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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[181]

Nr. 12.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.
(11. Fortsetzung.)

Antje ging nach dem Speisesaal hinunter, und wie sonst glitt ihr Blick über die Tafel, aber es war ihr, als ob ihr dies alles fremd sei. Endlich hörte sie den Wagen in den Hof rollen und die lebhafte Stimme ihres Mannes im Vorsaal fragen: „Wo sind die Damen?“

Er kam gleich darauf herein, noch im Pelz, ein Packet unter dem Arm, und sah aus, wie die Herren nach einer guten Mahlzeit auszusehen pflegen: lustig und behaglich. „Guten Abend,“ sagte er, „kommt Fräulein von Zweidorf nicht zu Tische?“

„Ja, sie kommt.“

Vertheilung von Kartoffelland an Berliner Arme.
Nach einer Zeichnung von W. Zehme.

[182] „Was habt Ihr denn begonnen heute?“ fragte er mit einem Anflug von Gemüthlichkeit.

„Ich schrieb an die Mutter.“

„Und Hilde?“

„Fräulein von Zweidorf? Ich weiß es nicht; sie wollte auch schreiben.“

„Ich hatte mir gedacht, Ihr würdet Euch in der Einsamkeit etwas zusammenfinden,“ meinte er, gab Pelz und Hut dem herbeieilenden Diener, strich sich vor dem Spiegel die Haare glatt und drehte den Schnurrbart. „Der Kerl, der Maiberg, muß irgend etwas übelgenommen haben,“ setzte er hinzu, „er will abreisen, hat unterwegs kein Wort mit mir gesprochen. Na, meinetwegen!“

Er verstummte, als Maiberg jetzt sichtbar wurde, der für Hilde die Thür offen hielt.

„Ah, Fräulein von Zweidorf,“ rief ihr Leo entgegen, „wie geht es Ihnen denn? Sehen Sie, die Stubenluft bekommt Ihnen nicht, Sie sind ganz blaß geworden in den zwei Tagen. Jetzt passen Sie aber einmal auf, ich habe Glück gehabt; manche Menschen sind doch einfach Barbaren, besitzen die größten Kostbarkeiten und haben nicht einen Schimmer davon!“ Dabei war er zu dem Nebentischchen getreten, auf das er vorhin das Packet gelegt hatte, und begann das letztere äußerst behutsam aufzuwickeln. „Hat dieser Rittmeister Berndorf da ein Stück uralten köstlichen Meißner Porzellans, sagt, er wolle das geschmacklose Ding seinem Wachtmeister zum Polterabend schenken, da er die verrenkten Gestalten nicht sehen könne und oben in die Schale doch nichts hineinlegen möge, weil ihm die drei Weibsbilder den Appetit verderben würden – und nun sehen Sie, diese Grazien! Eins der berühmtesten Muster der Fabrik soll ein Wachtmeister zur Hochzeit bekommen! Ich habe Lärm geschlagen und er wollte mir schon das Ding schenken, aber ich habe es ihm abgekauft, kann doch nichts von ihm geschenkt nehmen; das Stück ist unter Brüdern tausend Mark wert, wir wurden um dreihundert einig – Was? Ist’s nicht wunderschön?“

Hildegard stand neben ihm mit ihrem blassen Gesicht und mit den Augen, die seit Weihnacht so melancholisch blickten. Leo hielt die Schale in die Höhe, beide betrachteten sie; Antje sah einen Augenblick von ihrer Theemaschine zu ihnen hinüber, aber sie sprach kein Wort; man hatte sie ja nicht gefragt.

„Ja, es ist wundervoll!“ antwortete Hilde.

„Es paßt in das Boudoir meiner Frau,“ fuhr Leo fort, „sieh es Dir an, Antje!“

„Ich danke Dir; nimm es in Dein Atelier, es ist viel zu kostbar für mich,“ erwiderte sie und erschrak selbst vor der Schroffheit, mit der sie das herausgebracht hatte.

„Willst Du damit etwa sagen,“ entgegnete er mit gesuchter Höflichkeit, „daß die Schale Deinen Beifall nicht hat und daß sie eine unnütze Ausgabe sei? Nun, beruhige Dich nur, aus Hochdero Portemonnaie geht es ja nicht.“

Ueber ihr geröthetes Gesicht huschte flüchtig ein trauriges Lächeln. Jussnitz sah es, und es reizte ihn so, daß er die Anwesenheit Hildegards und des Freundes vergaß und heftig rief: „Ich erstand die Schale mit dem Gelde, welches ich mir erwarb und – damit Du es weißt, ich habe ein Bild verkauft in Berlin. Und nun schreibe Deiner Mutter, daß ich das erste Geld, welches ich in unserer Ehe verdiente, verausgabte für Firlefanz, wie sie es in ihrer Beschränkheit zu nennen beliebt, anstatt es Dir in die Hände zu geben, um Bäcker und Fleischer zu bezahlen. Sie wird Dir ihr Mitgefühl nicht versagen.“

Antje, die den silbernen Kessel eben in der Hand hielt, zitterte leise, aber sie erwiderte nichts. Maiberg blätterte in einer Zeitung, als habe er nichts gehört, und Hilde hatte sich in eine der tiefen Fensternischen zurückgezogen. Sie hatte ein unheimliches Lächeln um den Mund, als freue es sie, daß er leide unter der „unbedeutenden Frau“, die er sich erwählt hatte.

Man setzte sich stumm zu Tische, niemand war in der Stimmung, ein Gespräch zu beginnen. Die Schüsseln wurden umhergereicht, man hörte nur das Klappern der Teller und Gabeln. Es war förmlich gewitterschwül im Zimmer. Da klangen plötzlich von draußen herein wie erlösend Stimmen und das fröhliche ansteckende Lachen der Baronin, und gleich darauf kam diese, begleitet von den beiden Fräulein von Benken, dem Rittmeister von Barrenberg und dem unvermeidlichen Lieutenant von Osten, über die Schwelle.

„Nur aus einem ganz besonderen Anlaß wagen wir es, die getreuen Nachbarn und guten Freunde zu überfallen,“ rief Irene von Erlach. „Bester Herr Jussnitz, sehen Sie uns nichts an? Rathen Sie, was geschehen ist – Sie auch, Maiberg – Fräulein von Zweidorf, wie sehe ich aus?“ – Wenn die Baronin in eine Gesellschaft kam, so wirkte sie wie Champagner oder ein Walzer von Strauß. Heute noch besonders! – „Einen riesig dummen Streich habe ich gemacht,“ rief sie, „und ich warne einen jeden, mir darin zu folgen. Wäre ich nicht der ewigen Quälereien müde, so – so – na, kurz und gut, hier steht –“ und sie reckte sich an dem schmunzelnden Barrenberg empor und zog ihn an seinem heute besonders unternehmend gewirbelten Schnurrbart – „hier steht mein Bräutigam!“

Sie schlug, wie über sich selbst erstaunt, die Hände zusammen und lachte so herzlich, daß alles mit einstimmte, am lautesten Leo.

„Bravo! Verlobung! Das müssen wir feiern!“ rief er „Antje, laß Sekt bringen!“

Gehorsam bestellte Antje Champagner, und als er kam, stieß sie freundlich ernst mit dem Brautpaare an. „Viel Glück, alles Glück!“ sagte sie und die Augen wurden ihr feucht.

„Ei, warum sollten wir kein Glück haben,“ lachte die Braut; „gelt, Wilhelm, mir machen uns das Leben nicht so schwer, wir versuchen es halt miteinander – und – –“

„Nun – und?“ fragte Maiberg scherzend.

„Und wenn’s nicht geht –“

„Hör’ mal, Irene,“ unterbrach sie jetzt der Bräutigam, „das klingt ja sehr verheißend!“

„Nun, wenn’s nicht geht, da lassen wir uns eben scheiden,“ vollendete sie und hielt ihre kleine Hand an seine Lippen, die er verlegen lächelnd küßte.

Antje ging still wieder auf ihren Platz.

„Bravo, Barrenberg!“ sagte Leo, „langweilen werden Sie sich nie.“

„Langeweile?“ fragte Frau von Erlach, „Langeweile ist aller Laster Anfang; es giebt nach meiner Ansicht nichts Unklügeres, als wenn eine Frau ihren Mann sich langweilen läßt.“

„Sehr tröstlich für mich,“ erklärte der glückliche Bräutigam.

„Es giebt mancherlei Mittel zur Vertreibung der Langenweile,“ bemerkte Maiberg gelassen, „nur ist es die Frage, ob das Gegentheil von Langerweile gerade immer Glück bedeutet.“

„Hunderttausend Mittel,“ bestätigte Irene, das letzte überhörend, „nur gehört nicht, wie so oft irrthümlicherweise angenommen wird – die Liebenswürdigkeit dazu! Die kann kein Mann lange ertragen. Dafür so ein wenig – aber ich will nichts verrathen, sehen Sie nur, wie erschrecklich neugierig Fräulein von Zweidorf aussieht!“

Antje wandte mit den andern ihre Blicke auf Hilde. Des Mädchens Augen hatten einen Augenblick aufgeblitzt; jetzt war sie purpurroth geworden.

Jussnitz sah sie groß an. „Machen Sie mir doch morgen früh beim Malen solch ein Gesicht!“ rief er ihr zu. Aber Hilde that, als verstünde sie es nicht.

„Die hat Talent für das, was ich eben meinte,“ bemerkte Frau Irene zu Jussnitz. Er lächelte und nickte. Antje blieb still.

„Zu albern!“ flüsterten Melly und Nelly sich zu. Später kam noch ein lärmendes Kartenspiel zustande, dem gar noch ein Pfänderspiel folgte. Die Baronin war von einem nie dagewesenen Uebermuth.

Antje setzte sich in eine der tiefen Fensternischen; sie hatte thatsächlich Kopfschmerzen. Maiberg trat zu ihr und bat sie, sie möge sich doch zurückziehen. Aber sie lächelte und verneinte; Leo würde es nicht gern haben, meinte sie. In Wahrheit, sie wollte nicht, sie sah mit immer starrer werdenden Augen ihrem Gatten nach, der beständig neben Hildegard auftauchte, obgleich das Mädchen ihn kaum eines Wortes würdigte und sich in allen den kleinen Wendungen des Spiels an Barrenberg oder Maiberg wandte. Antje biß sich auf die Lippen, als sie die Baronin darüber lächeln sah, und ihre Hände ballten sich zusammen. Weshalb ließ denn Gott zu, daß Leo sie gewollt hatte, die nimmer für ihn paßte? Und warum legte er die unsagbare Liebe und Treue in so ein armes Frauenherz, daß es vor Pein brechen möchte über das, was ihm angethan wird? Und sie sah zu Maiberg auf und konnte es nicht hindern, daß auf einmal zwei [183] schwere Tropfen an ihren Wimpern zitterten. „Lieber Herr Doktor,“ sagte sie mühsam, „nun weiß ich, daß Leo ein Bild verkauft hat.“

„Gnädige Frau,“ begann er und nahm auf einem kleinen Polsterschemel Platz, so daß er, viel tiefer sitzend als sie, zu ihr emporsah.

„Sagen Sie nichts, sagen Sie nichts!“ bat sie, ihre neu hervorquellenden Thränen zurückdrängend. Aber sie mußte doch den Blick von seinem ehrlichen, besorgten Gesicht abwenden.

„Was soll der thun, dem dieses Pfand gehört?“ fragte eben Melly Benken.

„Fräulein von Zweidorf küssen!“ rief Nelly mit dem harmlosesten Gesicht von der Welt und stieß heimlich ihre Schwester an, weil sie längst gesehen hatte, daß diese den Siegelring des Hausherrn in der Hand barg.

„Herr Jussnitz!“ lachte Melly, den Ring emporhaltend.

Antje sah, wie das schöne Gesicht des jungen Mädchens erblaßte und wie ihre Augen mit einem wahrhaft eisigen Ausdrucke Leo Jussnitz entgegensahen, als dieser sich nun näherte, um ihre widerstrebende Hand galant an die Lippen zu führen.

Wie gut ihn diese Ritterlichkeit kleidete, wie ehrerbietig zärtlich sein Gesichtsausdruck jetzt war! Antje sah es erröthend. „Mein Gott, wie kleinlich bist Du geworden!“ klang es gleich darauf durch ihre Seele, und sie wand die Hände ineinander in nie gekannter Qual. „Wenn ich doch lieber sterben dürfte!“ flüsterten ihre Lippen.

„Frau Antje!“ Diese in vorwurfsvollem Tone gesprochene Anrede ließ sie erschreckt zu Maiberg herabblicken; hatte sie denn laut gedacht? Und sie zitterte plötzlich am ganzen Körper.

„Was meinen Sie, Herr Doktor,“ sagte sie nach einer Pause langsam, mit eigenthümlich schwerer Zunge, „wäre es nicht am besten, ich nähme die Kleine und ginge ihres Hustens wegen einige Zeit lang zu meiner Mutter?“

„Gnädige Frau, gehen Sie ja nicht,“ sprach er herzlich; „verzeihen Sie mir – das wäre eine Feigheit!“

Sie sah ihn an mit den schönen thränenschimmernden Augen. „Nein, ich gehe nicht!“ wiederholte sie, „ich gehe nicht!“ –

„Willst Du vielleicht die Güte haben, Dich Deinen Gästen im allgemeinen etwas mehr zu widmen?“ fragte Leo, der plötzlich neben ihr stand; „es mag ja sehr hübsch sein in diesem Schmollwinkelchen, aber – ich bitte Dich dringend aus verschiedenen Ursachen – diese thränenreichen Vertrauensergüsse etwas abzukürzen.“

Maiberg stand auf. „Gnädige Frau, ich bin genöthigt, morgen Ihr gastfreies Haus zu verlassen; ich muß bereits zeitig aufbrechen und möchte mich daher heute abend etwas früher zurückziehen. Leben Sie denn wohl und haben Sie Dank für alle Ihre Güte und Freundlichkeit.“ Er hielt die schlanke zitternde Hand einen Augenblick in der seinen, aber er sah nicht mehr das todestraurige Gesicht der jungen Frau.

„Leb wohl, Leo!“ wandte er sich kurz zu dem Freunde.

„Mach’ doch keine Witze!“ sagte dieser rasch und ärgerlich.

„Mir war nie ernsthafter wie jetzt, ich versichere Dich! Leb wohl! Ich empfehle mich auf französisch; solltest Du noch etwas mit mir zu besprechen haben, so findest Du mich wach, ich packe meine Sachen.“

Er sah sich noch einmal um. Antje stand neben Barrenberg, der ihr etwas erzählte; sie hatte das Gesicht zu ihm erhoben, aber Maiberg wußte, sie hörte nichts von dem, was er zu ihr redete.




Wochen waren vergangen. Auf die Mauern des Sibyllenburger Herrenhauses schien die Märzsonne, die weiten Rasenplätze des Gartens hatten bereits einen grüneren Schimmer gewonnen, an den Reisern und Aestchen der Bäume und Sträucher schwollen die braunrothen Knospen und aus der sauber gelockerten Erde der Beete drängten sich kleine grüne Spitzen zum Licht und guckten schüchtern heraus. „Ob man es schon wagen kann?“ schienen die Krokus und Hyazinthen zu fragen, und der alte Gärtner schüttelte den Kopf und legte sorglich Tannenreisig über die vorwitzigen Dinger, um sie zu schützen vor Frost und Eis, denn es konnte nur ein trügerischer Frühlingsglanz sein und die Wolken dort drüben bargen Schnee.

Antje stand, ihr Töchterchen an der Hand, gedankenvoll neben dem alten Mann und betrachtete seine vorsorgliche Arbeit.

„Bei uns in den Bergen droben,“ sagte sie endlich, „kommt das alles nicht vor dem April heraus; es ist ein sonniges Stückchen Welt hier.“

„Schön ist’s!“ nickte der Alte und sah sich um. „Es wäre schade, Frau Jussnitz, wenn es wahr ist, was die Leute reden, daß der Herr daran denkt, die Besitzung zu verkaufen.“

„Sagen das die Leute?“ fragte sie.

„Ueberall sprechen sie davon – es wäre mir lieb, ich könnte dagegen reden, gnädige Frau.“

Sie antwortete nicht, sie hatte sich dem Hause zugewandt und betrachtete es. Die Sonne strahlte aus allen Fenstern zurück, deren jedes selbst eine kleine blendende Sonne war. Antje blickte so scharf hinein, daß ihr die Augen davon thränten. Dann ging sie weiter mit der Kleinen; kopfschüttelnd sah der alte Mann ihr nach.

Am Ende des Parkes blickte sie über die niedrige Mauer weg in das Feld hinaus. Sie hob die Kleine auf das Gemäuer und ließ sie mit hinaus in die Welt schauen.

„Papa!“ jauchzte das Kind auf, und die kleine Hand im weißen Fausthandschuh zeigte nach einem Herrn, der drüben auf dem Wege neben einer Frauengestalt dahin schritt.

„Sei ruhig,“ sagte die junge Frau, indem sie den beiden nachstarrte, bis sie hinter den ersten Häusern des Dorfes verschwanden. „Komm, Maus!“

Die Kleine trippelte wieder neben der Mutter her dem Hause zu. „Maus will nicht hineingehen,“ weinte sie, als Antje die Hausthür öffnete.

„Doch, Maus, wir gehen in Papas schöne Stube, komm!“

Und als sie droben die Mäntel und Hüte abgelegt hatten, ging Antje mit dem Kinde in das Atelier. Sie setzte sich in den ersten besten Stuhl und starrte auf einen Fleck; das Kind spielte indessen auf dem Teppich umher.

„Da, Mama!“ sagte es und legte eine rothe Bandschleife, die es aufgehoben hatte, der Mutter in die Hand.

Antje schleuderte den zierlichen Schmuck wieder zur Erde, als sei ein widriges Insekt über ihre Hand gekrochen, und ihre Blicke flogen zu dem Bilde auf der Staffelei hinüber. Die schöne Gestalt der spanischen Tänzerin schaute jetzt bereits aus einem breiten schimmernden Goldrahmen, aber vollendet war das Bild, nach Leos Ausspruch wenigstens, immer noch nicht. – Die Sonnenstrahlen rückten mählich weiter und weiter, es war so stille um die sinnende Frau; das Kind hatte das Köpfchen auf ein weiches Fußkissen geschmiegt und war eingeschlafen. Im ganzen Hause kein Geräusch als nur das leise langsame Ticken der reich vergoldeten Stutzuhr auf dem Kamin und ein Flüstern und Knistern, als gingen Geister um.

Es waren keine traulichen Geister; sie redeten Böses zu der blassen Frau dort, sie redeten von gebrochener Treue, von gestorbener Liebe und unglücklicher verlassener Zukunft. Antje war nicht feige gewesen; sie hatte ihr rebellisches Herz an jenem Abend zur Ruhe gebracht, indem sie sich sagte, daß er ja noch nichts gethan habe, was ihn ihrer Liebe unwerth mache; es ließ sich eben alles auf seine Künstlernatur zurückführen, auf seine Lust am Schönen, an den prächtigen Erzeugnissen vergangener Zeiten, auch sein Verlangen, das schöne Mädchen zu malen, und das Bedürfniß, ihr zu huldigen. Mein Gott, das war es ja, was auch sie hingezogen hatte zu ihm, daß er so anders war als die andern. Sie hatte es auch nicht vermocht, ihm von der Rechnung des Antiquitätenhändlers zu sprechen; heimlich hatte sie die Summe angeschafft, um den Mahner zu befriedigen. Sie hätte um keinen Preis mit Leo des Geldes wegen hadern mögen; sie durfte ihm die schaffensfreudige Stimmung nicht mit derartigen Vorstellungen verderben, diese Pflicht lag ihr als seiner Frau zunächst ob. Daß sie heimlich all ihr von Kindheit an Erspartes durch die Classen von der Sparkasse holen ließ und noch die ererbte werthvolle Perlenkette einer Pathin mit drauf gab, welche die alte Frau unter Kopfschütteln und Seufzen in Empfang nahm, um sie zu verkaufen, das wußte niemand außer Antje selbst und ihrer Helferin. Und auf die Classen konnte sie sich verlassen! Die Alte rang zwar die Hände und drohte, alles der Mutter zu verrathen, aber sie schwieg doch wie das Grab, sobald es ihre junge Herrin ernsthaft verlangte. Nur das mußte Antje oft von ihr hören: „Wohin sind wir gekommen! Wohin werden wir noch kommen, wenn Sie immer so still sind!“

[184]

Altdeutsche Spiele.
Nach dem Gemälde von A. Tademann.

[185] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [186] „Es ist jetzt noch keine Zeit zum Reden, liebe Classen,“ antwortete sie dann, „es kommt auch alles noch so in Schick, paß auf!“

„Himmel! Ich thät ihm den Standpunkt klar machen,“ brummte die Alte. Aber Antje hörte das nicht.

Sie dachte an Maiberg; sie fühlte, daß ein treues Herz von ihr geschieden war. Ob Leo es auch empfand? Ob Hoffnung war, daß der Freund wiederkehrte? Sie vermochte es nicht zu ergründen, und fragen wollte sie nicht, nach der letzten Scene; es hätte ja scheinen können, als ob sie ein tieferes Interesse an dem Doktor nähme.

Leo blieb auch keine Zeit, über irgend etwas nachzudenken; er malte Hildegard von Zweidorf.

Es war ein wunderliches Zusammenleben geworden, denn alles im Hause drehte sich um Hildegard.

Mit immer gleich bleibender Freundlichkeit begegnete Antje dieser Fremden, die doch so kalt und lieblos ihr gegenüber stand wie der Winter draußen. Der Dienerschaft, die sich angesichts der armseligen Toilette des Fräuleins, auch wohl durch die sehr unfreundlichen Augen, mit denen die alte Classen den Eindringling betrachtete, zu einigen Nachlässigkeiten der jungen Dame gegenüber hinreißen ließ, wurde ein strenger Verweis zutheil seitens der Herrin.

Mit jener echten Gastfreundschaft, die das Zeugniß eines wirklich vornehmen Hauses ist, sah sich Hildegard von Zweidorf umgeben. Daß Antje blasser und blasser wurde, je länger sie blieb, je nun – wer merkte das? Ein freundlicher Ausdruck fehlte ja dem Gesichte der jungen Hausfrau nie, und Antje hatte am Ende auch keine Ursache, dem schönen Mädchen unfreundlich zu begegnen.

Hilde benahm sich tadellos, sehr bescheiden, sehr aufmerksam und – sehr kühl. Sie hatte etwas Ernstes, Gemessenes angenommen, das freilich sonderbar abstach gegen ihre schimmernden, sehnsüchtigen Augen; aber Hilde nahm die Aufmerksamkeiten des Hausherrn mit solcher Zurückhaltung auf, wie es ein wohlerzogenes Mädchen nur immer thun kann. Sie wollte nichts weiter sein als ein ganz und gar fernstehender Besuch.

Wenn Antje nur hätte vergessen können, was Leo an jenem Weihnachtsmorgen zu dem Mädchen gesprochen hatte, wenn sie nur nicht immer noch den leidenschaftlichen weichen Tonfall seiner Stimme in ihrer Seele hätte nachzittern gefühlt, nur nicht die Erinneruug an das heiße Schluchzen des Mädchens behalten hätte!

Und Leo war so häuslich jetzt, er fuhr höchstens noch in „Geschäftsangelegenheiten“ nach Dresden. Antje wußte, was er darunter verstand – Gelder vom Bankier holen. Mit ernstem Gesicht sah sie ihn fortfahren und ohne Vorwurf empfing sie ihn beim Wiederkommen – was immer so bald geschah! Aber das konnte ja auch daran liegen, daß er es eilig hatte mit der Vollendung seines Bildes. Und wenn er schließlich Hildegard, die so gern spazieren ging, mit dem Skizzenbuch begleitete, was war denn natürlicher als das? Sie wanderten dann weit in die winterlichen Berge hinein; zuweilen kamen sie erst mit der Dämmerung heim, und Antje sah es in den belebten Zügen beider, daß sie sich über irgend etwas unterhalten hatten, dem sie nach Leos Begriff kein Verständniß entgegentrug. An solchen Tagen stand sie stundenlang am Fenster und schaute in die Weite, wo jene beiden umherwanderten, und wie ein Seufzer der Erleichterung klang es von ihren Lippen, wenn das Paar endlich heimkehrte.

Es war still geworden auf Sibyllenburg. Irene von Erlach hatte als Frau von Barrenberg mit ihrem Manne nach einer raschen Hochzeit ihr Haus verlassen und schwärmte mit ihm am Nil umher. Die Kavaliere, welche die lustige junge Witwe beständig im Gefolge gehabt hatte, waren an dem Hochzeitstage zum letzten Male in dieser Gegend gesehen worden; Jussnitz hatte die Herren nicht aufgefordert, ihn zu besuchen, weil er „zu arbeiten habe“, und Antje wollte ja still leben. Es war jetzt die Ruhe in dem Hause, welche die junge Frau sich immer gewünscht hatte, aber die Ruhe war nicht in ihrem Herzen. Sie fand sie nur bei ihrem Töchterchen. Wenn die Stunde schlug, wo drüben im Atelier die schöne Spanierin in der gelben spitzenbesetzten Seide zu erscheinen pflegte, da flüchtete Antje zu dem Kinde; sie lehrte es kleine Verschen, spielte mit den Puppen und drückte zuweilen die Kleine an sich, lachte über irgend etwas, was der Kindermund geplappert hatte, und wurde selbst wie ein ausgelassenes Kind, nur daß ihr dabei oft die Thränen über die Wangen flossen.

Einmal war sie doch in das Atelier gegangen und hatte selbst die Platte mit dem zierlich geordneten Frühstück hinüber getragen, einmal nur. Sie war da mit dem Kaviar und den Lachsbrötchen in einen Vortrag ihres Mannes hineingeschneit, dem Hilde, in einem niedrigen Sessel sitzend, den Fächer langsam bewegend, mit gesenkten Wimpern lauschte. Leo sprach über die Holbeinischen Madonnen der Dresdener und Darmstädter Galerie mit wahrem Feuereifer; man hatte die junge Frau gar nicht bemerkt, die unhörbar über den Teppich geschritten war. Sie stellte den Präsentirteller leise auf ein Tischchen und ging wieder.

Damals, als sie zum ersten Male an der Seite ihres Mannes die Dresdener Galerie besuchte, hatte sie gefragt: „Sag’, Leo, welche von den Madonnen hältst Du für die echte?“ Und die Antwort war gewesen: „Ach, Kind, davon verstehst Du ja doch nichts, ich müßte darüber eine lange Vorlesung halten – später einmal!“

Und dieses „später“ war nie gekommen. Jetzt hielt er die Vorlesung, aber einer andern, einer Bedeutenderen. –

„Wie lange wird diese Qual noch dauern?“ fragte sie sich bitter, und sie wußte doch, daß sie noch lange nicht vorüber sei. – –

„Ich muß Fräulein von Zweidorf irgend eine Entschädigung dafür geben, daß sie ihre Zeit hier so opfert,“ sagte Leo eines Tages zu Antje, „Geld kann ich ihr nicht wohl anbieten, obgleich sie das, weiß Gott, am nothwendigsten braucht. Ich denke, wir behalten sie einstweilen hier, und sobald mein Bild fertig ist, gebe ich ihr Unterricht oder lasse ihr solchen ertheilen.“

Antje erwiderte, sie könne darüber nicht entscheiden. „Ich weiß ja nicht, in wie ausgedehntem Maße das Fräulein über seine Zeit verfügen darf,“ setzte sie hinzu.

„Pah!“ erwiderte er, „zu Hause werden sie froh sein, sie einstweilen untergebracht zu wissen.“

Antje schwieg; die Sache war abgemacht.

Hilde malte jetzt; sie hatte erklärt, sie müsse sich Geld verdienen. Leo besorgte Seide, Leder und Aquarellpapier und ein Kunsthändler in Berlin übernahm den Verkauf der Sächelchen. Auch Antje erstand einmal mehrere kleine Notizbücher, auf denen ein Vogel oder eine Blume überraschend lebendig dastand. Von ihrer Einnahme kaufte sich Hilde ein zwar sehr einfaches, aber nettes Kostüm, und allmählich hörte sie auf, ärmlich auszusehen. Leos Weihnachtsbrosche trug sie nicht; sie hatte sie ihm in Gegenwart Antjes mit dem Bemerken zurückgegeben, daß sie sich nichts schenken lasse, am allerwenigsten solche Kostbarkeiten. Das hübsche blitzende Ding lag nun in einem Schreibtischfach Leos, und die Rechnung des Juweliers, noch unquittirt, daneben. Ach, wie viele unquittirte Rechnungen mochten überhaupt in den Fächern dieses Schreibtisches liegen!

„Bis zum April werde ich das alles besorgen,“ hatte er gesagt, „bis dahin wird mein Bild verkauft sein.“

So hatten sich die Tage hingeschleppt. Antje kam es vor, als schwebe ihr beständig ein grauer Schleier vor den Augen; es war ihr alles so gleichgültig, alles bis auf das Kind!

Ja, das Kind! Mit einem Schlage war Antje wieder in der Gegenwart und sie lief hinüber, wo ihr Liebling schlafend auf dem Teppich lag, und betrachtete ihn. Wie hübsch Leonie war mit ihren goldigen Löckchen und dem Apfelblüthengesicht! Ob sie wohl glücklich werden würde? Was sie, Antje, dazu thun konnte – sicher! Sie sollte sehr viel lernen, auch lernen, das, was ihr gelehrt worden war, nicht zu verstecken und zu verbergen, wie es ihre arme unvernünftige Mutter that, die immer ängstlich wurde, wenn sich die Gelegenheit bot, mitreden zu können.

Wie lange doch Leo und Hilde heute ausblieben! Das große Gemach stand schon in völliger Dämmerung, und sie waren noch nicht da!

Antje erinnerte sich, daß Hilde von einem besonders malerischen Punkt gesprochen hatte, den sie kürzlich drüben am Elbufer entdeckt hatten und den sie heute aufsuchen wollten. Richtig, sie waren ja auch in jener Richtung fortgegangen. Die junge Frau trug das schlafende Kind zur Wärterin hinüber, dann bemerkte sie, daß sie ihr Schlüsselkörbchen im Atelier vergessen hatte, und sie [187] schritt eilig zurück, es zu holen. Hausgang und Treppe waren bereits erleuchtet, und sie sah den Diener mit einem Packet Zeitungen und einigen Briefen kommen.

„Etwas für die gnädige Frau,“ meldete er, und rasch heraufeilend, übergab er Antje einen Brief.

Es war ein großes Schreiben mit kaufmännischer Schrift. Sie erkannte sofort die Hand Kortmers, des alten Werkführers der Hütte und langjährigen Freundes ihres Hauses.

Da er sonst seine Grüße immer nur durch die Mutter sandte, war Antje durch dieses Schreiben etwas befremdet. Sie trat rasch zu der Lampe, die von einem riesigen Bronzeneger getragen wurde, öffnete den Brief, las ihn hastig und ließ dann die Hand, die das Blatt hielt, sinken, einen Ausdruck qualvoller Angst im Gesicht. Ganz willenlos lenkte sie ihre Schritte wieder nach dem Atelier, in dem Gedanken, ihr Mann könnte vielleicht indessen gekommen sein.

„Leo!“ rief sie und lauschte; ihre vom Licht geblendeten Augen konnten in der tiefen Dämmerung nichts unterscheiden.

Keine Antwort. – Sie tastete sich nach dem Sessel, in dem sie vorhin geruht hatte, setzte sich, stand wieder auf, that ein paar Schritte zum Fenster und starrte in den Garten hinunter. Die Rasenplätze lagen gleich dunklen Schatten und die weißen Kieswege leuchteten daraus hervor wie breite geschlängelte Bänder. Im Westen schimmerten durch schwarzes Gewölk noch einige grell gelbe Streifen, unheimlich und feierlich. wie die alten Maler den Himmel auf den Kreuzigungsbildern darzustellen pflegten.

Ueber dem Bette der Mutter daheim hing solch ein Bild; Antje sah es in diesem Augenblick greifbar deutlich vor sich, und sie sah in den weißen Kissen ein fieberglühendes Gesicht, sah Augen, die wie um Linderung bittend sich zu dem Heiland emporwandten und von dort suchend umherblickten nach dem einzigen, was die Frau noch an diese Welt fesselte, nach der Tochter.

„Wo bleibt er? Mein Gott, warum kommt er nicht?“ – Um zehn Uhr ging der Schnellzug unten an der Station ab; wollte sie ihn noch benutzen, so war keine Zeit mehr zu verlieren.

Sie ermannte sich und suchte ihren Schlüsselkorb; dort auf dem großen Schreibtisch Leos stand er. Sie wollte gehen, einiges zusammenzupacken für die Reise. Die Kinderfrau war zuverlässig und die Classen ebenfalls; es würde alles seinen Gang gehen ohne sie – alles – ja!

Unhörbar schritt sie über den Teppich und blieb dann betroffen stehen – drüben war eine Thür gegangen.

„Auf Wiedersehen, Hildegard,“ klang es weich, „ruhen Sie sich gut aus, die Füße werden Ihnen wehthun nach dem weiten Marsche – auf Wiedersehen bei Tische!“

Eine Antwort erfolgte nicht, Leo hatte die Thür geschlossen. Es waren eben nur noch so ein paar Worte gewesen, die er ihr gesagt, als sie in ihr Zimmer eintrat.

Jetzt öffnete sich auch schon die Thür des dunklen Ateliers. „Leo!“ sagte die junge Frau laut.

„Wer ist’s? Was, Du bist hier?“ fragte er. „Warum hast Du kein Licht, man kann sich ja zu Tode erschrecken! Wo sind denn die Streichhölzer – kannst Du nicht wenigstens die Klingel finden?“

„Leo, nur ein Wort,“ unterbrach sie ihn hastig, „ich erhielt eben durch Kortmer die Nachricht, daß die Mutter schwer erkrankt ist – ich möchte natürlich hinfahren – bald – gleich – Du wirst doch nichts dagegen haben, Leo? Ich ängstige mich, sie muß sehr krank sein.“

Leo hatte inzwischen ein Streichholz entzündet und brannte bedächtig die Kerzen eines großen Armleuchters an. Sein Gesichtsausdruck war der eines sehr unangenehm überraschten Menschen.

„Du kannst doch nicht so plitz platz abreisen!“ sagte er langsam.

„Um Gotteswillen, Leo! Kortmer schreibt, die Mutter liege seit vorgestern ohne Besinnung!“

„Nun, heute wird’s ihr wahrscheinlich schon wieder viel besser gehen; die Nachricht ist ja mindestens zwei Tage alt.“

„Leo, ich bitte Dich! Ich habe eine so große Herzensangst – sie hat niemand weiter wie mich – –“

„Die alte Hanne ist ja dort,“ beharrte er eigensinnig. „Du kannst unmöglich das Haus verlassen wollen – jetzt! Du vergißt, daß Du eine junge Dame zum Besuch hast, die nicht wohl allein bei mir bleiben kann.“

Antje stand und sah ihn an mit großen erstaunten Augen. „Und um dieser Fremden willen soll ich meine kranke Mutter im Stich lassen?“ fragte sie leise.

„Du scheinst kein Verständniß für die Sachlage zu haben,“ erwiderte er und begann im Zimmer auf und ab zu wandern. „Gehst Du, so ist Hilde gezwungen, ebenfalls noch heute abend abzureisen, und wo soll sie denn hin? Bitte, beruhige Dich, morgen werde ich an den Arzt telegraphiren, und wenn sich der Zustand Deiner Mutter noch nicht gebessert hat, nun so ist es ja immer noch Zeit, ein Arrangement zu treffen.“

Sie wandte ihm den Rücken und ohne ein Wort zu sprechen, schritt sie der Thür zu.

„So warte doch!“ rief er heftig. „Du faßt die ganze Sache wieder falsch auf,“ fuhr er fort, als sie stehen blieb. „Du weißt doch, daß sich seit dem Weihnachtsabend bei Barrenberg die Leute den Mund zerreden über das arme Mädchen. Gehst Du jetzt, so heißt’s natürlich, Du verläßt mich, weil – – Ach, Donnerwetter, mache doch nicht ein so erbarmungswerthes Gesicht, Du verstehst ja doch, was ich meine!“ schloß er ärgerlich „Es ist zu albern, aber – schließlich, man lebt in der Welt und muß sich nach ihr richten.“

Antje zuckte unmerklich die Schultern und ging.

Er sah ihr finster nach und ließ sich in einen Stuhl fallen, den nämlichen, in dem Antje vorhin gesessen hatte; es war ihm im höchsten Grade unbehaglich in diesem Augenblick, so todtenelend wie eben hatte seine Frau noch nie ausgesehen.

Aber, lieber Gott, welche Frau ist so gestellt, daß sie gleich auf und davon gehen kann, wenn daheim etwas passirt? Und Antje konnte nicht fort und durfte nicht fort, es war unmöglich, gerade jetzt!

Leo bückte sich nach dem Schreiben, das ihr entfallen war. „Ich möchte Sie nicht ängstigen, verehrte Frau,“ las er, „aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen diese Nachricht zu schicken, im Falle eines schlechten Ausganges, den Gott verhüten wolle. Ihre Frau Mutter liegt seit einigen Tagen recht schwer danieder. Wenn es Ihnen möglich ist, so kommen Sie. Daß Ihre Frau Mutter selbst Schlimmes befürchtete, beweist der Umstand, daß sie gestern nach den Notar an das Krankenlager beorderte. Einige Stunden später war sie bereits ohne Besinnung. Darum dürfen wir zwar nicht gleich das Schlimmste fürchten. Aber besser ist’s doch, Sie kommen her, dann ist für alle Fälle gesorgt, und Ihrer Frau Mutter geschieht jedenfalls eine große Wohlthat –“

Leo faltete das Papier zusammen und legte es auf den Schreibtisch.

„Es wird mal wieder übertrieben sein,“ murmelte er und begann einige andere Briefe zu öffnen, die für ihn bereit lagen. Bei Lesung des ersten zog er hastig das Taschentuch und wischte sich über die Stirn, sein Gesicht sah ein paar Augenblicke ganz verfallen aus.

„Auch falscher Alarm! – Hm – Runo und Barkert sind bombensicher. – Was wohl die alte Dame mit dem Notar zu verhandeln hat?“ dachte er halblaut. „In dem Falle wäre es vielleicht gut, wenn Antje dennoch hinreiste. Nun, es stirbt sich nicht so leicht. Muß aber doch morgen mal zum Bankier!“

Er bückte sich abermals und hob eine kleine rothe Schleife auf, dieselbe, die Antje vorhin von sich geschleudert hatte. Er starrte sie an wie verloren; er erinnerte sich, daß Hilde sie heute mittag im Haar getragen hatte. Dann seufzte er und legte sie behutsam auf die Platte des Schreibtisches, nahm sie gleich darauf wieder und strich mit leisem Finger darüber, als habe er die Hand einer schönen geliebten Frau in der seinen. Wieder ein tiefer Seufzer, dann warf er das zierlich verschlungene Band auf den Tisch.

„Es ist zum Tollwerden!“ murmelte er und trat an das Fenster; seine geballte Faust lag auf dem Holz des Fenstersimses. Und jetzt war’s, als ab sie sich noch fester zusammenkrampfte – dort unten auf dem hellen Kieswege schritt eine dunkle schlanke Frauengestalt – Antje.

Wollte sie am Ende doch fort? Dann – nun dann mochte sie verantworten, was kam. Nein, sie tauchte eben dort wieder auf, sie irrte nur umher in ihrer übertriebenen Angst; es war doch einmal etwas, was sie aus ihrer unerträglichen Ruhe brachte!

(Fortsetzung folgt.)
[188]
In den Felsengebirgen von Colorado.
Von Rudolf Cronau.

Als im Jahre 1876 der nordamerikanische Staatenbund den hundertsten Jahrestag seiner Unabhängigkeitserklärung beging, wurde zum Andenken an diesen Tag das „Territorium“ Colorado zum „Staate“ erhoben und ihm der stolze Beiname der „Sentennialstaat“ verliehen. Diese Wahl hätte schwerlich eine bessere sein können, denn Colorado ist mit allem ausgestattet, was eine große Zukunft sichern kann. Es hat Wald, es hat Wiesen, es hat Wasser, es hat Heerden, es hat in seinem Schoße kostbare Metalle, und dem Zusammenwirken all dieser günstigen Umstände ist es zu danken. daß der Stern des jungen Staates schon heute in hellerem Glanze strahlt als der manches älteren.


Der „Göttergarten“.
Nach einer Zeichnung von Rudolf Cronau.


Colorado ist auch der Staat, wo die Felsengebirge ihre schönsten Reize entfalten, und so hat man dem gebirgigen Westcolorado den Namen „die amerikanische Schweiz“ gegeben.

In diese Schweiz gelangen wir von den Tafelländern Neu-Mexikos her über die östlichen Ausläufer der Felsengebirge, die Raton-Mountains. Auf einer höchst merkwürdigen Straße führt die Eisenbahn in zahllosen Windungen und Kurven bis zu dem 2039 Meter über dem Meere gelegenen Ratonpaß empor, um daselbst in einen über 600 Meter langen Tunnel einzutreten. Die Landschaft, die uns am Ausgange desselben begrüßt, ist Colorado.

Unser Blick fällt zur Linken auf die Sangre de Cristo-Kette, und wir gewahren als leuchtende Marksteine in diesem großartigen östlichen Vorstoße des Felsengebirges, schneebedeckt und wundervoll beleuchtet, die beiden zerklüfteten Gipfel der Spanish Peaks. Der westliche Gipfel hat eine Höhe von 4153, der östliche von 3878 Metern.

Und je mehr wir in das Herz dieses Sentennialstaates eindringen, um so großartiger entfaltet sich sein entzückendes Gebirgspanorama, um so höher erheben sich die scharfen Rücken seiner Gebirgsriesen, die schweigsam, als seien sie sich ihrer Würde bewußt, wie Schildwachen dastehen, um die reichen Metallschätze in ihrem Inneren zu bewahren. Wolken, die Ueberbleibsel eines Gewittersturmes, schmiegen sich an die Brust des 4370 Meter hohen Pikes Peak, der als König dieser Gebirge sein Haupt in stolzer Majestät in den blauen Aether erhebt. Wie flüssiges Silber erglänzen die Schneestreifen, die sich über seine schroffen Abhänge in tiefe Schluchten herunterziehen.

Bei unserer Weiterfahrt steigt im Norden ein dritter schöner Berg empor, Longs Peak, an dessen äußersten Vorbergen auf der Hochprairie sich die Hauptstadt von, Colorado Denver, gelagert hat, „die Königin unter den Städten der Ebene.“ Die Einwohnerzahl dieses im Jahre 1859 angelegten Ortes mag gegenwärtig über 100000 betragen, und in ihrer Anlage gewährt die Stadt ein ungemein bezeichnendes Bild von dem Aufblühen und dem Reichthum des jungen Staates. Ein überaus reges Leben herrscht hier; Ackerbauer, Viehzüchter, Goldgräber. Jäger, Spekulanten, Kaufleute und Touristen drängen sich in buntem Gewühl durch die breiten, mit stattlichen Geschäftshäusern besetzten Straßen. In den höher gelegenen Theil der Stadt haben diejenigen ihre stolzen Sitze aufgeschlagen, welche es in diesem jungen Städtewesen schon zu etwas gebracht haben, und deren giebt es nicht wenige. Schon im Sommer 1880 lebten hier 6 Millionäre, 20 Halbmillionäre und über 200 Personen, die je über eine Viertelmillion Dollar zu verfügen haben. Gar manche dieser Glücklichen sind mit der Stadt selbst emporgewachsen und erinnern sich nach gerne der Zeit, wo auf demselben Flecke, auf dem jetzt ihr von freundlichen Gärten umgebener Steinpalast sich erhebt, die in zwei Minuten herzurichtenden Wigwams der Rothhäute standen.

Van Denver aus führt ein ganzes Netz von Bahnlinien in die Gold- und Silberminenstriche der Felsengebirge. Da, auf den

[189]

Im Cañon des Arkansasflusses.
Nach einer Zeichnung von Rudolf Cronau.

[190] wolkenumzogenen Höhen und in den Thälern dieser Alpenketten finden. sich die „Camps“ (Lager) und Minenplätze mit ihren stolz klingenden Namen, wie Golden, Eureka („Ich hab’s gefunden“), Central City, Silverton, Leadville u. s. w. Nicht mit Unrecht führt Leadville den Beinamen „die Stadt der Wolken“; ist es doch die höchstgelegene Stadt Nordamerikas, der höchste Ort, zu dem eine Eisenbahn hinaufführt, und der höchste Ort, wo – eine deutsche Zeitung erscheint. Zweihundert elende Blockhäuser bildeten zu Anfang des Jahres 1878 den ganzen Bestand dieses 3091 Meter über dem Meere gelegenen Ortes, der aber mit Entdeckung der ungemein reichhaltigen Silberlager über Nacht zu einer ganzen Stadt mit Schmelz- und Stampfwerken, Bahnhöfen, Opern- und Schauspielhäusern, Wasser und Gasleitung, Zeitungen, Gasthöfen, Banken, Kirchen, Schulen und Tingeltangeln emporschoß. Die Blütezeit von Leadville fiel in die ersten achtziger Jahre, die Bevölkerung betrug damals gegen 20000 Seelen und es herrschte hier ein Leben und Treiben, wie es in dreimal größeren Städten nur bei außergewöhnlichen Gelegenheiten getroffen wird. Von der Gesammtausbeute Colorados an Edelmetallen im Jahre 1890, die sich auf 24 bis 25 Millionen Dollar belief, entfielen mindestens 15 bis 10 Millionen allein auf Leadville.

Leadville ist eine Station der im Jahre 1870 begonnenen „Denver und Rio Grande-Bahn“, die sich vorwiegend die Erschließung der Felsengebirge und ihrer Minenplätze zum Ziele gesetzt hat. Die Linie ist unbedingt eine der sehenswertesten der ganzen Welt. Bis in alle Winkel und Schluchten, bis auf die entlegensten Höhen, wo nur immer die Natur ihre Schatzkammern aufgethan hat, überall hin haben die kühnen, unternehmenden Ingenieure den eisernen Pfad geschlagen, und es ist hier in Ueberwindung der vielen Steigungen, Senkungen und Kurven eine technische Wunderleistung zustande gekommen, die sich keck den großartigsten Bahnbauten der Welt zur Seite stellen kann und ein würdiges Gegenstück vielleicht nur in der berühmten, von dem deutschen Ingenieur Meigh erbauten Andenbahn Südamerikas findet. Da gleiten sie dahin, die schwer mit Erzen beladenen Wagen dieser Schwalbenbahn, die über ein halbes Dutzend Mal an den verschiedensten Stellen die gewaltige Wasserscheide des amerikanischen Festlandes, die Felsengebirge, überschreitet. Im Sangre de Cristo-Gebirge steigt die Bahn in unzähligen Windungen bis zu dem 2847 Meter hohen Betapaß empor, im Marshallpaß erklimmt sie eine Höhe von 3280, bei Alpine 3514 und im Fremontpaß eine Höhe von 3518 Metern.

Mit noch größeren Schwierigkeiten hatten es die Ingenieure auf der von Pueblo nach Leadville führenden Strecke zu thun. Hier hat die Bahn das weltberühmte Cañon des Arkansasflusses zu durchschneiden, welches neben dem Grand-Cañon des Coloradostromes wohl die wildeste, großartigste Steilschlucht des ganzen Erdballs ist.

Bis zu ihrer Erschließung durch die Eisenbahn war die Schlucht unzugänglich im vollsten Sinne des Wortes, nur selten einmal, wenn ein besonders strenger Winter den brausenden Strom in Fesseln geschlagen hatte, dann wagte es der eine oder andere Abenteurer, diesen eisigen halsbrecherischen Pfad zu benutzen und in die geheimnisvolle Nacht des Cañons vorzudringen. Zurückgekehrt, wußte er dann nicht genug zu erzählen von den Wundern, die sich ihm gezeigt hatten; er berichtete von steinernen Wänden, die sich tausend Meter hoch lothrecht in den Aether reckten. Durch diese furchtbare Schlucht donnern jetzt hie Züge her Denver- und Rio Grande-Bahn. Unter den unsäglichsten Schwierigkeiten drangen die Arbeiter in den Engpaß ein; an vielen Stellen waren sie gezwungen, von oben her mittels langer Seile sich in die Schlucht hinabzulassen, um schwebend den Pfad für das Dampfroß zu brechen. Jahrelang dauerte das Werk, mußte doch der ganze Weg dem diamantenharten Granit und dem tosenden Flusse förmlich abgerungen werden!

Bietet schon eine. Eisenbahnfahrt durch dieses Cañon eine Fülle der Merkwürdigkeiten, so eine Fußwanderung noch viel mehr, da die großartigen Bilder nicht so schnell vorüberfliegen und man all den anziehenden Punkten mit Muße verweilen kann. Um diese Muße voll und ganz zu haben, ließ ich mich am Ende des Cañons aussetzen, übernachtete in einem nahgelegenen Blockhause und trat in der Morgenfrühe den Rückweg durch die 14 englische Meilen (= 22½ Kilometer) lange Schlucht an. Ein Irregehen war ausgeschlossen, da gar keine Seitencañons in die Schlucht münden. Und so wanderte ich einsam dahin, von thurmhohen Klippen ganz umschlossen. Nicht der geringste Laut eines lebendigen Wesens ist in dieser Grabesschlucht zu vernehmen, nur der Fluß rauscht fort und fort, in kochenden Wirbeln sich drehend. überstürzend und durch die grausige Enge thalwärts eilend. Mächtige Felstrümmer, von oben herniedergestürzt. liegen umher, als hätten sie einem Riesengeschlechte zum Spielball gedient. Und zwischen diesen gewaltigen Trümmermassen liegen einzelne Baumruinen. die der Strom vom Hochgebirge hierher getragen hat; Stämme und Aeste sind im Kampfe der Wellen entrindet worden. bleich und nackt wie die Skelette der im Wüstensande umgekommenen Thiere bieten sie sich dem Auge des Wanderers dar.

Bisweilen treten die Felsen so nahe zusammen, daß es scheint, als müsse nunmehr die Schlucht ein Ende haben. Sind wir aber dicht vor der den Abschluß bildendem Wand angelangt, so sehen wir, wie der Strom in einer plötzlichen scharfen Wendung auch diesen Widerstand gebrochen oder umgangen hat und unaufhaltsam weiter tobt. Namentlich verzweifelt erscheint der Weg in der sogenannten „Royal-Gorge“. An dieser unheimlichsten Stelle des Cañons blieb kein Raum für den Bahnkörper, hier hat der Fluß Mühe, sich durchzuzwängen, und lärmend und tosend durchjagt er die dunkle Felsengasse. Diese Enge haben die Ingenieure vermittels einer Schwebebrücke überwunden, und gar mancher der hier Vorüberreisenden mag erbleichen, wenn er das angestrengte Keuchen und Stöhnen der Lokomotive vernimmt, das starke Knarren und Zittern der Brücke, das Schwanken der Wagen verspürt. Ueber ihm hängen nachtschwarze Klippenmassen, unter ihm schäumt und rast der Fluß – nur ein Stein braucht zu fallen, nur eine Schraube der Brücke sich zu lockern – und alles ist vorüber! Hochauf athmet die Brust, wenn die Lichtstrahlen wieder voll und breit von oben fluthen und wir hoch, hoch über uns ein Stückchen Himmelsblau gewahren. Und doch fehlt es auch in dieser grabähnlichen Gasse nicht an Leben. Einmal beobachtete ich eine widerlich gelbbraune Tarantel, die langsam, mit bedächtigen Schritten die Felswand emporkroch, das andere Mal sah ich in schwindelnder Höhe, wo die Steinmassen sich in Tausende von Zinnen, Vorsprüngen und Thürmchen zergliedern, einige Bergschafe von Klippe zu Klippe springen. Ueber ihnen, dem Auge kaum bemerkbar, zog ein Adler seine stolzen Kreise.

Fast einen ganzen Tag lang war ich gewandert, da öffnete sich mir spät nachmittags die Schlucht. Die Felsen traten zeitweise mehr zurück, bildeten kleine Kessel und wurden niedriger. Ruhiger strömte der Fluß dahin, und, ihn zum Führer nehmend, gelangte ich bald in das Städtchen Cañon-City.

Kein Besucher Colorados wird es versäumen, auch einige Tage am Fuße des Pikes Peak und in Manitou, dem Ems der Felsengebirge, zuzubringen. Läßt sich doch von hier aus am bequemsten der 4370 Meter hohe Gebirgsriese besteigen, und der berühmte „Garden of the Gods“, der „Göttergarten“, am leichtesten erreichen, bei dessen Anblick man, wie ein Reisender richtig bemerkt, die Empfindung nicht los wird, daß die Natur eigentlich doch nicht dazu da ist, gerade solche Spaße zu machen. Da ragen sie aus der Erde hervor, die hochroth und weiß gefärbten Sandsteingebilde, Ueberreste von Gebirgen, die vor Jahrtausenden durch Fluthen weggewaschen wurden. Wie mit riesigen Steinpilzen erscheint der Boden bedeckt, dazwischen stehen gewaltig aufragende Klippen, von denen die eine „Montezumas Kathedrale“, die andere der „Thurm von Babel“ getauft wurde. Da und dort stehen Obelisken und Thürme, die an das Wahrzeichen von Pisa erinnern. Wer Zeit und Neigung hat, mag Hunderte von sonderbaren Profilen und Fratzen aus den zernagten Felsen heraussuchen. Ein wahrhaft überwältigendes Bild aber hat man an der berühmten Pforte des Göttergartens. Zwei scharfgeschnittene, 120 bis 130 Meter hohe Klippen stehen wie zwei Coulissen einander gegenüber. Genau in der Mitte zwischen diesen beiden brennendrothen Wänden liegt ein kleiner, über 15 Meter hoher Block, der Pförtner dieses Paradieses, und über denselben hinweg grüßt ans weiter Ferne der sich hier in seiner ganzen Schönheit zeigende Pikes Peak. Und in welchen Tinten prangt das Gemälde! Ein wahres Farbendelirium: ziegelrote Felsen, braune, gelbe, graue, weiße Steinpfeiler und Riesenspargel, ein herbstlich gelber Rasenteppich, aus dem dunkelgrüne Kiefern und Fichten, blutrothe Sumachbäume aufragen, in der Ferne die schneeigen Berge und über all dieser [191] Farbenpracht der unermeßliche kornblumenblaue Himmel! Das ist der „Göttergarten“.

Aber nach andere Ausflugspunke sind in der Umgegend des fröhlich aufstrebenden Badeortes Manitou vorhanden, so der dem Göttergarten ähnliche Monumentpark, das Williams-Canon mit seinen bisweilen korallenroth gefärbten Felswänden, der Utahpaß, der „Versteinerte Wald“, das Clear-Creek- und das Cheyenne-Canon. Und wer die romantischen Hochgebirgspartieen liebt, mag sich einem jener hier zahlreich vorhandenen geduldigen Rocky Mountain-Maulesel anvertrauen und so in bequemster Weise hinauf zum Pikes Peak dringen, auf dessen Höhe sich seit längerer Zeit ein meteorologisches Observatorium befindet. Dreimal täglich blitzen von hier die Wetterberichte nach dem an zweitausend Meilen entfernten Washington, der Landeshauptstadt, hinüber. Wer die Einsamkeit, die Wildniß aufsuchen will, dem stehen die von mächtigen Gebirgsketten umschlossenen Hochebenen von Westcolorado offen, die sogenannten „Parks“, die seit Jahrtausenden trockenen, jetzt mit Gräsern und Bäumen bedeckten Becken ehemaliger Seen. Diese „Parks“ sind, wie die Canons, eine charakteristische Eigentümlichkeit der Felsengebirge, und vor allem sind es vier, welche sich durch ihren riesigen Umfang auszeichnen, der Nord-, Mittel-, Süd- und San Louis-Park, von denen ein jeder groß genug wäre, die ganze Schweiz in sich aufzunehmen. Hier mag der Trapper, der Weidmann sich ergötzen, denn alle diese 2000 bis 3000 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Parks mit ihrem üppigen Pflanzenwuchs sind voll von Hochwild, Gebirgsbüffeln und Bergziegen. Auch gefährlichere Raubtiere schleichen im Dickicht umher, der gefürchtete Grisslybär, der Panther und der dem südamerikanischen Puma ähnliche Berglöwe. Vornehmlich finden sich diese letzteren in den Wäldern der noch wenig bekannten Gebirgsketten, die den westlichen, gegen Utah gerichteten Abfall der Felsengebirge bilden und die erst von wenigen Regierungsexpeditionen durchstreift wurden. Zu diesen Ketten gehören auch die Elk-. San Juan-, Book-, Uintah-, und Uncompahgre-Mountains, als deren höchster Gipfel der 4322 Meter hohe „Berg des heiligen Kreuzes“ gilt, jener Granitkoloß mit den zwei sich kreuzenden Spalten auf seinem Ostabhange, die selbst zur glühendsten Sommerzeit ihre Schneelager behalten und so dem Reisenden den Anblick eines meilenweit sichtbaren Kreuzes bieten. In welch gewaltigem Maßstabe die Natur hier dieses Wahrzeichen errichtet hat, geht daraus hervor, daß der eine Arm des Kreuzes gegen 500 Meter in der Länge mißt.

Wie bereits bemerkt, ist Westcolorado noch überaus menschenleer. Schweifen wir von den Bahnlinien ab, die nach den einzelnen Minenplätzen hinaufführen, so mögen wir tage-, wochenlang durch die Wildniß wandern, ohne auch nur einen Menschen zu sehen. Nur ab und zu stört die tiefe Stille der Wälder das rollende Echo eines Büchsenschusses, den ein Jäger auf ein Stück Wild abgegeben hat, hie und da begegnen wir auch einem „Prospektor“, einem jener zumeist armen Teufel, welche einzeln oder in Trupps diese Landschaften durchstreifen, um in den Schluchten und Klippen nach Metalladern zu suchen. Diese Menschen, die entweder auf eigene Faust oder auf Veranlassung von Gesellschaften reisen und ein an Abenteuern und unsäglichen Entbehrungen reiches Dasein führen, sind die eigentlichen Pioniere von Colorado. Sind ihre mitunter auch bittere Enttäuschungen bringenden Entdeckerfahrten voll Erfolg gekrönt, so ziehen sie gar bald Scharen von Golddurstigen nach, die in der vielleicht bisher niemals von Weißen betretenen Einöde ihre „Camps“ aufschlagen und den Grund zu neuen Minenstädten legen. „Nach Golde drängt“ sich eben alles, und diesem Golde hat Colorado zumeist seinen Aufschwung und seinen Glanz zu verdanken.

Morphium- und Cocainsucht.

Es ist im Leben häßlich eingerichtet, daß bei den Rosen gleich die Dornen stehn“, möchte man mit dem Dichter ausrufen, wenn man immer und immer wieder die Beweise vor sich sieht, daß ein so recht zum Wohl der leidenden Menschheit bestimmtes und für viele Schmerzen und Krankheiten geradezu unentbehrliches Mittel durch ungeeigneten Gebrauch zum Fluche für den einzelnen, für seine eigene Gesundheit und für das Glück seiner Familie, werden kann. Wenige Giftstoffe, wenn man von dem bösen Feinde so vieler Tausende, dem gepriesenen Sorgenbrecher Alkohol, absieht, haben in der Welt soviel Unheil gestiftet wie das Opium und das daraus bereitete Morphium, und während überall die Warnungen vor diesen heimtückischen Giften in der Oeffentlichkeit erschallen, hat sich ihnen ein neues, das Heroin, zugesellt, das unter dem Vorgeben, ein Heilmittel zu sein, fast noch verderblichere Wirkungen auf Geist und Körper ausübt.

Unheimliche Gäste sind es, die oft den Menschelt nach kurzer Bekanntschaft so ganz sich zu eigen machen, daß all sein Deuten ihnen untertan wird, und daß keine Warnung, keine Mahnung der Pflicht und der Ehre, kein Aufblitzen der Vernunft ihren Einfluß brechen kann. Ihre Macht ist um so größer, weil sie nicht wie bei anderen Genußmitteln aus den durch sie verschafften Annehmlichkeiten beruht, sondern aus den unerträglichen Qualen, welche die Unterbrechung der Gewöhnung nach sich zieht. Die Aerzte der zahlreichen Anstalten, die sich mit der Kur von Morphiumsüchtigen befassen, wissen schreckliche Dinge davon zu berichten, wie weit sich hochachtbare Männer und Frauen vergessen, wenn die Schrecken der Entziehung sie packen und keinen anderen Gedanken in ihnen aufkommen lassen als den, um jeden Preis wenigstens noch einmal das gewohnte Mittel zu erlangen. Nicht wenig zahlreich sind die Fälle, in denen der Morphinist zum Verbrechen, zum Diebstahl, zur Fälschung von Unterschriften schritt, um sich Morphium zu verschaffen. Wir kannten die Frau eines angesehenen Arztes, die unter dem Einfluß einer bloßen leichtsinnigen Neugier die Wirkung des ihr zugänglichen Stoffes erprobt hatte und bald ganz unter seine Herrschaft gerochen war. Ihr Gemahl, den seine Berufsgeschäfte sehr in Anspruch nahmen. bemerkte erst nach einigen Wochen das Unheil und hielt es für das Beste, seine Frau an einem fremden Orte der Behandlung eines Kollegen zu übergeben, der ihr allmählich geringere Mengen verabfolgen sollte. Der Erfolg war anscheinend vorzüglich – nach einigen Wochen verzichtete die Dame auf jede Verordnung. Nach weiteren Wochen stellte sich heraus, daß sie einem anderen Arzte desselben Ortes einen gefälschten Brief ihres Mannes übergeben hatte, worin dieser den Wunsch aussprach, der Kollege möge der von schweren Nervenschmerzen gepeinigten Kranken Morphium in nötigenfalls steigenden Gaben verschreiben. Als der Betrug an den Tag kam, waren die Folgen bereits derartig, daß nur mit großen Mühen und Kosten und nach langer Zeitdauer eine schwache Besserung zu erzielen war. Dabei handelte es sich um eine Frau, die in jeder anderen Beziehung das größte Vertrauen mit Recht genoß und der jede, auch die leiseste Unrechtlichkeit auf anderen Gebieten des Lebens vollkommen fern lag.

Einen anderen Fall, wo der Morphinismus zum Verbrechen trieb, erzählt Dr. Albrecht Erlenmeyer in seinem Buche „Die Morphiumsucht und ihre Behandlung“. Die Tochter eines verstorbenen Strafanstaltsdirekors hatte sich von einem Arzte wiederholt Morphium zu Einspritzungen verschreiben lassen. Als sie eines Tages ein Rezept erhielt, auf dem 1,2 Gramm Morphium in Lösung verschrieben waren, änderte sie diese Zahl in 6,2 um. Die Veränderung wurde erkannt, als Urkundenfälschung erachtet und die Fälscherin zu einer zehntägigen Gefängnißstrafe verurteilt. Trotz des Zwanges, unter dem Morphiumsüchtige in solchen Zuständen handeln, genügt der Nachweis des bestehenden Morphinismus allein nicht, um den Ausschluß der freien Willensbestimmung zu beweisen, bei dem das Strafgesetz das Nichtvorhandensein einer strafbaren Handlung ausspricht.

In den meisten Fällen wird der Anlaß zum Gebrauch der Morphiumspritze durch schmerzhafte Krankheiten oder durch nervöse Leiden von unbestimmtem, peinigendem Charakter gegeben. Der englische Schriftsteller Thomas de Quincey, der Verfasser der „Bekenntnisse eines Opiumessers“, berichtet, daß ein höchst schmerzhaftes Magenübel, die Folge früherer Entbehrungen, ihn zur Anwendung. des Opiums gebracht habe, während zwei Leidensgenossen ihre Gewohnheit auf ein Gefühl zurückführten, „wie wenn [192] Ratten ihre Magenwände zernagten“; nicht selten handelt es sich, namentlich bei Aerzten, denen ja ihr Beruf die gefährliche, Waffe in die Hand giebt, um den Wunsch, die aus Ueberarbeitung hervorgehende Abspannung und Schlaflosigkeit zu bekämpfen. Es scheint, als ab gerade solche Menschen, bei denen eine angeborene geringere Widerstandsfähigkeit des Nervensystems eine Neigung zu nervösen Zuständen und Krankheiten schufst, zur Gewöhnung an das Morphium besonders veranlagt wären. Viele Menschen können wochenlang Morphiumeinspritzungen erhalten ohne beim Abschluß der Behandlung irgendwie das Bedürfniß zur Fortsetzung zu empfinden, während andere nach wenigen Anwendungen dem traurigen Banne des Giftes verfallen sind, und diese Verschiedenheit erklärt sich nach manchen Beobachtungen vorzugsweise durch ererbte nervöse Anlage?. Aehnliches beobachtet man ja nicht selten beim Alkohol. Ist dann noch, wie so häufig in diesen Fällen, eine gewisse Charakterschwäche vorhanden, so schreitet das Uebel besonders reißend fort und zieht wohl auch theure Angehörige des Opfers mit ins Verderben.

Ein uns bekannter junger Arzt, den Nervenschmerzen an den Gebrauch der Morphiumspritze gewöhnt hatten, kannte dem Triebe nicht widerstehen, auch seine Braut mit den Geheimnissen dessen, was ihm bald als sein Lebenselexir erschien, vertraut zu machen, obwohl er aus seinem Beruf die ganze Summe der damit verbundenen Gefahren kennen mußte. Als das Band der Ehe, zwischen ihnen gefügt ward, waren sie beide mit Leib und Seele dem Morphium verfallen, und als nun das Leben erhöhte Anforderungen an sie stellte, konnte es ihnen nicht lange verborgen bleiben, daß es so nicht weiter gehen könne. Es war gerade zu der Zeit, wo das Cocaïn als Hilfsmittel bei der Morphiumentziehungskur angepriesen wurde, weil es den Anschein hatte, als könne malt damit die Qualen der Entbehrungszeit unterdrücken. Der angestellte Versuch gelang – das Morphium war entbehrlich, geworden – aber binnen kurzem traten die nach weit schlimmeren Anzeichen der chronischen Cocaïnvergiftung hervor, die eine gewisse Aehnlichkeit mit den Erscheinungen des Säuferwahnsinns haben. Halluzinationen in verschiedenen Sinnesgebieten, das täuschende Gefühl, als ob Tausende von kleinen Thieren auf der Haut umherwimmelten, die Wahrnehmung entsetzenerregender Gestalten, scheinbare Verkleinerung und unablässige Hinundherbewegungen der Gegenstände der Umgebung, die wahnhafte Ausdeutung aller dieser Eindrücke durch das umdämmerte Bewusstsein schufen einen ebenso quälenden als gefahrvollen Zustand, so daß die Ueberführung des unglücklichen Paares in eine Heilanstalt erforderlich wurde. Wahl war das Ergebniß der langwierigen Behandlung dank dem strengen Bann der Anstalt ein günstiges; aber wird es so bleiben? In jedem Falle besteht die Gefahr, daß die beschränkteste, vielleicht durch ein vorübergehendes Uebelbefinden veranlaßte Wiederbenutzung des Mittels das ganze Unheil wieder wachrufe. Wie schwer es ist, gegen dieselbe anzukämpfen, zeigt zur Genüge die große Zahl der bedeutenden Männer, die ihr Leben lang Sklaven des Morphinismus waren und die ihm schließlich zum Opfer fielen. De Quincey nennt von hervorragenden Engländern als Beispiele Wilberforce, Milner, Coleridge und andere; von Deutschen könnte leicht eine Reihe von glänzenden Namen hinzugefügt werden, darunter mehrere der hervorragendsten Aerzte. Daß sie trotz ihres Uebels jahre-, und jahrzehntelang ihrem Ruhmeskranze noch neue Blätter hinzugefügt haben, will nichts gegenüber ihrem eigenen Elend bedeuten, von dem die ihnen Nahestehenden die traurigsten Bilder gewonnen haben.

Unter zahlreichen erschütternden Krankengeschichten theilt das erwähnte Erlenmeyersche Buch auch die folgenden mit, denen wir einige Hauptzüge entnehmen. Ein adliger Gutsbesitzer, der durch Gallensteinkoliken zum Morphiumgebrauch gekommen war, hatte sich mehrmals durch Entziehungskuren des Mittels entwöhnt. war aber immer wieder rückfällig geworden. Auf ärztlichen Rath beginnt er schließlich, neben dem Morphium Cocaïn einzuspritzen. Anfangs empfindet er danach einen sehr angenehmen Sinnenrausch und ein behagliches Wärmegefühl, bald aber sieht er sich genöthigt, die Morphiumnenge zu steigern, da die Wirkung nachläßt. Der früher willensstarke Mann, an dessen Geistesfrische und Thatkraft die bisherige geringe Morphiumgabe ebenso wenig genagt hatte wie an seiner körperlichen Rüstigkeit und seinem gemüthvollen Humor, geräth schnell in leiblichen Verfall, sieht elend und verändert aus, verliert seine Energie, wird gleichgültig gegen die Seinigen und gegen feine bisherigen Interessen; sein Gang wird schleppend, seine Sprache schwach, sein Gedächtniß nimmt ab. Im Gegensatz zu früher widersetzt er sich dem Vorschlag der Entziehungskur; als er in eine Privatklinik kommt, verschafft er sich hinter dem Rücken des Arztes zweimal seine alte Morphium-Cocaïnlösung; in der Erlenmeyerschen Anstalt verschweigt er diese Thatsache, giebt sein Ehrenwart, weder Spritze nach Morphium noch Cocaïn bei sich zu haben, wird aber nach wenigen Tagen überrascht, als er sich aus einer Eau de Cologneflasche, die er mit Morphiumlösung gefüllt, aber mit jenem Parfüm zur Herstellung des Geruchs bestrichen hat, eine Einspritzung macht; nach weiteren fünf Tagen verläßt er die Anstalt, weil ihm die Gifte vorenthalten werden.

In einem anderen Falle handelte es sich um eine zweiunddreißigjährige Offiziersgattin, die durch ein schmerzhaftes Leiden Morphinistin und nach einer Entziehungskur Cocaïnistin geworden war. Sie bricht das ihrem Gemahl gegebene Versprechen, daß sie die Einspritzungen unterlassen wolle, wird energielos, gleichgültig, menschenscheu und mißtrauisch, hört eingebildetes Trommelwirbeln und Trompetenblasen, meint, daß ihr im Manöver befindlicher Mann ein Duell mit ihrem früheren Arzte habe, glaubt beide getödtet, legt Trauerkleidung an, verschließt vor dem zurückgekehrten Gatten die Thür, veranlaßt ihre Kinder, gegen den Vater mit ihr in Bund zu treten, spritzt auch ihnen Cocaïn ein und bemerk danach bei ihnen wie bei sich selbst bedeutungsvolle Buchstaben auf dem Arm, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind. Das gewaltsame Oeffnen der Thür verhindert sie durch die Drohung, sich dann sofort aus dem Fenster zu stürzen. Erst nach langen Bemühungen gelingt es, durch List bei ihr einzudringen; sie ist vollkommen geistesgestört und wird auch durch eine längere Anstaltskur nicht ganz wiederhergestellt.

Der beste Schutz gegen die Morphium- und Cocaïnsucht besteht darin, daß man den Anfängen widerstehe. Gewissenhafte Aerzte, an denen Deutschland so reich ist, werden nur unter sorgfältiger Erwägung der Gefahren das für viele Kranke unentbehrliche Gift in Anwendung bringen, und die staatliche Ueberwachung des Verkaufes wird dem Mißbrauch mehr und mehr die Möglichkeit entziehen. Möge auch die Kenntniß der Gefahr recht viele vor dem Uebel bewahren! Möge immer und immer wieder vor dieser Gefahr gewarnt werden Dr. H. Otto.     




Truggeister.

Roman von Anton von Perfall.

(11. Fortsetzung.)

Von einem plötzlichen Entschlusse getrieben, setzte der alte Baron mit einer hastigen Bewegung ein Zwanzigmarkstück auf die verdeckte Karte, mit stieren Augen blickte er darauf hin, er sah nichts mehr als das blitzende Goldstück.

Plötzlich war es verschwunden, an seiner Stelle sah er den Großvater mit der wallenden Perücke, den langen gespreizten Fingern. Er sprang auf und griff zitternd danach – alles lächelte über seine Aufregung – es war der Karokönig – er hatte verloren. Wie geistesabwesend betrachtete er lange die Karte, dann warf er sie zornig unter die übrigen.

Wie man nur so träumen konnte! Nicht die geringste Aehnlichkeit mit dem Bilde zu Hause! – Oder war es eine Warnung? Wegen eines Goldstückes? Er durfte sich nicht lächerlich machen und setzte das zweite – auch verloren!

Anspacher schob ihm lächelnd seine Brieftasche zu. „Bedienen Sie sich, Herr Baron!“

Brennberg griff mechanisch hinein und spielte weiter. War es sein eigenes Geld gewesen, dessen Blinken ihn so erregt hatte? Er war jetzt viel ruhiger, als er die Banknoten auf die Karte setzte, und mit der Ruhe kam das Glück. Immer verwegener [193] setzte er, höher als man es selbst hier gewohnt war, viele zogen sich zurück; zuletzt spielten Christian und Baron Anspacher allein. Auch dieser schien erregt, der Inhalt der Brieftasche gehörte bereits seinem Gegner, dessen eiserne Ruhe man allgemein bewunderte als eine Seltenheit bei einem Neuling im Spiele.

Anspacher selbst erklärte endlich mit erzwungenem Lachen seine Zahlungsunfähigkeit; ihn ärgerten weniger die Verluste als die schadenfrohen Mienen rings umher.

Wie aus einem Traume erwachend, zählte Brennberg mit zitternden Fingern seinen Gewinn, der mehrere tausend Mark betrug; er weigerte sich, das Geld zu behalten, schob es Anspacher wieder zu, bis ihm begreiflich gemacht wurde, daß dies eine Beleidigung, eine Unmöglichkeit sei; dann steckte er es unter gestammelten Entschuldigungen ein. – –

Als er seine Wohnung betrat, erwachte er wie aus einem Traume. Er mußte wohl noch viel getrunken haben, denn der Kopf schmerzte ihn. Er saß in seinem Zimmer und vor ihm lag ein Haufen Banknoten. Ueber dem Schreibtisch hing der Großvater, der Spieler, in der dunklen Ecke des Bildes flammte es wie ein rothes Karo, darauf starrte sein Blick.

Da ging die Thür hinter ihm. Er fuhr zusammen und bedeckte die Banknoten mit beiden Händen, als wären sie gestohlenes Gut. Theodor, sein Sohn, stand hinter ihm, die Spuren einer durchschwärmten Nacht im bleichen Antlitz.

„Was willst Du noch um diese Stunde?“ fragte Christian, die Banknoten mit seinem Leibe vor den Blicken des Sohnes zu decken suchend.

„Ich habe mit Dir zu reden, Papa. Ich dachte es morgen zu thun, da sah ich aber noch Licht bei Dir, so mag es heute noch sein! Es hat Eile!“ Er lachte sonderbar.

„Uebrigens brauchst Du mir keinen Vorwurf zu machen,“ fuhr er fort, indem er einen schwankenden Schritt auf den Vater zu that und auf das Geld wies, „Du scheinst Dich auch amüsirt zu haben –“

„Du bist unverschämt, Theodor, mach’ ein Ende – ich bin krank – mein Kopf – die vielen Geschäfte –“

Er versuchte dabei, die zerknitterten Banknoten in seiner Tasche zu verstecken, doch Theodor bemerkte es und mußte hellauf lachen.

Der Kunstliebhaber. 0 Nach dem Gemälde von E. Meissonier.
Photographie von Lecadre in Paris, dem alleinigen Verleger der Meissonierschen Werke.

„Geschäfte? Ja, allerdings, und wie es scheint, bessere Geschäfte, als ich heute abend gemacht habe! – Nun, da brauche ich mich ja nicht mehr zu geniren – für das Pech kann man ja nicht – ich habe schwer verloren im Kasino.“

Christian knickte zusammen und seine Hände umkrampften die Armlehnen des Sessels. – Vater und Sohn – und über ihnen der Ahne – alle drei Spieler – die Erbschaft war angetreten! –

„Ich sehe selbst ein, die Geschichte muß ein Ende haben,“ begann Theodor nach einer Weile. „Ich warne Dich, Papa, es geht Dir nicht immer so gut wie heute abend! – Ich aber muß heirathen, das soll helfen, sagt man. Es ist wenigstens für die Zukunft. – Was sagst Du zu meiner Braut – Bertha Margold?“

Christian regte sich nicht. Das Antlitz in beide Hände vergraben, saß er auf seinem Stuhle; auf dem Boden lagen zerstreut die Banknoten Anspachers. – „Margold!“ seufzte er dumpf auf.

Theodor ahnte nicht, was in dem Vater vorging.

„Und warum nicht Margold? Wer kümmert sich heutzutage um einen Namen! Bertha ist schön, wohlhabend, alles ist entzückt von ihr. Sie wird so gut wie eine andere, ja besser vielleicht die Frau von Brennberg spielen, und ich denke, es kommt damit eine gesündere Luft in unser Haus. Ich weiß nicht, es gefällt mir hier nicht mehr, ich habe trübe Ahnungen –“

Der alte Herr erhob sich plötzlich.

„Wie kannst Du Dich erfrechen, mitten in der Nacht in mein Zimmer zu dringen?“ rief er zornig. „Ich bin kein Spieler wie Du, ein besonderer Zufall – ich weiß selbst nicht – aber ich konnte nicht anders, ich war gezwungen – beim Teufel! Ich bin Dir doch keine Rechenschaft schuldig!“

„Aber Papa, ich verlange ja auch keine,“ erwiderte, vor Erstaunen nüchtern werdend, Theodor – „ich kam ja nur –“

„Um mich zu belauschen, zu beobachten, um meinen Fehltritt, wenn es einer war, zu benutzen und mir jeden gerechten Vorwurf über Dein leichtsinniges Leben unmöglich zu machen!“

„Nein, Vater, Du irrst. Nur um Dir meinen Entschluß [194] betreffs Bertha Margolds mitzutheilen, um Deine Einwilligung in die Heirath mit ihr zu holen, kam ich hier herein,“ entgegnete jetzt in aller Ruhe Theodor. „Daß ich Dich vor diesen Dingern da“ – er deutete auf den Boden – „überrascht habe, dafür kann ich ja nichts; wenn ich so glücklich gewesen wäre wie Du, hätte ich Dich heute nicht mehr belästigt. Du kannst daraus sehen, wie ernst es mir ist, mich noch zu retten, wie sehr ich die Gefahr erkenne.“

Christians Zorn war schon vorüber. Es war nur ein krampfartiger Ausbruch des Ingrimms über sich selbst gewesen, der ihn durchbebt hatte.

„Du hast recht, Theodor,“ sagte er gebrochen, „verzeih’ meine Erregung! Es ist nur die bittere Scham, die ich vor Dir empfinde – heirathe Bertha Margold so rasch als möglich, ich beschwöre Dich jetzt selbst darum! Sie ist ein braves Kind, liebt Dich abgöttisch, sie wird Dich halten mit ihrem gesunden Margoldschen Herzen und mich auch! Nur sage ihr und dem Alten nichts davon, daß ich ein Spieler bin. Ich bin ja auch keiner, gewiß nicht – gewiß nicht!“

Thränen rollten die faltigen Wangen herab in den weißen Schnurrbart Christians. Der Anblick weckte alle guten Regungen in Theodors weicher Seele, er beugte sich nieder, ergriff und küßte die Hand des Vaters.

„Ich danke Dir, Bertha wird Dir eine treue Tochter sein, ein guter Geist unseres Hauses. Jetzt gehe zur Ruhe, Vater, Du bedarfst ihrer.“

Christian schlang den Arm um des Sohnes Nacken und verließ, von ihm gestützt, den Raum. An der Thür warf er noch einen Blick zurück auf das Bild: das rothe Karo war verschwunden. Es war das Brennbergsche Wappen in der Ecke mit den flammenden Bergen, das ihm so erschienen war.

*               *
*

Einen Monat darauf – der Frühling regte sich schon aller Orten – fand in einer Seitenkapelle der Franciskanerkirche, zu deren Gemeinde die Margolds jetzt gehörten, die Trauung Berthas mit Theodor von Brennberg statt, in völliger Stille und Abgeschlossenheit. Obwohl Bertha die Gründe, welche Theodor bewogen, jede Oeffentlichkeit zu vermeiden, billigen mußte, so fühlte sie doch einen bitteren Schmerz, ja sogar eine lebhafte Enttäuschung über diese scheinbar nothwendige Beschränkung bei der heiligsten Handlung ihres Lebens. Sie wußte ja wohl, daß die guten Eltern, daß ihre wenigen Verwandten, die in Frage kamen, einfache Leute waren, welche in ihrem äußeren Auftreten ihre Vergangenheit als Arbeiter nicht zu verleugnen vermochten; aber trotzdem sträubte sich ihr ganzes Inneres dagegen, daß man ihre Angehörigen gleichsam versteckte vor der Welt, daß es ihren Eltern nicht wie allen ehrenwerthen Eltern erlaubt sein sollte, offen vor aller Augen hinzutreten an den Traualtar ihres Kindes. Sie that wieder einen Blick in diese ganze Scheinwelt, der sie entgegen ging; alle die Gestalten und Umstände zogen an ihr vorüber: die Rathsfamilie mit ihrer lügenhaften Existenz, der Minister mit seinen Schmeicheleien, der erste Ball, das Haus Stefanellys mit seinem falschen Glanz, ihr eigener Bruder Hans und sein Weib; und dagegen hielt sie ihre Jugend im kleinen Häuschen an der Landstraße, unter ihren Blumen und Obstbäumen, einfach, ärmlich sogar, aber wahr und voll unscheinbarer Freuden, die sie seitdem nie mehr so rein genossen hatte.

Vorher schon hatte sich diese Empfindung in Bertha geregt, wenn sie bei ihrer Freundin Therese saß, welche die Herstellung ihrer Gesellschaftskleider und ihres Brautstaates übernommen hatte. Da kam denn auch ab und zu Theresens Bräutigam, der junge Schlosser Georg Bergmann, herauf. Man plauderte von der nahen Hochzeit, welche an demselben Tag wie die Berthas gefeiert werden sollte; die beiden Mädchen, die seit dem gemeinsamen Abend ihres Glückes innige Freundschaft geschlossen, hatten es so bestimmt. Da wurde aller beiderseitigen Verwandten und Freunde gedacht und die Eltern Georgs kamen und besprachen mit nassen Augen die Zukunft ihrer Kinder. Daneben standen dann die Eltern Margolds schweigend, und Bertha las auf ihren Gesichtern den stillen Kummer, daß sie nicht auch so sprechen konnten über ihr Kind, das sie nichts mehr angehen sollte, das ihren Rath nicht einholte, das weit weg zog von ihnen in eine fremde, ihnen verschlossene Welt. –

Jetzt aber, in dem Augenblick ihres höchsten Glückes, als sie an der Seite Theodors aus der kleinen Sakristei in die Kapelle trat, schwanden alle diese bitteren Empfindungen; es war ein Opfer, das sie dem Geliebten brachte, diese demüthigende Heimlichkeit. Er brachte ja auch eines, das sie tief empfand, indem er sich hinwegsetzte über alles Nasenrümpfen und Achselzucken der Gesellschaft. Aber der Entschluß stand fest in ihr: war sie erst seine Gattin, dann wollte sie es auch ganz sein, ohne Heimlichkeit, ohne Erröthen über ihre Herkunft, ohne alle die Lügen, zu denen sie im Kampfe um den Geliebten ihre Zuflucht genommen hatte. Sie wollte in der Ehe erst recht die alte Bertha Margold sein; mit weiblichem Scharfsinn ahnte sie, daß gerade dieses frische, gesunde Wesen, an dem gleichsam der Geruch der Erde haftete, den mitten im üppigen Genußleben der Großstadt stehenden, verwöhnten Mann so mächtig anzog und daß gerade darin auch für die Zukunft allein die Bürgschaft ihres Gluckes liege.

Als die Trauung vorüber war, umarmte der Baron Bertha als seine Tochter.

„Sei eingedenk, mein Kind, daß Du von heute an eine Brennberg bist, der neu angefügte Zweig eines edlen uralten Stammes!“ sagte er in einem von Herzen kommenden feierlichen Tone.

Der alte Margold stand daneben, gebeugt, zerknirscht, von einem Gefühl ber Ehrfurcht für sein Kind durchschauert, das jetzt in die stolze Reihe von Frauen eintrat, deren Bilder er seinerzeit auf dem Schloßgang zu Schönau andächtig bewundert hatte. Er wagte nicht, sie anzureden und seinem Herzen Luft zu machen, er wartete. – Da warf sich Bertha schluchzend an seine Brust und seine Arme schlossen sich wie eiserne Klammern um das in kostbare Stoffe gekleidete Kind.

„Vergiß in all’ Deinem Glück Deine Eltern nicht – wir werden Dich nicht stören, ich weiß, wir passen nicht mehr zu Dir – aber nicht vergessen, Bertha, nicht vergessen!“

Die krummen Finger zerknüllten krampfhaft den zarten Schleier auf dem Rücken der Braut.

Hans und Loni, die einzigen Hochzeitsgäste, fanden diesen Gefühlsausbruch des Vaters sehr unpassend; sie gaben sich alle Mühe, durch ihr „nobles Auftreten“ – Loni hatte in dieser Beziehung nichts versäumt – den Standesunterschied zwischen den beiden Familien wenigstens äußerlich zu verwischen und dem alten Baron die peinliche Stunde zu erleichtern. Und nun verdarb der Vater alles mit seinem „rührseligen Gethu“, das bei einer feinen Hochzeit doch gar nicht Sitte war. Sie entschuldigten sich förmlich bei Theodor und seinem Vater und meinten, es sei ein wahres Glück, daß niemand dieses sonderbare Benehmen gesehen hatte, das ihnen ja auch den Umgang mit den Eltern schon längst verleidet habe. Die Herren sollten nun der Sache ein- für allemal ein Ende machen, das sei das einzig Richtige. Die beiden Brennberg waren jedoch zur Ueberraschung des lieblosen Paares ganz anderer Ansicht. Theodor fürchtete von jeher die Annäherung von Hans und seiner Frau viel mehr als die der Eltern Berthas, die in ihrer Bescheidenheit gewiß nie lästig werden würden. Er ließ das auch in einer schroffen Erwiderung durchklingen.

Als Bertha mit Theodor wieder in den Wagen stieg, der an einer Seitenpforte der Franciskanerkapelle hielt, da sah sie unter dem geöffneten Hauptportal eine andere Hochzeitsgesellschaft harren. Sie erkannte die verwachsene Lili, die vor Seligkeit in ihrem weißen Brautjungfernkleide lächelte, als wäre sie selbst die Braut. Sie sah auch die Eltern Georgs, die Frau Köhler und alle die Verwandten und Freunde, die sie unzählige Male hatte aufzählen hören in der kleinen Stube des Hinterhauses. Und gerade jetzt fuhr auch der Wagen mit dem jungen Paare vor – Bertha konnte eben Therese und Georg noch zunicken, dann entzog ihr eine Wendung des eigenen Wagens das freundliche, von der Frühjahrssonne lustig beschienene Bild.

Die Thränen traten ihr in die Augen, sie erflehte innig den Segen des Himmels für das Paar. Wie hatte sie sich doch ihre eigene Hochzeit anders gedacht damals in der Heiligengeistkirche, als Hans getraut wurde und sie wie in einer Vision alles deutlich vor Augen sah – das glänzende Gefolge von Herren und Damen, die Equipagen, die geschmückte Kirche, die brausende Orgel! Und jetzt mußte sie Therese, die arme Nähterin, beneiden um ihren Ehrentag!

Aber der schmerzliche Eindruck verschwand bald. Neben ihr saß Theodor und flüsterte von einem glücklichen Erwachen unter italienischer Sonne, von Rom, dem sie noch heute abend zueilen wollten – ein Wonnemeer umgaukelte sie.

[195] Man war vor der Brennburg angelangt und Christian ließ es sich nicht nehmen, Bertha eigenhändig einzuführen in ihr neues Heim. Die Tage ihrer Kindheit tauchten in ihrer Seele auf, als sie alle die Gegenstände wieder erblickte, deren sie sich noch von ihrer frühesten Jugend in Schönau her erinnerte. Damals stand sie in ihren großen Bundschuhen, klammerte sich an den Vater und blickte scheu wie in einer Kirche umher in den ihr ja kostbar dünkenden Gemächern. Gerade so empfand sie jetzt wieder; aber nur einen Augenblick! Dann fühlte sie sich stolz als Herrin dieser Räume, senkte den Blick nicht mehr vor den stolzen Frauen und Männern an den Wänden. Aus den alten Möbelstücken schien ihr ein Duft entgegen zu wehen, wie er zu Hause im Herbst zu den offenen Fenstern ihres Stübchens vom Garten hereindrang, wo die Trauben reiften, das prächtige Obst lag und die frisch umgewühlte Erde rauchte. – Loni meinte, jetzt, wa wieder eine Frau im Hause schalte, sei es höchste Zeit, aufzuräumen mit dem alten Gerümpel und das Haus modern zu möbliren. Aber Bertha nahm sich des „alten Gerümpels“ so warm an, daß Christian sich schämte, selbst schon mit dem Gedanken umgegangen zu sein, den Loni ausgesprochen hatte. Kein Stück solle wegkommen, so lange sie lebe, erklärte Bertha, und wenn die Einrichtung wirklich ergänzt werden sollte, so möge man wenigstens ihr Zimmer ausschließlich mit den alten Sachen ausstatten.

Der alte Margold betastete jedes Stück, wußte von jedem eine Geschichte zu erzählen. Er klopfte auf die gelben Tasten des Spinetts, die nur einzeln Antwort gaben, und summte ein Lied, das die selige Frau Baronin mit Vorliebe gespielt hatte, erklärte die Herkunft eines jeden der vielgestaltigen Dinge im Glaskasten. Die Kerze mit den rothen Blumen in der weißen Atlasschleife war die Taufkerze Theodors, er, der alte Margold, hatte sie selbst in seiner Faust halten dürfen an dem freudigen Tag, wo der letzte Erbe von Schönau getauft wurde; dieses Silberservice hatte die selige Baronin als Hochzeitsgeschenk erhalten, aus dieser geblümten Tasse trank sie ihren Morgenkaffee. Die Geweihe im Gang kannte Margold alle einzeln, er wußte jeden Ort, wo sie erbeutet waren. Die Pfeifen des Hausherrn hingen bestaubt, ungepflegt an den Haltern aus Hirschhorn; wie hatten sie geblitzt, als sie noch unter seiner Pflege waren! Die mit dem silbernen Deckel war für den Sonntag. Dann die Reitpeitsche mit dem silbernen Huf als Griff, die alte rostige Flinte – mit allem stand ein besonderes Ereigniß in Verbindung. Die ganze Schönauer Vergangenheit trat wieder hervor, alle die stillen aufregungslosen gesunden Tage in Wald und Flur, Park und Schloß. Wie kräftige Waldluft umwehte es bei den Erzählungen seines einstigen Dieners den alten Herrn von Schönau, in dessen Seele ernste erquickende Erinnerungen einzogen. Und dann mußte er daneben jenes Abends gedenken, wo ihn sein Sohn bei den gewonnenen Banknoten überrascht hatte, seines jetzigen aufgeregten, ruhelosen Lebens als Aufsichtsrath und Börsenmann; wehmüthige Sehnsucht erfüllte ihn wie nach einem verscherzten Glück. Wäre es nicht wieder zu gewinnen? Noch blickte das Dach von Schönau unversehrt aus den Bäumen des Parks herüber. Das Vorrücken der Stadt nach dieser Seite hin ging nicht so rasch, als man erwartet hatte.

Auch Theodor wurde unwillkürlich hineingezogen in die Gedanken an seine Jugendzeit, und ihre reinigende, festigende Wirkung blieb auch bei ihm nicht aus; auch ihn packte eine Ahnung, als ob in ihr ein Gluck ruhe, nach dem er bis jetzt vergebens gejagt hatte im Getriebe der Welt.

Der heilsame Einfluß, den Vater und Sohn von der Verbindung mit Bertha erhofft, hatte bereits begonnen.

Als das junge Paar nach einem kurzen Mahle das Haus verließ, um mit dem Schnellzuge seine Hochzeitsreise nach Italien anzutreten, und auch Hans und Loni, welche froh waren, aus dem langweiligen Haus fortzukommen, sich empfohlen hatten, bat Christian noch den alten Margold auf sein Zimmer.

Es war schon spät in der Nacht, als dieser es wieder verließ und den Heimweg antrat. Herzenskummer lag in den alten Zügen. „Es hat ihn, es hat ihn, den armen Herrn!“ murmelte er, die Straße entlang schreitend, vor sich hin – „jetzt Obacht, Margold, Obacht!“




7.

Stefanelly war der staunenerregende Wundermann, unter dessen Händen wie einst unter denen des sagenhaften Königs Midas alles zu Gold wurde. Das Glück zog strahlend wie ein Stern der Verheißung vor ihm her, und wie eine Schar von Mücken und Faltern stürzte sich alles, hoch und nieder, verständig und unverständig, taumelnd, geblendet in seinen Lichtkreis. Ein Schwall von Papieren aller Art ergoß sich aus dem Bankhaus Stefanellys über das Land, er war unerschöpflich in Gründung neuer Unternehmungen, Häuser-, Straßen- und Bahnbauten, Bergwerke, Flußregulirungen, Pferdebahnen, Gasanstalten, Kanalisirungen u. s. w. Man kümmerte sich nicht mehr weiter um die Art des Unternehmens, um die unzähligen neu erfundenen, oft völlig unklaren Namen, es genügte, daß die Aktien in Stefanellys Bankhaus ausgegeben wurden, daß er an der Spitze stand. Tausend Hände streckten sich täglich aus nach den bunten Papieren, die dem Besitzer mühelosen, reichen Gewinn versprachen.

Viele, welche der Mühe des Wartens im Comptoir enthoben sein wollten oder fürchteten, bei besonders günstigen Emissionen zu spät zu kommen, trugen ihr ganzes Hab und Gut, jeden Sparpfennig in barem Gelde als Depot in die Bank, wogegen sich dieselbe verpflichtete, diesen Getreuen beim Erscheinen neuer gewinnversprechender Anlagepapiere die Vorhand zu lassen. Man schätzte es als eine Gnade, wenn Stefanelly das Geld nahm, besonders der Mittelstand drängte sich in lichten Haufen herbei. Der Sinn für geregelten Erwerb ging immer mehr verloren, die Arbeit mit ihrem vielen Schweiß und ihrem geringen Lohn wurde immer mehr verachtet, gehaßt. Anderseits erzeugte das wilde zügellose Verlangen nach barem Gelde, das in diesem Augenblicke so riesige Vortheile bot, einen gefährlichen Haß und Neid gegen alle Besitzenden, welche hinwiederum keine Gelegenheit vorübergehen ließen, den Unbemittelten durch glänzenden Aufwand ihre bevorzugte Lage recht anschaulich zu machen. Eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem jetzt in dem tollen Genußtaumel doppelt schwer zu ertragenden eigenen Los griff platz, die das Schlimmste befürchten ließ.

Die Presse feierte in Stefanelly eine Finanzgröße ersten Ranges, welche für die wirthschaftliche Entwickelung des Vaterlands geradezu bahnbrechend wirke, jede Unternehmung wurde von vornherein ins beste Licht gestellt. Einzelne warnende Stimmen wurden einfach verlacht, todtgeschwiegen, mit dem Vorwurf des Neides belastet.

Es war auch nicht zu leugnen, Handel und Industrie blühten zusehends bei dem gewaltig gesteigerten Unternehmungsgeist, bei dem unerschöpflich zuströmenden Kapital. M... schwamm im Wohlstand; der Luxus, der Verbrauch hatte seine höchste Höhe erreicht. Aber dem scharfsichtigen, nüchternen Beobachter entgingen nicht die Keime des Verderbens unter diesem plötzlichen unnatürlichen Blüthenschwall, den ein einziger ungewohnter Sturm wie dürre Spreu verwehen mußte, einen kahlen, entsafteten Stamm zurücklassend.

Christian von Brennberg konnte den vielgestaltigen großartigen Plänen des Bankiers schon lange nicht mehr folgen. Trotzdem er sich das offen gestand, wurde er von Stefanelly doch immer weiter hineingezogen; willenlos, urtheilslos folgte er ihm, magnetisch angezogen von diesem alle Hindernisse überspringenden, rücksichtslosen Mann.

Brennberg fürchtete ihn, ja, er glaubte zu gewissen Zeiten, ihn zu hassen, einen bösen Dämon in ihm zu erblicken; dann aber genügte wieder ein Blick, ein Wort des Unternehmers, den alten Herrn unwiderstehlich mitzureißen, und die Frage, ob das, was von ihm verlangt wurde, recht sei oder unrecht, verstummte auf seinen Lippen.

Bei allen neuen Unternehmungen mußte er sich betheiligen, sich in den Aufsichtsrath wählen lassen. Oft schienen ihm dieselben geradezu unmöglich, unbegreiflich, im höchsten Grade gewagt, er sträubte sich dagegen, sie öffentlich anzupreisen, er ahnte die Falschheit der angegebenen Bedingungen, er empörte sich über die Höhe des Kapitals im Vergleich zu dem Werthe des Gegenstandes, um den es sich handelte. Doch seine schüchternen Einwendungen, Bedenken, Befürchtungen wurden jedesmal glänzend abgeschlagen. Beharrte Christian auf seinem Widerstand, dann nahm Stefanelly ein so drohendes Wesen an, wußte dem Alten seine völlige Abhängigkeit so klar zu machen, daß dieser schwieg und that, was ihm geheißen wurde. Und jedesmal ging es wieder zum Guten aus, behielt Stefanelly recht, wandte sich alles zu Gunsten des Unternehmens, und die scheinbaren Fälschungen und Lügen erschienen nachträglich als großartige, durchdachte Feldzugspläne, denen er, der unerfahrene Landjunker, nicht gewachsen war.

[196] Sein ganzes Hab und Gut war in die Stefanellyschen Gründungen verwickelt: er hatte offene Kasse bei dem Bankier, den wahren Bestand seines Vermögens kannte er längst selbst nicht mehr, seiner Berechnung nach mußte es sich mindestens verdoppelt haben.

Einzelne Unternehmungen gingen augenscheinlich schlecht, so z. B. die erste, die Grunderwerbung.

Das Wachsthum der Stadt stockte sichtlich, obwohl man es sich nicht zu gestehen wagte. Bereits standen ganze Viertel unbewohnt, der Schönauer Grund war noch immer nicht bebaut, das Schlößchen blickte noch immer herüber über den Park. Doch das hatte unbegreiflicherweise gar keinen merklichen Einfluß auf den Stand der Aktien, und es wurde immer flott weiter gekauft und verkauft. – –

Bertha hatte ihr Ziel erreicht. Der Traum, den sie einst geträumt an dem herbstlichen Morgen auf dem Gefährte mit Kohlköpfen, als sie die geheimnißvoll geschlossenen seidenen Gardinen an den Fenstern der Reichen betrachtete, er war nun Wirklichkeit geworden. Sie lag in dem spitzenbesetzten Bette, hinter blau-seidenen Vorhängen, sie schmiegte sich wohlig in die weichen Kissen und träumte von den seligen Wochen im sonnigen Italien an der Seite ihres Gatten.

Seit bald einem Jahre waren sie schon zurück von der Reise. Theodor hatte sie damals überrascht mit dieser üppigen Einrichtung, die sie gar nicht gewünscht hatte; sie war fest entschlossen gewesen, dem ganzen Hause einen einfachen bürgerlichen Geist einzuhauchen, Theodor allmählich an eine stille bescheidene Häuslichkeit zu gewöhnen; er sollte jetzt nicht mehr der Welt, er sollte ihr angehören. Aus diesem Zimmer aber wehte eine üppige Weltluft, die ihr selbst den Kopf verwirrte, die ihr die Kraft benahm, ihren Vorsatz auszuführen. Sie freute sich über den schön geschmückten Raum, denn die Liebe hatte ihn ja geschaffen, aber in ihrer Stube mit den alten Möbeln aus Schönau, die sie sich ausbedungen hatte, war es ihr doch heimlicher, da kehrten auch all die guten Vorsätze wieder zurück.

Leider hatte sie selten Zeit, darin zu verweilen. Theodor stürzte sich absichtlich mit ihr mitten in den Strudel der Gesellschaft, denn er wollte zeigen, daß er sich ihrer Abkunft nicht schäme, daß er trotz allen Naserümpfens eine beneidenswerthe Wahl getroffen habe. Ihr Weg ging seit Monaten mitten durch alle Salons der Hauptstadt.

Man bewunderte die Kühnheit des Mannes, der sich mit dieser Frau von niederer Herkunft so hervorwagte, und das Geschick der Frau, die sich nicht das Geringste vergab. Man spielte wohl oder übel den Freigeist, den Aufgeklärten; der Name Brennberg, welcher auf unzähligen Werthpapieren stand, hatte einen zu verführerischen metallenen Klang, die Sonne Stefanelly beschien ihn zu warm und blendend mit ihren Strahlen, als daß man lange Bedenken geltend gemacht hätte, ob die Frau auch wirklich salonfähig sei.

Bertha hatte ihrem Gatten zwar das Versprechen abgenommen, sobald einmal sein Zweck, sie überall einzuführen, erfüllt sei, zu einem einfachen, stillen Leben zurückzukehren, aber die Erfüllung dieses Versprechens schob sich von Monat zu Monat hinaus und beide dachten noch nicht an eine Einschränkung ihres Verkehres, besonders konnten sie sich der ausgedehnten Geselligkeit im Hause Stefanellys nicht entziehen.

Anfangs war Bertha das ganze Wesen dort verhaßt gewesen; sie hatte ein bedrücktes Gefühl empfunden in den überladenen, aufdringlichen Räumen mit dem sonderbar gemischten Publikum, das sich darin bewegte. Allmählich jedoch gewöhnte sie sich daran, das alles mit milderem Auge anzusehen, weniger streng darüber zu urtheilen. Man lebte einmal so in der Welt; sie allein konnte nicht dagegen aufkommen und mußte zufrieden sein, wenn nur sie sich rein erhielt von dem lockeren Wesen, das dort herrschte.

Von Stefanelly fühlte sich Bertha mit besonderer Auszeichnung behandelt, ihr Mißtrauen, ihr innerer Widerwillen schwand immer mehr, er war trotz aller seiner Fehler, die er haben mochte, ein einnehmender, liebenswürdiger Mann. Seine rastlose Thatkraft imponirte ihr, der beispiellose Erfolg blendete sie. Stefanelly ging sogar so weit, über seine Pläne mit ihr zu sprechen, deren Kühnheit und Großartigkeit sie mit Bewunderung erfüllte. Das war ein großer Mann, an welchen man nicht den gewöhnlichen Maßstab legen durfte; es schmeichelte ihrer Eigenliebe, indem er bei diesem und jenem ihre Ansicht verlangte, ihren Rath einholte, indem er den geringsten Wunsch, den sie aussprach, immer sofort erfüllte. So bekam der Schlossermeister Georg Bergmann, der Mann ihrer Freundin Therese, auf ihre Empfehlung sämmtliche Schlosserarbeiten für die Stefanellyschen Bauten übertragen.

Nur Loni blieb ihr stets gleich verhaßt. Ihr ganzes Wesen erschien ihr unweiblich, ein unreiner Hauch ging von ihr aus, der Bertha ein Greuel war, und diese koketten Blicke auf die Männer, mit welchen sie jeden an sich zu fesseln suchte, mit welchen sie auch Theodor nicht verschonte, waren ihr unerträglich. Sie empfand keine Eifersucht, weil sie an eine Gefahr von dieser Seite nicht glauben konnte, nur Ekel.

Hans war nicht mehr wieder zu erkennen. Bertha hatte Mitleid mit dem Bruder. Was war aus dem gesunden kräftigen Jungen geworden! Ein schwächlicher, kränkelnder Mann mit abgelebten Gesichtszügen, fieberhaft brennenden, tiefliegenden Augen. Das machte das viele Arbeiten für Stefanelly, in dessen Dienst er sich aufrieb, das Durchwachen der Nächte bei wilden Gelagen, diese Körper und Geist zerstörende Kaffeehaus- und Kneipenluft, der qualvolle Gelddurst, der mit dem täglichen Anblick des gleißenden Goldes in den eisernen Kassen des Chefs ins unendliche wuchs. – „Geld! nur Geld! Dann nimm alles, Gesundheit, Ehre, alles!“ tobte es in ihm Tag und Nacht.

Der alte Margold war unerbittlich; er gab keinen Pfennig heraus von seinem Gelde, trotz der Bitten und Vorstellungen seines Sohnes. Im Gegentheil, am Tag nach der Hochzeit Bertls kam er und verkaufte seine sämmtlichen Aktien der Grunderwerbungs-Genossenschaft, die eben im besten Zuge waren. Er gab keine Auskunft über die Gründe, die ihn dazu veranlaßten, und Hans tobte darüber, daß „der alte Narr“ das schöne bare Geld daheim im Kasten liegen lasse, anstatt es ihm anzuvertrauen. So war Hans in seinen eigenen Spekulationen nur auf seinen Schwiegervater Weinmann angewiesen, der zum Glück „vernünstiger“ war und ihm ganz freie Hand ließ, wofür er dann Loni durch die Finger sah. – –

Bertha ließ diese Bilder aus der Vergangenheit und Gegenwart an ihrem inneren Auge vorüber ziehen, während sie halb unbewußt auf den geschäftigen Lärm der Straße horchte; aber das stetige Gleichmaß dieser Töne wirke zuletzt einschläfernd, sie sank wieder in Schlummer.

Plötzlich ward sie von neuem wach; Theodor kam herein und trat vor ihr Bett, der junge schöne Mann, ganz wie sie es damals im Geiste geschaut hatte auf dem Wagen mit den Kohlköpfen; nur gab er ihr keinen Kuß, sondern er blickte ernst und sorgenvoll. Ueberhaupt hatte sie ihn schon oft in solch gedrückter Stimmung überrascht, ihn und seinen Vater, der in der letzten Zeit ein so scheues, unruhiges Wesen gegen sie angenommen hatte. Sie hatte sich oft ihre Gedanken darüber gemacht, doch waren sie in dem ruhelosen bewegten Leben immer wieder rasch verflogen.

„Was hast Du, Theodor? Warum so ernst? Oder bist Du nicht wohl? O, dieses lange Aufbleiben und Nachtschwärmen! Auch ich kann es nicht ertragen; machen wir doch ein Ende damit und verkriechen wir uns in unser stilles schönes Heim! Wer uns sehen will, kann uns ja hier aufsuchen. Du hast Dich gestern abend bei Stefanelly über etwas geärgert, nicht wahr? Ich merkte es schon beim Nachhausefahren.“

„Ja!“ erwiderte Theodor kurz, sich setzend und an seinem Schnurrbart kauend.

„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf Stefanelly, weil ich mich mit ihm so angelegentlich unterhalten habe? Er erklärte mir das neue Bergwerksunternehmen, an dem auch Dein Vater betheiligt ist, das interessirte mich. Er sprach von den böswilligen Verdächtigungen und Angriffen, denen er ausgesetzt sei, und wie man sich alle Mühe gebe, seine Pläne zu durchkreuzen. Ich wunderte mich, daß ein so bedeutender Mensch wie er sich darum kümmern könne, es sei das doch einmal das Los alles Großen, Hervorragenden. Das freute ihn und er drückte mir herzlich die Hand. War es das, Theodor? O, dann muß ich bitten. dann hätte ich mehr Grund, wenn ich Loni und Dich betrachte – doch nein, pfui! Ich habe keinen Grund, ich müßte mich schämen, wenn ich auf dieses Wesen eifersüchtig sein wollte.“

„Laß diese Scherze, Bertha!“ entgegnete Theodor. „Auch ich ärgere mich über diese versteckten Angriffe auf Stefanelly, von denen er mit Dir sprach, und ärgere mich doppelt, seitdem ich weiß, woher sie, wenigstens theilweise, stammen – von Deinem Vater!“

(Fortsetzung folgt.)


[197]

Dreimal selig bist du doch!

Dreimal selig bist Du doch,
Seist Du noch so arm an Segen,
Darfst das müde Haupt Du noch
Still ans Herz der Mutter legen!
Wie von Gottes Hauch wird Deine
Starre Brust dort mild und weich;
Jener Friedensstatt ist keine,
Keine sonst auf Erden gleich.

Auch im Tempelraum umfließt
Dich des Trostes lindes Wehen,
Und des Friedens Quell erschließt
Ueberall sich frommem Flehen.
Aber ob gebeugt von Schmerzen
Ob gewiegt vom Meer der Lust –
Stets am nächsten Gottes Herzen
Bist du an der Mutter Brust!

Göttliches Geheimniß ruht
Ueber dieser Segensquelle,
Die so sanft den schweren Muth
Spült hinweg wie Lethes Welle.
Selig fühlst Du’s im Gemüthe:
Was im Mutterherzen schlägt,
Ist ein Pulsschlag jener Güte,
Die das Weltall liebend trägt.

Ob die Liebe Dich verließ,
Ob die Freundschaft Dich vergessen,
Ob Dich alle Welt verstieß:
Eines bleibt, was Du besessen!
Die das Dasein Dir gegeben,
Liebt Dich, bis ihr Auge bricht;
Vor der Mutter theurem Leben
Endet ihre Liebe nicht.

Darum selig bist Du doch,
Seist Du noch so arm an Segen,
Darfst das müde Haupt Du noch
Still ans Herz der Mutter legen!
Wie von Gottes Hauch wird Deine
Starre Brust dort mild und weich;
Jener Friedensstatt ist keine,
Keine sonst auf Erden gleich!  Albert Kleinschmidt.


Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Das Grammophon.

Unseren Lesern wird aus dem Jahrgange 1889 der „Gartenlaube“ noch erinnerlich sein, daß der Grundgedanke des Edisonschen Phonographen der ist, die von irgend einem Tone erregten Erschütterungen einer elastischen Phonographenplatte auf einen Wachscylinder, und von diesem – an einem beliebigen Orte und zu einer beliebigen Zeit – wieder auf eine Phonographenplatte übertragen zu lassen, wobei dann der ursprüngliche Ton wieder hervortritt. Das hierbei erforderliche Einritzen der Wachscylinder erfordert trotz der hierzu gewählten sehr günstigen Form des ritzenden Stiftes einen immerhin bedeutenden Antheil der Kraft, welche die zitternde Phonographenplatte entwickelt. Auf diese Weise wird die Wirkung der Plattenschwingungen abgeschwächt, die Töne werden weniger vollkommen wiedergegeben, und zwar in demselben Maße, als der Stift tiefer in den Wachscylinder einschneiden muß.

Figur 1.

Figur 2.

Dieser Umstand veranlaßte den Deutsch-Americaner Emil Berliner, einen andern Zwischenmechanismus zu ersinnen, der diesen Uebelstand vermeidet. Berliner sagte sich: der Schreibstift darf nicht, wie er es beim Phonographen thut, ungleichmäßig einschneiden, er soll nur eine gleitende Bewegung über eine glatte Fläche machen. – Der hiernach konstruierte Apparat, den der Erfinder „Grammophon“ nennt, bietet dem Phonographen gegenüber noch weitere beachtenswerthe Vortheile, wie sich aus Nachstehendem ergeben wird.

Aus Figur 1 ist zu ersehen, daß der Edisonsche Cylinder durch einen wagrechten Teller ersetzt ist. Dieser ist auf einer drehbaren, senkrechten Achse befestigt und Zur Aufnahme einer Zinktafel vorgerichtet. Die rechts befindliche Handkurbel dient dazu, den Teller in Umdrehung zu versetzen. Links oberhalb des Tellers ist der Schreibapparat, „der Empfänger“, angebracht; gegen dessen wirksamen Theil (die elastische Membran) stützt sich ein Stift, welcher die Bewegung der Membran auf den Schreibstift überträgt. Der Schreibstift hat eine feine Spitze aus hartem Osmium= Iridiummetall und wird durch eine leichte Feder an die Membran gedrückt. Berliner gebrauchte als Membran früher eine Glimmerplatte, die er neuerdings durch eine Platte aus sogenannter vulkanisirter Faser ersetzt hat. Wegen der hebelartigen Anordnung des Schreibstiftes macht die Spitze des Stiftes annähernd doppelt so große Bewegungen als die Membran, was für die Deutlichkeit von großem Vortheile ist.

Der „Empfänger“ mit seinem hinter dem Grammophon sichtbaren Schalltrichter wird von einem verschiebbaren Gestelle getragen. Die Verschiebung wird von dem Teller aus mittels konischer Räder und einer Schraubenspindel bewirkt und hat den Zweck, den Schreibstift auf dem Teller seitlich zu verschieben, so daß er im großen und ganzen eine Spirallinie beschreibt, welche jedoch in ihrem Verlaufe zugleich die Erzitierungen des Empfängers wiedergiebt. Ein Stück Solcher Aufzeichnungen wird durch die vergrößert gezeichnete Figur 3 – in noch stärkerer Vergrößerung – die Linienzüge angiebt, welche durch die Grundlaute a e i o u entstehen.

Figur 3.

Figur 4.

Eine Menge von Schwierigkeiten bot die Behandlung und Herstellung der Schriftfläche und die Hervorrufung einer geeigneten Schriftspur, oder wie Berliner sagt, des „Phonautogrammes“. Nach zahllosen Versuchen benutzt der Erfinder zur Zeit eine genau ebene, hochpolirte Zinkblechplatte, die mit einem Aetzgrunde von so außerordentlicher Zartheit überzogen ist, daß die Platte nur angehaucht erscheint. Der Stoff für diesen Ueberzug besteht aus einem Auszuge von Bienenwachs, aus welchem die löslichen Theile durch Petroleumnaphtha ausgezogen wurden.

Mit diesem Präparat wird die Platte bestrichen, das Lösungsmittel verdunstet und hinterläßt den erwähnten Aetzgrund, in welchen der Grammophonstift widerstandslos seine Bewegungen eintragen kann. Es ist dabei nur erforderlich daß durch die Einwirkung der feinen Stiftspitze die zarte Wachshaut entfernt und somit das Metall bloßgelegt wird. Dies geschieht, indem man die Zinkplatte in den Teller bringt und denselben mittels der Kurbel in Umdrehung versetzt; während nun das aufzunehmende Gespräch Musikstück oder dergleichen ertönt, beschreibt der Stift die Spirallinien in der angegebenen Weise. Nach Schluß der Aufnahme wird die Platte abgenommen und mit einer Aetzflüssigkeit behandelt, wodurch die fast unsichtbare Schrift hervortritt und zugleich eine Spur in der für die Wiedergabe des Tones erforderlichen Tiefe erzielt wird. Als Aetzflüssigkeit dient verdünnte Chromsäure, welche gleichmäßig und ohne Blasenentwickelung arbeitet. Die in Figur 1 sichtbare Flasche dient übrigens nicht zu diesen Zwecken, sie hat eine ganz andere Bedeutung. Es zeigte sich nämlich bei der grammophonischen Aufnahme, daß die bekanntlich überall umherschwirrenden Staubteilchen sowie die abgetrennten Wachstheilchen am Schreibstifte kleben blieben und an dem Schreiben theilnahmen, so daß die anfänglich klaren Linien mehr und mehr undeutlich wurden. Dieser Uebelstand wird dadurch beseitigt, daß die Platte mit Alkohol benetzt wird, welcher tropfenweise aus der betreffenden Flasche zufließt.

Wie schließlich das fertige Phonautogramm benutzt wird, ergiebt sich aus dem in Figur 2 dargestellten „Tongeber“. An der linken Seite sieht man den zum Befestigen und Umdrehen der Zinktafel angeordneten Tisch mit Handkurbelrad. In der eingeätzten Spirale, der Spur, gleitet der Stift des Tongebers und überträgt die Krümmungen der Spirallinie auf die Glimmer- bezw. Faserscheibe, in der er dieselben Töne hervorruft, wie sie seiner Zeit der „Empfänger“ erhielt. Die Vorrichtung ist im Grunde [198] dieselbe wie bei dem Empfänger, nur ist sie kräftiger ausgeführt. Der anschließende Schalltrichter soll nur den Ton verstärken.

In ihrer Verwendbarkeit stehen die beiden Apparate – Phonograph und Grammophon – zur Zeit so ziemlich auf gleicher Stufe. Ein unbestrittener Vorzug des Grammophons besteht darin, daß die Töne stärker hervortreten und ohne Anwendung des beim Phonographen erforderlichen Hörrohres wahrnehmbar sind, obwohl beim Gebrauche des letzteren sich die Wirkung erheblich verstärkt. Dagegen treten beim Phonographen die Nebengeräusche weniger störend auf als beim Grammophon.

Es ist aber die Erwartung wohl berechtigt, daß sich die Leistungen des Grammophons bedeutend steigern werden, wenn bei demselben eine weitere Durcharbeitung der einzelnen Theile und die Verwendung eines Elektromotors zur Erzielung eines gleichmäßigen Betriebes, wie es bei dem Phonographen bereits geschehen ist, stattgefunden hat. Vielleicht gehen dann noch die musikalischen Zukunftsträume, wie sie Bellamy in seinem Rückblick aus dem Jahre 2000 giebt, in Erfüllung, und jeder kann durch einen Druck auf den Knopf der elektrischen Leitung zu jeder Zeit Zuhörer eines Konzertes, einer Aufführung, einer Rede werden und sich erzählen lassen, was die Zeitungen berichten, wobei natürlich alle Personen selbst als Redende vorgeführt werden. – Der Verwirklichung dieser Träume sind wir dadurch ein gutes Stück näher gerückt, daß sich die Berlinerschen Phonautogramme mit Leichtigkeit und haarscharf mittels der Galvanoplastik vervielfältigen lassen.

Außerdem ist vor kurze Zeit eine Erfindung gemacht worden, welche beiden Apparaten, sowohl dem Phonographen als dem Grammophon, zugute kommt. Sie rührt von dem in New-York lebenden Lieutenant Battini her und besteht darin, daß nicht nur die Mitte der elastischen Faser- oder Glimmerplatte zur Aufnahme und Abgabe der Töne benutzt wird, sondern auch anderweitige Stellen der Platte, zu welchen von der Mitte aus hebelartige Verbindungen geführt sind. Oder es werden mehrere, selbständige Platten von verschiedener Größe und Spannung in einem Rahmen vereinigt. Da jede Stelle der Platte ebenso wie jede Platte selbst ein verschiedenes Tongebiet besitzt, so wird der Umfang der Töne viel größer und die Wiedergabe erheblich genauer und stärker, wodurch ein solches Instrument in einem Zimmer gewöhnlicher Größe überall vernehmbar wird.

So werden die Selbstsprechapparate Schritt für Schritt der Vollkommenheit entgegengeführt. H.     


Europas größte Lokomotive.

Es sind nun gerade 40 Jahre her, seit die erste Alpeneisenbahn über den Semmering vollendet wurde. Die Großartigkeit dieser Gebirgsbahnanlage, die ungewöhnliche Linienführung mittels starker Rampen und kleiner Bogen, vor allem aber die Anforderungen, welche damit an die Leistung der Lokomotive gestellt wurden, erweckten die allgemeine Bewunderung dieser ersten Alpenbahn.

Nachdem durch die Ueberschienung des Semmeringgebirges zwischen Gloggnitz und Mürzzuschlag die Möglichkeit eines geregelten Bahnbetriebes unter schwierigen technischen und klimatischen Verhältnissen nachgewiesen war, erfolgte bald die Ausführung anderer großer Gebirgsbahnen, die an Kühnheit der Anlage die Semmeringbahn zum Theil noch übertrafen.

Zwischen Innsbruck und Bozen wurde der Brennerpaß überschient, und zwischen Modane und Susa der Mont Cenis, oder richtiger der Col de Frejus durchbohrt. In Italien wurden die kühnen Gebirgsbahnen über die Apenninen angelegt und im schweizerischen Jura der Hauenstein bezwungen.

Die neue Doppel-Lokomotive der Gotthardbahn.

Das großartigste Denkmal der zeitgenössischen Eisenbahn-Ingenieurkunst ist aber die Deutschland und Italien durch die Centralschweiz verbindende Gotthardbahn, während außerhalb Europas die amerikanischen Anden- und Cordillerenbahnen zu erwähnen sind, in Asien die Bahn über den Suram in Kaukasien, auf der Linie Poti-Tiflis, und diejenige durch die Schluchten des Bolanpasses in Beludschistan, welche vom Indus nach der Hochebene von Pishin führt.

Der anstandslose Betrieb der genannten Bahnen wurde aber nur dadurch ermöglicht, daß schwerere Lokomotiven als gewöhnlich, d. h. Maschinen von größerer Adhäsionskraft und Verdampfungsfähigkeit, zur Anwendung gelangten.

Die gegenwärtige Normal-Lokomotive der großen europäischen Gebirgsbahnen hat in der Regel vier gekuppelte Achsen und wiegt unter Dampf 50 bis 56 Tonnen (zu je 1000 kg), während die Vorräthe von Speisewasser und Kohlen auf einem Tender von 25 bis 30 Tonnen Vollgewicht untergebracht sind. Eine derartige Lokomotive vermag auf einer Steigung von 1:40 mit einer Bahnkrümmung von 180 Metern Halbmesser eine Gesammtlast von etwa 150 Tonnen, ausschließlich Maschine und Tender, zu bewältigen.

Auf Bergbahnen mit starkem Verkehr sind aber in der Regel schwerere Züge zu befördern, abgesehen davon, daß die Witterungsverhältnisse sehr oft größere Maschinenkräfte erheischen, und man ist alsdann zur Verwendung von „Vorspann“ oder „Schub-Lokomotiven“ gezwungen; oft genügen selbst die zwei Maschinen nicht mehr und es muß eine dritte zu Hilfe genommen werden. Es ist ganz klar, daß ein solcher Nothbetrieb, wie er besonders im Winter vorkommt, weder sparsam noch sicher ist, und thatsächlich ist ein derartiger Zug in langen Kehrtunneln, wo die Maschinenführer einander nicht sehen können, beständig in Gefahr. Auch auf den Bahnen des Flachlandes sind viele und große Unfälle auf die Verwendung von Vorspann-Lokomotiven zurückzuführen. Es handelte sich somit darum, durch eine außerordentlich leistungsfähige Maschine den Vorspanndienst möglichst einzuschränken, wenn nicht ganz zu umgehen, und diese Aufgabe wird gelöst durch den Bau von sogenannten Doppel-Lokomotiven, bei welchen die Vorräthe von Speisewasser und Kohlen auf die Maschine selbst verlegt sind.

Eine solche Doppel-Lokomotive wurde nun im Januar d. J. im Eisenwerk Hirschau von J. A. Maffei in München für die Gotthardbahn vollendet, und da diese Riesenmaschine im dienstfähigen Zustande 85 Tonnen wiegt, so ist dieselbe weitaus die größte Lokomotive, welche bis dahin in Europa gebaut und in Betrieb gesetzt worden ist.

Die Grundzüge der neuen Lokomotive sind auch dem Laien verständlich, wenn folgendes beachtet wird. Die Größe einer Lokomotive wird hinsichtlich Breite und Höhe beschränkt durch das sogenannte „Normalprofil des lichten Raumes“ oder das „Ladeprofil“ und zwar so, daß auf den Bahnen des Vereins deutscher Eisenbahnverwaltungen keine Maschine über 3,15 m breit und über 4,57 m hoch, am Schornstein gemessen, sein darf. Eine erhebliche Vergrößerung der Lokomotive kann somit nur in der Längsrichtung erfolgen und sie bedingt gleichzeitig eine entsprechende Vermehrung der Achsen, deren Anzahl außerdem durch die zulässigen Schienendrucke – welche in Deutschland 14 Tonnen auf die Achse nicht übersteigen dürfen – bestimmt werden muß. Ferner erfordert das freie Befahren der Bahnkrümmungen eine gewisse Biegsamkeit des verlängerten Laufwerkes, was durch Drehgestelle erreicht wird. Denkt man sich nun eine sechsachsige Maschine, bei welcher die vorderen drei Achsen in einem Drehgestell liegen und mit eigenem Antrieb versehen sind, so ergiebt sich die allgemeine Anordnung der neuen Riesen-Lokomotive der Gotthardbahn, wie sie durch die obenstehende Abbildung veranschaulicht ist.

Die Vorrathsräume der Maschine fassen 8 Tonnen Speisewasser und 4 Tonnen Kohlen, während ihre Länge, von Puffer zu Puffer gemessen, 14 m beträgt.

Aehnlich konstruirte Maschinen nahmen bereits vor 40 Jahren am Semmeringwettbewerb, welcher damals von der österreichischen Regierung veranstaltet wurde, theil; später wurde das System wieder aufgenommen und verbessert durch den englischen Lokomotiveningenieur Fairlie in London und den elsässer Ingenieur Meyer in Mülhausen, während die neue Lokomotive der Gotthardbahn nach den Patenten des in Paris lebenden Ingenieurs Anatole Mallet aus Genf ausgeführt ist. Sämmtliche Konstruktionspläne wurden indeß ganz selbständig in Maffeis Eisenwerk [199] Hirschau angefertigt, weshalb die Maschine immerhin auch mit einigem Rechte als ein Erzeugniß der deutschen Lokomotivenindustrie angesehen werden darf.

Das neue Lokomotivsystem ist nicht nur für den verstärkten Dampfbetrieb von Gebirgsbahnen von Bedeutung, sondern überhaupt für alle Eisenbahnen, auf denen ein gesteigerter Verkehr durch kräftigere Lokomotiven, und zwar ohne größere Inanspruchnahme des Oberbaues, bewältigt werden soll. Das Bedürfniß nach größeren Zugkräften auf unseren Bahnen wird immer dringender: die Güterzüge werden immer schwerer, während der Personenverkehr infolge der um sich greifenden Tarifermäßigungen im steten Wachsen begriffen ist. Die Bahnverwaltungen sind so gezwungen, die Leistungsfähigkeit ihrer Anlagen zu erhöhen, und dahin gehört auch eine entsprechende Mehrleistung, also eine Vergrößerung der Lokomotiven. Adolf Brunner.     


Der neue Präsident des Reichsgerichts.

Es ist noch nicht so lange her, daß der 80. Geburtstag des langjährigen Präsidenten des obersten deutschen Gerichtshofes, Eduard von Simsons, festlich begangen wurde und dem mit Recht gefeierten Manne aufrichtige Huldigungen eintrug. Schon damals wurden Stimmen laut, daß sich der Mann, der über ein halbes Jahrhundert für die Wohlfahrt und den Ruhm seines Vaterlandes thätig gewesen war, in das Privatleben zurückziehen wolle. Und die Gerüchte wurden zur Wahrheit, Eduard von Simson hat das Amt eines Präsidenten des Reichsgerichtes niedergelegt. Als er 1879 auf diese Stelle berufen wurde, lag bereits ein vielbewegtes Leben hinter ihm, aus dem die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1888 ihren Lesern einige Züge vorgeführt hat. Nicht nur als akademischer Lehrer im Dienste der Rechtswissenschaft, sondern vor allem auch im öffentlichen Leben hatte er sich immergrünen Lorbeer verdient. Er war es, der als Präsident der Frankfurter Nationalversammlung an der Spitze der Kaiserdeputation im Frühjahr 1849 Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone antrug, er war es, der in dem denkwürdigen Erfurter Parlament von 1850 als Präsident die Verhandlungen leitete, der 1861 bei der Krönung Wilhelms I. in Königsberg als Präsident des preußischen Volkshauses die Glückwünsche der Nation darbrachte, der 1867 bis 1874 das Präsidium erst des norddeutschen, dann des deutschen Reichstages führte, und der seit 1879 bis jetzt als ein Muster treuester Pflichterfüllung, als ein Mann von Milde und Thatkraft unserem höchsten Tribunal vorgestanden hat. Es war eine schwierige Aufgabe, einen Ersatz für Simson zu finden. Das Augenmerk des deutschen Kaisers, welcher nach dem Gerichtsverfassungsgesetz auf Vorschlag des Bundesrathes den Präsidenten zu ernennen hat, richtete sich auf den Mann, dem die nachfolgenden Zeilen gewidmet sind.

Reichsgerichtspräsident O. v. Oehlschläger.
Nach einer Photographie von Jul. Braatz,
Hofphotograph, in Berlin.

Der neue Reichsgerichtspräsident und bisherige Staatssekretär des Reichsjustizamtes, O. von Oehlschläger, ist als der Sohn eines ostpreußischen Rittergutsbesitzers am 16. Mai 1831 geboren, vollendet also demnächst sein 60. Lebensjahr. Er betrieb seine Studien in der Rechts- und Staatswissenschaft an der Universität Königsberg, die er Ostern 1850 bezog. Im Jahre 1858 wurde er zum Gerichtsassessor ernannt und war in Schwetz und Löbau zunächst als Richter thätig, um dann die staatsanwaltschaftliche Laufbahn einzuschlagen, auf die ihn Neigung und Befähigung besonders hinwiesen. Diese Laufbahn führte ihn schließlich nach der „Stadt der reinen Vernunft“ zurück, indem er als Erster Staatsanwalt beim Stadtgericht in Königsberg angestellt wurde. Schon während seiner Thätigkeit als solcher war man im preußischen Justizministerium auf den intelligenten, mit juristischem Scharfsinn und eisernem Fleiße begabten Beamten aufmerksam geworden und behielt ihn für einen höheren Posten im Auge. Mittlerweile war die glorreiche Erhebung Deutschlands und seine Einigung nach dem deutsch-französischen Kriege erfolgt, und es galt nunmehr, die Reichsjustizgesetze, welche für ganz Deutschland einheitliche Rechtsgrundsätze schaffen sollten, vorzubereiten. Bei der bunten Wirthschaft, welche bisher auf dem Rechtsgebiete in den deutschen Staaten geherrscht hatte, war das keine kleine Aufgabe, denn es galt, Bestimmungen zu treffen, welche für alle Bundesstaaten, für Nord und Süd, für Ost und West, sich als praktisch und durchführbar erweisen sollten. Zur Mitarbeit an diesem wichtigen Reformwerke erschien Oehlschläger der Regierung besonders geeignet. Er wurde im Januar 1874 als vortragender Rath in das preußische Justizministerium berufen und entfaltete in dieser neuen Würde eine erfolgreiche, fruchtbringende Thätigkeit. Bis zum Dezember 1879 gehörte er dem Körper des Justizministeriums an. In dieser Periode seines Schaffens trat er auch der parlamentarischen Thätigkeit näher, obwohl er einer bestimmten politischen Partei zum Unterschied von seinem Vorgänger Simson, der zur nationalliberalen Fahne hielt, wohl niemals angehört hat. Er hatte vielfach die Regierung im preußischen Landtage und besonders in der Reichsjustizkommission des deutschen Reichstages zu vertreten. So ist seinem Wirken und Streben ein nicht zu unterschätzender Antheil an der neuen Prozeßgesetzgebung zuzuschreiben, und sein Name wird mit diesen Gesetzen auch in Zukunft genannt werden müssen.

Im Dezember des Jahres 1879 wurde er durch den Titel eines Wirklichen geheimen Oberjustizraths geehrt und als Generalauditeur an die Spitze der Militärjustiz der Armee und Marine gestellt. Es war dies ein neuer Beweis des hohen Vertrauens, welches man an höchster Stelle auf seine Leistungsfähigkeit setzte. Bis zum Jahre 1884 verblieb Oehlschläger in seinem neuen Amte, am 1. Januar 1885 aber wurde er zum Präsidenten des Kammergerichtes in Berlin, das zu den angesehensten Gerichtshöfen Deutschlands zählt und auf eine große Vergangenheit zurückblickt, ernannt. Daneben erfolgte seine Ernennung zum preußischen Kronsyndikus und seine Berufung in das Herrenhaus, wie auch bei der Wiedererrichtung des preußischen Staatsrathes Oehlschläger ebenfalls nicht unter denen fehlte, welche zu Mitgliedern dieser hohen Gemeinschaft auserlesen wurden. Durch Kaiser Friedrich III. in den Adelsstand erhoben, rückte Oehlschläger, als im Jahre 1889 der Justizminister von Friedberg zurücktrat und Schelling an seinen Posten beordert wurde, zum Staatssekretär des Reichsjustizamtes vor, zu derjenigen Stellung, Welche er bis jetzt bekleidet hat. Der neue Reichsgerichtspräsident ist außerdem Vorsitzender der Kommission, welche behufs Vornahme einer zweiten Lesung des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich eingesetzt worden ist.

Otto von Oehlschläger übernahm bereits am 28. Februar sein neues Amt; am 2. März leistete er vor den versammelten Präsidenten, Räthen, Reichs- und Rechtsanwälten des Reichsgerichts den vorgeschriebenen Diensteid und sprach die Worten „So stehe ich denn fortan auf der höchsten Warte des Reichs, um Wacht zu halten zum Schutze des Rechts, über Deutschland Wacht zu halten mit Ihnen, meine Herren. Denn so ist meine Auffassung von unserer Aufgabe, daß wir zusammenwirken sollen, jeder für seinen Berufsantheil; alle gleichwerthig und gleichberechtigt sollen wir im Bunde zusammenwirken im Streben und Ringen nach der Rechtswahrheit!“ Solche Gesinnung gibt uns die Gewähr, daß auch unter seiner Führung das Reichsgericht das bleiben wird, was in der von Kaiser Wilhelm II. vollzogenen und in den Grundstein des neuen Reichsgerichtsgebäudes versenkte Urkunde von ihm zu lesen ist. „Zum Wohle des Volkes soll es ein unabhängiger Hüter des im Deutschen Reiche geltenden Rechtes sein!“ Hermann Pilz.     


[200] ----

Blätter und Blüthen.


Altdeutsche Spiele. (Zu den Bildern S. 184, 185 und 200.) „Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen,“ sagt ein Sprichwort, dessen Wahrheit zu allen Zeiten und auch zu denen unserer Ahnen in der Aera der Völkerwanderung galt.

Es ist bekannt, zu welch erstaunlicher Höhe es die alten Germanen in der Gewandtheit der Waffenführung gebracht haben. Wer die Sage von dem nordischen König Olav Trygvason liest, findet darin eine Liste von Kunststücken, deren Ausführung noch heute jedem Jongleur Ehre machen würde. Sigmund Bretison warf Schild und Schwert mitten im Kampfe hoch in die Luft, fing sie mit entgegengesetzten Händen auf und focht links weiter. König Olav besiegte den berühmten Messerwerfer Endridi, indem er mit drei Messern Fangeball spielend den äußersten Bord eines segelnden Schiffes umwandelte. Auch Teja, der tapfere Gothenkönig, gab den Truppen des Narses mit Speer und Schwert auf muthigem Rosse ein ähnliches Schauspiel vor der unglücklichen Entscheidungsschlacht. Solche Heldenkunst der Waffen zu erlernen, dazu bedurfte es der Uebung von klein auf. Und so sehen wir auch auf unserem Bilde die zwei prächtigen Jungen, wie sie eifrig und unter theilnehmender Aufmerksamkeit der Freunde und Hausgenossen mit ihren kleinen Wurfäxten nach zwei Scheiben auf starken Bohlen werfen. Aber mischt sich nicht etwas wie Sorge in die Züge des Vaters, der seinem Sohne zuschaut? Mit der Waffe hat er sich sein neues Heim erkämpft in Hispanien, im sonnigen Süden, der den Körper verweichlicht. Ein fremder Meister hat die Beile geschmiedet, die nicht im entferntesten den Schwung haben wie das geschwungene schmalschneidige Frankenbeil der Heimath, die gefürchtete Francisca; aber die Jungen, sie trafen doch recht hübsch. Das zeigen die Scheiben.

Wohl darf der Vater mit sorgendem Blick der Knaben Spiel verfolgen. Denn für ihn liegt ein verzweifelter Ernst in der Frage, wie die einst werden würden, die nach ihm den Boden festhalten sollen, den sein Geschlecht erstritten.

Kleine germanische Steinbeile in natürlicher Größe.

Wie wir aber die beiden künftigen Helden auf unserem Bilde so wacker Arm und Auge üben sehen, so war es auch schon früher, so war es schon um ebensoviele Jahre vor der germanischen Einwanderung in Spanien, als zwischen dieser und der Gegenwart liegen. Aber woher wissen wir das? Wo ist der Geschichtschreiber, wo das Zeichen, das uns von solch entfernten Zeiten Kunde giebt?

Wir erfahren es von den zwei kleinen Steinbeilchen, die wir hier nebenan in natürlicher Größe abbilden. Sie befinden sich in der großherzoglichen Sammlung von Neustrelitz und beweisen uns, daß schon der Urahn der Steinzeit seinem Sohne die kindliche Waffe schuf, daran er sich übe, um einst den Großen es gleichzuthun. Und wie der Vater auf unserem Bilde den „hohen Sinn im kind’schen Spiele“ fühlt, so mag auch der Vater, der unsere Steinbeilchen schliff, sie mit ernsten Gedanken seinen Buben in die Hände gegeben haben. Damals waren solche körperlichen Waffen noch die ersten im Kampfe ums Dasein.

Ernest Meissonier. (Zu dem Bilde S. 193.) Am 31. Januar ist zu Paris in dem hohen Alter von nahezu achtzig Jahren der berühmteste französische Maler der Neuzeit, Jean Louis Ernest Meissonier, an den Folgen einer Lungenkongestion gestorben. In der Zwischenzeit hat sich viel leidenschaftliche Erregung an diesen Todesfall geknüpft, denn das Schreiben des deutschen Kaisers an die Französische Akademie in Paris. welches die große Bedeutung des Künstlers feierlich anerkannte, ging ja direkt den bedauerlichen Ereignissen voraus, die unsern Lesern aus der Tagespresse hinlänglich bekannt sind. Wie sehr aber chauvinistische Verblendung und politische Hetzerei uns Deutschen die gerechte Würdigung des verstorbenen Malers erschwert hat, zumal nachdem sogar dessen Witwe sich in taktlosester und lügenhafter Weise an jenen deutschfeindlichen Kundgebungen betheiligt hat, so wollen wir doch auch in diesem Falle jene Eigenschaft nicht verleugnen, welche uns Deutschen immer zur Ehre gereicht hat, die Eigenschaft, gegen fremdes Verdienst, selbst über politische Verfeindung hinweg, gerecht zu sein. Die künstlerische Bedeutung Meissoniers überragt die niedrige Atmosphäre jener Verhetzungen weit. Er ist derjenige Maler, der an äußeren Ehren und an äußerem Gewinn vielleicht am meisten durch seine Kunst erreicht hat; gewiß nicht mit Unrecht, denn die Sicherheit und Reinheit seiner Zeichnung, die Schärfe der Beobachtung, die hochgesteigerte Technik, die packende Charakteristik der Figuren, alles wirkte zusammen, seinen Werken ihren beispiellosen Erfolg zu sichern. Das Bild „1814“, welches Napoleon I. an der Spitze seines Stabes düsteren Angesichts auf regendurchweichter Straße daherreitend vorstellt, wurde im vorigen Jahre von dem ehemaligen Besitzer des Louvremagazins Chauchat um die riesige Summe von 850000 Franken erworben. Mit besonderer Vorliebe pflegte Meissonier die Miniaturmalerei; seine Bildchen sind oft von geradezu komischer Kleinheit, so daß sie sich fast von der Fläche einer Manneshand bedecken lassen; die Berechnung, daß ein Quadratmeter von Meissonier bemalter Leinwand die runde Summe von 23/4 Millionen Franken koste, klingt daher durchaus nicht unwahrscheinlich.

In die Klasse dieser Miniaturmalereien gehört auch das Bild, welches wir heute unsern Lesern vorführen, „Der Kunstliebhaber“ oder, wie Meissonier es taufte, „L’amateur des gravures“. Es stellt einen Mann in Rokokotracht dar, der mit höchstem Interesse ein Kunstblatt mustert, während wir uns in seinem Genossen entweder einen Händler oder einen gleich begeisterten Sammler denken können.

Die Vertheilung von Kartoffelland an Berliner Arme. (Zu dem Bilde S. 181.) Die Berliner Armenverwaltung vertheilt die nicht unbedeutenden Landstrecken, welche sie in unmittelbarer Nähe der Stadt besitzt, an Bedürftige behufs Kartoffelanbaus. Das Land wird immer nur für den Zeitraum eines Jahres abgegeben. Jedem einzelnen wird sein Stück Land genau zugetheilt, damit jede Streitigkeit ausgeschlossen ist. Nach der Besitznahme beginnen die Inhaber mit Aufrichtung einer Hütte, die zur Aufnahme der Werkzeuge, Kleidungsstücke und Lebensmittel bestimmt ist, ja nicht selten sogar den Familien während des Sommers als Herberge zur Nachtzeit dient.

Die Grundstücke liegen vor den Thoren der ärmeren Stadttheile im Norden, Osten und Südosten. Zum Schönhauser und Frankfurter Thor wallen an den Sonntagen in der Frühe ganze Scharen mit Hacke und Schaufel hinaus, um anzupflanzen, später zu häufeln und endlich zu ernten. Ist es so weit, dann ist die fröhlichste Zeit für diese kleinen Pächter gekommen. Der Hundewagen wird angespannt und er trägt die Säcke heim, in denen die Frucht gesammelt ward. Der erste Schmaus „Pellkartoffeln und Häring“ mundet diesen „Landleuten“ Berlins herrlich, denn doppelt schön schmeckt, was der eigene Fleiß zeitigen half.

Vielfach giebt die Berliner Armenverwaltung auch noch die Saatkartoffeln dazu – in diesem Jahre z. B. hat sie nicht weniger als 2723 Centner aufgewendet – und meistens fällt die Ernte so gut aus, daß nicht nur die Bebauer selbst genug haben, sondern noch eine gute Portion verkaufen können. Wenn der Magistrat das so verwendete Land verpachten würde, könnte er nur einen kleinen Zins erhalten, während er auf diese Weise Segen in großem Umfange stiftet. Vielleicht bietet sich da und dort den Stadtverwaltungen Gelegenheit, das höchst zweckmäßige Verfahren Berlins nachzuahmen zum Wohle der Bedrängten.



Inhalt: Eine unbedeutende Frau. Roman von W. Heimburg. (11. Fortsetzung). S. 181. – Vertheilung von Kartoffelland an Berliner Arme. Bild. S. 181. – Altdeutsche Spiele. Bild. S. 184 und 185. – In den Felsengebirgen von Colorado. Von Rudolf Cronau. S. 188. – Mit Abbildungen S. 188 und 189. – Morphium- und Cocainsucht. Von Dr. H. Otto. S. 191. – Truggeister. Roman von Anton von Perfall. (11. Fortsetzung). S. 192. – Der Kunstliebhaber. Bild. S. 193. – Dreimal selig bist Du doch! Gedicht von Albert Kleinschmidt. S. 197. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit: Das Grammophon. Mit Abbildungen. S. 197. Europas größte Lokomotive. Von Adolf Brunner. Mit Abbildung S. 198. – Der neue Präsident des Reichsgerichts. Von Hermann Pilz. Mit Bildniß. S. 199. – Blätter und Blüthen: Altdeutsche Spiele. S. 200. (Zu den Bildern S. 184, 185 und 200.) – Ernest Meissonier. S. 200. (Zu dem Bilde S. 193.) – Die Vertheilung von Kartoffelland an Berliner Arme. S. 200. (Zu dem Bilde S. 181.)


Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen Reichspostamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig).

manicula Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefern wir incl. Porto für 30 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir mit der Bestellung in Briefmarken einzusenden.
Die Verlagshandlung.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.