnte nach diesen thatsächlichen Feststellungen nichts mehr von der alten Burg sichtbar sein. Sie war schon damals nicht nur bis auf die Grundmauern zerstört, sondern auch von einer Reihe späterer Ansiedlungen überbaut, ungefähr so, wie die alten ägyptischen Tempel bis auf unser Jahrhundert großentheils mit den elenden Lehmdörfern koptischer Ansiedler bedeckt waren, deren Schutt nach und nach die Hallen und Kapellen gefüllt und jeden Tempel in einen großen Schuttberg, heutigen Tages „Kom“ genannt, verwandelt hatte. Es ist nur der große Unterschied, daß in Aegypten noch neue prächtige Tempel aufgeführt wurden, als an die Stelle der alten Pharaonen ein makedonisches Herrschergeschlecht und schließlich römische Kaiser getreten waren, also zu einer Zeit, als in der Troas nur noch ein unscheinbarer Hügel vorhanden war. Wer will es entscheiden, ob die verschüttete Burg im tiefsten Grund dieses Hügels den Namen Ilios getragen hat, und ob der Herrscher und seine Angehörigen von ihren Zeitgenossen so genannt wurden, wie die Dichtung sie nennt? Das sind an sich müßige Fragen, wenngleich sich auch über diese Namen manches sagen läßt.

Die homerische Dichtung beschäftigt sich aber nicht bloß mit Ilios und seinen Bewohnern. Sie schildert die ganze Umgebung, vorzugsweise die benachbarte Ebene mit ihren Flüssen und Dörfern, die Küste des Hellespont und die Umrahmung mit Bergzügen. Da ist zweifellos das Schlachtfeld, auf welchem Achäer und Troer in immer erneuten Kämpfen aufeinander stießen. Die „Ilias“ beschreibt aber auch in unerreichter Naturtreue das größere Bild, das man von der Höhe von Hissarlik überschaut: das weite Meer mit seinen Inseln Tenedos, Lemnos und vor allen die hochragende Felsmasse von Samothrake. und gegen Süden das bergige Mittelland der Troas, abgeschlossen durch die ferne Gebirgskette des Ida. Noch heute zeigt der Himmel über diesen Fernpunkten jene wechselnden Gestaltungen des Gewölkes, sein plötzliches Entstehen, sein Fortschreiten, die Gewitterbildung, – lauter Erscheinungen, in denen der Glaube des Volkes das Walten der Gottheit zu erkennen meint. Kaum dürfte ein zweiter Ort innerhalb des Bereiches altgriechischer Anschauung vorhanden sein, der mehr geeignet wäre, durch die Großartigkeit des Naturbildes als Unterlage für die Annahme einer persönlichen Anwesenheit und Mitwirkung der Götter zu dienen. Daraus begreift sich die künstlerisch vollendete Verbindung göttlicher und menschlicher Thaten, welche die „Ilias“ bietet, und welche während der ganzen klassischen Zeit in Griechenland und Rom den Inhalt der mythologischen Vorstellungen, der poetischen und künstlerischen Schöpfungen, der Götter, und Heroensagen bestimmt hat.

Dieses Gesammtbild der troischen Landschaft war es. welches durch die Jahrtausende hindurch, als jede Spur des alten Ilios verschwunden zu sein schien, den Glauben erhielt, daß die Burg in dieser Gegend oder gar an dieser Stelle gelegen haben müsse. Als der Glaube an Zeus und Poseidon. an Here und Athene verblaßte. erhielt sich doch in unveränderter Form die Gestalt der Berge und Hügel, welche einst als ihre Sitze oder wenigstens zeitweiligen Standplätze verzeichnet waren. Der Glaube an Ilios, an Priamos und sein Haus, an die Helden der Achäer überdauerte den Glauben an die Götter. Aber heute müssen wir den Kritikern zugestehen, daß dieselbe Dichtung, welche die Landschaft malt, wie sie noch heute ist, an die Stelle der wirklichen Burg und der vorgeschichtlichen Helden poetische Gestaltungen gesetzt hat, für welche die Ausgrabungen nur unvollständige Beweise, oft genug sogar Gegenbeweise geliefert haben.

Die Helden der Dichtung kämpfen vielfach zu Roß oder zu Wagen. Aber in den Trümmern der prähistorischen Stadt haben sich keine Wagenreste gefunden und unter der Unmasse von Thierknochen nur vereinzelte Gebeine von Pferden. Kein Schwert ist zu Tage gekommen, dagegen neben einzelnen Bronzen zahlreiche Waffen von Stein, deren in dem Gedichte mit keinem Worte gedacht wird. Unverkennbar schildert uns der Dichter Krieger seiner Zeit, wo das Eisen zu allgemeinem Gebrauche gekommen war; er hatte keine Ahnung davon, wie die Ausrüstung des Kriegers der Urzeit beschaffen war. Mit derselben Naivetät überträgt er die Sitten und Gewohnheiten seiner Zeitgenossen auf jene alten Geschlechter, welche seit vielen Jahrhunderten begraben waren. Mit dem gleichen Rechte könnte ein Dichter unserer Zeit die Krieger Karls des Großen mit Hinterladern bewaffnen und ihnen Kanonen zur Verfügung stellen. Homer beschreibt eben seine Zeitgenossen und nicht das troische Urvolk. Wo die Grenzen der Erfindung oder der Uebertragung liegen, das ist also selbst hier eher zu Ungunsten des Dichters zu entscheiden. Leider hat auch die Untersuchung der Heroengräber in der Troas, auf welche Schliemann so große Hoffnungen gesetzt hatte, fast nur negative Ergebnisse geliefert. Nur im Hanai Tepe wurden zahlreiche Skelette zu Tage gefördert, aber auch da nichts von solchen Waffen und Geräthen, wie sie die „Ilias“ voraussetzt.

Im Hausbau sind die Menschen verhältnißmäßig konservativ, und daher ließe sich eher annehmen, daß die Schilderung der Häuser auch noch zugetroffen haben könnte, als sie selbst nicht mehr vorhanden waren. In der That habe ich nachgewiesen, daß die architektonischen Gewohnheiten der vorgeschichtlichen Zeit sich noch heutigen Tages in allen Theilen der Troas nachweisen lassen: ein Unterbau aus Bruchsteinen, ein Oberbau aus Lehmziegeln, drüber Holzbauten. Diese Anordnung ist in den alten „Städten“ von Hissarlik, abgesehen von den Holzbauten, ganz deutlich. In der „Ilias“ finde ich keine Andeutung davon, aber auch keine bestimmte Angabe gegentheiliger Einrichtungen. Daher steht unmittelbar nichts entgegen, die Trümmer der „zweiten Stadt“ mit Schliemann auf die Burg der Sage zu beziehen.

Der Versuch, die untergegangenen Gebäude des alten Schutthügels aus der Reihe menschlicher Wohnungen zu streichen und den ganzen Hügel als eine gewaltige Anhäufung von Gräbern mit Leichenbrand, als eine „Feuernekropole“ zu erweisen, ist nach meiner Ueberzeugung nicht gelungen. Er beruhte ursprünglich auf mißverständlichen Bezeichnungen und Deutungen, welche Schliemann seinen Funden in der ersten Zeit seiner Ausgrabungen, als er noch wenig erfahren in archäologischen Untersuchungen war, gegeben hatte. Er selbst hat seine damaligen Auslassungen als irrthümliche zurückgenommen, und ich kann versichern, daß mir bei zweimaliger, wochenlanger Anwesenheit auf Hissarlik nichts vorgekommen ist, was darauf hingedeutet hätte, daß in den prähistorischen Zeiten auf dem Hügel Leichenverbrennungen stattgefunden hätten oder Gräber in auch nur mäßiger Zahl angelegt worden wären. Die prähistorischen Schichten stammen von menschlichen Wohnungen und sind endgültige Beweise dafür, daß hier Ansiedlungen vorhanden waren. Man mag über die Bedeutung einzelner Gebäude streiten, z. B. ob sie Paläste oder Tempel waren. aber das ändert nichts an dem Gesammtcharaker der Anlage.

Schliemann hat die trojanischen Ausgrabungen wiederholt unterbrochen, um an anderen Plätzen, welche die homerische Dichtung aus der Zahl der damals bewohnten Hauptorte hervorhebt, Untersuchungen zu veranstalten. Das waren vorzugsweise Mykenä, Tiryns und Orchomenos, jene beiden im Peloponnes, in der Nähe von Argos, dieses in Böotien. Er hat dieselben mit noch größerer Uneigennützigkeit ausgeführt, denn er hat seine dortigen Funde ohne Entschädigung der griechischen Regierung [303] überantwortet. Schon in Mykenä war ihm das Glück sehr hold: er fand die alten Königsgräber, die Pausanias beschrieben hat, deren Existenz aber von den späteren Gelehrten bis auf die neueste Zeit bestritten wurde. Ganz besonders lehrreich war die Ausgrabung von Tiryns. Nicht nur ist diese uralte Burg in ihrer ganzen Ausdehnung von ihm aufgedeckt worden, so daß über ihre Anlage kein Zweifel bestehen kann, sondern es ist auch durch die Betheiligung eines ausgezeichneten Architekten und Archäologen, des Herrn Dörpfeld, ermöglicht worden, jeden Schritt durch sichere Pläne und Grundrisse festzulegen. So sind an Stellen, an welche die ältesten Sagen des Peloponnes anknüpfen, wo Pelops, Herakles, die Atriden zu Hause waren, untrügliche Zeugnisse von der Anwesenheit solcher Geschlechter geliefert, welche in die früheste griechische Geschichte hineinragen, wenngleich ihnen noch ein gutes Stück prähistorischen, zum Theil sogar ausländischen Gepräges anhaftet.

Jedesmal aber ist Schliemann von diesen Untersuchungen wieder nach Hissarlik zurückgekehrt, nicht um Homers willen, dessen epigonischen Charakter er voll würdigen gelernt hatte, sondern um des Umstandes willen, daß die prähistorischen „Städte“ von Hissarlik nach ganz objektiven Merkmalen älter sein müssen als Tiryns und namentlich als Mykenä. Und darum zog es ihn auch jetzt wieder dahin. Alles war vorbereitet, um am 1. März dieses Jahres eine neue, wie er hoffte, die letzte Campagne der Ausgrabungen daselbst zu eröffnen. Der Tod hat ihn ereilt, ehe er auch nur sein schönes Haus in Athen, sein Weib und seine Kinder wieder erreichen konnte.

Vielleicht wird sein Gedanke wieder aufgenommen werden. Aber, wenn dies auch nicht geschehen sollte, so ist das Hauptwerk auch in Hissarllk gethan. Auf lange, vielleicht auf immer werden seine Funde die sichere Grundlage bilden für jede Erörterung über Zeiten der griechischen Entwicklung, welche bisher nur der sagenhaften Ueberlieferung angehört haben. Und darum wird der Name unsres Landsmannes nicht nur jedem Griechen heilig bleiben, sondern auch im Gedächtniß jedes Gebildeten unter den Förderern des Wissens über das Alterthum einen hervorragenden Platz einnehmen.




Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.
(17. Fortsetzung.)


Durch den kahlen Buchenwald raste der Sturm; er schüttelte die Kronen der alten Bäume, daß sie klappernd zusammenschlugen, warf hie und da einen morschen Ast zur Erde, der prasselnd in das Unterholz fiel, und heulte in unglaublichen Tonarten durch die Lüfte.

Es war so ein Wetter, bei dem die Harzleute meinen, der wilde Jäger durchziehe sein Revier mit unheimlichem Gefolge, bei dem man einem Hund nicht zumuthet, draußen zu bleiben, geschweige einem Menschen.

Für den Mann aber, der, die gebahnte Fahrstraße vermeidend, den steilen, noch ganz verschneiten Waldpfad aus dem Hüttengrunde hinaufstieg, schien der Graus nichts Beängstigendes zu haben, er mußte sehr vertraut mit diesen Wegen sein. Hier oben lag noch Schnee, und ein blasser Mondschein verbreitete eine dämmernde Helle über die Gegend; nur zuweilen, wenn die sturmgejagten Wolken vor den Mond traten, verschwamm der Wald zu einer dunklen Masse. Aber es dauerte nicht lange, da hoben sich die schwarzen Stämme der mächtigen Bäume um so greller von dem Schneegrund ab.

Es ist keine Frühlingsnacht, wo der Jäger sich an den Auerhahn schleicht; es ist noch Winter hier oben, und eher eine Nacht, wo der Wilderer hinter den Stämmen lauert und das Raubzeug auf Fang ausgeht. Und hier giebt’s viel Wild. Wenn der Förster in seinem Häuschen auf dem Hochplateau einen Schuß hört, so flucht er in die Kissen hinein und brennt in Gedanken dem lästerlichen Volk eins auf, das ihm für immer das saubere Handwerk legt. Ja, wer sollte sonst auch wohl schießen?

Der Mann, der so rasch daher kam, blieb einen Augenblick stehen und nahm den Hut von der erhitzten Stirn. „Es wäre das Beste!“ sagte er halblaut. – Verpfuscht war sein Leben ohnehin; in allem getäuscht, in allem verfehlt! Selbst das bißchen Treue und Anhänglichkeit, wie es das erbärmlichste Weib für seinen Lebensgefährten hat, war ihm nicht geworden, „Fortgehen“ hieß sie ihn! Wohin, war ihr gleichgültig, nur fort!

0000000000

Von der Hütte „Gottessegen“ bis zum Försterhause hatte man eine und eine halbe Stunde zu gehen, dann mußte aber tüchtig ausgeschritten werden. Die Frau Försterin mit den goldrothen Haaren brauchte stets mehr Zeit zu ihren Gängen nach Oberrode; sie hatte so kleine Füße und trug so zierliche Schuhe. Heute war sie auch drunten gewesen, um dem Begräbniß mit anzuwohnen, eigentlich aber nur, um den Herrn Jussnitz, der sie einmal so prächtig gemalt hatte, daß sie nachher in allen Zeitungen stand, wiederzusehen. Er war dazumal doch ein gar zu lustiger, netter Mensch gewesen. Vorhin in der Dämmerung war sie heimgekehrt und erzählte nun nach der Abendsuppe in der kleinen überheizten Stube ihrem „Alten“, der rauchend auf der Ofenbank saß, wie der Herr Jussnitz sich gar nicht, aber auch gar nicht mehr ähnlich sei, so gleichgültig und so stolz habe er ausgesehen. Dabei tätschelte sie die „Lola“, eine kleine Dachshündin mit klugen Augen und ebenso übermüthigem Wesen wie ihre Herrin und just so röthlich von Farbe wie deren Haar.

Der „Alte“ schüttelte den Kopf. „Ei, das thut mir aber leid, dem ist der Reichthum nicht bekommen.“

„Mir sollte er schon bekommen,“ lachte sie. „Gelt, Lola, wir lernten bald in der Kutsche fahren? Ich thät Dir auch ein himmelblaues Halsband kaufen, das ist unsere Farbe. Lola.“

„Du sollst nicht immer so närrisches Zeug daherpappeln,“ tadelte der ernsthaft dreinschauende Mann mit dem wetterbraunen Gesicht.

„Ach Gott,“ fuhr sie trotzdem fort, „was muß so eine es gut haben wie die Frau Jussnitz!“

„Hättest Dir sollen einen Reichen nehmen.“

„Ja, hätt’ ich sollen – wenn nur das dumme Oberroder Freischießen nicht gewesen wäre!“

Jetzt schmunzelte der Mann.

„Und wenn Du nur nicht Schützenkönig geworden wärst,“ fuhr sie fort; „aber da habe ich mich in Dich vergafft und bin mir vorgekommen, wie ich mit Dir tanzte, als sei ich eine leibhaftige Königin. So dumm! Andern Tages war die ganze Herrlichkeit vorbei.“

„Bloß die Liebe nicht,“ sagte er.

„Ach nun freilich, Du weißt’s!“ schmollte sie.

„Ja. ja,“ meinte er, „wir sind zu rasch mit dem Versprechen bei der Hand gewesen. Wenn ich dazumal gewußt hätte, was für eine Wildkatze ich mir fing, ich hätte Dich laufen lassen.“

„Ach Gott, hättest Du’s doch.“

„Nun, da ist die Thür, lauf noch fort – wird’s bald?“ lachte er und klatschte aufstehend in die Hände, als wenn er Hühner scheuchte.

„Empfehle mich!“ rief sie und war mit einem Sprunge an der Stubenthür. „Komm, Lola!“

Das ganze übrige Hundevolk, das schlafend am Ofen umherlag, wurde durch Lolas Bellen wach und blaffte mit hinein in das Lachen des Mannes und das lustige Schelten der Frau. Er hatte sie um die Taille gefaßt und küßte sie, und zwischen jedem Kuß sagte er. „Lauf doch! Warum bist Du noch nicht fort?“

„Himmlischer Vater, so bring doch die Hunde zur Ruhe!“ schrie sie, „es ist ja um den Verstand zu verlieren!“

Aber die drängten sich an dem Paar vorüber und stürzten zur Hausthür.

„Da ist jemand,“ sagte der Förster und ließ seine Frau los.

Sie ergriff die Lampe und trat auf die Schwelle der Stube. Ihr Mann hatte derweil die Hausthür geöffnet, aber er wich zurück in starrer Verwunderung und aus der Hand der Frau wäre beinahe die Lampe gefallen.

„Herr Jussnitz!“ riefen sie beide. „Meine Güte, bei dem Wetter, und so spät! Was giebt’s denn? Haben Sie sich verlaufen, Herr?“

[304] „Habt Ihr Platz für mich die Nacht?“ fragte er.

„Aber natürlich, Herr Jussnitz!“

„Nun, da gebt mir mein altes Stübchen bis morgen und, wenn’s möglich ist, einen Schnaps, ich klappere vor Kälte.“

Sie führten ihn in die Stube und er setzte sich auf die Ofenbank; die Hunde schnupperten an seinen Kleidern, die Buchenscheite krachten im Verbrennen und „Frau Dorchen“ holte die Flasche mit dem Nordhäuser und das kleine dicke Gläschen aus dem Wandschrank.

Er griff gierig danach und trank. „Ihr habt’s gut hier oben,“ sagte er.

„Wenn ich nur wüßte, warum Sie heute abend hier herauf gekommen sind?“ erkundigte sich die neugierige Frau, „mit der Auerhahnbalz ist’s noch lange nichts bei dem Schnee.“

„Frag’ nicht, mach’ die Stube für den Herrn in Ordnung, heize ein!“ bedeutete der Förster.

Und als sie hinaus war, setzte er sich still in den Lehnstuhl; er hatte gemerkt, daß da etwas nicht geheuer sei mit dem späten Gast. In der Gegend war es ja kein Geheimniß, daß Schwiegermutter und -sohn nicht im besten Einvernehmen gestanden, und Gott mochte wissen, was es bei der Testamentseröffnung gegeben hatte. Dorchen hatte ja erzählt, sie habe gleich nach dem Begräbniß stattfinden sollen.

„Sie sehen aus, als wenn Sie nicht recht wohl wären, Herr Jussnitz.“

„Ist auch der Fall, lieber Wend,“ erwiderte der Angeredete.

„Wird wohl bald fertig sein, die Dore.“

In der That klapperten die Pantoffeln der jungen Frau eben eilig das Treppchen herab. „Wenn’s gefällig ist, Herr Jussnitz,“ rief sie in der Thür.

Er erhob sich und bot dem Förster die Hand: „Gute Nacht, Wend!“

Frau Dora leuchtete ihm die Stiege hinauf. „Es ist lange her, seit Sie hier das letzte Mal geschlafen haben, Herr Jussnitz,“ lachte sie, „bücken Sie sich nur, Sie sind derweilen nicht mehr durch so niedrige Thüren geschlüpft. In Ihrem Schlosse daheim sind sie gewiß so hoch und breit wie unser ganzes Haus – nicht wahr?“

Er war schon drinnen in dem winzigen Raum. Als er sich umwandte, um ihr „Gute Nacht!“ zu sagen, sah er, wie das hübsche Gesicht jäh erblaßt war und wie ihre Hand nach dem Herzen griff. Er verstand sie; sie dachte daran, daß er aus diesem Stübchen weggegangen war, um da draußen im Walde zu „verunglücken“.

„Gute Nacht!“ stotterte sie, „und, Herr Jussnitz, wenn Sie krank werden sollten, wecken Sie uns – Sie wissen, wir schlafen grade unter Ihnen – Sie sehen so erbärmlich aus –“

„Schlaft nur ruhig,“ sagte er, „mir geschieht nichts.“

Sie ging zögernd. Er hörte sie die Treppe hinuntersteigen, und es war ihm, als husche etwas an ihr vorüber, dränge sich durch den Thürspalt und erfülle das Stüblein mit wundersamem Raunen und Klagen – – War es die Erinnerung?

Er setzte sich auf den Rand des Bettes, nachdem er das Licht gelöscht hatte; er sah ja trotz alledem so deutlich in der Mondnacht. Er sah die getünchten Wände und das Spiegelein über der Kommode, hinter dem ein paar Pfauenfedern steckten, er kannte jede der kleinen seltsam verwachsenen Rehkronen daneben, und er sah die Kohlezeichnungen auf den Wänden. die von verschiedenen Meisterhänden herrührten und allerhand launige Jagdabenteuer darstellten; der Förster hütete sie wie die kostbarsten Albumblätter. Leo selbst hatte ja dort die junge Förstersfrau gezeichnet, wie sie keck auf dem Besenstiel nach dem Brocken reitet, die Lola vor sich auf dem Schoß. die den Mond anheult. Wie hatte das lustige Weib gelacht, als sie es sah! Und wie er sie später malte, und wie das Bild ihm gedieh! Und wie in den Frühstückspausen die kleinen Käschen so gut schmeckten und das braune schäumende Bier! Das war doch noch Leben gewesen!

Gleich goldschimmernden Strahlen zieht es vor seinen Augen dahin; er hebt die Hand, er will ihn festhalten, diesen Schimmer – fort – fort – und wieder sitzt er hier in der Dämmerung eines Herbstabends um zwei Jahre später – das Herz leer – der Kopf leer und auch die Taschen! Es will ihm nichts mehr glücken, die Spannkraft versagt, er hat keine Ideale mehr, hat sie verloren in dem Treiben der großen Stadt, in allerhand müßigem Getändel. Er hat Geld gebraucht, viel Geld, hat Schulden und keine Aussicht, sie zu bezahlen, er ist bankerott an Leib und Seele! Und drunten steht der Gewehrschrank des Försters, und im Wald ist weit und breit kein Mensch – –

Er sieht in der Erinnerung deutlich den Strauß, den Frau Dorchen dazumal auf die Kommode gestellt hatte; rothe Ebereschen sind’s gewesen, goldgelbe Blätter und grüne Tannenzweiglein – Er aber ist auf einmal fort, und draußen, weit draußen ist ein Schuß gefallen. – –

Der Mann auf dem Bettrand bebt wie im Fieber. „Nun kommt erst recht das Elend!“ sagt er vor sich hin. – Er sieht sich erwachend in einem fremden Raum, er hört ein merkwürdiges taktmäßiges Pochen und Hämmern, das Lager und die Vorhänge sind schneeweiß, und durch die Fenster bricht Sonnengold. Er athmet Veilchenduft; auf seiner Decke liegt ein Sträußlein der blauen Blüthen, und neben dem Lager in dem tiefen Lehnstuhl ruht im Schlummer ein blonder Mädchenkopf.

Welch ein weiches kindliches Gesicht!

Er tastet nach den Blumen, unbeholfen, ungeschickt, es thut ihm weh in der Brust. Ein leiser Schmerzenslaut läßt das Mädchen erwachen, ein Paar klarer grünlicher Augen, unergründlich wie das Meer selbst, schaut ihn an, und plötzlich überzieht eine Purpurgluth das Gesichtchen; sie springt auf und sagt, sie wolle die Mutter rufen.

Das ganze wohlige Gefühl der Genesung überkommt ihn; die ersten Gehversuche, das entzückende Grün der Bäume, die Frühlingsluft der Berge. alles taucht wieder vor ihm auf – und dann sieht er sich am Arm des Mädchens im Garten. Tiefblau ist der Himmel über ihm und die Sonne scheint schon recht warm auf den Kies der Gartenwege; über das Wehr rauscht und tost das Wasser und auf den Beeten blühen gelb und lila die Krokus. Er weiß selbst nicht, wie es gekommen ist, er hat sie auf einmal gefragt, ob sie sein werden wolle. Und da hat er ein Ja! gehört, ein schüchternes und dennoch festes Ja! –

Leo hatte jetzt wieder das merkwürdige Gefühl, das ihn seitdem nicht mehr verlassen, das Gefühl, welches den Menschen überkommt, wenn er einem andern sich verpflichtet weiß und kann sich nicht erkenntlich genug dafür zeigen. Es ist ein dummes Bewußtsein, es macht reizbar und nervös und ungerecht. Es ist so schwer, Großmuth zu ertragen, furchtbar schwer; man möchte die, denen man sie verdankt, fast hassen, zumal wenn man den Geber in geistiger Beziehung so tief unter sich glaubt, so tief – –

Merkwürdig, je mehr er nahm, desto reizbarer wurde er. Lächerlich! Sie war ja sein Weib, sie hatte ihm tausendmal gesagt: „Was mein ist, ist auch Dein!“ Und dennoch, dennoch! Ja. zum Donnerwetter – – Hatte er denn gar nichts dagegen in die Wagschale geworfen? Seinen Namen, seinen ehrlichen Namen und – nichts weiter. – Wahrhaftig, nichts – nichts! Nicht einmal ein Bild war ihm geglückt, weil – weil sie ihn herabzog in die Prosa des Lebens. Sie trug die Schuld an allem.

Er war nur froh. daß er ihr gesagt, mit aller Rücksichtslosigkeit gesagt hatte, daß sie nichts als seine Kette sei – trotz ihres Reichthums. Das jämmerliche Weib des Schnapssäufers stand über ihr wie eine Heldin; es hatte doch die Kraft gehabt, Treue zu halten trotz allem bis zum Ende. – Er aber war hinausgewiesen!

Er lachte kurz auf.

„Wahrhaftig – folgerichtig gehandelt ist es, daß sie mich entließ, das muß man zugeben; ich hätte es ihr kaum zugetraut. Gott sei Dank!“

Er begann sich zu recken und zu strecken, wie ein von Gefängnißketten Entlasteter, aber er spürte kein wohliges Freiheitsgefühl. Die Freiheit ist nicht frei ohne klingende Münze, und lieber wollte er verhungern. ehe er einen Groschen von dem Almosen nahm, das sie ihm jedenfalls anbieten lassen würde.

Aber wohin? Was nun?

Er fing an, sich zu entkleiden, und nahm gewohnheitsgemäß Brieftasche und Skizzenbuch aus den innern Taschen seines Jacketts. Da war ja auch noch der Brief und die Depesche, die er bei seinem Fortgehen drunten auf der Hütte erhalten hatte; ferner der elegante Taschenrevolver, und hier endlich auch die kleine rothe Schleife, die er seit ungefähr einer Woche bei sich trug. Das dunkle Köpfchen, in dessen Haar diese Schleife gesessen

[305]

Eine Gewissensfrage.
Nach dem Gemälde von L. Bechi.

[306] hatte, tauchte vor ihm auf mit entzückender Deutlichkeit. Woher doch zuletzt dieser Zorn, diese Verachtung? „Ja, ich habe meine Augen lügen lassen, weil ich mich rächen wollte an Ihnen!“ Rächen? Wofür? – Weil er ihr seine Huldigungen zu Füßen gelegt hatte? Ah bah! Sie war aufgehetzt von Antje, man hatte verstanden, ihr Angst zu machen. Diese Frau mit dem Gesichtskreis so groß wie eine Untertasse, was verstand sie von geistiger Verwandtschaft, von der Macht, die eine Seele zur andern zwingt? Es war ja alles grob zugehauen bei ihr, ihr ganzes Denken und Empflnden. Kochtopf, Kinderbrei, Geldschrank – eine prachtvolle Zusammenstellung! Fort – fort aus dieser Enge!

Er trat an das Fenster und sah in die Nacht hinaus. Der Wind hatte sich gelegt, ein leichter silberner Flor wob sich um die Buchen jenseit der Lichtung, auf der die Försterei lag. Er nahm den Brief und hielt ihn dicht vor die Augen, aber er konnte die Schrift nicht lesen; es hatte ja auch keine Eile. „Aber die Depesche – vermuthlich die Mittheilung, daß die Aktien der F. Baubank verkauft sind.“

Er hatte Auftrag dazu gegeben, weil er zufällig gehört hatte, daß es mit dieser Bank nicht ganz geheuer sei. Eigentlich ging ihn das nichts mehr an, aber er hatte doch schließlich die Verpflichtung, das Vermögen seiner Frau in sicherer Anlage zurückzugeben; zusammengeschmolzen war es ohnehin genug. Wäre ihm nicht zuweilen das Glück beim Börsenspiel hold gewesen, so hätte es noch ein wenig schlimmer ausgesehen. Zum Ankauf dieser verflixten Aktien hatte ihn Barrenberg verleitet: die Geschichte müßte ja eine Zukunft haben, hatte der sonst in Geldgeschäften wohl gewandte Freund gemeint.

Leo hielt die Depesche noch uneröffnet in der Hand und betrachtete sie. Er hatte seinerzeit nominell gekauft weit über die Höhe des Kapitals hinaus, das ihm zur Verfügung stand. Donnerwetter, es wäre eklig, wenn er jetzt eine bedeutende Differenz zahlen müßte! Daß er vorhin auch nicht daran gedacht hatte, im Hüttenkontor einen Blick in das Börsenblatt zu thun!

Es rieselte ihm plötzlich eiskalt über den ganzen Körper.

Dann tastete er nach dem Streichholzständer und zündete die kleine dünne Kerze in dem blankgeputzten Messingleuchter an, legte die Depesche zurück und erbrach zuerst den Brief. Er enthielt in ein paar höflich bedauernden Zeilen die Nachricht, daß das Komitee der Ausstellung in Berlin leider sein Bild „Spanische Tänzerin“ wegen Ueberfülle an Einsendungen und zu späten Eintreffens nicht mehr habe annehmen können.

Ueber das Gesicht des Mannes zuckte ein verächtliches Lächeln; er wußte ja genau, welche Phrasen die Herren der Jury bei der Hand haben, wenn es darauf ankommt, ein Bild zurückzuweisen; untereinander nannten sie es: „In die Todtenkammer bringen.“

„Ha, ha, ha!“ Leo lachte noch immer und griff nach der Depesche. „Was wird’s nun geben?“ fragte er laut, indem er das Papier erbrach, und seine Augen richteten sich auf die wenigen blau geschriebenen Worte. In großer eckiger Schrift stand dort:

„Ihre gef. Ordre leider zu spät erhalten. F. Baubank in Konkurs. Defizit groß. Brief folgt.
Kreisler.“ 

Die zitternde Hand ließ das Blatt fallen; das zuckende Flämmchen beleuchtete ein ganz entstelltes Gesicht. Unsicher griff Leo nach dem gefüllten Wasserglase und trank es bis auf den letzten Tropfen in langen gierigen Zügen aus, denn die Zunge klebte ihm am Gaumen. Als er es geleert zurücksetzen wollte, stieß er das Licht um, daß es verlosch, und das Glas zerschellte auf dem Boden. Dann ächzte das Bettgestell und ein dumpfes Stöhnen scholl durch den kleinen Raum. Es drang hinunter bis in die Schlafkammer der Hausleute. Lola, die neben dem Bette der Försterin schlief, hob den Kopf und that einen leisen Blaff, dem ein langes Knurren folgte.

Der Frauenkopf richtete sich in den Kissen empor. „Wirst Du ruhig sein!“ schalt die Herrin leise. Da hörte auch sie das Stöhnen und sprang vom Lager auf. „Alter, sieh nach, was der da oben hat!“

„Hab’ ihn eben auch gehört, will gleich hinauf,“ war die Antwort.

Eine Minute später polterte der Förster mit einem Wachsstock die Treppe hinan und klopfte stark an die Zimmerthür. „Herr Jussnitz, he, wo fehlt’s?“

Keine Antwort.

Wend drückte die Klinke, sie gab nicht nach. „Na, es ist hier doch keine Räuberhöhle!“ brummte her Mann. „Herr Jussnitz!“ schrie er lauter.

Da kamen Schritte herüber, und eine Stimme, die er noch nie gehört zu haben meinte, so fremd und heiser klang sie, sagte von innen:

„Gehen Sie nur, Wend, ich habe schlecht geträumt.“

„Machen Sie ’s Fenster auf,“ rieth der Förster, „die Luft ist zu dumpf in dem Loch, Dorchen wird zu viel geheizt haben. Gute Nacht!“

Der Mann stieg wieder hinunter.

„Na, Du machst immer gleich ein Hallo,“ brummte er; „weiter nichts als Alpdrücken war’s; wahrscheinlich ist das Traueressen nicht ohne gewesen, die Hanne wird’s schon fett gemacht haben!“

„Und dafür schiltst Du mich, Du Brummbär Du?“ neckte sie und setzte ernst hinzu: „Du weißt doch noch, wie er damals verunglückte? Gerade so hat er vorhin ausgesehen.“

„Wärst Du nur Kartenschlägerin oder Wahrsagerin geworden!“ sprach er gähnend, „Du bist zu klug, Dore!“ Und damit zog er die Decke über den Kopf und begann alsbald zu schnarchen.

Aber die junge Frau schlief nicht. Es war ihr, als sei dort oben ein geheimnißvolles Leben; das Herz klopfte ihr heftig in der Brust und sie lag und starrte zur Decke empor, als könnte sie dieselbe mit ihren Blicken durchbohren. Und sie lauschte den leisen Schritten über sich; jetzt wurde ein Stuhl gerückt, es mußte vor dem Tischchen sein zwischen den Fenstern, sie hörte es deutlich.

Lola war herausgekrochen aus ihrem Korb und schnupperte nach ihrer Herrin empor. Die junge Frau fühlte, daß auch das Thier horche, ein nervöses Zittern ging ab und zu durch seinen Körper und ganz leise knurrte es zuweilen.

„Lola, was thut der da oben?“ flüsterte sie. Und sie begann sich zu fürchten, sie wußte selbst nicht, weshalb. Hatte sich der Alp in die Kleider ihres Mannes gehängt und war mit herunter gekommen? So schwer wie Blei dünkten sie ihre Glieder, eine erstickende Angst überkam sie.

Die Kuckucksuhr in der Wohnstube schlug Zwei. Sie dachte an den Tag, da der Mann dort aben verunglückt war; sie und ihr Mann ahnten wohl, was das vermeinte Unglück gewesen. So, genau so war er die Nacht vorher dort oben in dem Kämmerchen umhergeschlichen, genau so hatte sie wach gelegen mit der Ahnung im Herzen, daß etwas Schreckliches kommen werde; und sie hatte sich nicht getäuscht.

Lola knurrte noch immer in kurzen Pausen. Jetzt ging der Mann dort oben auf und ab, nun blieb er stehen; sie meinte, einen tiefen Seufzer zu hören. Sie wollte die Hände falten im Gebet und konnte doch nicht. Ihr zu Häupten in der alten Bettstelle, in der schon des Försters Mutter geschlafen hatte, tickte es lant und hastig wie eine Taschenuhr. –

„So ein Unsinn!“ schalt sie sich. „’S ist der Holzwurm, aber er muß rein närrisch sein in dieser Nacht, ich höre ihn doch sonst nicht.“ –

„’S ist doch die Todtenuhr,“ dachte sie schaudernd.

Nun rief der Kuckuck nebenan ein Mal – halb drei Uhr. Wenn die Zeit doch rascher verginge, wenn es doch Morgen würde.

„Jesus!“ schrie sie plötzlich, „Jesus erbarme Dich !“

Droben war ein Schuß gefallen.

Sie hasteten beide aus den Betten und warfen rasch ein paar Kleidungsstücke über; Dora war zuerst auf der Treppe und vor der verschlossenen Thür. Sie rüttelte entsetzt an der Klinke und der Hund kratzte an der Schwelle und winselte. Der Förster kam mit der Axt nach und hieb das schwache Brett entzwei.

„Aber, Herr Jussnitz!“ jammerte Dorchen, vorwärts stürzend, und sank neben dem Manne in die Kniee, der dort auf dem Boden lag, den Körper halb aufrecht auf einen Arm gestützt, in der Hand noch den Revolver.

„Diesmal traf ich besser,“ lallte er und brach zusammen.

(Fortsetzung folgt.)




[307]

Die Astronomie auf der Straße.

I.

In Kunstgalerien trifft man stets emsige Besucher, die mit allen Anzeichen des Entschlusses, heute die Galerie von a bis z kennen zu lernen bei Saal Nr. 1 und Bild Nummer 1 beginnen und eifrig den Blick abwechselnd auf den Katalog und auf das vor ihnen hängende Bild gleiten lassen; stundenlang wird unermüdlich Bild für Bild „erledigt“, und schließlich treten aus dem letzten Saal erschöpfte Leute, aus deren Antlitz nichts weniger als das Gefühl eines eben erhaltenen großen Kunstgenusses uns entgegenleuchtet; und als Ergebniß bleibt vielfach nicht viel mehr als ein Gefühl der Ermattung und eine verschwommene Vorstellung von allerlei Köpfen, Blumen, Thierstücken, Landschaften, aus deren Zahl allerdings einige besonders auf das Auge und das Gemüth einwirken. Wer dagegen Muße genug besitzt und zu genießen statt zu arbeiten beabsichtigt, wird sich nach einem kurzen Ueberblick und vielleicht mit Zuhilfenahme einer passenden Anleitung vor allem einige hervorragende Gruppen von Kunstwerken, besonders werthvolle Erzeugnisse der einzelnen Schulen aus der verirrenden Masse herausheben; er schafft sich auf diese Weise innerhalb der Sammlung gewissermaßen eine keine Privatgalerie, die er öfters besucht und in deren Verständniß er mit Liebe und Hingebung immer tiefer eindringt: diese dient ihm dann als Grundlage, von der aus er seine Kenntniß des Ganzen je nach Bedürfniß und Geschmack weiter ausbildet.

Ganz Aehnliches trifft für den Laien zu, welcher die Anregung in sich fühlt, in dem unendlichen Meer von Sternen und Sternchen, die allabendlich am dunklen Firmament erglänzen, sich wenn auch nur oberflächlich zurechtzufinden. Der astronomischen Wissenschaft bringt zweifelsohne das Publikum viel Liebe und Interesse entgegen; aber die Versuche, mit Hilfe von Sternkarten sich zu orientieren, scheitern meist daran, daß letztere zu viel bieten und dadurch verwirren und ermüden. Ungefähr 116 Sternbilder mit vielfach sehr willkürlicher Anordnung und mit oft wunderlich gemischten Namen von Thieren, mythischen Personen, Waffen, physikalischen Instrumenten etc. sollen durch die scheinbare Analogie ihrer Anschauung dem Gedächtniß nachhelfen (Crichthon, Paradiesvogel, Kameelopard, Uranischer Sextant, Einhorn, Luftpumpe, Schild des Sobiesky, Elektrisirmschine, Brandenburgisches Scepter u. f. f. ). Dazu kommen eine große Zahl einzelner Sterne, endlich die Planeten, die zudem fortwährend ihre Stelle unter den übrigen Sternen wechseln, – das alles verwirrt und entmuthigt den Laien; und nach wenigen Abenden mehr oder weniger emsigen Vergleichens zwischen dem gewaltigen Sternenfeld über unseren Häuptern und zwischen dem kleinen, dazu meist ebenen Abbild in der Hand wird in der Mehrzahl der Fälle an dem Bekanntwerden mit dieser schönen Wissenschaft verzweifelt.

Die Himmelstopographie erlernt sich nicht an einem oder zwei Abenden, und zumal hier, wo das Beobachtungsfeld selbst beweglich ist, ist es unerläßlich, sich zunächst auf einige besonders in die Augen springende Gruppen und Hauptsterne zu beschränken. Diese kleine Privatgalerie von Sternen möge der Beobachter mehrere sternhelle Abende nacheinander besuchen und an ihrem Glanz, ihrem flimmernden, mitunter wechselnden Lichtschein, ihren Farben sich erfreuen; hat sich dann die Vorstellung von ihrer gegenseitigen Lage immer mehr gefestigt, weiß der Beobachter: hier wird die Wega, hier der glänzende Arctur, hier der Herrscher Sirius aus dem Dunkel auftauchen, wenn die Reflexe des Sonnenlichts mehr geschwunden sind, – dann wird sich die Freude an weiterem Eindringen von selbst einstellen.

Durch eine kleine Reihe von Aufsätzen mit ebensovielen nur wenige Hauptgruppen und Hauptsterne bietenden Kärtchen sammt Orientierungslinien will die „Gartenlaube“ dem erwähnten Laienbedürfniß entgegen kommen. Die Voraussetzungen, welche zum Verständniß erforderlich sind, werden sehr geringe sein: erstens an astronomischen Vorkenntnissen die Bekanntschaft mit dem Sternbild des Großen Bären und zweitens Liebe zur Sache und häufige Betrachtung des Sternenhimmels.

Wir gehen jedesmal von dem als bekannt vorausgesetzten Sternbild des Großen Bären aus, das in unseren Breiten stets sichtbar bleibt. Dasselbe besteht aus 7 Sternen von nahezu der gleichen Helligkeit. Von einigen Astronomen werden für die einzelnen besondere Namen angeführt; letztere sind, der Reihenfolge der in dem Kärtchen angegebenen Nummern entsprechend. Dubhe, Merak, Phegda, Megrez, Alioth, Mizar, Benetnasch; nur wenig von Mizar. (Nr. 6) entfernt befindet sich ein kleiner Stern fünfter oder sechster Größe, der am Schwanz des Großen Bären sich befindet, Alcor, „das Reiterlein“ genannt, bei den Arabern Saidak, d. h. der Prüfer, weil man schon bei ihnen an der Unterscheidung dieses Sternchens die Schärfe des Auges zu prüfen pflegte. – Oefters wird diese Gruppe von 7 Sternen, wenn auch mangelhaft genug, unter dem Bild eines Wagens, des Davidswagens, zusammengefaßt, in diesem Fall stellen die ersten vier die Räder oder den Wagenkasten, die drei übrigen, die Deichsel vor.

Verlängert man die Verbindungslinie der Sterne 1 und 2 des Großen Bären über 1 hinaus etwa viermal um sich selbst und biegt zugleich etwas nach rechts ab, so stößt man auf den Polarstern P, einen Stern dritter Größe, der dem Sternbild des Kleinen Bären angehört; sein Name (von dem griechischen Zeitwort poleo ich drehe) rührt daher, weil er dem gegenwärtigen Nordpol des Himmels besonders nahe steht; in Wirklichkeit beschreibt auch er einen kleinen Kreis am Himmel während jedes Tages. Bemerkt möge werden, daß nicht immer derselbe Stern Polarstern ist; sondern diesen Namen erhalten im Laufe der Zeit alle Sterne, welche auf einem gewissen Kreis liegen, der annähernd durch die Wega, durch Deneb und den jetzigen Polarstern geht; in 25870 Jahren vollendet dieser Polarstern seinen ganzen Umlauf.

Wird die erwähnte Linie, welche zum Polarstern führte, noch weiter verlängert, so geht sie durch das Sternbild des Pegasus. Man bemerkt hier ein Viereck von ziemlich gleich hellen Sternen, das wenigstens annähernd die Form eines Quadrats zeigt. Der dem Stern Markab in dem Quadrat gegenüberstehende gehört aber zu dem Sternbild der Andromeda, von dem nachher noch einen Augenblick die Rede sein soll.

Die Linie 3 – 4 des Großen Bären. über 4 hinaus fortgesetzt, führt fast genau zur Wega, welche im Sommer für Mitteldeutschland nahezu durch den Zenith geht.

Für die Beobachtung des Sternenhimmels während der Sommermonate ist besonders bemerkenswert das Viereck: Polarstern P. Wega, Atair und Deneb: worunter Atair und Wega von der ersten Größe. Dies Viereck, dessen gegenüberliegende Seiten nahezu parallel sind, dient für eine große Fläche des Himmels zu sehr bequemer Orientierung. – Die Linie 5 P ferner führt geradenwegs auf die Mitte des Sternbilds der Cassiopeia, das bekannte große lateinische W am Himmel, ans 5 Sternen von fast derselben Helligkeit gebildet. – endlich die Linie 4 – 1 leitet nach dem Sternbild des Fuhrmanns, dessen Hauptstern Capella (Ziege) überhaupt zu den glänzendsten Gestirnen des nördlichen Himmels gehört. Von der Capella und Cassiopeia aus ist Scheat und der durch seine Veränderlichkeit merkwürdige Algol leicht aufzufinden.

Dem Anfänger ist zu empfehlen, im Gedächtniß zu behalten, daß, beim Blick nach Norden, also in der Richtung nach dem Polarstem, der Grosse Bär in den Abendstunden des Sommers oberhalb, in denen des Winters unterhalb des Polarsterns aufzusuchen ist und daß für die Cassiopeia, die in Beziehung auf den Polarstern dem Großen Bären stets gegenübersteht, das Umgekehrte gilt.

Von dem oben erwähnten Sternbild der Andromeda ist in dem Kärtchen der berühmte Stern-Nebel noch angedeutet. Dieser Nebel, welcher mit dem bloßen Auge sichtbar ist, war schon lange Gegenstand aufmerksamer Fernrohrbeobachtung und ist in neuerer Zeit wieder besonders in den Vordergrund des Interesses getreten: Im Jahre 1848 vermochte George Bond in diesem Wölkchen 1500 Sterne zu unterscheiden, auch entdeckte er gewisse eigentümliche Streifungen. Seit einigen Jahren sind bekanntlich mehrere Sternwarten damit beschäftigt, regionenweise den ganzen Sternenhimmel einheitlich photographisch aufnehmen. Mit Hilfe der Photographie soll eine systematische Katalogisierung des Fixsternhimmels während der nächsten Jahre durchgeführt werden, und man hofft auf Grund der bisherigen Versuche, die früher mit Hilfe des Fernrohrs hergestellten Sternkataloge etwa um das 15fache zu vervollständigen. Eine photographische Aufnahme des Andromeda-Nebels ist in neuerer Zeit Roberts bei einer Expositionszeit von vier Stunden in trefflicher Weise gelungen. Man erkennt deutlich concentrische Ringe mit dunklen Zwischenräumen, sowie einzelne Massenanhäufungen. Die Aehnlichkeit mit dem Ringsystem des Planeten Saturn drängt sich unwillkürlich auf. Auch für eine nüchterne Auffassung ist der Schluß nicht allzu gewagt, daß man hier eine glänzende Bestätigung der Knutschen Hypothese für die Bildung von Weltsystemen vor sich hat. Ein Sonnenkörper ist hier in der Zusammenziehung begriffen; einige Ringe haben sich losgelöst, wovon die zwei äußersten sich bereits zu werdenden Planeten zusammengeballt haben. Daß diese Ringe nicht kreisförmige, sondern ovale Gestalt zeigen, rührt natürlich nur davon her, daß die Hauptebene jenes Sternensystems von uns aus gesehen schief erscheint.
Dr. C. Cranz.     


[308]

Blätter und Blüthen.

Arco. (Zu dem Bilde S. 293.) An dem schönen Unterlauf der Sarca, in dem üppig fruchtbaren, in südlichem Pflanzenwuchs prangenden „Seethal“ liegt, angeschmiegt an einen steil abfallenden Kalkfelsen, das Städtchen Arco, eine Perle von Südtirol. Nach Norden, Osten und Westen durch hohe Gebirge wirksam gegen rauhe Winde geschützt, ist es zu einem Lieblingsaufenthalt für Winterkurgäste geworden, aber auch während des übrigen Jahres bildet es ein gern gewahltes Reiseziel, hat man doch von der Höhe seines Schloßbergs aus einen wundervollen Ausblick auf den Gardasee, der nur eine Stunde entfernt seine blauen Fluthen auszudehnen beginnt. Auf unserem Bildchen haben wir den See im Rücken, rechts oben aber kommt von der Station Nago herab der Bahnzug auf dem Schienenweg, der seit Jannar d. J. Arco und das nahe Riva mit Mori an der Bahnlinie Bozen-Verona verbindet. So ist dieser reizende Fleck Erde dem großen Strome von Reisenden, der jahraus jahrein auf der uralten Verkehrsstraße durch das Etschthal und über den Brenner hin und wider fluthet, um ein Bedeutendes näher gerückt und manchen wird die neue bequeme Gelegenheit verlocken, diesem „Vorposten Italiens“ einen Besuch abzustatten.

Die neueste Klatschgeschichte. (Mit Abbildung S. 296 und 297.) Sie haben sich begegnet, zum guten Glück begegnet, die eifrigen Helfershelfer der Frau Fama, ehe Sie in das Schloß zur alten Herzogin-Witwe und Er zum Diner bei Seiner Excellenz dem Oberhofmeister getragen wird. Denn, o welch herrlicher Skandal schwebt in der Luft, eine Geschichte, so pikant, so köstlich, ein solches Kompromittirtsein hoher, ja sehr hoher Personen, daß einem vor Vergnügen das Herz im Leibe lachen muß. Nur ist es dringend nothwendig, alles so genau als möglich zu erfahren, darum schnell: Niedersetzen! die Sänftendeckel auf! – und nun beginnt oben in freier Luft, trotz der in dem engen Kasten unbequem geneigten Kniee, ein genußreicher Austausch der gleichgestimmten Seelen. Diesmal ist Er der besser unterrichtete, er hat es aus den zweifellosesten Quellen – die feingepflegte Hand in der Spitzenmanschette dozirt eifrig, aber mit gemessener Grazie. während der vorsichtige Lästermund nur in Andeutungen spricht, die indessen dem angenehmen Gegenüber im seidenen Schleppkleide mit der Coiffure à 1a Candeur und den kunstvoll gemalten Wangen durchaus verständlich sind. Die Minuten fliegen, eine Viertelstunde geht vorüber, die dicke Quaste, welche zuerst über dem Haupt des Barons schwungvoll pendelte, hängt längst unbeweglich herab – die beiden in ihrer Vertiefung merken nichts vom Flug der Zeit.

Anders freilich die Herren Lakaien. Das müßige Herumstehen sind sie gewohnt und vollbringen es den langen Tag über mit der Aufopferung guter und getreuer Knechte. Aber hocherhabenen Armes viertelstundenlang Sänftendeckel halten – dafür danken Johann und Fritz ergebenst, besonders, wenn vor ihren Augen die drei „Brettelhupfer“ der gräflich H … schen Equipage in seliger Ruhe vorübergondeln. Das ist eine andere Herrschaft, die Wagen und Pferde hält, wie sich’s gehört, und nicht in einer armseligen Sänke zu Hofe rückt – pfui Teufel! Fritz schwelgt in dem Gedanken, plötzlich seinem „Alten“ den Sänftendeckel auf den tadellosen Puderkopf fallen zu lassen; einstweilen erlaubt er sich ein halblautes Gähnen als Mahnung und wird diesem im Bedarfsfall ein lautes folgen lassen – sein Herr weiß wohl, warum er es mit ihm nicht verderben darf!

Voll stiller Ergötzung schaut auf diese europäische Dreistigkeit und auf den geschwätzigen Greis im Kasten der kleine mopstragende Neger des Hoffräuleins. Er amüsirt sich über die Weißen nicht im geringsten weniger als sie sich über ihn, den kleinen Hassan!

Und ruhig betrachtet die heimkehrende Marktfrau das Duett in der Sänfte wie eine ganz gewohnte Erscheinung. Sie weiß es eben nicht anders, als daß die Herrschaften nur zu ihrem Vergnügen leben, daß gemeine Leute arbeiten und der ehemalige Soldat nun als armer Krüppel dort an der Ecke sein Brot erbetteln muß.

Mit feinem und satirischem Humor hat unser Künstler dieses Bild aus der „guten alten Zeit“ festgehalten. Wir sehen sie leibhaftig vor uns, freuen uns an der gelungenen Darstellung – und denken zum Schluß: das Beste daran ist, daß sie vorüber ist! Bn.     

Das Sammeln der Steckmuschel in den Salzseen auf Meleda. (Zu dem Bilde S. 301.) Meleda, die südlichste und zugleich die östlichste der größeren dalmatinischen Inseln, ist nicht so reich an fruchtbarem Boden wie die Weininseln Lissa und Lesina; dafür aber sind ihre Uferwässer mit Fischen, Krebsen und Kopffüßlern dicht bevölkert, und die gütige Mutter Natur hat in den beiden Salzseen auf dem westlichen Ende der Insel, dem Lago grande und dem Lago piccolo (dem großen und dem kleinen See), günstige Wohnstätten für die köstliche Auster, die Seedattel und für die größte der adriatischen Muscheln, die Steck- oder Schinkenmuschel, geschaffen.

Diese Seen besitzen alle Eigenschaften, die zum Gedeihen von Muscheln erforderlich sind; der Lago grande steht mit dem Meere durch einen sehr schmalen Kanal in Verbindung, so daß auch bei Hochfluthen sein Wasserstand sich nur unwesentlich verändert; durch einen ebenso schmalen Kanal ist er mit dem Lago piccolo verbunden.

Beide Seen sind nicht allzu tief und auf ihrem Grunde giebt es genug Stellen, an denen die zarte Muschelbrut – die anfangs nur von mikroskopischer Größe ist und lebhaft umherschwärmt – sich festsetzen und ungestört heranwachsen kann. Das reine, klare Wasser dieser Seen scheint dem Fleisch der Muschelthiere einen besondern Wohlgeschmack zu geben; denn die Austern von Meleda stehen bei den Feinschmeckern in noch höherer Gunst als die Lagunenaustern von Venedig, und auch das Fleisch der Steckmuschel, das im Risotto gedünstet eine beliebte Volksspeise bildet, hat einen angenehmen Geschmack.

Die Steck- oder Schinkenmuschel (Pinna squamosa) kommt auch in andern Gewässern Dalmatiens vor, nirgends aber so häufig und in solcher Größe wie in den Seen auf Meleda, in denen Exemplare von 70 bis 80 cm Länge ganz gewöhnlich sind und bisweilen solche von Meterlänge gefangen werden. Ihre Schalen sind sehr dünn und zerbrechlich; innen sind sie mit einer zarten rothbraunen Perlmutterschicht bekleidet. außen von röthlichgrauer Farbe. Sie sind wenig gewölbt, haben die Form eines sehr spitzwinkligen Dreieckes, das durch einen Bogen geschlossen ist, und zeigen undeutliche Längsfurchen, auf welchen hohle Schuppen in bogigen Querreihen stehen. Eine besondere Drüse, die „Byssusdrüse“, sondert den sogenannten Byssus ab, ein Büschel feiner, glänzender, goldbrauner klebriger Fäden von 12 bis 16 cm Länge, vermittelst deren sich das Thier am Gesteine festankert. Diese Byssusfäden wurden früher zu feinen seidenartigen Geweben verarbeitet. Die Muschel steckt mit ihrem spitzen Ende etwa bis zu einem Viertel ihrer Länge im Sand oder in Gesteinsspalten in einer Wassertiefe von 1 bis 4 Metern.

Die Fischer auf Meleda bedienen sich zum Sammeln der Steckmuscheln eines in einem Winkel von 40° gebogenen Eisenstabes, der an der Innenseite sägeartig gezahnt ist und der wie eine Haue an einer 4 Meter langen starken Stange befestigt wird. Je zwei solcher Sammler rudern in einer kleinen Barke nahe dem Seeufer hin; wenn sie über eine Stelle gekommen sind, wo sie die Muscheln vermuthen, ziehen sie die Ruder ein, und der im Vordertheil der Barke stehende Fischer gießt aus einem Bockshorn Oel auf die vom Wind und von den Ruderschlägen bewegte Wasseroberfläche: fast augenblicklich glättet sich diese in weitem Umkreis um das Fahrzeug, als wäre das Wasser plötzlich zu einer krystallhellen Eisplatte erstarrt, durch welche man den mit Algen bewachsenen Grund des Sees in ruhiger Klarheit sieht. Wie dunkle Felsblöcke auf einer Alpenwiese ragen daraus die großen Muscheln hervor.

Der zweite Fischer fährt nun mit seinem Eisen auf den Seegrund, so daß die Muschel nach ihrer Breite zwischen die Schenkel des Eisens zu stehen kommt, und reißt mit einem starken Ruck die Stange senkrecht in die Höhe. Die Fischer sammeln gewöhnlich nur große und mittelgroße Exemplare und lassen kleinere für eine künftige Ernte stehen. Sonst würde trotz ihrer ungeheuer großen Nachkommenschaft die Pinna dort schon ausgerottet sein, da man sie von September bis Ende März fängt und ihr Wachsthum kein sehr schnelles ist.

Bisweilen findet man in unseren Muscheln Perlen von granatrother oder weißer Farbe und häufig zwischen den Mantellappen des Thiers eine kleine Krabbe, die durch die am hintern Ende klaffenden Schalen eindringt und von dem Muschelthier als Mitbewohner seines Gehäuses geduldet wird. Schon den Alten war dieses eigenthümliche Zusammenleben bekannt, und sie nannten die Krabbe den „Pinnenwächter“, indem sie der Meinung waren, daß sie die Muschel vor Gefahr warne; die Zoologie hat der Krabbe den Namen Pinnotheres veterum – der Pinnenwächter der Alten – gegeben, ohne sie jedoch als „Wächter“ der Pinna anzusehen. – l –     




Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Hoffmann Weingarten. Ihr sieben Anfragen finden Sie beantwortet in dem von uns schon oft empfohlenen Werke von A. Dreger „Die Berufswahl im Staatsdienste“ (C. A. Kochs Verlag, Leipzig). Seite 34 bis 76 der 3. Auflage sind die Verhältnisse der Reichsmarine behandelt. Noch ausführlichere Belehrung finden Sie in dem Buche „Die Laufbahnen in der deutschen Kriegsmarine“! In demselben sind die neuesten Bestimmungen, Erlasse und Verfügungen im Auszuge zusammengestellt. (2. Aufl. Berlin, R. v. Deckers Verlag.)

W. S., Althaldensleben. Es freut uns sehr, daß die Aufsätze über die Frauenmoden bei Ihrer Familie so großen Gefallen gefunden haben. Aber Ihren Wunsch betreffend das Gedicht „Großmütterchen erzähle“ vermögen wir leider nicht zu erfüllen. Wir können doch in der „Gartenlaube“ nicht ein Gedicht abdrucken, das bereits vor 30 Jahren in einem anderen Blatte gestanden hat!

Treue Leserin in Wien. Aber warum sollen denn Ihre Haare nicht grau werden? Ist das eine Schande? Wir meinen, echte graue Haare seien immer noch besser als gefärbte blonde.

C. Gr. in Shiner, Texas. Wir danken Ihnen bestens für Ihren gutgemeinten Vorschlag. Er ist uns aber von sachverständiger Seite als undurchführbar bezeichnet worden.

P. Fr. in Darmstadt. Wir haben auch sonst schon Zustimmung zu unserer Auffassung der Frage des Zonentarifs, wie wir sie in Nr. 10 dieses Jahrgangs ausgesprochen haben, erfahren. Uebrigens ist Eduard Engels Schrift „Eisenbahnreform“ jetzt in einer zweiten billigen, als „Volksausgabe“ neu bearbeiteten Auflage (Jena, H. Costenoble) erschienen unter dem Titel „Der Zonentarif“; hier sind die neueren Ergebnisse auch schon allenthalben herangezogen.

K. S. in L. Friedrichsruh, der gegenwärtige Wohnsitz des Fürsten Bismarck, liegt an der Bahnlinie Wittenberg-Hamburg, 26 Kilometer von letzterem entfernt. – Was Ihren Wunsch nach einer Briefmarkenzeitung betrifft, so entspricht vielleicht die „Illustrirte Briefmarkenzeitung“ (Leipzig, Verlag von Ernst Heitmann) Ihrem Bedürfnisse.



Inhalt: Lea und Rahel. Roman von Ida Boy-Ed (1. Fortsetzung). S. 293. – Arco. Bild. S. 293. – Die neueste Klatschgeschichte. Bild. S. 296 und 297. – Erinnerungen an Schliemann. Von Rudolf Virchow. III. S. 299. – Das Sammeln der Steckmuschel in den Salzseen auf Meleda. Bild. S. 301. – Eine unbedeutende Frau. Roman von W. Heimburg (17. Fortsetzung). S. 303. – Eine Gewissensfrage. Bild. S. 305. – Die Astronomie auf der Straße. I. Von Dr. C. Cranz. Mit Mit Abbildung S. 307. – Blätter und Blüthen: Arco. S. 308. (Zu dem Bilde S. 293.) – Die neueste Klatschgeschichte. S. 308. (Zu dem Bilde S. 296 und 297.) – Das Sammeln der Steckmuschel in den Salzseen auf Meleda. S. 308. (Zu dem Bilde S. 301.) – Kleiner Briefkasten. S. 308.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.