Die Gartenlaube (1891)/Heft 11
[165]
Nr. 11. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Eine unbedeutende Frau.
Tante Polly stand endlich auf dem kleinen Perron des dörflichen Bahnhofes und fragte den Beamten, wo denn Sibyllenburg liege.
„Da oben, am Berge, gutes Madamchen, wo das Dhirmchen über die Bäume guckt. Gehen Sie da nur egal ’nauf, und weiter oben müssen Sie noch ä paarmal fragen, beschreiben kann man’s so nicht.“
„Können Sie mir nicht sagen, wem Sibyllenburg gehörte?“ fragte sie weiter.
„Ja, sehen Sie, Madame, das ist vielemale in andere Hände gekommen in den letzten paar Jahren, ’s ist so ein richtiges altes Unglücksnest. Ich bin nur neugierig, wie lange der es behält, wenn er so fort macht.“
„Wer denn?“ forschte Tante Polly.
„Jussnitz heißt er, soll so’n Maler sein.“
Der alten Frau begann es schwindelig zu werden – und da war Hildegard?!
Sie murmelte einen Dank und ging weiter. Alle Entführungsgeschichten, die sie je in Romanen gelesen und die ihr die Hernicken heute nacht erzählt hatte, rasten, lebendig geworden, in ihrem Kopf umher. Ach, Tante Polly konnte ja gleich selbst ins Wasser springen, denn jede Schuld würde ihr beigemessen
[166] werden. Sie hatte es ja immer gesagt, daß in den Zweidorfschen Mädchen leidenschaftliches Blut stecke, und – ach, Großer Gott, sie hatte recht behalten! Wenn das der Berger noch erlebt hätte! Trau doch einer den Menschen – wie hatte das Mädchen stolz gethan, und er – Gott verzeih’ ihm, daß er so ein armes unerfahrenes Ding betrügt!
Athemlos langte sie vor der schmiedeeisernen Pforte an, sie war gelaufen, als gälte es, einem mit dem Tode Ringenden Hilfe zu bringen. Und da lag hinter dem kahlen Geäst der Linden das Schlößchen und sah so reich und wohnlich aus. Hinter den Fenstern schimmerten Spitzengardinen, und an einem der oberen blühte ein Flor von Hyazinthen und Maiglöckchen, ein ganzer Frühling; aber das Frauenhaupt über den bunten Blumen da droben, das blonde Frauenhaupt, an das sich ein lockiges Kinderköpfchen schmiegte, sah Tante Polly nicht.
„Wünschen?“ fragte ein in blauen Sammetbeinkleidern und lederfarbenem Tuchrock einherstolzirender Diener, der auf das Klingeln erschienen war.
„Ist vielleicht ein Fräulein hier? Zweidorf heißt sie.“
„Jawohl!“
„Ich bin die Tante und möchte sie gern sprechen.“
„Sehr wohl – wollen Sie nicht eintreten –“
Tante Polly folgte dem Manne in das Haus; von droben sah Antje sie hineingehen. Die junge Frau war aus der Kirche heimgekehrt, in ihr kleines Stübchen geflüchtet und hatte sich mit der Maus ans Fenster gesetzt, das Herz voll von Sorgen und Angst, aber auch wieder voll Mut und Zuversicht. „Das wird wohl die Tante sein, Maus,“ sagte sie.
Ein Weilchen verging, dann kam der Diener zu Antje herein und berichtete, Fräulein von Zweidorf weigere sich, ihre Tante zu empfangen, und die alte Frau weine so sehr und bäte immer wieder, sie doch zu dem Fräulein zu führen; aber die habe ihr Zimmer verschlossen.
Antje gab den Auftrag, die Tante zu ihr zu bringen; sie setzte die Kleine auf den Teppich und ging Tante Polly entgegen, die mit ebenso verweintem als verwundertem Gesicht auf der Schwelle erschien.
Ich habe das Vergnügen mit Frau Berger – ? fragte Antje.
„Zu dienen,“ stotterte die kleine, ganz aus der Fassung gebrachte Frau.
„Und ich bin Frau Jussnitz,“ fuhr Antje freundlich fort, „wollen Sie nicht Platz nehmen und ein wenig den Mantel aufmachen? Sie möchten Ihre Nichte gewiß wieder mitnehmen, und Fräulein Hilde fühlt sich verletzt und weigert sich – nicht wahr? Sie hätten aber auch nicht gleich so strenge sein dürfen, als mein Mann und ich sie Ihnen gestern nacht bringen wollten; nicht jeder kann das vertragen.“ Antje lächelte dabei und knüpfte der alten Frau die Bänder des Hutes auf. Tante Polly ließ es wortlos geschehen, selber hätte sie es vor Aufregung doch nicht zustande gebracht.
„Fräulein Hildegard hat unter meinem Schutz eine kleine Gesellschaft besucht,“ fuhr Antje fort, „sie stellte ein lebendes Bild in ihrem spanischen Kostüm, um meinem Mann – der sie malt, wie Sie wissen – eine Freude zu machen. Wohl hätte sie Ihnen das sagen lassen sollen; aber die Sache kam ganz plötzlich – nicht wahr, Sie sind dem armen Kinde nicht mehr böse, und Sie erlauben auch, daß sie einige Wochen bei uns bleibt?“
Tante Polly saß stumm auf dem Sofa, sie fand noch immer kein Wort. Sie konnte es noch nicht fassen, daß sie hier vor der Frau des Mannes stehe, der, wie sie fest angenommen hatte, Hilde liebte und wieder von ihr geliebt wurde. Nun hatte die Sache eine andere Wendung genommen, eine bessere – ja, Gott sei gelobt! aber – das Kind, das arme Kind!
„Wir haben gar nicht gewußt,“ stotterte sie in ihrer Verwirrung, „daß Herr Jussnitz verheirathet ist – entschuldigen Sie nur, ich dachte – ich glaubte –“
Antje sah sie erblassend an; ihr schmerzlich verwunderter Blick traf die alte Frau ins Herz und ließ sie einen Schimmer von der Wahrheit ahnen.
„Das heißt – wir haben uns nicht darum bekümmert,“ fuhr sie ungeschickt fort, „was geht uns das auch an? Hilde hatte ja mit Herrn Jussnitz gar nichts weiter zu thun, als eben nur still zu stehen, wenn er sie malte, und ich ging dann immer mit, und da – wissen Sie, gnädige Frau – da haben wir auch nicht grad viel gesprochen, denn Herr Jussnitz malt immer so eifrig, und wir hatten dann auch immer Eile, heim zu kommen; sonst leben wir so stille, und die Leute, die wir kennen, die kennen Herrn Jussnitz auch nicht, und so ist’s geschehen, daß wir gar nicht wußten, daß Herr Jussnitz eine Frau hat. Wenn’s die Hilde gewußt hätte, wäre sie wohl mal herausgekommen und hätt’ Sie begrüßt, gnädige Frau, weil ja doch Herr Jussnitz ihre Familie kennt, und –“ Sie schwieg, vollständig athemlos und verwirrt.
„Mein Mann ist so mit Leib und Seele bei seinem Beruf, daß er, wenn er malt, ganz naheliegende Dinge vergißt,“ meinte Antje lächelnd, mit blassen Lippen. „Das dürfen Sie ihm nicht übelnehmen, liebe Frau Berger, es ist keinesfalls eine Unart gegen Fräulein Hildegard beabsichtigt gewesen, als er mich nicht erwähnte oder sie nicht aufforderte, mich zu besuchen. Er ist eben einfach völlig hingenommen von seiner Arbeit, dem schaffenden Künstler verschwindet die Außenwelt.“
Und sie stand auf und holte die Kleine. „Komm, gieb der Dame die Hand; finden Sie nicht, Frau Berger, daß sie meinem Manne sehr ähnlich sieht?“
„Ja, ja!“ sagte Frau Polly, die Augen voll Thränen, und strich mit der Hand über den Kopf des Kindes. „Entschuldigen Sie nur, Frau Jussnitz, ich möchte doch versuchen, die Hildegard zu sprechen. Ich bin ihr gar nicht böse, mich dauert sie nur, und ich meine, es ist besser, sie geht mit mir; ich möcht’ ihr’s doch einmal vorstellen.“
„Ich werde Sie gern hinüberbringen und Fräulein Hilde zu bewegen suchen, daß sie aufschließt,“ erwiderte Antje.
Als die junge Frau sich vor der Thür des Mädchens meldete, ward aufgethan, und Frau Polly schob sich hinein.
Es war ein sehr freundliches Zimmer, in dem sich Hildegard befand. Ganz mit buntem Cretonne ausgeschlagen, bildete es eine Art Zelt; Bett, Sofa, Sessel waren mit gleichem Stoff bekleidet. Ein weicher blumiger Teppich bedeckte den Fußboden und dort an dem hohen Spiegel, der bis zur Erde reichte, wiegte sich noch der soeben verlassene Schaukelstuhl. In dem zierlichen kaminartigen Ofen flackerte das Feuer.
„Bist Du’s wirklich?“ entfuhr es Tante Polly, hinter der sich die Thür geschlossen hatte; und sie staunte das schlanke schöne Mädchen an, das in einem losen blaßrosa Morgenkleid von Antje – demjenigen, welches sich die junge Frau einst bestellt hatte, um ihren Mann zum Hochzeitstage darin zu überraschen, und das sie doch nie getragen hatte, so neu und überraschend schön aussah, als hätte ein geschmackvoller Schneider das Gewand eigens für sie erfunden.
Hildegard stand mit sehr verschlossenem Gesicht da, die Lippen aufeinander gepreßt. Aber Tante Polly hatte längst vergessen, daß sie böse gewesen; sie dachte nur noch daran, daß dem Kinde dort eine große schöne Hoffnung zertrümmert worden war. „Du armes Ding Du,“ sagte sie mitleidig, und die Thränen flossen ihr aus den Augen, „hätt’ ich’s nur so gewußt, wie ich’s jetzt weiß, kein böses Wort hättest Du gehört – sei wieder gut, meine Hilde, und komm mit nach Hause, Du kannst doch hier nicht bleiben!“
Aber Hilde war weder eine von denen, die Beleidigungen leicht vergessen, noch gehörte sie zu jenen, die Mitleid ertragen. „Ich bleibe hier, Tante,“ sagte sie kühl, „und wenn mein Bild fertig ist, dann gehe ich wahrscheinlich – –“ Sie stockte und wickelte das rosa Seidenband ihres Kleides verlegen um die Finger.
„Hilde, was willst Du hier? Laß das Bild – er mag sehen, wie er es fertig bekommt. Wozu Dir noch so schwere Tage machen? Es thut mir in der Seele weh, wenn ich Dich ansehe; es ist so ein himmelschreiendes Unrecht, daß er Dir nicht gesagt hat, er sei verheiratet. Komm, Hilde, hier ist Deines Bleibens nicht!“
„Ich weiß nicht, was Du willst, Tante?“ sagte sehr langsam die junge Nichte. Die erblaßten Lippen bewegten sich kaum. „Ich – –“
„Hilde, denk’, Dein Vater stände vor Dir! Nicht wahr, dem könntest Du nichts ableugnen? Sei auch offen gegen mich! Du bist dem Menschen gut geworden – kannst Du es leugnen? Herr Gott, Kind, schüttle nicht den Kopf – in all der Zeit hat’s ja jeder Zug in Deinem Gesicht, jeder Schritt von Dir verrathen! Ich bitt’ Dich, Kind, komm mit, Du darfst hier nicht bleiben.“
[167] „Ich habe nie an ihn gedacht,“ sagte Hilde ebenso langsam wie vorhin; und sie wandte sich um dabei und schritt dem Fenster zu.
„Hilde, das ist eine Lüge!“ sprach Frau Polly Berger fest, und auf ihrem Gesicht lag ein feierlicher Ernst, „es ist eine Lüge! Du bist ihm gut, und er Dir! Ich bin eine alte Frau und weiß, wie es zugeht im Leben. Du aber thust eine furchtbare Sünde, wenn Du hier bleibst, eine Sünde gegen Dich, gegen ihn und gegen die Frau da drüben und ihr kleines Kind. Ueberlege doch um Gotteswillen, was soll daraus werden!“
„Ich verbitte mir, daß Du so Schlechtes von mir denkst,“ rief Hilde, dunkelroth erglühend, und ihr Fuß trat den Teppich. „Muß denn alles hinabgezogen werden in den Staub? Kann denn gar keine Beziehung mehr in der Welt von Mensch zu Mensch bestehen, ohne daß man mit schmutzigen Händen danach greift? Allerdings bin ich meinem Lehrer gut, allerdings hält er viel von mir – ist das etwas Böses? Ich verbitte mir alle gehässigen Auslegungen!“
Die kleine Tante sah ganz erstarrt aus vor Schreck. War es denn möglich, daß sie sich so geirrt hatte? Aber nein, es war nur der Stolz, dieser alte Zweidorfsche Stolz, der das Mädchen trieb, ihre Neigung sowohl wie ihre herbe Enttäuschung zu verleugnen; der sie trieb, hier zu bleiben, damit er glaube, daß er ihr gleichgültig sei, daß es sie keineswegs unglücklich mache, ihn neben seiner Frau zu sehen. Es hatte ja keine Ahnung, dieses arme dumme Ding, an welchem Abgrund es da einherwandelte, und Tante Polly blutete das Herz, wenn sie die Spuren namenloser Seelengual, die großen dunklen Ringe unter den Augen des Mädchens und den kleinen zuckenden Mund sah.
„Hilde,“ begann sie noch einmal, „ich will’s ja glauben, daß Du Dir nichts besonderes aus ihm machst; an Deiner Stelle würde ich aber hier doch nicht bleiben, Du mußt es ja gemerkt haben, daß Du ihm gefällst! Du kennst das Leben noch nicht! – Du willst gewiß nichts Böses, aber Du weißt gar nicht, wie leicht etwas zwischen ein Ehepaar kommt, wenn so ein Drittes im Hause ist. Das sind so eigenthümliche Sachen, Hilde; oftmals nur Kleinigkeiten, an denen aber doch das Wohl und Wehe einer ganzen Familie hängt. Hilde, Du erinnerst Dich gewiß, wie er Dich immer angeschaut hat – bleibe nicht hier, folge mir, ich hab’s doch nie schlecht gemeint mit Dir, wenn ich auch manchmal heftig wurde, hab’ immer meine Pflicht gethan, so gut ich’s konnte. Wenn Du nur diesmal ein ganz klein wenig Vertrauen zu mir haben möchtest!“
„Du siehst Gespenster, Tante!“ erklärte Hilde unerbittlich, „ich wäre undankbar und albern, wenn ich nicht hier bliebe.“
Tante Polly schwieg ein Weilchen und folgte ihrer Nichte mit den Augen, die langsam auf und ab ging. „Die junge Frau da drüben hat so blaß ausgesehen, Hilde, so, als ob sie geweint hätte,“ sagte sie endlich.
„Grundgütiger! Soll ich etwa auch daran schuld sein?“ rief das Mädchen stehenbleibend und die Hände ineinander schlagend.
„Vielleicht – man kann’s nicht wissen, Hilde.“
„Sie hat mich aber selbst gebeten, hier zu bleiben – damit das Bild fertig gemalt wird!“
„Ach Kind, es bittet manchmal eine mit dem Munde um etwas, und ihr Herz schreit nach dem Gegentheil.“
Hilde hielt sich ärgerlich die Ohren zu. „Ich weiß schon, was ich thue, Tante, und nachher geht ein Brief an Papa ab, der den Deinigen erläutert. Papa kennt mich besser als Du.“
„Aber Hilde, was denkst Du denn? Ich habe ja gar nicht geschrieben, ich werde doch nicht! Ich habe das doch nur im Zorn behauptet gestern abend –
– komm’, Kind, komm’ mit!“„Ich bleibe!“ rief das Mädchen ärgerlich. „Ginge ich mit Dir, so würde ich förmlich eingestehen, daß ich –“
„Daß Du ihn lieb hast und weggehst, weil er Dich hintergangen hat, und weil Du viel zu stolz bist und zu gut, um –“
„Er hat mich nicht hintergangen und ich – ich liebe ihn nicht!“ unterbrach Hilde sie heftig.
„So rasch kann Dir einer gleichgültig werden, Hilde? Ist es denn möglich? Täuschst Du Dich nicht?“
„Bitte, es ist genug, Tante. Ich bleibe hier und damit gut! Sei so freundlich und packe mir meine paar Sachen zusammen und schicke sie mir heraus.“
„Du wirst Dich aber arg verwöhnen,“ sagte Tante Polly ernsthaft nickend. „Wer mal so etwas –“ sie zeigte auf das Gewand, das Hilde trug – „angehabt hat, dem ist’s hinterher ungemüthlich in seinen alten bescheidenen Kleidern. Nun, so leb denn wohl, Hilde; an Deinen Vater schreibe ich nun doch, und ich will ihm sagen –“
„Daß Du schuld bist, wenn ich hierher kam, sag’s ihm nur!“ rief das vor Zorn weinende Mädchen.
„Ja! Aber auch alles andere, und daß Du die Hand nicht hast nehmen wollen, die Dich hinausgeführt hätte aus Deinem Irrsal, und daß Du die Ohren zugehalten hast vor den Worten, die Dich warnten. Leb wohl, Hilde, und guck fleißig der jungen Frau da drüben nach den Augen, laß sie nicht weinen!“ – Und Tante Polly barg schluchzend das Gesicht in ihr Taschentuch und ging der Thür zu. Dort aber übermannten sie noch einmal Zorn und Angst und sie wandte sich um. „So mach denn, was Du willst, in des Kuckucks Namen! Hören wollen hast Du ja nicht!“ – Dann flog die Thür hinter ihr zu und sie stieg, roth vor Schmerz und Aerger, die Treppe hinunter und verließ, ohne sich von Antje zu verabschieden, Haus und Hof.
Antje sah sie gehen, wie sie sie hatte kommen sehen, und ein Seufzer entschlüpfte ihr. Die kleine rundliche Person trippelte so eilig und so hastig fort, so wie eines geht, das im Zorne geschieden ist. Hilde hatte sich wohl nicht versöhnt mit ihr; sie blieb im Hause!
Ja, sie blieb im Hause! Aber vorläufig sah man nichts
von ihr. Sie sei so angegriffen, war ihre Entschuldigung, wenn
sie aufgefordert wurde, zu Tische zu kommen. Und als Antje
dann zögernd ihre Schritte hinauflenkte, fand sie das junge Mädchen
auf dem Ruhebette liegend und zur Zimmerdecke emporschauend.
Die Frage nach ihrem Befinden ward mit kurzem Dank beantwortet; Antje saß dann stumm noch einige Zeit bei ihr oder
richtete eine höfliche Anfrage an sie: ob es ihr gefalle im Zimmer,
ob sie ordentlich bedient werde – um ein „Danke – ja!“ darauf
zu hören und dann zu gehen, froh, wenn sie wieder drüben in
ihrem einsamen Stübchen sein durfte.
Dem jungen Mädchen waren durch Tante Polly ihre Habseligkeiten zugestellt worden, und als am zweiten Weihnachtsfeiertage Antje pflichtschuldigst bei Hilde eintrat, hatte das Zimmer ein ganz verändertes Ansehen bekommen. Das Mädchen hatte all ihren bescheidenen Tand dazu verwendet, ihr neues Heim mit einem gewissen künstlerischen Geschmack zu verzieren. Ihre Aquarellskizzen lauschten aus den Falten der Wanddraperie; volle Büschel großer rother Mohnblumen, die sie täuschend natürlich aus Papier nachzubilden verstand, hingen über den Bilderrahmen und prangten in den Vasen des Kamins. Am Fenster hatte die Staffelei Platz gefunden, und sie selbst stand im schwarzen Kaschmirkleidchen vor dem Spiegel und band sich eine breite buntgestreifte römische Schürze um die Taille, so, daß die langen Enden der Bänder, am Rücken verknüpft, einen lebhaften Ausputz für den schlichten Rock bildeten.
„Wie nett Sie das gemacht haben!“ sagte Antje; sie erhielt aber keine andere Antwort als ein langgezogenes „O!“ Hildegards, das bescheiden kingen sollte, aber sehr unartig erschien. „Werden Sie heute abend mit uns essen?“ fragte Antje dann mit unveränderter Freundlichkeit.
„Wenn Sie erlauben – ja!“
„Und heute nachmittag? Wollen Sie spazieren gehen?“
„Ich schreibe Briefe.“
„Dann auf Wiedersehen um acht Uhr. Die Herren, die nach auswärts zum Essen geladen sind, erwarte ich zwischen sechs und sieben zurück. Auf Wiedersehen!“
Auch Antje setzte sich zum Schreiben nieder; sie wollte einen längst begonnenen Brief an ihre Mutter vollenden. Aber der Eintritt des Dieners unterbrach sie.
„Gnädige Frau, da ist jemand, der durchaus den Herrn sprechen will; er besteht darauf, ihn zu erwarten.“
„Wer ist es denn?“
„Grabe heißt er; er fragt auch, ob er vielleicht die gnädige Frau sprechen könnte.“
Antje bejahte.
Ein paar Minuten später erschien ein hagerer, ziemlich elegant aussehender Mann, der sich als Geschäftsführer einer [168] Dresdener Antiquitätenhandlung vorstellte und damit begann, sich zu entschuldigen, daß er gerade an solchem Tage stören müsse. Er habe aber geglaubt, auf diese Weise nach vielen vergeblichen Versuchen Herrn Jussnitz bestimmt zu treffen, und die gnädige Frau möge entschuldigen, daß er – – es geschehe ja nur aus zwingenden Gründen – die Firma befinde sich in augenblicklicher Verlegenheit –
„Bitte, sprechen Sie doch unumwunden,“ bat Antje, „was wünschen Sie?“
„Wenn es möglich wäre – die Begleichung unserer Forderung, gnädige Frau.“
„Hat mein Mann die Rechnungen für die Einrichtung seines Ateliers in Dresden noch nicht berichtigt?“
„Wir haben nicht die Ehre gehabt, ein Atelier in Dresden für Herrn Jussnitz ausstatten zu dürfen. Es ist noch – es gehört zur hiesigen Einrichtung, gnädige Frau.“
„Wie?“ fragte Antje und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn, die sie plötzlich erglühen fühlte.
„Jawohl, gnädige Frau. Herr Jussnitz hat für sein Atelier hier einige seltene Stücke angekauft vor nunmehr zwei Jahren, und – wie schon gesagt – sind wir nicht mehr in der Lage, länger zu stunden.“
„Ich werde mit meinem Manne sprechen,“ sagte Antje. „Geben Sie mir die Rechnung – wie hoch ist der Betrag? Ich weiß in der That nicht, wann mein Mann nach Hause zurückkehrt.“
Der höfliche Mann überreichte ihr eine offene Nota. „Herr Jussnitz versprach bestimmt, bis zum ersten Oktober dieses Jahres zu zahlen. Leider erfüllte er dieses Versprechen nicht, und –“
Antjes erschrecktes: „Aber, mein Herr!“ ließ ihn verstummen. Sie hatte die Rechnung angesehen und blickte nun mit blassem Gesicht den vor ihr Stehenden an. „Achttausend Mark!?“
„Achttausend Mark, gnädige Frau.“
Sie wandte sich um und legte die Rechnung auf den Tisch. „Ja, es ist recht, ich erinnere mich,“ sprach sie mühsam. „Mein Mann wird die Angelegenheit ordnen, noch vor Neujahr – ich – er – –.“ Sie legte einige Bücher von einem Platz zum andern. „Also Herr Jussnitz wird – ich danke Ihnen, mein Herr.“
Der Fremde hatte wohl geglaubt, er werde das Geld sofort erhalten.
„Gnädige Frau – vielleicht eine Abschlagszahlung,“ begann er, „damit man doch wenigstens –“
„Mein Herr, ich kann in dieser Sache nichts ohne meinen Mann thun,“ sagte sie kurz und bestimmt, „ich werde ihm heute abend die Rechnung übergeben, das ist alles, was ich vorläufig versprechen kann.“
„Sehr wohl, gnädige Frau.“
Der Geschäftsführer hatte längst das Zimmer verlassen, als Antje noch immer still dasaß. Endlich langte sie noch einmal nach dem Zettel des Kunsthändlers.
„Ein Fächer, Watteau, aus dem Nachlaß von Marie Antoinette – dreitausend Mark –“ das mußte jenes zerbrechliche Dingelchen sein, das in ihrem Rokokoboudoir halb geöffnet auf dem verschnörkelten Tischchen lag, so zufällig, als wäre es eben dort vergessen. – Dreitausend Mark!
„Ein Gobelin, echt flandrisch, fünfzehntes Jahrhundert, Maria von Burgund zur Jagd ausreitend.“
Antje erinnerte sich an das verblichene graugrüne Gewebe, das zwischen den Bildern im Atelier hing und nur undeutlich noch eine Edeldame zu Roß mit dem Falken auf der Hand erkennen ließ. Das war mit zweitausend Mark verzeichnet!
Und nun kamen noch einige Waffen und eine Rokokouhr. Auch diese stand in Antjes Boudoir; sie trug als Schmuck eine rosenbekränzte Schäferin mit Hirtenstab und Lämmchen, und hinter einem Rosenbusch kauerte ein Amor: fünfzehnhundert Mark!
Die junge Frau blieb mit gefalteten Händen sitzen. Sie dachte an ihren alten Vater, wie er gearbeitet hatte und wie bescheiden er gewesen war in seinen Ansprüchen, wie schwer er sich einst entschlossen hatte, von seinem mühsam verdienten Gelde einen etwas eleganteren Wagen anzuschaffen, weil es ja eigentlich Luxus sei und weil man doch in der alten halbverdeckten Kutsche so gar glückliche Fahrten miteinander gemacht habe. Ach, es ist so schrecklich, wenn man jemand liebt und wird zu Vergleichen gezwungen, die zu seinen Ungunsten ausfallen!
Der alte ursolide Bürgersinn der Freys bäumte sich in ihr auf; es war ihr, als müßten die Leute mit Fingern auf sie weisen überall, wo sie sich blicken ließ. Ach Gott – aber was waren alle diese Sorgen gegen den Schmerz, der ihr gestern geworden war!
Der „Dreizehnte“ bei Tisch! Das ist wohl das verbreitetste Beispiel einer ganzen Gruppe von Wahngebilden des Aberglaubens, die mit zäher Kraft sich im Alltagsleben der „gebildeten“ Gesellschaft forterhalten. Das Unglück aufzufassen als Fluch, der auf den „Pechvögeln“, gewissen Dingen und Situationen haftet: schier unausrottbar erhält sich diese Neigung aller Aufklärung und Bildung zum Trotz. Der vorurtheilslose Mensch lächelt wohl halb überlegen, halb mitleidig über das einzelne Vorkommniß, will er aber gegen diesen Aberglauben ankämpfen, welche Fülle „erwiesener Thatsachen“ und selbsterlebter Beispiele, gegen die er waffenlos ist, dringt dann auf ihn ein!
Vor einiger Zeit lief die Mittheilung durch die Zeitungen, der Aberglaube der nordamerikanischen Eisenbahnbeamten habe es dahin gebracht, daß die Lokomotive 1313 der Pennsylvania-Eisenbahn außer Betrieb gestellt worden sei. Schon die Nummer war eine unheimliche; die Maschine hatte aber angeblich auch in der That merkwürdig viel Unglück angerichtet, sodaß es dem gesammten Betriebe vor ihr graute. Gleich auf ihrer ersten Fahrt tödtete sie zwei Kinder. Im Sommer 1888 riß sie, von der Latrobebrücke hinabstürzend, einen Zug in die Tiefe, wobei der Maschinist, der Heizer und zehn andere Personen ums Leben kamen, zwölf Personen verwundet und sechs Wagen zerschmettert wurden. Ausgebessert, stieß sie kaum einen Monat später in der Nähe von Manor mit einem Güterzug zusammen. Es gab einen Todten, drei Verwundete und eine Anzahl zertrümmerter Wagen. Wenige Wochen nach diesem Unfall platzte der Kessel der Lokomotive und schleuderte Lokomotivführer und Heizer in die Lüfte, den ersteren tödtend, den andern schwer verwundend. Nach der Wiederherstellung rannte die Maschine abermals in einen andern Zug und that großen Schaden. Dann wurden nacheinander drei Menschen überfahren. Zuletzt platzte eine auf der Maschine gebrauchte Oelkanne und verletzte Lokomotivführer und Heizer schwer. Das alles wird der Unglückslokomotive nachgesagt, und weil, wie erwähnt, niemand mehr mit ihr fahren wollte, so rangirte man sie aus.
Amerika heißt die Neue Welt; aber in der neuen Welt, so scheint es, geht’s zu wie in der alten. Ist das nicht eine alte abgedroschene Geschichte, dieses verhängnißvolle Dampfroß der Pennsylvania-Eisenbahn?
Im Alterthum hatte man noch keine Eisenbahnen und kein Dampfroß, aber mit den lebendigen Rossen ungefähr ebensoviel Aerger wie die Menschen der Neuen Welt mit ihren Maschinen. Es gab im weiland Römischen Reich ein Pferd, einen fatalen Klepper, eine Schandmähre sondergleichen, verhängnißvoller als das hölzerne Trojanische Pferd, das war das Pferd des Sejus. Ich weiß nicht, ab es eine Schecke gewesen ist wie das Roß, vor dem Oktavio Piccolomini seinerzeit den Wallenstein gewarnt hat – unansehnlich war es angeblich nicht, aber wer es nicht kannte, mochte Gott dafür danken! Die edlen Römer, die es nach einander besaßen, hatten nichts als Unglück von ihm, allen seinen Reitern brachte es Verderben.
Der erste Besitzer war Cnejus Sejus, von dem es den Namen hatte: er wurde von Marcus Antonius, dem nachmaligen Triumvir, während des zweiten Bürgerkrieges zum Tode verurtheilt und starb auf dem Schafott.
Von Sejus erbte es Dolabella, der Schwiegersohn Ciceros, selbst ein sauberes Früchtchen. Der ließ sich im Iahre 43 v. Chr. in Laodicea, als die Stadt von Cassius genommen ward, von einem seiner Soldaten tödten, um nicht in die Hände der Feinde zu fallen. Cassius hätte alles nehmen sollen, nur das verwünschte Roß nicht, er nahm es doch, und so geschah es, daß er sich nun nach seiner Niederlage bei Philippi ebenfalls durch einen Freigelassenen tödten ließ.
[169]
[170] Ein Unstern spielte das Unglücksthier dem Sieger Marcus Antonius selber in die Hände und er machte es zu seinem Leibroß; die Folge war, daß er bei Actium verspielte und sich dann, auf die falsche Nachricht vom Selbstmord der Kleopatra hin in sein eigenes Schwert stürzte.
Der Ruf des alten Rackers war nun hinreichend begründet, niemand mochte mehr den „Equus Sejanus“ reiten; endlich kaufte ihn doch noch Publius Nigidius Figulus, ein Philosoph und ein Gelehrter, der dem Teufel Trotz bieten wollte und auf des Rosses Rücken den Peloponnes durchquerte; als er mit ihm über den Eurotas setzte, stieg und bockte das Vieh plötzlich, stieg und bockte, stieg und bockte und begrub sich mitsammt dem Philosophen in den Wellen des angeschwollenen Gießbachs. Roß und Reiter sah man niemals wieder! Nun hatte die Menschheit Ruhe, aber die Erinnerung an den Unglücksgaul wich nicht aus dem Gedächtniß der antiken Welt, und wenn jemand ein rechter Pechvogel war, so hieß es, er habe das Pferd des Sejus.
Es giebt zweierlei Pechvögel: solche, die selber Unglück und – daher kommt eben der Ausdruck – wie gefangene Finken Pech (Vogelleim) an den Federn haben; und solche, die andern Pech oder Unglück bringen. Die letzteren nennt man lieber „Unglücksvögel“, französisch des Porte-malheur, Unglücksbringer. Der Gedanke ist der, daß ein Individuum, ein Thier, ein Ding in sich selbst Unglück enthalte, das Unglück anziehe wie der Magnet das Eisen und es allen bringe, die ihm nahe kommen. Wie ein Hufeisen dem Finder Glück bringt, daher man an vielen Orten, zum Beispiel in San Francisko, die Zimmer mit vergoldeten Horse-shoes ausschmückt, auf welche die Worte „Good Luck“ (Gut Glück) oder „Porte Bonheur“ (Bring Glück) geschrieben sind, so kennt der Aberglaube der Völker andre Dinge und, wie wir eben sahen, ganze Pferde, die das Gegentheil bewirken. Man denke an den verhängnißvollen, verfluchten goldenen Ring des Zwergs Andwari, den „Andwaranaut“, welchen Richard Wagner in den Ring des Nibelungen verwandelt hat, oder an einen neueren Goldreif, den Ring des verstorbenen Königs Alfons XII. von Spanien, an dessen Person sich die Sage überhaupt mit Vorliebe gehängt hat.
Bei seiner Hochzeit, am 23. Januar 1878, schenkte der König seiner Gemahlin Maria de las Mercedes, der dritten Tochter des Herzogs von Montpensier, einen kleinen Ring, welchen diese sechs Monate, bis zu ihrem Tode (26. Juni 1878), trug. Nach dem Ableben der Königin gab Alfons das Ringchen seiner Großmutter, die wiederum binnen kurzem starb. Das Kleinod fiel der Infantin del Pilar, der Schwester des Königs, zu: sie starb bereits einige Tage darauf. Zum zweiten Male wieder im Besitz des Ringes, schenkte ihn König Alfons der Infantin Christine, seiner Schwägerin, der zweiten Tochter des Herzogs von Montpensier. Drei Monate später war die Infantin todt. Nun entschloß sich der König, den Ring selbst zu tragen, und er that das bis zu seinem Tode (25. November 1885). Ietzt rechnete man in Spanien aus, daß im Laufe weniger Jahre zwei Königinnen, zwei Infantinnen und ein König an dem Ringe zu Grunde gegangen seien – niemand wollte ihn mehr in Verwahrung nehmen. Man gerieth schließlich auf den Ausweg, das Kleinod der Schutzpatronin von Madrid, der heiligen Jungfrau von der Einsamkeit, zu weihen, steckte jedoch den Ring auch der Mutter Gottes nicht an den Finger, sondern hing ihn dem Gnadenbilde an einem Bande um den Hals.
So wurde ein Halsband geschaffen – ein Halsband war wiederum im Alterthum berüchtigt, so berüchtigt wie das Halsband der Königin Marie Antoinette, und der Ring König Alfons XII. hat in der klassischen Zeit ein merkwürdiges Gegenstück in dem Halsband der Harmonia, der Tochter des Ares und der Aphrodite.
Ich will die lange Reihe der armen Schelme, die sich mit dem Halsband der Harmonia schmückten, nicht aufzählen, genug: es ruhte ein Verhängniß auf dem Geschenk, selbst dann noch, als es der letzte Erbe Akarnau im Tempel der Athene Pronoia zu Delphi aufgehängt hatte. Hier stahl es der Tyrann Phayllus, um es seiner Geliebten, der Gemahlin des Ariston, zu geben. Diese trug es eine Weile, aber plötzlich wurde ihr Jüngster verrückt, steckte ihr das Haus über dem Kopfe an, das Weib kam mit allen seinen Schätzen und dem leidigen Halsband in den Flammen um.
Mit Halsbändern und Ringen, mit Pferden und Lokomotiven sind die Quellen des Unglücks für den naiven Glauben der Völker noch immer nicht erschöpft; vielmehr sind angeblich als solche gewisse Menschen selber anzusehen. Ich denke hier nicht an die alte Hexe, die uns den Tag verdirbt, weil sie uns beim ersten Ausgang am frühen Morgen begegnet ist – ich denke auch nicht an den seltsamen Druck, den die Gegenwart gewisser Persönlichkeiten auf gewisse andere Persönlichkeiten ausübt und der meist auf das Gefühl der Ueberlegenheit von der einen Seite zu schieben ist. Es giebt ja Männer, die in einer bestimmten Gesellschaft sozusagen ihre Selbständigkeit verlieren, unsicher werden, weder so gut reiten, noch so gut schießen, noch so gut reden wie sonst; Shakespeare drückt das so aus, daß der Geist, der sie beschütze, ihr Dämon, gleichsam schüchtern und wie überwältigt werde. Einen solchen Druck übte zum Beispiel Cäsar Octavianus auf Marcus Antonius aus, den der Wahrsager warnte. „Fliehe ihn“, sagte der tiefe Menschenkenner,
„Versuche du mit ihm, welch Spiel du willst,
Gewiß verlierst du; sein natürlich Glück
Schlägt dich, wie schlecht er steht; dein Glanz wird trübe,
Strahlt er daneben: noch einmal, dein Geist,
Kommt er ihm nah, verliert den Muth, zu herrschen,
Doch ihm entfernt, erhebt er sich –“
Nein, ich denke an etwas ganz anderes, psychologisch Unerklärliches.„“
Zu allen Zeiten hat man geglaubt, daß gewisse Menschen, ja ganze Menschenklassen an sich und unter allen Umständen Unglück bringen. Man schiebt dabei das Mißgeschick besonders auf das Auge, den „Bösen Blick“ des Unglücksbringers, man glaubt in der halben Welt, bei Deutschen, Russen, Griechen, Italienern, Juden, an die Bannkraft des Auges und hat bereits im klassischen Alterthum daran geglaubt. In Rußland schreibt man, wie Turgenjew erzählt, den Geistlichen die Gabe des bösen Blickes zu. „Ein Pope hat mich heute besucht,“ sagt Fimuschka, „und siehe da, gleich ist die Sahne sauer geworden!“
Indessen scheint mir der Blick nur ein sinnlicher Ausdruck für die Gegenwart der ganzen Person zu sein, die gleichsam Unglück ausströmt; des Blickes bedarf es gar nicht, um den Unglücksvogel fertig zu machen, er wirkt an sich selbst. Jedenfalls ist der Blick nur ein Mittel des Bösen, es einem anzuthun, wie z. B. das sogenannte Berufen oder das Beschreien eines ist; es bedarf aber auch gar keiner Mittel – die bloße Erscheinung des Unglücksvogels, seine Anwesenheit genügt, das Schicksal zu entfesseln und eine endlose Reihe von Widerwärtigkeiten hervorzubringen. Wenn der Tausendsasa im Zuge sitzt, passiert ein Unglück, sogut wie bei der Lokomotive 1313; geht er ins Theater, so brennt es ab, und macht er die Partie mit, so regnet’s. Was sollen wir von solchen angeblichen Unglücksbringern, solchen Unglücksvögeln halten? – Daß sie selber Unglück haben!
„Es giebt keinen Zufall; und was uns blindes Ohngefähr nur dünkt, gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.“ So sagt der abergläubische Wallenstein. Aus Quellen steigt freilich alles: es geschieht nichts ohne Ursache, und was wir Zufall nennen, ist sicher ebenso nothwendig, ebenso gesetzmäßig wie jede natürliche Erscheinung überhaupt. Es kommt nur darauf an, welche Quellen man suchen und ob man als Ursache gelten lassen will, was die gemeine Stimme den Ereignissen unterzuschieben liebt, oder ob man sich bescheidet, daß die wahre Ursache vorläufig noch unbekannt und die Absicht, die aus dem Zusammentreffen gewisser Umstände hervorzuleuchten scheint, eben nur ein Schein sei. In diesem Sinne kann man behaupten, daß fast alle Irrthümer des Menschengeschlechts vom Zufall herkommen und daß die Aufgabe der Wissenschaft darin bestehe, die zufällige Natur von Dingen aufzudecken, die der Laie, durch falsche Vergleichungen verführt, mit seinen phantastischen Erklärungen abgethan zu haben glaubt.
Wenn eine Prophezeiung merkwürdigerweise eintrifft, zum Beispiel der Fürst Poniatowski, wie vorausgesagt, durch eine Elster stirbt oder König Heinrich IV. von England, wie vorausgesagt, sein Leben in „Jerusalem“ beschließt, das heißt in einem Zimmer dieses Namens, so glaubt die Menge an die Gabe der Weissagung. Der Weise aber sagt: es ist Zufall.
Man glaubt, daß es im Leben der einzelnen und der Völker vollkommene Unglückstage gebe, an welchen alles mißlingt, man mag anfangen was man will, und jede Unternehmung scheitert. Die Römer hatten ihre Dies atri, ihre „schwarzen Tage“ und ihre Dies Allienses, d. h. Unglückstage wie denjenigen, da sie von den Galliern an der Allia besiegt wurden. Die Juden betrachten den Monat Ab, unserem Juli oder August entsprechend, als den [171] schwärzesten Monat des Jahres, denn zweimal in diesem Monat, und zwar beide Male am 9. Ab, ward der Tempel zu Jerusalem zerstört.
Erst neuerdings hat man daran erinnert, welch verhängnißvolle Rolle der Monat Januar in der Geschichte der belgischen Königsfamilie spielt. Als am 1. Januar 1890 der Königspalast von Laeken in Flammen stand, rief die Königin, als man ihr den Brand meldete: „Ach, der Monat Januar bringt uns immer Unglück!“ Das ist nicht unbegründet, wie aus folgenden geschichtlichen Daten hervorgeht: Im Januar 1867 wurde Kaiserin Charlotte von Mexiko, die Schwester des Königs, wahnsinnig infolge der übermäßigen Anstrengungen und Aufregungen, welchen sie sich unterzogen hatte, um den wankenden Kaiserthron ihres Gemahls zu stützen; am 23. Januar 1869 starb der einzige Sohn des Königs, der Kronprinz und Herzog von Brabant; im Januar 1881 wurde das königliche Schloß, in welchem die Kaiserin Charlotte wohnte, durch einen Brand zerstört; am 30. Januar 1889 endete im Drama von Meyerling der Schwiegersohn des Königs, Kronprinz Rudolf von Oesterreich; am 1. Januar 1890 wurde das königliche Schloß von Laeken ein Raub der Flammen, und am 23. Januar 1891, am gleichen Tage wie der frühere Kronprinz, starb der neue Kronprinz, der Neffe des Königs, Prinz Balduin.
In Bayern, im Salzburgischen, im Elsaß fürchtet man die sogenannten Schwendtage, das heißt die Unglückstage; besonders mannigfach ist die Tagewählerei bei den Russen und Finnen, Indern, Chinesen und Japanern. Wenn sich so mehrmals Schlimmes an einem und demselben Tag ereignet, so schiebt es die Menge mit dem Herzog von Friedland auf die Gestirne, auf eine himmlische „Influenza“ (das Wort bedeutet eigentlich den Einfluß der Gestirne), auf das Fatum und auf alle möglichen geheimnißvollen Mächte; der Weise aber sagt: es ist Zufall. Wenn ein einzelner Mensch vom Unglück verfolgt wird – und wer wollte das Vorhandensein außergewöhnlicher Pechvögel leugnen, die im Grase stolpern, auf den Rücken fallen und sich die Nase brechen? – so hält sich das Volk an den Stern, unter dem dieser Mensch geboren, an die blinde Fortuna und an die Vorherbestimmung. Der Weise behauptet: es ist Zufall! Warum sollte sich nicht infolge von Bedingungen, die wir nicht kennen, das Gute und das Böse, das im allgemeinen gleichmäßig vertheilt ist, einmal zusammendrängen können, daß es dicht beisammen steht und, nach einem italienischen Ausdruck, ein „Sack von Unglück“ draus wird? Als der liebe Gott die Gebirge säte, so erzählen sie in der Türkei, und er gerade über Montenegro war, bekam der Sack ein Loch – so geht’s! Wie kann man immer gleich wissen, daß der Sack ein Loch hat!
Item: auch bei den sogenannten Unglücksvögeln, von denen das Volk das Pech anderer herleitet, wird der verständige Mann nichts weiter bewundern als das Spiel des Zufalls – wohl eingedenk, daß der Aberglaube, einmal befestigt, allerdings eine wirkliche Macht wird und durch die Furcht, die er einflößt, die Befangenheit und Unsicherheit, die er erzeugt, thatsächlich Schaden bringen kann. Laßt es einmal ruchbar werden, daß die Lokomotive der Pennsylvania-Eisenbahn verhext sei, so verliert der Lokomotivführer den Kopf und ein neuer Eisenbahnunfall folgt. Und das ist eben bei Menschen das Traurige, daß, wenn sie einmal das Unglück haben, für Unglücksbringer angesehen zu werden, sie nun auch wirklich Unglück anziehen. Denn ein Unglück und ein belangloser Zufall ist es ja doch nur, was das Pferd des Sejus und das Halsband der Harmonia und die Leute mit dem bösen Blicke in Verruf gebracht hat – eines jener räthselhaften Zusammentreffen, von denen das Leben voll ist, die der gesunde Menschenverstand verachten sollte, weil sie nach den Regeln der Mathematik gelegentlich eintreten müssen, die nichtsdestoweniger den Leuten den Kopf nur allzuoft verwirren und die bedauernswerthen Unglücksvögel noch bedauernswerther machen, als sie sind. Soviel herzbrechendes Elend mit ansehen zu müssen und immer dazu zu kommen, wenn etwas Schlimmes passiert, ist an sich schon Mißgeschick genug. Es noch dazu verschulden zu sollen, hat etwas Uebermenschliches. Das Sprichwort sagt: ein Unglück kommt selten allein. Wenn es aber in Gesellschaft eines und desselben unschuldigen Menschen wiederholt kommt, was ist daran erstaunlicher, als wenn sich zwei Fußgänger auf der Oranienbrücke zu Berlin zweimal begegnen?
Man hat berechnet, daß auf derselben täglich durchschnittlich 79 932 Menschen verkehren.
Die Blumen des Paradieses.
Im farben– und formenreichen Hofstaate Floras beanspruchen die Orchideen eine besonders ausgezeichnete Stellung. Mit Recht, denn keine andere Familie vereinigt in sich soviel des Schönen und Merkwürdigen in Gestalt, Färbung und Duft wie diese. Man hat die Falter wohl „fliegende Blüthen“ genannt – „erstarrte Schmetterlinge“ könnte man nicht unpassend zahlreiche Orchideenblumen nennen, bunte Gaukler der Lüfte, die, aus fröhlichem Getümmel herab auf die schwanken Zweige sich niederlassend, plötzlich durch den Zauberspruch einer geheimnißvollen Macht hier festgebannt wurden und seitdem nur noch eine Art Traumleben führen wie das Dornröschen des deutschen Märchens. Die stets geschäftige Volksphantasie geht noch weiter: da sollen einige Blüthen Fliegen und Mücken, andere wieder Bienen und Spinnen täuschend ähneln, sogar Vögel werden zum Vergleich herangezogen. Ein „Botaniker“ der alten Zeit, Hieronymus Bock, sagt in seinem 1552 erschienenen „Kreutterbuch“ von einer Ophrys-Art, der „Stendelwurz“, hinsichtlich ihrer Blüthe: „Das unterst Theil vergleicht sich einer Horneß oder Bremmen, das oberst sicht gleich einem Vögelin mit seinem Haupt und aufgethonen Flügelen.“ Bei diesem Vergleiche läßt unser alter Kräutermann es aber nicht bewenden, allen Ernstes behauptet er, die genannte Pflanze leite ihren Ursprung nicht etwa aus Samen, sondern – worauf räth man wohl? – von den Drosseln her! Einige Orchideen, unter ihnen das seltsame „Vogelnest“ (Neottia nidus avis), galten im Mittelalter für sichere Mittel, sich unsichtbar zu machen, die Wurzelknollen anderer wieder schützten, in die Kleidung eingenäht, ihren Träger vor dem gefürchteten „bösen Blick“ oder erwarben ihm die Zuneigung seiner Mitmenschen. Auch in den Religionsbräuchen einzelner Völker spielen die Orchideen eine Rolle. Bei den alten Griechen war eine Art, Kosmosandalon genannt, der Demeter heilig und wurde bei den sommerlichen Festen der Göttin von den andächtigen Wallern als Kranz getragen; im Vaterlande der schönsten Orchideen, in Mexiko, schmückten die Eingeborenen ihre Tempel und Götterbilder mit den herrlichen Blumen. Dort waren überhaupt von jeher diese Pflanzen beliebt, während es im alten Indien dem Volke untersagt gewesen sein soll, Orchideen zu besitzen und sich mit deren prächtigen Blüthen zu bekränzen! Der Herrscherfamilie sowie der höchsten Aristokratie habe dies Recht allein zugestanden.
Daß man von altersher besonders den stark duftenden Arten unter den Orchideen Geschmack abzugewinnen gesucht hat, versteht sich von selbst. So dienen die getrockneten Knollen einer Anzahl europäischer wie asiatischer Gattungen seit lange zur Gewinnung des, wenigstens früher, sehr geschätzten „Salep“, einer Art nahrhaften Mehls. Die getrockneten Blätter einer auf der Insel Mauritius heimischen Orchidee, Angraecum fragrans, die sich durch starken Wohlgeruch auszeichnet, liefern ein angenehmes Aufgußgetränk, den „Fahamthee“, der eine Zeitlang sogar zu den immer wieder auftauchenden „unfehlbaren Mitteln“ gegen die Schwindsucht zählte. Keine Gattung aber hat als Genußmittel eine solche Bedeutung gewonnen wie die Vanille. Die schotenförmigen Früchte der in Mexko einheimischen Vanilla planifolia gehören ja zu den beliebtesten, aromatischesten aller Gewürze. Das Gewächs, von den alten Azteken mit dem anmuthigen Namen tlilxochitl belegt, gehört zu den Kletterpflanzen und gedeiht daher nur dort, wo recht hohe weitverzweigte Bäume ihm Gelegenheit geben, dem angeborenen Triebe zu genügen. Von Mittelamerika wurde die Vanille nach Java verpflanzt, wo sie zwar üppig gedieh, aber anfänglich keine Schoten erzeugen wollte. Lange suchte man vergeblich nach der Ursache hiervon, bis man fand, daß sie im Fehlen gewisser Insekten auf Java liege, die in der Heimath die Blüthen der Vanille
[172] aufsuchen. Diese geflügelten Boten verschleppen die stark klebrigen Pollenstaubmassen der einen Blüthe auf die Narbe einer andern und bewirten dadurch die Fruchtbildung. Es blieb nichts anderes übrig, als diesen Vorgang durch die Uebertragung mittels eines feinen Pinsels künstlich nachzuahmen, und seitdem erzeugt die Pflanze auch auf Java die geschätzten aromatischen Schoten.
Bis zum Beginne dieses Jahrhunderts wußte man von der Pracht tropischer Orchideen so gut wie gar nichts. Erst durch A. von Humboldts und Bonplands berühmte Reisen in Süd- und Mittelamerika wurde eine eingehendere Kenntniß dieses Gebietes der Pflanzenkunde angebahnt. Die englischen Botaniker Brown und Lindley namentlich, in Deutschland Endlicher und
Reichenbach, wandten den wunderbaren Blüthen ihr Interesse zu, aber erst Darwin gelang es vor beinahe dreißig Jahren, das Geheimniß der Orchideenblumen völlig zu enträthseln.
Während im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts etwa hundert Arten bekannt waren, zählt man heute über sechstausend, und noch werden alljährlich neue Formen entdeckt. Und nicht allein die feuchtheißen Urwälder der Tropen liefern ihren Beitrag, auch dort, wo niemand die farbenglühenden Blüthen mehr vermuthen würde, in den Anden, 4000 m hoch und darüber, gedeiht eine Anzahl Arten. Auch in Afrika birgt die kältere Hochlandsregion prächtige Orchideen, vor allem die herrliche brennendrothe Disa grandiflora vom Tafelberge.
Die nebenstehende Abbildung, einem Verzeichnisse der Landauer Firma Seeger und Tropp entnommen, führt uns eine schöne, beliebte Treibhaus-Orchidee vor, die auf Bäumen lebende Cattleya citrina mit ihren herrlichen leuchtend gelben Blumenglocken. Bei Phalaenopsis Schilleriana, von welcher wir ebenfalls eine Ansicht beifügen, fällt neben der wundervollen Blüthe die hübsche Zeichnung der Blätter angenehm ins Auge.
Die schönste aller bisher bekannten. Orchideen muß den Schilderungen derjenigen zufolge, welche Gelegenheit hatten, die Blume in ihrer Heimath zu sehen, die Sobralia macrantha sein. Diese herrliche Orchidee Süd- und Mittelamerikas, palmbaumschlank an Wuchs, sendet Schafte bis zu 6 m hoch empor, die über und über mit den großen rosigen Blumen vom köstlichsten Wohlgeruch bedeckt erscheinen. Einer Fee der bergigen Einsamkeit gleich, wiegt sie sich über dem jähen Abgrunde. So führt sie in erhabenster Umgebung, unberührt vom alltäglichen Getriebe, in stets sich erneuernder Frische und Schöne in der That ein Paradiesesleben, und „Flor del Paradiso“ nennen auch die Bewohner des Landes bewundernd die Blume.
Auf diesem naiven Standpunkte der Freude an Farben und Formen, nicht der Orchideen allein, sondern auch aller anderen blühenden Gewächse, verharrte die Mehrzahl der Botaniker vergangener Jahrhunderte. Die bunten Blüthen schienen einzig dazu da, das Auge des Menschen zu erfreuen – ob die glänzende Färbung nicht vielleicht auch zum Leben der Pflanze in irgend einer Beziehung stehen möchte, diese Frage tauchte unter den damaligen Forschern nur höchst vereinzelt auf. Warum schmücken die schlechthin „Blumen“ genannten Gewächse sich mit prächtigen Farben? Würden nicht etwa grünliche, den Laubblättern ähnliche Blüthen dieselben Dienste thun? Weshalb verhauchen viele von ihnen uns angenehme, andere wieder geradezu abscheuliche Düfte? Warum sondern solche Blüthen oft reichliche Mengen süßen Saftes ab? Einen bedeutungsvollen Versuch, diese und ähnliche Fragen zu lösen, unternahm vor nun, mehr beinahe hundert Jahren ein deutscher Botaniker, Christian Konrad Sprengel, Rektor zu Spandau (1750–1816), in seinem von großer Beobachtungsgabe und liebevoller Hingebung an den Gegenstand zeugenden Werke „Das entdeckte Geheimniß der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen“, Berlin 1793. Sein Forschereifer führte ihn bis hart an die Pforte des Blumengeheimnisses, diese selbst zu öffnen, war einem Größeren vorbehalten.
Charles Darwin hat zuerst, 1860, in dem umfassenden Werke „Ueber den Ursprung der Arten“ auf Grund zwanzigjähriger sorgfältiger eigener wie fremder Beobachtungen den Satz ausgesprochen, „daß kein organisches Wesen eine unbegrenzte Reihe von Generationen hindurch sich selbst befruchtet, sondern daß eine Kreuzung mit einem andern Individuum gelegentlich wenn auch vielleicht oft erst nach langen Zeiträumen – unerläßlich für das Fortbestehen der betreffenden Art ist.“ So zeigt sich bei den Blumen, daß die Befruchtung einer Blüthe mit dem Blütenstaub (Pollen) einer andern derselben Art kräftigere und keimfähigere Samen erzeugt, als wenn die Narbe jener Blüthe mit dem Pollen ihrer eigenen Staubgefäße (Antheren) belegt wird. In den weitaus meisten Fällen vermeidet sogar, um mich bildlich auszudrücken, die Natur mit aller Sorgfalt ein gleichzeitiges Reifen der männlichen und weiblichen Blumenorgane, um Eigenbestäubung nach Möglichkeit zu verhindernd. Demselben Zwecke dient auch die ganze Gestaltung der meisten Blüthen, im besonderen der Orchideen. Ja, hier geht in manchen Fällen die Abneigung der Natur gegen die Selbstbefruchtung so weit, daß der eigene Pollen einer Blüthe auf ihre Narbe wie ein tödliches Gift wirkt; sie verschrumpft, von ihm berührt, rasch und die ganze Blume stirbt ab!
Ist somit der Vortheil der Kreuzbefruchtung dargethan, so
[173]schließt sich daran naturgemäß die Frage, welche Kräfte denn in der Natur die Uebertragung des Blütenstaubes von einer Blume zur andern bewirken, und die Antwort darauf lautet: die geflügelten Insekten. Die auffallende Färbung, der starke Duft, oftmals beides im Verein lockt die honigsuchenden hungrigen Kerfe, Schmetterlinge, Bienen, Hummeln etc. zu den Blüthen hin, wo, ohne ihr Wissen und Wollen, sich ihren bepelzten Leibern eine gewisse Menge des befruchtenden Pollenstaubes anheftet, den sie alsbald, eine andere Blüthe aufsuchend, auf deren Narbe abstreifen. Blumenfarben wie -düfte sind also von höchster Bedeutung für die Pflanzen, welche zu erfolgreicher Bestäubung des Insekenbesuchs nicht entbehren können. Völlig überflüssig aber würden glänzende Tinten und große Blüthenhüllen dort sein, wo große Mengen trockenen, leicht verstäubenden Pollens gebildet und vom Winde den weiblichen Organen zugeführt werden. Daher suchen wir umsonst bei den Gräsern, den Nadelhölzern, der Hasel, der Eiche etc. nach wirklichen Blumen – sie würden hier gar nicht in Wirksamkeit treten können, denn was sollen dem Winde Farben und Duft? So ergiebt sich naturgemäß die Unterscheidung der blüchentragenden Gewächse nach „Insektenblüthlern“ (Entomophilen) und „Windblüthlern“ (Anemophilen).
Die Orchideen sind ausgesprochene Insektenblumen. Viele von ihnen haben sich bis zu dem Grade ganz bestimmten Kerbthieren bezüglich ihrer Blütheneinrichtung nach Form, Farbe und Umfang angepaßt, daß ein plötzliches Aussterben jener Geschöpfe dort mit Bestimmtheit den allmählichen Untergang der betreffenden Pflanzen nach sich ziehen würde!
Zur Veranschaulichung des Gesagten wollen wir auf die Blütheneinrichtung des auch bei uns, besonders in Thüringen, heimischen „Frauenschuhs“ (Cypripedium calceolus) etwas näher eingehen.
Unsere Abbildung zeigt links die Blüthe des „Frauenschuhs“ in ihrer natürlichen Stellung am Schafte, von vorn und oben her gesehen. Die drei Kelchblätter sind mit s (sepala), die beiden seitlichen Blumenblätter mit p (petala) bezeichnet. Der wichtigste Theil ist p’, das zu einer großen, plump schuhförmigen Lippe (labellum) aufgeblasene untere Blumenblatt von gelblicher Färbung, während die Hüllblätter röthllch braull tingirt sind. Das Labell ist für sich allein im Längsschnitt in 2 noch einmal dargestellt. Es ist bei den Orchideen im allgemeinen der Nektarbehälter, hier führt es zwar keinen eigentlichen Honig, doch sondern die auf der Unterseite stehenden feinen Härchen kleine Tröpfchen einer etwas klebrigen Flüssigkeit ab, die den die Blume besuchenden Insekten immerhin von einigem Werthe sein muß. Im Gegensatz zu anderen Orchideen sind hier die drei Narben oder Stigmen (st) sämmtlich entwickelt, wenn schon sie so miteinander verschmolzen auftreten, daß nur ein Organ der Art vorhanden zu sein scheint. Wie aus 1 und 2
[174] ersichtlich ist, besitzt das Labellum bei i eine ziemlich weite Oeffnung, welche zum kleineren Theil von einem eigenthümlich gestalteten, in 3 besonders – von unten her betrachtet – abgebildeten Organ überdeckt wird, das der Träger der Narben (st) und der beiden, symmetrisch dazu gelegenen Antheren oder Staubbeutel (a a) ist.
Der obere schildförmige Theil a’ wird entwickelungsgeschichtlich als ein rudimentäres, verkümmertes, funktionslos gewordenes Staubgefäß aufgefaßt, die beiden andern Staubbeutel dagegen erzeugen reichliche Mengen von Pollen, dessen einzelne Körner (Zellindividuen) mit einer klebrigen Feuchtigkeit überzogen sind.
Die Narbe besitzt hier ausnahmsweise keinen Klebstoff.
Neben den beiden Staubbeuteln a a befinden sich zwei andere kleinere Oeffnungen im Labellum, deren eine im Durchschnitt in 2 sichtbar ist (ex). Rückwärts setzt die Narbe sich fort in das Ovarium oder den Fruchtknoten (ov), in welchem nach erfolgter Bestäubung die Samen sich entwickeln. Da die Ränder der Oeffnung i umgebogen sind, so stellt das Labellum eine Art konischer Falle vor, die nur durch die seitlichen Löcher ex sparsames Licht erhält.
Sehen wir nun, wie diese Vorrichtung wirkt. Eine Gattung kleiner Bienen, Andrena, namentlich die A. parvula, gehört zu den Hauptbesuchern der Frauenschuhblüthe. Die gelben und purpurnen Farben der Blume locken den kleinen Honigsucher herbei, der süße Duft aus dem Innern zeigt ihm den einzuschlagenden Weg. Mit einiger Mühe hat das Thier den Eingang zum Nektarkeller bewerkstelligt, um sich vorläufig hier als – Gefangenen festgehalten zu sehen. Denn vergeblich versucht die Biene, nachdem sie von den erwähnten Tröpfchen geschlürft, denselben Weg zurück zu nehmen: die Wände ringsum sind viel zu glatt, um ein Aufklettern zu gestatten, zudem verschließt der umgebogene Rand die Eintrittsöffnung nur allzu sicher.
Was thun? Nachdem die Eingekerkerte sich längere Zeit vergeblich abgemüht hat, beschließt sie, dem schwachen. Lichtschein zu folgen, der von den kleinen Oeffnungen (ex) her in das Dunkel dringt, und in dieser Absicht unterstützt die Blüthe sie kräftigst. Denn die Behaarung des nach hinten führenden Wegs erleichtert dessen Verfolgen seitens der Biene in hohem Grade.
Dabei kann sie aber zweierlei nicht vermeiden: zuerst ein Anstreifen mit dem bepelzten Rücken gegen die Narbe (st), die etwas in das Labellum hinabgedrückt ist; sie überwindet das kleine Hinderniß und schickt sich nun an, durch eine der Kellerluken das Freie zu gewinnen. Dann aber muß das Insekt notwendigerweise unter einem der beiden Staubbeutel (a) durchkriechen und sich so mit dem leicht anklebenden Pollen desselben behaften. Wahrscheinlich kümmert aber diese Beschmutzung ihres Haarkleides die Biene ebenso wenig wie einen entsprungenen Gefangenen sein zerrissener Rock – genug, kaum von der einen Blüthe entlassen, sucht sie eine zweite auf, und das geschilderte Spiel wiederholt sich, – aber jetzt mit dem Unterschiede, daß die Narbe mit dem fremden, eingeschleppten Pollen beim Anstreifen belegt und so die Befruchtung eingeleitet wird.
Die Gattung „Franuenschuh“ stellt in ihrer einfachen Bestäbungseinrichtung wahrscheinlich annähernd den Urzustand der großen. Orchideenfamilie dar; weit umständlicher sind schon die
Verhältnisse bei der Gattung Orchis und leicht an den schönen rothen Blumen der weitverbreiteten Orchis maculata an Orchis mascula und Orchis pyramidalis zu beobachten. Hier, wie auch vielfach anderwärts. sind die Pollenkörner nicht lose, sondern zu gestielten Organen miteinander verbunden, den sogenannten „Pollinien“, die mittels besonderer Klebscheiben den besuchenden Insekten an den Kopf oder Saugrüssel, sogar auf die Augen sich heften, um nach andern Blüthen verschleppt zu werden, ein Vorgang, der bei den genannten Arten sich recht anschaulich durch Einführen eines spitzen Bleistiftes in den Blumenschlund nachahmen läßt.
Wir wenden uns nun einem recht verwickelten Beispiele zu, welches der in den Tropen heimischen Gruppe der Catasetideen, nach Darwin der merkwürdigsten aller Orchideen, entnommen ist. Die Gattung Catasetum enthält ausschließlich männliche Blüthenformen, da die Narbe durch allmähliche Verkümmerung im Laufe zahlloser Generationen funktionslos geworden ist; wir kommen weiter unten auf diese Eigenthümlichkeit zurück. Vorläuflg soll der Leser mit dem wunderbaren Bau der Blüthe von Catasetum saccatum bekannt gemacht werden. Unsere Abbildung derselben giebt in B eine Seitenansicht der Blüthe, von welcher die das besuchende Insekt bloß anlockenden, aber nicht unmittelbar mitwirkenden Kelch- und Blumenblätter abgetrennt sind.
Beginnen wir von unten herauf, so zeigt sich uns zuerst der rudimentär gewordene, schraubig gedrehte Fruchtknoten, an dessen oberen Ende die übrigen Blüthen- theile haften, nach links hin, horizontal ausgestreckt, das dem „Schuh“ des Cypropedium vollkommen entsprechende Labellum das unterste Blumenblatt. Es ist, wie man sieht, hohl und führt an der Oberseite eine große klaffende Oeffnung, die absonderlich gestaltet und an den Rändern von Leisten eingefaßt ist. Das Innere des Labellums erzeugt ebenfalls keinen eigentlichen Nektarsaft, aber die Wände der Höhlung bestehen aus einem fleischigen dicken Zellgewebe von süßlichem Geschmack und werden, wie dies hier gleich hervorgehoben sein mag, von den Insekenbesuchern benagt.
Das freie Ende der Lippe verläuft in ein seltsames, bartähnliches, gefranstes Anhängsel, das dem anfliegenden Thiere einen sichern Landungs- und Ruheplatz darbietet.
Senkrecht zum Labellum erhebt sich ein anderes, in dem einfachen Blütenbau des „Frauenschuhs“ nicht vorkommendes Gebilde. Es ist das „Säulchen“ (columna), ein in den verschiedensten Formen auftretendes und für die Orchideenfamilie charakteristisches Organ. In A ist es von vorn gesehen dargestellt. Der allgemeine Eindruck seiner Gestalt ist ein recht wunderlicher, die schöpferische Natur scheint hier seiner krausen Laune nachgegeben zu haben – wie wundervoll indeß dieser kleine Apparat arbeitet, wird sich alsbald zeigen. Verfolgen wir von dem spitzen Zipfel des Säulchens abwärts unsern Weg, so treffen wir bei a zuerst auf ein Paar kugeliger Vorwölbungen, hinter deren Wandungen sich die zu rundlichen Körpern der,. einigten Pollenmassen verstecken. Darunter liegt eine andere Kugelung pd, in welcher der gemeinsame Stiel oder Fuß der beiden Pollenkörper verborgen liegt, der in die etwas tiefer postirte Klebscheibe (bei d) endigt. Ein derartiges Organ wird, wie schon bemerkt, Pollinium genannt. Wir haben dasselbe, losgelöst aus dem Gesammtverbande, nach besonders abgebildet. Die etwas [175] schematisirte Zeichnung links zeigt die Lagerung des Polliniums innerhalb des Säulchens. Der Stiel ped ist dabei stark gebogen, während er nach dem Freiwerden gerade gestreckt ist. Die Scheibe des Stieles ist durch ein biegsames Gelenk mit demselben verbunden, der bandartige Stiel rollt, nach dem Entferntwerden aus dem Säulchen, seine Ränder einwärts und die Pollenballen führen auf ihrer Unterseite zwei Längsspalten, durch die der befruchtete Blütenstaub auf die Narbe entlassen wird. Die dicke klebrige Fußscheibe (d) liegt, wie aus der Durchschnittsfigur ersichtlich, in der als Narbe funktionslosen Höhlung s und wird hier beständig feucht erhalten. Dies ist von großer Bedeutung, da ohne diesen Umstand der Klebstoff sehr rasch erhärten und damit untauglich werden müßte.
Die sonderbarsten und bei keiner andern Gattung sich wiederfindenden Organe aber sind die beiden langgeschwänzten Fühler oder Antennen des Säulchens (an). Sie namentlich verleihen, im Vereine mit der trüben kupferigen und orangefleckigen Färbung, dem bizarr geformten Labell und seiner rachenähnlichen Oeffnung, der Catasetum-Blüte das „fremdartige, düstere und fast reptilienartige“ Ansehen.
Fühler heißen sie mit Fug und Recht, denn sie leisten der Blume denselben Dienst wie die gleichnamigen Organe der Käfer und Schmetterlinge ihren Besitzern. Wenigstens gilt dies genau von der einen, weit vorgestreckten Antenne. Die Blüthe ist nämlich gegen Berührungen von einer gewissen Stärke, die diesen Fühler treffen, sehr empfindlich, sie ist reizbar wie die Fiederblättchen der Mimosa pudica. Und nicht mechanische Erschütterung allein, auch andere Einflüsse verursachen das gleich zu beschreibende überraschende Gebaren dieser Orchidee, so eine plötzliche Temperaturerhöhung oder die Einwirkung von Chloroformdämpfen auf die Blüthe. Die ganze Einrichtung wie die bedeutende Größe der Blume führt zu dem durch Beobachtungen bestätigten Schlusse, daß nur große, kraftolle Insekten regelmäßige und – für die Pflanze nützliche Besucher sein können.
Densen wir uns nun einen solchen Kerf, etwa einen der großen tropischen Käfer, der angeflogen ist und auf dem herabhängenden, gefransten Theil des Labellums sitzt! Er rückt gegen die Oeffnung vor, die ihm Hoffnung auf Honigschmaus macht, schon will er den Kopf hineintauchen, da – „zwischen Lipp’ und Kelchesrand“ – stößt er wider den Zipfel der vorgestreckten Antenne, und die bis dahin gleichsam schlummernde Blüthe bekundet ihr Erwachen in sehr derber Weise. Das Pollinium nämlich reißt sich plötzlich vom übrigen Zellgewebe des Säulcheus los und schnellt sich mit großer Kraft, indem es sich gewaltsam geradestreckt, die Klebscheibe voran, dem Störenfriede an den Kopf, wo es, Dank dem schnell erhärtenden Klebstoffe der Scheibe, augenblicklich festhaftet. Erschrocken sucht der so heimtückisch aus dem Hinterhalt Angeschossene augenblicklich das Weite, den Polliniumpfeil auf der Stirn. So bedeutend ist die durch den Reiz ausgelöste Energie, daß oft der ganze obere Theil (f) des Säulcheus mit abgerissen wird und das Pollidium, falls die Reizung künstlich herbeigeführt wurde, seines natürlichen Zieles bar gegen einen Meter weit fliegt! Dabei kommt, außer der Längs-Geradestreckung als verstärkend auch noch die plötzliche Einrollung der Ränder des Stieles ins Spiel, eine Erscheinung, wie sie z. B. eine gespaltene Federpose zeigen würde, die matt auf einen stärkeren Bleistift zu klemmen versuchte. Darwin ahmte die Mechanik des betriebenen Ates sehr anschaulich in der Art nach, daß er ein feines Fischbeinstreifchen, welches an einem Ende der Scheibe entsprechend etwas beschwert war, um einen cylindrischen Gegenstand herumbog, gleichzeitig das obere Ende mit einem Nadelkopfe leicht festhaltend. Ließ er nun den untern Theil plötzlich frei, so schnellte regelmäßig das Ganze ab mit diesem beschwerten Ende voran.
Wir haben das Catasetum als eine rein männliche Orchidee kennengelernt – welches ist nun die weibliche zugehörige Pflanze, auf welcher durch die Vermittellung des pollenbehafteten Insektes die Fruchtbildung zustande kommen solle. Schon längere Zeit kannte man zwei in denselben Gegenden wie Catasetum einheimische, im Aussehen von diesem vollkommen verschiedene Orchideen, die man mit den Gattungsnamen Monachanthus und Myanthus belegte. Niemals konnte man bei Catasetum Samenbildung beobachten, während die Monachanthus-Arten große Fruchtkapseln hervorbrachten. Da machte unser Landsmann Sir Rob. Schomburgk, der 1865 gestorbene berühmte Reisende und Forscher, die merkwürdige Beobachtung, daß die genannten drei Gattungen, anscheinend völlig von einader unabhängige Gewächse, auf einem und demselben Pflanzenexemplar vorkommen können. Catasetum tridentatum blühte mit Monachanthus viridis und Myanthus barbatus auf einer Pflanze! Später beobachtete man im botanischen Garten zu York eine Catasetum-Art, welche neun Jahre lang Blumen wie die oben beschriebenen erzeugte, dann aber plötzlich einen Schaft mit Myanthus-Blüthen trieb. Wie bei Catasetum die weiblichen, so sind natürlich bei Monachanthus die männlichen Organe verkümmert, nur die Myanthus-Form enthält beide vollkommen funktionsfähig, bildet also eine Art Vermittlerin zwischen jenen Extremen.
Die Stellung des Polliniums auf dem Körper des Insektes ist gerade eine solche, daß beim Besuche der weiblichen Blüthenform die Pollenballen die stark klebrige Narbe berühren und einen Antheil des befruchtenden Elements dort zurücklassen müssen. Natürlich wird nicht allemal das Thier nach dem Besuch des Catasetum sogleich zum Monachanthus eilen, oft genug wird es mehrere Blumen der ersten Art nach einander aufsuchen und so förmlich mit Pfeilen gespickt werden, bevor es sich entschließt, einmal eine Abwechselung eintreten zu lassen -- für das Schlußergebniß kommt dies indeß auf eins hinaus.
Ich habe im Vorstehenben eine Skizze aus dem Leben der wunderbarsten aller Blumen zu geben versucht. – Sollte es mir gelungen sein, bei dem Leser ein Interesse für dies „wunderlich Kapitel“ zu erwecken, so kann ich ihm als eine vortreffliche Anleitung zum Selbstbeobachten derartiger Vorgänge außer dem schon angeführten Buche Darwins das Werk des leider allzufrüh verstorbenen Herm. Müller, „Die Befruchtung der Blumen durch Insekten“ (Leipzig 1873), desselben Verfassers Untersuchungen über die Alpenblumen, sowie das kleine Buch I. Lubbocks, „Blumen und Insekten in ihren Wechselbeziehungen“ (1877), empfehlen.
Mancherlei Fragen knüpfen sich für den Naturfreund unwillkürlich an diese Vorgänge. Namentlich die: wie weit reicht die Beseelung? Sollen wir die Pflanzen nur als eine Art von lebenden Maschinen auffassen, wie es seinerzeit der Philosoph Descartes mit den Thieren that, oder sind sie doch vielleicht etwas mehr? Welche Kräfte leiten die gegenseitige Anpassung ein und vollenden sie?
Im Treibhause fällt uns eine herrliche Orchideenblüthe ins Auge, deren Labell in einen spannenlangen Sporn ausgezogen ist. Welches Insekt mag in der Heimath der Blume ihr Gast und Liebesbote sein? Die Antwort giebt die Blüthe selbst: nur einer der gigantischen Schmetterlinge, wie sie die üppige Tropennatur gebiert, kann der Befruchter sein, Riesen, deren Saugrüssel eine Länge von zwanzig und mehr Zentimetern erreicht. Dem kleineren unberufenen Kerfengesindel versagt die Blume den am Grunde des Sporns verborgenen Honigtrank. Der Schmetterling bedarf der Pflanze, die Pflanze des Schmetterlings, in ihrer Vereinigung erst bilden sie das wahre Wesen, die Goethschen Worte bestätigend:
„Kein Lebend’ges ist ein Eins,
Immer ist’s ein Vieles.“
[176]
Truggeister.
(10. Fortsetzung.)
Der Minister schaute Bertl scharf und prüfend einen Augenblick an. „Sind Ihre Eltern etwa krank, daß sie nicht mitgekommen sind?“ fragte er dann.
Dem Rath stockte der Athem. Nun war sie da, die verhängnißvolle Frage. Aber Theodor, welcher den Minister persönlich kannte, parirte vortrefflich: die Eltern der Dame hätten sich völlig von der Welt zurückgezogen, nachdem ihr kleines Gütchen der sich nach dieser Richtung hin ausdehnenden Stadt zum Opfer gefallen sei.
„Das wäre also in der Richtung nach Haching zu gelegen?“ fragte der Minister, gegen den Rath gewendet.
„Ganz richtig, Excellenz, gegen Haching,“ stammelte dieser mit einer Verbeugung.
„Und der Herr Papa findet sich wohl schwer in das Stadtleben, Fräulein Margold?“ fuhr Graf Derwitz fort. „O, das begreife ich, es ist ein Uebelstand, den ich schon längst bemerkt habe, dem aber schwer abzuhelfen ist. Die Zeit verlangt ihr Recht. Wenn ich nicht irre, Herr von Brennberg, sind Sie ein Schicksalsgenosse des Fräuleins“ – ein Lächeln kräuselte dabei die Lippen des Ministers – „Ihrem Vater ging es ja ebenso mit Schönau, nicht wahr? Doch scheint er sich eher in die neue Zeit hineinzufinden wie Herr Margold, er ist ja bereits Aufsichtsrath in der neuen Aktiengesellschaft, an deren Spitze dieser Stefanelly steht –“ die Stirn des Ministers zog sich, während er dies sagte, in Falten. „Ihr Herr Vater ist darin sehr kühn – da hat der Ihre, Fräulein Margold, das bessere Theil erwählt. Fern von allen Aufregungen genießt er seine alten Tage in Ruhe und Frieden und läßt sein schönes Töchterchen unter dem Schutze der Frau Räthin dahinflattern. Wo wohnt denn Ihr Herr Papa, wenn ich fragen darf?“
„In demselben Hause mit dem Herrn Rath,“ entgegnete Bertha, in welcher von neuem die Scham über die Verleugnung ihrer Eltern und ihres Standes mit der Angst kämpfte, ihre glänzende Stellung für den heutigen Abend zu verlieren. „Es ist das Eigenthum meines Vaters.“
Der Minister stutzte und blickte auf den Rath, der förmlich in sich zusammensank.
„Sie wohnen doch seit einigen Monaten in der äußern Mariannenstraße?“ fragte er.
Der Rath nickte stumm, in sein Schicksal ergeben.
Der Minister strich sich die hohe Stirn.
„Wie doch mein Gedächtniß nachläßt! Margold! Den Namen las ich erst in einem Schriftstück, die Anlage der neuen Straße betreffend –“
Der Rath Stürmling fühlte die Nacht um seine Augen sich legen; er kannte nur zu gut das vortreffliche Gedächtniß seines Chefs, und dieser war auf der rechten Fährte, er ließ sie nicht mehr los.
Bertha sah ängstlich flehend auf den Minister.
„Ja, jetzt erinnere ich mich,“ fuhr dieser fort, den Blick des Mädchens ganz verstehend und mit wohlwollendem Lächeln erwidernd. Dann faßte er den Rath scharf ins Auge. „Ich kenne ihn selbst, den Herrn Margold, ein wackerer Mann, von dem es mich herzlich freut, zu hören, daß es ihm gut geht. Solche neue Bürger können uns nur erwünscht sein.“
Die Worte klangen scharf, verweisend, und dennoch waren sie eine Himmelsbotschaft für den Rath, der das Haupt wieder hob wie eine Blume, die nach langen Regenschauern sich gegen die Sonne emporrichtet. In seinem Innern freilich mußte er lachen über die demokratische Regung, die ein Blick aus den Augen Berthas in der Brust des Ministers wachgerufen hatte. Bertha stiegen die Thränen in die Augen; sie hätte diesem Mann die Hand küssen mögen, der ihren guten Vater so lobte, der, trotzdem er jetzt wußte, wer sie war, sein liebenswürdiges Benehmen nicht änderte. Es war also alles nicht wahr, was der Vater immer sagte, was der Rath und selbst Theodor glaubten, daß es eine Schande sei, das Kind eines einfachen schlichten Gärtners zu sein. Wenn dieser hohe Herr mit dem Stern, der Höchste hier im Saale, vor dem sich alles beugte, es nicht dafür hielt, dann durfte es niemand dafür halten.
„Uebrigens, das ist ja zu komisch, Fräulein Margold,“ fuhr der Minister, jetzt wieder zu Bertha gewendet, fort, „daß man Sie heute abend durchaus zur Westindierin machen wollte. Ich lasse jedermann in dem Glauben, Ihnen wird es ja nichts schaden, das Ausländische hat nun einmal eine besondere Anziehungskraft in M ... Jeder Russe ist ein Fürst, jeder Amerikaner ist unermeßlich reich, jeder Franzose geistreich, pikant, jeder Südländer ein heißblütiger Othello, und wir selbst sind nichts als ausgemachte Spießbürger.“
Die ganze Umgebung beobachtete die vertrauliche Unterhaltung der Excellenz mit Bertha, man beneidete den Rath um das Glück, sie am Tische zu haben, man nannte ihn einen Streber, der das alles zum voraus berechnet habe, die Schwäche des Ministers für schöne Damen kenne. Auf Bertha fiel jetzt das strahlende Licht des diamantenbesetzten Ordens auf der Ministerbrust, sie war gefeit, für jeden jungen Beamten war es jetzt Pflicht und Ehre, mit ihr zu tanzen.
Der Minister empfahl sich endlich mit einem herzlichen „Auf Wiedersehen“ von Bertha, welche in ihrem überströmenden Dankesgefühl ihm gegenüber fast ihre Stellung als Dame vergaß und seine Hand leidenschaftlich drückte, – mit einer kühlen abgemessenen Verbeugung von dem Rath und der übrigen Gesellschaft.
Der Rath athmete auf und trank in langsamen Zügen ein frisch eingeschenktes Glas Champagner aus. Die Sache war ja über alles Erwarten günstig für ihn abgelaufen und er hatte Excellenz nie so gnädig gesehen; Bertha war eine Perle, sie mußte jetzt auf jeden Ball mit, sie, die Tochter eines wackeren Mannes, eines guten neuen Bürgers, warum denn nicht? Wie er nur hatte zweifeln können, ob das ginge oder nicht!
Die Frau Räthin faßte die Sache anders auf; sie raunte Bemerkungen über den „alten verliebten Narren“, wie sie zum Entsetzen des Rathes den Minister nannte, ihrem Gemahl zu, so daß dieser achselzuckend den Tisch verließ.
Ohnehin begann die Musik wieder, der Tisch leerte sich; auch Theodor empfahl sich und forderte Bertha zum Tanze auf, mit einem sarkastischen „Bitte, Herr Lieutenant“ von seiten Irmas und ihrer Mutter entlassen. Alles verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor Bertha, die gar nicht begriff, warum sie denn jetzt eine andere sei als vor dem Essen. Theodor mußte ihr alles erklären: auch wenn man jetzt erfahre, daß sie die Tochter des Gärtners Margold sei, werde niemand mehr wagen, ihre Anwesenheit hier oder irgend wo in der guten Gesellschaft unpassend zu finden, nachdem der Minister sie so ausgezeichnet habe.
Wohl mußte Bertl herzlich über diese Auskunft lachen, aber sie fand doch, daß dieser Minister ein recht gescheiter, herzensguter Mann sein müsse, ohne alles Vorurtheil, ein Mann, der die Menschen immer nach ihrem inneren Werth schätze; und als ihr Theodor erklärte, daß der Graf von Derwitz diese Eigenschaften mit Ausnahme der erstgenannten durchaus nicht besitze, daß er als Feind im höchsten Grade gefährlich, gegen seine Untergebenen von maßlosem Stolze erfüllt, im ganzen nichts weniger als ein Volksmann sei, da sagte sie, ganz verwirrt von diesem Widerspruche:
„Und für mich war er ein Engel heute abend. Wie kommt das nur? Was bin ich für ihn?“
„Ein schönes Weib!“ flüsterte Theodor ihr ins Ohr, „und das ist hier alles, die höchste Macht.“
Bertha zitterte in seinem Arme bei diesen Worten. Den ganzen Abend schon hatte sie diese Macht gefühlt, jetzt aber war es klar ausgesprochen von dem, den allein sie derselben unterliegen sehen wollte, und der Ton, in dem er diese verführerischen Worte sprach, ließ sie nicht mehr daran zweifeln, daß er wirklich schon unterlegen war. Es galt nur eine entscheidende Frage, aber noch that sie diese nicht, denn es war ihr, als schwände damit der geheime Zauber, der über dem Unausgesprochenen lag. Es gelüstete sie plötzlich, ihre Macht erst voll und ganz zu genießen, sie auch andere fühlen zu lassen, ehe sie dieselbe auf den Geliebten allein beschränkte. Sie dachte dabei an keine Untreue, nur ein Spiel sollte es sein, Rache vielleicht an dieser lügnerischen, sie im Innern doch geringschätzenden Gesellschaft.
Sie genoß jetzt erst all die Blicke, all die schönen Worte, die ihr gesagt wurden; besonders von dem Minister fühlte sie sich eigenthümlich angezogen, trotz seiner weißen Haare; absichtlich trat sie ihm in den Weg, und sie empfand ein wonniges Schauern unter seinen Blicken, eine sonderbare Sympathie, die sie sich selbst nicht erklären konnte.
[177]
[178] Theodor entging ihre Verwandlung nicht. Er bereute jetzt seine Worte, es war ihm, als habe er damit den Blütenstaub weggewischt, der über ihrem Wesen lag; ein wildes leidenschaftliches Verlangen erfaßte ihn, gepaart mit der Angst eines möglichen Verlustes, den er nicht mehr ertragen zu können glaubte. Zum ersten Male liebte er wirklich, zum ersten Male fühlte er die Sehnsucht, sie völlig zu besitzen. Er gab sich alle Mühe, Bertha in einen der kleinen an den Ballsaal grenzenden Nebenräume zu bringen, um ihr ein rückhaltloses Geständniß, einen unverblümten Antrag zu machen. Aber geschickt, seine Absicht ahnend, wußte sie es zu vermeiden; mit einem Male war sie vertraut mit all den weiblichen Künsten der Liebe, verstand sie es, sich klug zurückzuhalten, bald anzuziehen, bald abzustoßen, abwechselnd Hoffnung und Eifersucht zu wecken. Theodor selbst hatte den verhängnißvollen Zauberspruch gethan, der die Bande ihrer ahnungslosen Jungfräulichkeit sprengte. Mit innerlichem Frohlocken sah sie ihn an der Säule lehnen, das Auge unverwandt auf sie gerichtet, während sie mit andern sprach, scherzte, sich köstlich zu unterhalten schien; sie sah ihn auf einen Wink ihrer Brauen selig herbeieilen, um ihm dann mit ihrer scheinbaren Kälte die bitterste Enttäuschung zu bereiten.
Es ward Morgen über dem grausamen koketten Spiel, in dem sie so rasch Meisterin geworden war. Der Rath, welcher in seiner rosigen Laune über die Gnade seines Chefs unten im Bierstübel des Guten etwas zu viel gethan hatte, rief zum Aufbruch und schleppte mit glühendem Antlitz und komischer Galanterie die Garderobe Berthas daher.
Irma glich einem welken Blatte, die Lust und Anstrengung der Nacht schienen ihre Kräfte verzehrt zu haben, matt hing sie am Arme des Vaters. Die Frau Räthin ging etwas verstimmt nebenher. In einiger Entfernung folgten Bertha und Theodor.
„Fräulein Bertha, erinnern Sie sich noch unseres nächtlichen Heimganges von der Hochzeit Ihres Bruders?“ flüsterte Theodor hastig; die Zeit war kurz bemessen – unten stieg bereits die Räthin in den Wagen.
„Gewiß!“ entgegnete sie mit schelmischem Lächeln, an ihrem Mantel etwas zurechtzupfend.
„Ich miederhale, was ich damals gesagt habe. Ich liebe Sie, Sie müssen mein Weib werden.“ Er drückte fest ihren Arm.
Aber sie zog ihn zurück, es schwindelte ihr; trotz aller Erwartung kam ihr der Autrag zu plötzlich. Gestern wäre sie Theodor mit Thränen der Rührung um den Hals gefallen; heute war es anders.
„Hat Ihnen der Minister Muth gemacht?“ fragte sie schnippisch, mit einem erzwungenen Lächeln.
Theodor war tief verletzt von diesem kalten Scherze in diesem Augenblicke und er erschrak über den verheerenden Einfluß, den wenige Stunden auf diese Mädchenseele gehabt hatten. Aber auch Bertha entsetzte sich vor ihren eigenen Worten. Sie waren ihr ja nicht ernst gewesen, sie hatte sich nur in dieser Verstellung gefallen.
„Ich scherze nur, Theodor,“ flüsterte sie rasch, „ich bin ja Dein seit lange –“
Die Räthin rief in gereiztem Tone aus dem Wagen nach Bertha.
„Aber kommen Sie doch, Fräulein!“
Theodor half ihr hinein.
„Hüten Sie sich vor dem Minister, er ist ein gefährlicher Nebenbuhler,“ warnte die Räthin den Lieutenant, und der Rath lachte vergnügt dazu.
Bertha aber drückte eine Rose in Theodors Hand, die sie von der Brust genommen – dann rasselte der Wagen von dannen.
Wie anders waren die Bilder, die jetzt das Mädchen umgaukelten! In der Straße erwachte bereits das Leben der Großstadt, lange Reihen von Wagen mit Lebensmitteln aller Art, die dem Markte zufuhren, begegneten ihnen; Bertha sah sich selbst auf einem derselben sitzen neben Hans; wie hart, rauh und kalt ihr das alles jetzt vorkam im düstern Dämmerlichte des Wintermorgens. Sie schauderte bei dem Gedanken an das Einst und wickelte sich in ihren Pelz. Welch ein Glückskind sie doch war! Ein inniges Dankgebet schwebte auf ihren Lippen.
Endlich war man zu Hause. Irma war schlaftrunken, der Rath machte wieder sein ernstes sorgenvolles Gesicht. Im Hinterhaus brannte Licht, Frau Köhler war schon wieder auf bei der Arbeit mit ihren beiden Töchtern, und in der Werkstatt wurden bereits die Feuer geschürt.
Jetzt war Bertl wieder die alte. Sie sprang die Treppen hinauf, Frau Köhler und Therese sollten vor allen ihr Glück erfahren, die Mutter schlief ja noch.
Sie blieb an der Thür stehen, das Herz schlug ihr bis in den Hals, drinnen klapperte die Nähmaschine.
„Die arme Therese!“ dachte wieder Bertl, „sie wird am Ende die Armuth erst recht fühlen, wenn sie mein Glück erfährt, meine zügellose Freude wird sie verletzen –“ und Bertl zögerte, einzutreten.
Da verstummte die Maschine.
„Er wird Dich auf den Händen tragen, der gute Mann,“ klang drinnen die Stimme der Frau Köhler. „Ich kann’s selbst noch nicht glauben. Und da kränkte es mich, daß Du nicht mit der Bertl auf den Beamtenball gehen konntest und in der Werkstatt Dein Tanzvergnügen suchen mußtest, wo Du jetzt Dein Glück gefunden hast – Frau Schlossermeister Bergmann!“
„Kunstschlossermeister, Mama,“ verbesserte Therese, „das ist ein großer Unterschied heutzutage.“
„Das ist mir gleich, der Name macht’s nicht, sondern der Mann,“ meinte Frau Köhler. „Handwerk oder Kunst, wenn’s nur was Tüchtiges ist und man sich gern hat, und daran fehlt’s ja bei Euch nicht!“
„Mutter, ich bin so glücklich!“ Ein Kuß war hörbar, dann lärmte die Nähmaschine wieder.
Erstaunt horchte Bertl. Das also nannten die armen Leute Glück – eine Verlobung mit dem Sohne des Schlossermeisters, die vergangene Nacht, während sie von dem Minister so gefeiert wurde, während Theodor von Brennberg sie umwarb, abgeschlossen wurde.
Ein Gefühl unedlen Stolzes ergriff sie. Sie trat mit erhitzten Wangen in den Arbeitsraum; aber beim Anblick Thereses, die über ihre Arbeit sich beugte, überkam sie eine plötzliche Rührung, sie eilte auf sie zu und umarmte sie unter Thränen.
„Ich bin die Braut des Herrn van Brennberg,“ flüsterte sie selig.
Frau Köhler blickte forschend auf Therese.
„Und ich die Braut des Gearg Bergmann!“ sagte diese fest, selbstbewußt.
Frau Köhler nickte zufrieden lächelnd, nur einen Augenblick hatte sie für ihr Kind gefürchtet. Lili athmete schwer auf und beugte sich tiefer über die Blumen, die in ihrer Hand zitterten.
Die beiden Mädchen erzählten nun wechselseitig die Geschichte ihrer Liebe, die Ereignisse dieser Nacht. Bertl von all der Pracht des Balles, von ihren Triumphen, vom Minister, von Theodors stürmischem Antrag – Therese von der Lustbarkeit in der Werkstatt, von ihrer längst heimlich gehegten Neigung, von Georgs schüchternem Werben, dem sie so gern Gehör geschenkt, und beide vergaßen die Kluft, die zwischen ihnen liegen sollte, sahen sich in die leuchtenden Augen und schwärmten von der glücklichen Zukunft.
Die Aktien der Grunderwerbungs-Genossenschaft stiegen immer fort, sie fanden rasch Eingang in alle Kreise der Residenz und selbst die Vorsichtigen wurden zur Erwerbung gereizt. Stefanelly war ein gefeierter Mann, man bewunderte sein Finanzgenie; das Mißtrauen gegen ihn schwand immer mehr.
Der alte Brennberg war trunken von dem plötzlichen Erfolge. Sein Titel Aufsichtsrath war jetzt kein leerer Schall mehr; die sich anfangs über ihn lustig gemacht hatten, suchten ihn jetzt selbst auf, fragten ihn um Rath, hofften, durch seine Verwendung noch einige Aktien zu erhaschen, die schon fast vergriffen waren. Selbstverständlich zögerte er selbst jetzt keinen Augenblick mehr, sein ganzes bewegliches Kapital darin anzulegen.
Stefanelly hatte ihm vorgeredet, daß er in seinen Kreisen für das Unternehmen wirken müsse, und Christian, der sich dem Mann mehr wie je zu Dank verpflichtet fühlte, schlug das Verlangen nicht ab. Theodor mußte ihn in den Klub einführen, wo die ersten Vertreter des Adels verkehrten, und er begegnete dort wider sein Erwarten lebhaftem Interesse. Man hielt ihn für einen erfahrenen Finanzmann, der, in scheinbarer Zurückgezogenheit auf Schönau lebend, schon lange im geheimen auf der Börse sein Spiel getrieben hatte und jetzt erst mit seinem Namen hervortrat; er war nicht mehr der belächelte Landjunker, [179] sondern ein Hauptpfiffikus, der sie alle bisher getäuscht hatte. Das Gerücht vergrößerte seinen Reichthum ins Ungeheure, man sprach von Millionen, die der Alte besitze, und dieser ließ die Herren in der Täuschung.
Zum ersten Male in seinem Leben hatte Brennberg Gelegenheit, an den grünen Tisch zu treten; es wurde viel und hoch gespielt in dem Klub. Wenn er dann so dabei stand und zuschaute – weiter kam es vorerst nicht – dann konnte er den Blick nicht wenden von den fallenden Karten, dem hinüber und herüber rollenden Gelde, und dabei stand immer der Ahne in der Allongeperücke mit den gespreizten langen Fingern vor ihm. Aber Christian freute sich, daß er nichts von ihm geerbt habe, daß er alle Aufforderungen, sich zu betheiligen, so tapfer abwies. Das Zusehen war ja kein Verbrechen und die Erregung, die er dabei empfand, nur eine Folge des Ungewohnten; er redete sich immer ein, seine Pflicht als Aufsichtsrath führe ihn hierher, in Wirklichkeit aber war es nur der Anblick des grünen Tisches, der ihm bereits unentbehrlich war.
In dem aristokratischen Klub hörte er auch von der Aufsehen erregenden neuen Schönheit Bertha Margold sprechen, welche plötzlich in der Gesellschaft aufgetreten sei; selbst die Bevorzugung, welche sie von seiten des Ministers auf dem Beamtenball erfahren hatte, war bereits allgemein bekannt. Man lachte über den alten Sünder, über seine plötzliche Bekehrung zu demokratischen Ansichten der Gärtnerstochter zuliebe – ihre Herkunft war längst erforscht –, brachte auch den Namen Theodors in Verbindung mit dem des Mädchens, ja, man gab sich den Anschein, als wäre man neidisch auf ihn, der die neue Schönheit allen vorweg geschnappt habe; aber an ein ernstes Verhältniß dachte niemand.
Der alte Herr war lebhaft dadurch beunruhigt; seine augenblickliche Aufwallung von damals, als er mit Margold aus der Sitzung heimging, war längst geschwunden, er hatte keinen Grund mehr, Rache zu nehmen an der Gesellschaft, die ihn jetzt so liebenswürdig und ehrenvoll aufgenommen hatte; aber er wußte, daß Theodor die Sache ernster nahm, als man hier ahnte.
Der Aufwand des Lieutenants, welcher anfangs mit den veränderten Verhältnissen seines Vaters gestiegen, ja selbst für diese beängstigend hoch gewesen war, hatte in der letzten Zeit auffallend abgenommen; daran konnte allein seine wahre tiefe Leidenschaft schuld sein, die ihn ganz und wohlthätig beherrschte, und Christian spürte darin mit einer wehmüthigen Erinnerung den gesunden und kräftigenden Einfluß Margoldschen Wesens. Er gestand sich ganz im stillen, daß eine Ehe mit dem braven Mädchen, in dessen Adern treues, redliches Margoldsches Blut floß, für seinen lebesüchtigen leichtblütigen Sohn durchaus kein Unglück wäre und noch weniger eine Schande; denn auch auf seinem Schönauer Standpunkte, von welchem aus ihm eine solche Verbindung als widersinnig und unmöglich erschienen war, stand er nicht mehr. Lediglich der peinliche Gedanke, den gesellschaftlichen Boden, den er gewonnen hatte, wieder zu verlieren, die Herren des Klubs, in dem er jetzt so gern verkehrte, die Nase rümpfen zu sehen, stimmte ihn dagegen.
Noch hatte Theodor kein Wort darüber gesprochen, und sein Vater hütete sich, die Angelegenheit zu berühren, über deren Stand ihm Bertls Bruder Hans stets Bericht erstattete. Dieser war jetzt der Vertraute Stefanellys, der Anführer der unzähligen Unterhändler, welche dieser gewandte Stratege nach allen Seiten hin über die Stadt M ... und Umgebung zerstreute. Eine solche Art von Arbeit sagte Hans vortrefflich zu; da scheute er keine Mühe, keine beim Champagner durchwachte Nacht, wenn es galt, für seinen Chef ein vortheilhaftes Geschäft abzuschließen, neue Rekruten zu werben für die riesige Armee von Zahlern, die blindgläubig, willenlos ihrem Führer folgten. Da wurde niemand verachtet, vom einfachen Arbeiter an, der seine Ersparnisse in den Unternehmungen anlegte, bis zum Millionär, der von seinem Ueberfluß hineinsteckte.
Stefanelly war eben daran, ein eigenes Bankgeschäft zu gründen, um den riesigen Umsatz, der jetzt anderen Bankhäusern zu gute kam, in seine Tasche fließen zu lassen, und hatte Hans die Aussicht eröffnet, ihn als Theilhaber aufzunehmen, wenn er sich bewähre. Hans wohnte jetzt sogar in dem „Palais“ des Stefanelly, welcher als Junggeselle einer weiblichen Repräsentation für seinen verschwenderischen Haushalt bedurfte. Dazu eignete sich die schöne Loni vortrefflich. Der üppige aufdringliche Reichthum, den sie da mitgenoß, behagte ihr, ebenso die Gesellschaft, für welche sie die Dame des Hauses vorstellen durfte. Es waren lauter Gesinnungsgenossen, alle diese unnennbaren fragwürdigen Existenzen, die in einer Großstadt auftauchen, die nie arbeiten und immer genießen, Leute, an welche der Unternehmer durch irgend welche frühere Verbindung zweifelhafter Art gegen seinen Willen gefesselt war, Gimpel, welche er zur späteren Verwerthung in sein Netz ziehen wollte, Schmarotzer, die der Goldklang anzog, die mit tönendem Lob auf den Bierbänken zahlten.
Stefanelly hatte durchaus nicht im Sinne, bei dieser Gesellschaft zu bleiben, er wartete nur den geeigneten Augenblick ab, um das lästige Volk abschütteln zu können, das ihm wie einer Krankheit aus früherer Zeit anhaftete. Die ersten Kreise sollten in seinem Haus verkehren, der Anspacher selbst, der so verächtlich von ihm sprach, sollte erscheinen, und Loni würde auch für diese Leute zu wirthschaften wissen, davor war ihm gar nicht bange.
Hans hatte demnach das größte Interesse daran, daß seine Schwester den jungen Brennberg heirathete. Das junge Paar und den Alten dazu in das Haus zu bringen, war dann nicht mehr schwer, und machte einer den Anfang, so kamen die andern bald nach. Er hetzte Bertl, die offene Erklärung von Theodor zu fordern, er verstand es, dem alten Baron, mit welchem er täglich geschäftlich zu thun hatte, das Glück, die Bequemlichkeit einer neuen Häuslichkeit unter Führung einer ihn verehrenden Frau wie Bertha so verführerisch darzustellen, daß derselbe oft gern bei dem Gedanken daran verweilte.
Gegen Ostern stiegen die Aktien infolge verschiedener Gerüchte über eine bedeutende Vermehrung der hauptstädtischen Garnison, über Miethsteigerungen und Wohnungsmangel, über eine beabsichtigte große Ausstellung im kommenden Jahre zu einer noch nie dagewesenen Höhe.
Der „Herr Aufsichtsrath“ betrat, von Stolz geschwellt, abends den Klub, von allen Seiten ehrfurchtsvoll begrüßt, mit Schmeicheleien und Glückwünschen überhäuft. Der alte Vollblutadel der Stadt war nicht reich. Die meisten seiner Mitglieder lebten in verhältnißmäßig bescheidenen, sehr viele in geradezu beschränkten Verhältnissen. Diese spielten deshalb neben der jungen Geldaristokratie eine gedrückte Rolle, ein Umstand, der sich nirgends mehr fühlbar machte, als gerade hier im Klub, wo beide sich im Innern feindlichen Elemente zusammentrafen. Man machte sich auf der einen Seite ein grausames Vergnügen daraus, seinen Reichthum zu zeigen, durch üppiges Leben, rücksichtslose Verschwendung den Neid der weniger Glücklichen zu erregen, auf der andern Seite ließ man sich durch nichts imponiren, strengte seine Kräfte bis zum äußersten, oft bis zur Selbstvernichtung an, um nicht zurückzubleiben. Es war ein unedler, roher Wettkampf, der da am heftigsten wüthete, wo er mit den ungleichsten Waffen geführt wurde – am Spieltisch. Unter dem Schein einer falschen, ihren idealen Ursprung völlig verkennenden Ritterlichkeit wurde hier. den Warnungen vernünftiger Männer zum Trotz, mit einer Kaltblütigkeit, mit einer Größe im Ertragen schmerzvoller, ja tödlicher Wunden gekämpft, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre.
In Herrn von Brennberg sah die Geburtsaristokratie einen leistungsfähigen Zuwachs ihrer Partei, der es mit den Gegnern in jeder Beziehung würde aufnehmen können. Leider erwies er sich aber in ihren Augen als ein Knicker, der nichts aus sich zu machen verstand und zum Spiele durchaus nicht zu bewegen war, als ein „Kibitz“, der die von ihnen theuer bezahlte Nervenaufregung als Zuschauer sich stahl.
Auch heute setzte sich Christian wieder an seinen gewohnten Platz am grünen Tisch und verfolgte mit gerötheten Wangen und leuchtenden Augen das außergewöhnlich hohe Spiel. Die Herren kamen eben von einem Festmahl zu Ehren des Landesfürsten und befanden sich in weinseliger Stimmung, auch war Baron Anspacher ausnahmsweise zugegen und hatte eine Aufforderung zum Spiele angenommen, – da durfte es nicht um Kleingeld gehen. Der Bankier gewann und verlor mit einem blasirten überlegenen Lächeln, man sah ihm an, daß er sich groß machte mit seiner Gleichgültigkeit. Das reizte immer mehr, und man griff schließlich zu einem gewöhnlichen Hazardspiel; Whist und l’Hombre gingen zu langsam, und es handelte sich doch für diese Herren nur um das blanke Gold, nicht mehr um die Kunst des Spieles. Anspacher war kein leidenschaftlicher Spieler und ließ sich erst nach langem Hin und Wider überreden. Dann aber gewann er immerfort mit unwandelbarem Glück, so sehr er sich auch absichtlich in Gefahr zu begeben schien. Dem alten Baron wurde es heiß [180] und kalt, die Augen brannten ihm wie im Fieber; er empörte sich über den Verlust seiner Freunde, über diesen verhaßten Baron Anspacher; wie, wenn er selbst ihm die Spitze böte? Er dachte an sein Glück, das würde ihn gewiß auch hier nicht im Stiche lassen; es wäre ja nur eine Rache an diesem ewig lächelnden Geldmenschen. Zweimal griff er schon in die Tasche nach seiner Börse; sie war schlecht gefüllt, nur einige Goldstücke fand er darin. Er nahm sie heraus und drückte sie in der Tasche zwischen den Fingern. Zweimal machte er Miene, zu setzen, aber er wagte es noch nicht.
Nun forderte ihn aber Anspacher selbst auf, an dem Spiel theilzunehmen, und von allen Seiten sprach man ihm zu. Er entschuldigte sich, nicht mit Geld versehen zu sein, aber man lachte dazu; ein Bon von Herrn von Brennberg sei bares Geld und würde jederzeit mit Vergnügen angenommen.
Volksthümliche Geschichtschreibung. Der große Werth, welcher mit vollem Recht bei den neuerdings auftretenden Bestrebungen zu einer Reform der Schule auf den Unterricht in der Geschichte und innerhalb dieser wieder auf die Kenntniß der neueren und neuesten Geschichte gelegt wird, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ein Buch, welches den geschichtlichen Stoff in solcher Bearbeitung enthält, daß er sich leicht dem Verständniß des Lesers fügt, daß er nicht bloß an sein Gedächtniß, sondern auch an sein Herz und seine Phantasie sich wendet. Denn nur, wenn der Reiz und die Sinnfälligkeit der Darstellung hinzutreten, wird sich die Jugend und der bildungsuchende Laie hineinleben in die Ereignisse der Vergangenheit und sich klare, in seinem Geiste haftende Vorstellungen zu bilden vermögen.
Es ist dies eine volksthümliche Schrift „Das neunzehnte Jahrhundert“ von Schmidt-Weißenfels (Berlin, Hans Lüstenöder). Die gewaltige Stofffülle hat der Verfasser für seine Zwecke mit großem Geschick verarbeitet: sein Werk gewährt einen klaren Ueberblick über die Folge der Ereignisse und den Gang der geschichtlichen Entwicklung. Natürlich, Schlachten- und Kriegsgemälde und die Einzelheiten der diplomatischen Verhandlungen wird man hier vergebens suchen. Dafür ist der Geist der einzelnen Zeitabschnitte oft durch Aussprüche namhafter Zeitgenossen ins hellste Licht gerückt; nachdrücklich sind die großen Wendepunkte hervorgehoben, und der Zusammenhang der Begebenheiten, der beim Studium einzelner Epochen leicht verloren geht, bleibt stets dem Leser lebendig. Darum ist die Schrift für ein solches Studium zugleich vorbildend und ergänzend; an Werken, welche die kriegerischen und diplomatischen Einzelheiten der verschiedenen Zeitabschnitte darstellen, ist ja kein Mangel; doch behält man oft die Theile in seiner Hand, „es fehlt aber leider das geistige Band“ – und dies geistige Band giebt das Werk von Schmidt-Weißenfels. Dabei ist die Darstellungsweise schwungvoll, wie sich das besonders in den Abschnitten zeigt, welche die Befreiungskriege behandeln oder den Bürgerkrieg in der nordamerikanischen Union; Lebenswärme und Herzenswärme zieht unwillkürlich an. Auch die Charakterköpfe der Fürsten, Staatsmänner und Feldherrn sind, oft mit wenigen Zügen, scharf gezeichnet; nur das Bild des dritten Napoleon erscheint uns der Vertiefung bedürftig; er war doch nicht bloß ein listiger und verschlagener Kopf, er hatte einen Zug von schwärmerischem Fanatismus, der mehr hervorgehoben zu werden verdiente.
Neben den politischen Ereignissen nimmt mit Recht die Darstellung der Kulturentwicklung einen breiten Platz in dieser Geschichtsdarstellung ein: die Industrie, die Naturwissenschaften, die Künste und die Litteratur der verschiedenen Nationen finden eine Behandlung, welche auch hier aus
der unbegrenzten Stofffülle mit sicherer Hand das Bedeutsame auszuscheiden weiß. Alles ist unparteiisch und in großem Stil gehalten; nirgends
merkt man etwas von den Steckenpferden, die besonders auf dem Gebiete der litterarischen Kritik so oft geritten werden. Bei der Darstellung der
Technik und der Naturwissenschaften sind die rechten Anhaltpunkte gefunden, durch welche uns die Bedeutung dieser das ganze Jahrhundert und seine
Weltanschauung beherrschenden Entwicklung einleuchtend gemacht wird. †
Wie gutes Fleisch gesundheitsschädlich wird. Neuerdings erkrankten in einer kleineren Stadt in der Nähe von Berlin viele Theilnehmer eines Festmahles infolge des Genusses von Gänsebraten. Die eingeleitete Untersuchung ergab folgendes: Der betreffende Gastwirth hatte in Berlin eine Anzahl gesunder Gänse gekauft und diese frisch geschlachtet, während das Fleisch noch warm war, in Kisten eingepackt und nach Hause gebracht. Die Gänse wurden dann ausgepackt und wie gewöhnlich an einem kühlen Orte bis zum Verbrauch aufgehängt. Die warm eingepackten Gänse hatten sich aber in der Kiste nicht genügend abgekühlt, und dies begünstigte die Entwickelung von Fäulnißbakterien, welche tiefer in das Fleisch eindrangen. Man nahm ferner an, daß das Fleisch beim Braten nicht gehörig erhitzt wurde, so daß die Keime von Bakterien durch die Zubereitung nicht zerstört wurden. – Es giebt indessen noch eine andere Erklärung für derartige Massenerkrankungen nach Fleischgenuß. Die Bakterien erzeugen bekanntlich Gifte, Toxine, welche durch die Siedehitze nicht zerstört werden. Diese Gifte bleiben im Fleisch, welches einen gewissen Grad von Zersetzung angenommen hat, und rufen dann, wenn sie genossen werden, Erkrankungen hervor. – In derselben Weise wird das Zustandekommen des Wurstgiftes erklärt. Es kommt vor, daß, insbesondere bei Versendungen nach auswärts, die Würste warm aufeinandergelegt und in Kisten verpackt werden. Diese Unsitte sollte vermieden werden; Fleischwaren gehören nicht warm in Kisten, sondern vorher in kühle luftige Speisekammern, wo sie aufzuhängen sind; dann bildet sich rasch eine trockene Kruste um dieselben, welche das Eindringen von Organismen in die Tiefe verhindert. *
Bettelmönche in Sevilla. (Zu dem Bilde S. 177.) Sevilla ist die am meisten spanische aller spanischen Städte, die Stadt des frohen Lebensgenusses, der wie eine natürliche, selbstverständliche Bedingung des Daseins auch auf den Straßen sich breit macht. Ueberall sieht man vergnügte Gesichter und heiteres plapperndes Völkchen, bis tief in die Nacht hinein.
Aber neben diesen Straßen, in denen das bunte geräuschvolle Leben hin und wider wogt, giebt es andere, die abseits vom Lärm und frohbewegten Treiben liegen. In eine solche führt uns unser Bild. An dem Gartenportal eines der Marmorpaläste erhalten zwei Bettelmönche, ein alter und ein junger, von der reizenden, schelmischen Zofe ihren Zoll an Eßwaren, den sie in der Schürze herbeigebracht hat. Armuth und Reichthum, Entsagung und Lebensfreudigkeit, Älter und blühende Jugend, klösterliche Kasteiung und weltliche Lust haben hier an der Schwelle des Eingangs zum schattigen Parke eine Verhandlung miteinander. Gewiß ein sprechendes und auch ein sehr ansprechendes Bild, wie es sich in Sevilla alle Tage den Augen der Spaziergänger darbietet. Das brave Grauthier der Padres ist schon gut mit Gemüsen und Früchten belastet; geduldig wartet es, was man ihm noch aufpacken wird für die Küche der Klosterbrüder, die ja nur von milden Gaben leben. Der Alte und der Junge lassen sich gemächlich Zeit zur Erledigung der Angelegenheit; denn es plaudert sich so hübsch mit dem zierlichen Mädchen von Sevilla, dessen Augen ihnen beiden wie Sonnenschein in das Herz leuchten.
Die Schriftzeichen liefern bekanntlich manch’ hochwichtigen Beitrag zur Geschichte des menschlichen Denkens. Ueberall entspricht die Bilderschrift dem rohesten Naturzustand, und erst allmählich wandeln sich, wie im Aegyptischen am leichtesten nachweisbar ist, ihre Begriffszeichen zu Lautwerthen um. Eine ähnliche Wandlung haben auch die chinesischen Schriftzeichen durchgemacht, und vielfach ist es heute noch möglich, aus ihrer Zusammensetzung die Gedankenverbindung zu erkennen, welche dem Worte zu Grunde liegt. So bedeuten z. B. die chinesischen Zeichen für „Herz“ und „Tod“ zusammengestellt: „Vergeßlichkeit“, „Herz“ unter „Sklave“ bedeutet: „Zorn“. Das Zeichen für „Baum“ zweimal neben einander heißt: „Wald“; dreimal: „Dickicht“. Höchst ungalant ist die Zusammensetzung des Wortes „Geschnatter“, nämlich das dreimalige Zeichen für „Frau“.
Die Gesammtzahl aller chinesischen Schriftzeichen ohne Synonyme und veraltete Zeichen wird auf 24 235 angegeben. Ein völlig Schriftkundiger muß also schon wirklich gelehrt sein. Die Kenntniß von etwa 10000 Zeichen genügt, um ein chinesisches Werk zu lesen und verständlich darüber zu schreiben. Aber der gewöhnliche Chinese kommt mit viel weniger aus. 4- bis 5000 Zeichen nur sind für die hauptsächlichsten Zwecke des Lebens erforderlich, und das niedere Volk ist so weit entfernt, sie zu besitzen, wie der englische Feldarbeiter den Wortschatz seiner Sprache. Dieser behilft sich mit 300 Worten, während das Englische deren 100,000 zählt. R. Kleinpaul schätzt den Wortvorrath eines Mannes von durchschnittlicher Bildung auf 3- bis 4000, während große Redner über 10000 verfügen. Die deutsche Sprache aber hat gegen eine halbe Million Worte. Welchen Schatz besitzen wir also in unserem Alphabet, das uns erlaubt, mit fünfundzwanzig Zeichen diese ungeheure Wortfülle zu bewältigen, statt wie die armen Chinesen aus dem Schreiben allein eine Wissenschaft machen zu müssen!
Kleiner Briefkasten.
A. Fr. in Oberwesel. Das Bildchen auf der ersten Seite von Nummer 7 müßte von Rechts wegen allerdings „Das Rheineis bei Caub“ heißen, da das auf demselben dem Beschauer gegenüberliegende rechtsrheinische Städtchen, wie jedermann sofort erkennt, Caub mit seiner romantischen Pfalz im Rheine ist. Herr Photograph Th. Schafgans jun., dessen Geschicklichkeit und Güte wir das interessante Bildchen verdanken, hat seine Aufnahme aber auf dem linksseitigen Ufer in der Nähe von Bacharach gemacht. Daher die mißverständliche und nicht ganz zutreffende Bezeichnung in unserer Nummer 7, welche wir hierdurch richtigstellen.
H. Kr. in Baltimore. Nach neueren Forschungen wird die englische Sprache von 110 Millionen Menschen, die deutsche von 71 Millionen und die französische von 531/2 Millionen Menschen gesprochen.
An die „Deutsche Zeitung“ in Porto Alegre, Brasilien. Unseren warmen Glückwunsch zum dreißigjährigen Bestande!
J. Ch. Th. F. 19. Gewiß verdienen auch Sie und alle die vielen, die mit Ihnen seit 25 und mehr Jahren Abonnenten der „Gartenlaube“ sind, herzlichen Dank. Wir wissen, daß es viele solche giebt, die seit einem ganzen Vierteljahrhundert, ja noch länger die „Gartenlaube“ lesen und besitzen, aber die Namen der einzelnen verräth uns nur der Zufall oder eigene Mittheilung der Betreffenden. Deshalb nichts für ungut!
D. A. in Cleveland, O. Besten Dank für Ihre freundliche Zusendung der illustrirten Prachtausgabe des „Clevelander Anzeigers“, aus der wir ersehen haben, daß die Feier des „Deutschen Tags“ in Ihrer Stadt einen entschieden großartigen Verlauf genommen hat. Hoffen wir, daß solch glänzende Beispiele auch in künftigen Jahren Nachfolge finden, zum Ruhme des deutschen Namens in Amerika!
Inhalt: Eine unbedeutende Frau. Roman von W. Heimburg (10. Fortsetzung). S. 165. – Lustige Gesellschaft. Bild. S. 165. – Tragödien und Komödien des Aberglaubens. II. Von Rudolf Kleinpaul. S. 168. – Im Netz. Bild. S. 169. – Die Blumen des Paradieses. Von Dr. A. Nagel. S. 171. Mit Abbildungen S. 172, 173, 174 u. 175. – Truggeister. Roman von Anton von Perfall (10. Fortsetzung). S. 176. – Bettelmönche in Sevilla. Bild. S. 177. – Blätter und Blüthen: Volksthümliche Geschichtschreibung. S. 180. – Wie gutes Fleisch gesundheitsschädlich wird. S. 180. – Bettelmönche in Sevilla. S. 180. (Zu dem Bilde S. 177.) – Die Schriftzeichen. S. 180. – Kleiner Briefkasten. S. 180.