Die Gartenlaube (1890)/Heft 23
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Halbheft 23. | 1890. | |
(4. Fortsetzung.)
„Ob ich es ihr sagen soll? Ob ich es ihr nicht sagen muß?“ fragte sich Annie Gerold hochklopfenden Herzens, während sie sich an dem Theetisch zu schaffen machte. Es stand ihr sehr reizend, wie sie, eine zierliche gestickte Schürze vorgebunden, unter dem warmen Licht der großen Hängelampe mit dem silbernen Theekessel hantierte, die Teller mit Butterschnitten und kaltem Fleisch zurechtstellte und das alles mit so ruhiger Anmuth that. „Wie sie ihrer Mutter gleicht!“ dachte Thekla, die mit lässig übereinandergelegten Händen in ihrem weiten Lehnstuhl ruhte. „Die war genau solch entzückendes Hausmütterchen, und wer wollte es meinem Vater verdenken, daß er ganz in Liebe und Bewunderung aufging? – Das thörichte Kind!“ setzten sich Theklas Gedanken fort. „Jetzt hat sie irgend etwas zu berichten, wozu es am Nachmittag vor allen sogenannten Freundschaftsbesuchen nicht gekommen ist, und nun weiß das arme, kleine Geschöpf nicht, wie es das anfangen soll! Das kommt aber davon, daß ich meine Gefühle für das Kind meistens so sorgfältig verberge und immer so kühl und spöttisch mit ihm rede! Und unser Vater hat doch ausdrücklich zu mir wiederholt gesagt: ‚Faß mir das Vögelchen sanft an, – und vor allen Dingen dann, wenn sein Herz erwacht und die Liebe darin einzieht.‘ Aber springe einmal jemand über seinen eigenen Schatten! Ich komme mir so lächerlich vor, wenn ich einmal weich und gefühlvoll bin, ich bin es so an mir gewöhnt, den Verstand reden und das Herz schweigen zu lassen – und doch kann kein Mensch auf der Welt – nein kein einziger! – mein Kind so lieben, wie ich es liebe! Wie soll ich denn jemals weiterleben ohne das Vögelchen? Das wäre ja, als wenn man einem Menschen auf Nimmerwiedersehen die Sonne fortnehmen würde. Aber freilich, freilich – als ob es sich um mich handelte! Mein Kind hat seine erste Liebe gefunden, – – das ist’s! Ob es auch die echte, die wahre sein wird?“
Und Thekla seufzte unwillkürlich tief auf. Sofort war Annie neben ihr.
„Liebe Thea, Dir ist doch nicht schlechter?“
„Im Gegentheil, Liebling! Ich habe heute meinen guten Tag! Heute, siehst Du, könnte ich alles mögliche reden und – – hören!“
„Kluge Thea!“ flüsterte Annie und wandte das Gesicht weg, um dessen Erröthen nicht sehen zu lassen. „Nach dem Abendbrot!“ setzte sie hastig hinzu, da die Thür sich aufthat und Agathe mit einem Servierbrett eintrat.
„Nein, was für ein hübsches Bild!“ rief die alte Frau – Annie hatte sich
[710] auf die Seitenlehne des Sessels gesetzt und den Arm um Thekla geschlungen, deren Wange sie an die ihrige drückte. „Wie das reizend aussieht, – unser liebliches Vögelchen“ –
„Neben einer halbverhungerten Maus!“ ergänzte trocken Thekla, welche es liebte, Agathens Ueberschwänglichkeiten in dieser Weise zu beenden.
„Gott soll mich behüten! Was für ein Vergleich ist das? Halbverhungerte Maus! Hat man es je gehört, daß eine Dame sich selbst so nennt?“
„Nun, dann hört man es jetzt!“ meinte Thekla gelassen. „Was tischen Sie denn da für gute Sachen auf, Frau Oberhoftafeldeckerin? Das mit dem Halbverhungertsein war mein heiliger Ernst. Geschwind den Thee her, Vögelchen!“
„Hier, Thea!“
„Fräulein, nehmen Sie diesen Fleischsalat, ich hab’ ihn genau so gemacht, wie Sie ihn gern mögen! Kann ich sonst noch etwas besorgen?“
„Feuer in den Kamin, Agathe, – nicht wahr, Thea? Bitte!“
„Bei diesem Frühlingswetter? Aber mag’s drum sein, die Abende sind noch kühl!“
Das Holz lag schon kunstgerecht aufgeschichtet im Kamin, gleich lohten die Flammen auf und spiegelten sich in dem braunen Eichengetäfel; das schöne, hohe Speisezimmer bot ein Bild des Geschmacks und Behagens.
Wäre Annie noch das kleine Mädchen früherer Tage gewesen, die ältere Schwester hätte ihr zugerufen. „Spiele nicht mit dem Essen, sondern iß auf, was Du auf Deinem Teller hast!“ Nun, das ging jetzt nicht mehr gut an, und Thekla sah still zu, wie Agathens schöne Leckerbissen beinahe unangerührt beiseite geschoben wurden. Dann kam der alte Lamprecht, den Tisch abzuräumen, die Schwestern wechselten em paar freundliche Reden mit ihm, er fuhr Thekla in ihrem Räderstuhl zum Kamin, Annie holte sich ein kleines geschnitztes Bänkchen, setzte sich zu Theklas Füßen, und nun blieben die Schwestern allein. Draußen ging der Frühlingswind über die erwachende Welt und sang den Menschen sein altes, immer neues Auferstehungslied zu – hier drinnen legte ein junges Menschenkind sein Haupt auf die Kniee der Kranken und sagte leise: „Thea – morgen wird er hierherkommen.“
„Wann, mein Kind?“ fragte die andere ebenso leise zurück.
„Zwischen fünf und sechs Uhr, habe ich ihm gesagt.“
„Und meinst Du –“ fing Thekla zögernd an.
„Ach, ich weiß nicht – weiß gar nicht! Er hat nichts Bestimmtes gesagt, aber er sah so ernst und bewegt aus!“
„Ihr habt heute lange zusammen gesprochen in der Gemälde-Ausstellung?“
„Ja, sehr lange – darum kam ich so spät! Ach, und sein Bild! Thea, Thea, daß Du dies Bild nicht sehen kannst!“
„Die jungen Mädchen wollten heute ein paar Mal darauf zu sprechen kommen, aber Du hast es immer zu verhindern gewußt, Kleine – und sehr gewandt, wie ich zugeben muß.“
„Ja – ich konnte es nicht zulassen, daß die darüber urtheilen. Das ist ein Bild, so unbeschreiblich schön – man könnte es vielleicht in Musik setzen, aber niemals schildern.“
In der Stille, die hier eintrat, streichelte Thekla sanft das kastanienbraune Köpfchen, das in ihrem Schoß lag.
„Thea,“ fing die junge, beklommene Stimme wieder an, „mir will es scheinen, als ob Du Dich nicht recht freuen könntest!“
„Das wird kommen, Liebling! Meinst Du, ich sei so herzlos und selbstsüchtig, mich nicht an Deinem Glück mit zu freuen? Aber erst muß es doch da sein – Dein Glück – und ich muß es als solches erkennen! Sieh, mein Herzblatt, dieser Mann ist allen fremd, niemand kennt ihn, niemand kann mir etwas über ihn sagen, und so oft ich mich auch über meines Vögelchens richtigen Blick und treffendes Urtheil gefreut habe … hier bin ich mit Recht ein wenig mißtrauisch, denn ein leidenschaftlich liebendes Mädchenherz kann keine Beweisführung abgeben.“
„Wenn es nicht gerade die beste Beweisführung wäre, daß es eben diesen Einen so leidenschaftlich liebt!“
Solche unwiderlegbaren Aussprüche überraschten Thekla oft bei Annie – gerade so hatte auch Annies Mutter oft gesprochen.
„Und Du wirst – wirst Du – mich auch immer lieb behalten, Thea, wenn es – wenn es – so kommt?“
Es klang sehr bittend und demüthig, und dazu küßte ein bebender Mund Theklas Hand.
„Ich – Dich? O, Du mein Kleines! Wie kannst Du nur fragen? Aber Du, in Deinem neuen, großen Glück –“
„Du weißt, daß ich Dich noch viel, viel lieber dann haben werde, wenn das möglich ist – nicht wahr, Thea, Du weißt es? Nie hab’ ich es verstehen können, wie das Glück engherzig machen kann! Tausendmal besser sein als bisher, und gut und hilfreich und geduldig mit andern, und immer geben, geben von dem eigenen, unerschöpflichen Reichthum – Gott danken und ihn noch viel inniger lieben als bisher, und alle Menschen lieb haben –“
Das Glaubensbekenntniß kam nicht zu Ende. Thekla preßte die junge Schwester an sich und murmelte gerührt:
„Segen über Dein goldenes Herz! Daß er es nur zu würdigen versteht!“
„Ach – würdigen! Er!“ Wieder eine Pause – endlich kam es sehr, sehr schüchtern und zaghaft über Annies Lippen: „Thea – hast Du eigentlich – eigentlich – früher, meine ich –“
„Jemand geliebt?“ vollendete diese ruhig. „Nun, Vögelchen, darüber hast Du Dir gewiß schon oft den Kopf zerbrochen?“
Es kam keine Antwort.
„Und mit Dir viele, die hier ein- und ausgehen,“ fuhr Thekla, allmählich in ihre gewohnte Redeweise übergehend, fort, „junge, naseweise Mädchen und würdige Mütter und reifere Damen – den Männern wird es herzlich gleichgültig sein. Aber die Weiber! Die alte Thekla Gerold – der Krüppel – das häßliche, kranke Geschöpf – die gelehrte alte Jungfer – ob die wohl jemals geliebt haben kann? Unmöglich! Sie, die sich so groß thut mit ihrer Klugheit, mußte doch so genau, wie zweimal zwei vier ist, wissen, daß das nie im Leben erwidert werden konnte, und wenn ihr der eigene Vater hundertmal aus Mitleid weisgemacht hat, sie sei ganz etwas Besonderes –“
„O nein, Thea! Liebe Thea! Nicht so! Ich bitte Dich!“
„Nein, nein, Vögelchen, ich will Dir nicht wehthun! Also ernsthaft denn! Ja, trotz dieser sogenannten Klugheit, Geistesschulung, Selbsterkenntniß – ist es mir gegangen wie andern auch, es hat mir das alles nichts geholfen. Das war zu der Zeit, als Deine Mutter zu uns ins Haus kam, begleitet von einer ganzen Schar von Hausfreunden, ehemaligen Verehrern, Vettern – was weiß ich! Und unter ihnen war einer, der that es mir an – Du wirst vielleicht denken, ein ernster, gelehrter Herr, mit allen Schätzen des Wissens ausgerüstet … nichts von alledem! Ein junger, heiterer, frischer Offizier – weißt Du, wer ihm ein wenig ähnlich sieht? Der Ulanenlieutenant von Conventius! – Es war damals soviel Liebe um mich her – wohin ich nur sah. Unser Vater war vollständig verwandelt, das Glück leuchtete ihm aus den Augen, lachte ihm von den Lippen, klang ihm aus der Stimme – und sie, unser Sonnenstrahl – nun, wer selbst einer ist wie Du, kann wohl nicht ganz den Zauber begreifen, der von einem solchen Wesen ausgeht; sie, Deine schöne, junge Mutter, liebte unsern Vater gleichfalls mit der ganzen Kraft ihrer frischen, ungebrochenen Seele … Wohin ich nur blickte, sah ich Liebe, Glück und Hingebung, und ich war damals selbst noch jung und merkte eigentlich zum ersten Male, daß ich auch ein Herz besaß, nicht bloß das bißchen Verstand, wovon alle Welt soviel Aufhebens machte, weil die Menschen wohl sahen, daß ich sonst nichts anderes hatte, womit ich Staat machen konnte, sondern einzig und allein auf die Wissenschaften angewiesen war. Jener junge Offizier war ein entfernter Vetter Ellinors, Deiner Mutter, und auch ein ehemaliger Freier von ihr – sie hatte alle andern abgewiesen, weil sie nun einmal keinen andern wollte als unsern Vater. Nun, der Vetter Lieutenant ging nicht zu Grunde an dem Korb, den sie ihm gab, er gewöhnte sich ganz tapfer daran, sie als eine glückselige junge Frau an der Seite ihres Mannes zu sehen, er kam oft und immer öfter in unser Haus, ein gerngesehener Gast bei uns allen – am meisten bei mir! Ich nahm mich wacker zusammen, sagte mir’s immer wieder vor, daß seine unbefangene Freundlichkeit mir gegenüber nichts anderes sei als die schuldige Höflichkeit eines wohlerzogenen Menschen gegen die Tochter des Hauses, in dem er soviel Gastfreundlichkeit genoß – ich sagte mir ferner, daß ich, ein krankes, halb verkrüppeltes Geschöpf, niemals im Leben auf Liebe und Glück Anspruch zu erheben habe, ganz von der Idee zu schweigen, die Gattin eines hübschen jungen Offiziers zu werden … liebste Annie, es half mir alles nichts! – Ich hörte unter allen seinen Schritt heraus, wenn er draußen auf der Treppe klang, der Ton [711] seiner Stimme ließ mein Herz bis zum Ersticken schlagen, und wenn er sich über meinen Sessel neigte, meine kalte Hand herzlich in seine beiden warmen, kraftvollen Hände nahm und mich mit seinen übermüthigen Augen anblitzte; wenn er sein helles, frohes Lachen erschallen ließ, dann war es mir, als ob Jugend und volles, frisches Leben und Gesundheit um mich und in mir wäre – ich vergaß mein ganzes Leiden, all meine Entsagungsgedanken und vernünftigen Vorsätze – ich fühlte mich wohl und glücklich! Er hieß mit seinem Taufnamen Max und gewöhnte sich im Lauf der Zeit daran, mich scherzend ‚seine Thekla‘ zu nennen. Ein Buch, es waren Heines Gedichte, als Einlösung einer verlorenen Wette, das auf dem Titelblatt die Inschrift zeigte: ‚Max seiner Thekla‘ – besitze ich heute noch.
Es sollte aber nicht immer so schön bleiben, vor allen Dingen nicht so harmlos. Meine Leidenschaft wuchs, ich war namenlos unglücklich an den Tagen, da ich ihn nicht sah, und war er da, dann quälte mich sein Blick, seine Stimme. Ich aß nicht und schlief nicht mehr, meine Stimmung wurde ungleich, das Leben war mir eine Last, meine glückliche und harmonische Umgebung wurde zur Folter für mich. Ein paar Mal nahm ich mir vor, den Vater zu bitten: Sage Max, er soll uns nicht mehr besuchen – ich ertrage es nicht! Aber das vermochte ich doch wieder nicht. Das sind Dinge, die man wohl mit einer Mutter besprechen kann … mit einem Vater, und wäre er noch so gütig, nie! Ach, und ich hatte keine Mutter, denn das schöne, jugendstrahlende Wesen an meines Vaters Seite kam mir mehr wie mein Kind vor! –
Dann kam eine Zeit, da blieb er fern – Du wurdest geboren! Ich faßte eine große, zärtliche Liebe für Dich – aber Du hattest ja eine Mutter, die Dich anbetete, einen Vater, der glückselig über Dich war … Ihr drei waret Euch genug – ich kam mir überflüssig, ausgestoßen vor, und mein Herz schrie laut nach Liebe, nach Glück, ohne daß ein Mensch es ahnte, denn sie waren alle gut und rücksichtsvoll gegen mich. – Auch er kam nun wieder oft ins Haus, ich strebte aus aller Kraft, mich zu beherrschen, ich wollte und mußte stark sein – ich wollte es, mit Aufbietung meines ganzen Willens! Das aber machte mich ganz krank – viel konnte ich ohnehin nicht vertragen, und wenn der Körper hinfällig ist und die Seele ihm nicht helfen kann, dann ist es traurig um so ein armes Menschenkind bestellt. – Deine Mutter mag vielleicht geahnt haben, wie es um mich stand, ihre schönen Augen ruhten zuweilen mit einem so eigenen, fragend weichen Ausdruck auf mir, sie war sehr, sehr gütig gegen mich, beschenkte mich mit Büchern, Blumen, Kunstwerken, lauschte mir jeden Wunsch ab und behandelte mich mit einer Rücksicht und Zartheit, die mich tief rührte … aber freilich, ich hätte zuerst sprechen, sie in mein Vertrauen ziehen müssen, da sie viel zu feinfühlend war, um zu fragen; aber darüber reden – das konnte ich nicht! –
Und mitten in all diese Grübeleien, diese inneren Kämpfe fiel der jähe Wetterschlag, der das strahlende Glück um mich her, das ich so schwer in meiner Verbitterung empfunden hatte, auf immer vernichten sollte – – unser Sonnenstrahl erlosch. Jetzt hatte ich wahrlich keine Zeit, an meinen Herzenskummer zu denken; es galt, einen geliebten Vater vor Verzweiflung zu bewahren, ein mutterloses Kind zu pflegen, und ich that beides, so gut ich’s konnte. Inzwischen war das Regiment, bei welchem Max stand, nach einer weit entfernten Garnison verlegt, und ich empfand diese Trennung als etwas, das ganz selbstverständlich mit zu dem großen, tiefen Schmerz, den ich jetzt durchleben mußte, gehörte. – ‚Auch das noch!‘ sagte es in mir, als er wie ein guter, treuer Freund von mir Abschied nahm und meine Rechte zum letzten Mal mit seinen Händen umschloß.
Ich war nun allein – aber ich hatte Pflichten, ich fühlte mich nicht länger überzählig, im Gegentheil, ich wußte, daß ich unentbehrlich war. Mein Vater brauchte mich und auch das kleine, kleine Vögelchen, das da, froh und ahnungslos wie ein solches, Hilfe und Sorgfalt und – Liebe von mir forderte. Freilich wollte es noch manchmal bitter in mir aufwallen, wenn ich die überströmende Zärtlichkeit gewahrte, die mein Vater gegen seine Kleine an den Tag legte. Mich hatte er sorgsam überwacht, gepflegt, geduldig gewartet – aber zärtlich war er, so weit ich auch zurückdachte, nie mit mir gewesen. Er hatte in mir, als ich noch ein halbes Kind war, einen Kameraden gesehen, seinen Amanuensis, oft hatte er mit Bewunderung von meinem ‚starken Geist‘ gesprochen, und dies alles erfüllte mich mit Stolz und Freude. Jetzt aber, doppelt vereinsamt in meinem Herzen, wünschte ich mir keine verständige Anerkennung, keinen ruhig freundschaftlichen Ton, mich verlangte nach einem warmen, lebendig überwallenden Gefühl … dies aber gab unser Vater ganz Dir, seinem Herzenskinde!
Als uns nach einigen Jahren Max seine Verlobung anzeigte, spürte ich noch etwas wie einen dumpfen Schmerz – aber jedes Feuer lischt aus, wenn es ohne Nahrung bleibt – und so ist es mir auch ergangen! – Nun, nun, mein Herzenskind, was giebt es denn da so bitterlich zu weinen? Thut’s Dir so leid um meine alten, vergangenen Schmerzen? Das liegt ja nun weit, weit hinter mir, ist längst überwunden, und ich blicke so ruhig auf alles zurück, als hätte es statt meiner ein ganz anderes Wesen erlebt!“
„Ich glaube Dir’s, gewiß, Thea, es ist alles schon so lange vorbei!“ sagte Annie mühsam aus ihren Thränen heraus. „Aber sieh – es ist doch das schönste, tiefste Gefühl, das man haben kann, ein Glück, so unendlich groß wie gar nicht von dieser Erde, wenn man fühlt, daß man liebt und wieder geliebt wird! Und daß Du das nie so recht erlebt hast und es Dir so wünschen mußtest, ohne es je erfüllt zu sehen – Du – mit Deinem reichen, großen Herzen, wenn Du es auch noch so sorgsam vor andern verstecken möchtest – das – das –“
„Sei vernünftig, Liebchen, hör’ auf zu weinen! Du hast ein weiches, liebevolles Gemüth, aber nimm Dir das, was ich Dir eben erzählt habe, nicht so zu Herzen. Wer weiß, wenn ich nun ein hübsches, gesundes junges Mädchen gewesen wäre – ob ich mit meinem Auserkorenen hätte glücklich sein können! Ich bin immer eine anspruchsvolle Natur gewesen, veilchensanfte Bescheidenheit kann mir keiner nachrühmen, eine gefügige Ehefrau wäre ich schwerlich geworden.“
Es war Theklas alter sarkastischer Ton, in dem sie jetzt redete – sie wollte Annies Aufregung dadurch dämpfen.
„Und Du wirst nie mehr sagen – vor allem aber auch nie mehr denken – daß ich anders werden, Dich weniger lieben könnte als bisher?“
Annie hob ihr heißes, verweintes Gesichtchen aus Theklas Schoß empor und sah sie zärtlich bittend an.
„Nein doch! Nein, Du kleiner, gefühlvoller Narr! Wie sollt’ ich denn! Wenn zwei sich soviel Jahre hindurch geliebt und so miteinander gelebt haben wie wir, da kann es kein Aufhören geben!“
„Und wenn ich auch lange nicht so klug bin wie Du, so hast Du mich doch nicht umsonst unterrichtet und erzogen und soviel mit mir gelesen und geredet – weißt Du, das eine ernste, schöne Jahr nach unseres Vaters Tode? Etwas von dem Geist der gelehrten Thekla Gerold ist auch auf die unbedeutende Annie übergegangen.“
„Dummes Geschwätz! Was nicht in einem Menschen steckt, das kann kein anderer aus ihm hervorzaubern – es steckte schon recht viel in Ellinor, und dies mütterliche Theil, wie noch manches nicht zu verachtende weitere, ist auch in Dir zu finden. Basta! Ich fange wahrhaftig noch an, meinem Kinde Schmeicheleien zu sagen – da hört denn doch die Weltgeschichte auf! Genug der Sentimentalität! Sag’ mir lieber, ob Du noch der Meinung bist, Dein Zukünftiger werde mir mißfallen – und weshalb!“
„Ja – weshalb? Wenn ich Dir das nur so recht sagen könnte!“ Annie war von den Knieen aufgestanden und blickte nachsinnend vor sich hin. „Sieh, Thea, Dein Geschmack, das ist nun zum Beispiel Fritz von Conventius! Ja aber mit dem, so nett und hübsch er ist, könnte ich hundert Jahre in einem Vogelbauer zusammensitzen, ohne daß mein Herz einen einzigen rascheren Schlag thäte, während bei ihm – er – ich – ach, ich kann ihn nicht beschreiben! Du wirst ihn ja sehen!“
Und sie bedeckte sich das Gesicht mit beiden Händen und lief halb lachend, halb weinend zur Thür hinaus. – – –
Zu derselben Stunde saß der Ulanenlieutenant von Conventius in seinem bequemen Hausrock an seinem Schreibtisch, auf welchem eine helle Lampe brannte, und arbeitete. Allerlei Karten, Pläne, Zeichnungen, Bücher, kurz, das ganze Material der Kriegswissenschaft lag aufgehäuft um ihn herum, der junge Mann dampfte heftig aus einer türkischen Cigarette, und Julchen lag, halb
[712] träumend, halb wachend, auf einem zerzausten schwarzen Fell
zwischen den Füßen ihres Herrn.
„Hm!“ brummte dieser zwischen den Zähnen. „Die verwünschten Berechnungen bringen einen um das letzte Restchen von Verstand. ‚Mathematik – schwach‘, kann ich von mir sagen. Warum war ich auch in der Schule nicht fleißiger? Der alte Professor sagte oft genug: ‚Conventius, bei Ihrer Begabung müßten Sie bedeutend mehr leisten.‘ – Er hatte recht, aber diese Reue kommt jetzt jedenfalls zu spät! – Halt’ Dein Maul!“
Diese letzte, wenig höfliche Anrede galt Julchen, die ein jämmerliches lautes Gähnen ausgestoßen hatte; sie legte beschämt den Kopf zwischen die Vorderpfoten und wedelte bittend mit dem Schwanz.
„Nun? Was ist los?“
Der Bursche steckte seinen Kopf zur Thür herein.
„Herr Pfarrer von Conventius lassen anfragen, ob es dem Herrn Lieutenant genehm wäre, ihn zu empfangen.“
„Natürlich ist mir’s genehm. Immer herein, Regi! So – da setz’ Dich. Du kommst mir gerade recht, ich war eben im Begriff, mich ganz dumm zu studieren!“
„Aber, lieber Fritz, wie Du es in dieser Luft überhaupt aushalten kannst –“ der Pfarrer räusperte sich und ließ sich kopfschüttelnd in einen Lehnstuhl neben dem Schreibtisch sinken.
„Wollen wir ins andere Zimmer gehen? Mir ist’s hier freilich ganz behaglich und ich kann auch nur ordentlich arbeiten, wenn ich rauche. Ohne Cigaretten wäre ich schon rettungslos verdummt!“
„Nein, nein – bleiben wir doch hier!“ wehrte der Pfarrer hastig. „Ich habe ja ganz gesunde Lungen. Also – Fritz …“
„Herrgott, Kerlchen, Du siehst ja so feierlich aus!“
„Es ist mir auch feierlich zu Muthe, Fritz!“
„Na, denn … heraus damit!“ Der Ulan schlug dem vor ihm Sitzenden gemüthlich aufs Knie, um ihn aufzumuntern.
„Zunächst möchte ich Dich etwas fragen – etwas sehr Ernstes: hast Du – interessirst Du Dich – mit einem Wort: liebst Du Annie Gerold?“
Der Lieutenant schob seinen Stuhl zurück und sah den Vetter verdutzt an; er konnte auf diese Frage vorbereitet gewesen sein, sie kam ihm aber doch „etwas plötzlich!“
„Wer? Ich?“ fragte er rasch dagegen. „Hast Du denn etwas – etwas derartiges bei mir wahrgenommen?“
„Nun,“ sagte der Geistliche ein wenig gepreßt, „Du warst von jeher ein Bewunderer weiblicher Schönheit und hast nie ein Hehl daraus gemacht. Fräulein Gerold aber ist ein sehr schönes junges Mädchen, und wie Du bei Weylands den Cotillon mit ihr tanztest – da, Fritz – ja, da sprachen Deine Augen doch recht deutlich!“
„So? Also das thaten sie?“ Der Ulan rieb sich nachdenklich mit der Hand das Kinn, die Cigarette war ihm ausgegangen, er achtete nicht darauf. „Ja, sieh einmal, lieber Freund und Vetter, das ist diesen meinen Augen schon, wie Du richtig bemerktest, recht oft passirt, und wird ihnen passiren, solange es hübsche Mädchen auf der Welt giebt. Weiß der“ – hier verschluckte der Lieutenant, bildlich gesprochen, den Teufel und setzte, aus Rücksicht auf seinen geistlichen Vetter, den Kuckuck an dessen Stelle! – „weiß der Kuckuck, es muß mir von meinem seligen Papa her im Blut stecken – ich kann gar nicht anders! Heillos brennbarer Stoff! Immer gleich Feuer und Flamme! So, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch hier! Aber wohlgemerkt, Regi – das ist gewesen! Reinweg aus und vorbei! Ich stehe nicht an, zu bekräftigen, daß Fräulein Gerold wirklich ein wunderschönes Mädchen ist – aber ich schwärme sie so platonisch an wie etwa die Venus von Milo und werfe meine unverbesserlichen Augen auf ein Objekt oder vielmehr Subjekt, das mir nicht ganz so unerreichbar sein dürfte!“
„Und inwiefern wäre Fräulein Gerold unerreichbar für Dich?“
„Erlaube ’mal, mein Sohn! Die Fama wird es Dir, ebensogut wie mir, zugetragen haben, daß besagte Dame, reich und schön wie sie ist, ziemlich hohe Ansprüche stellt und erwiesenermaßen eine ganz hübsche Anzahl ansehnlicher Freier heimgeschickt hat, darunter ein paar sehr nette Kameraden von den Dragonern. Was denen geschehen ist, könnte sich bei mir wiederholen, und ein Korb ist eine unangenehme Sache, mit der Dein Vetter nichts zu thun haben möchte. Meinen Soldatenstand in allen Ehren, – aber, obgleich fast alle Kameraden darauf schwören, jedes Mädchen nähme einen Lieutenant am liebsten, – manche wollen merkwürdigerweise doch etwas anderes haben, und dies junge Fräulein mit ihrer eigenen Vornehmheit und ihrer sorgfältigen Erziehung schon ganz sicher. Wozu soll ich mir nun mein angenehmes Selbstgefühl trüben lassen? Ich bin mehrfach da im Hause gewesen und habe die schönen Augen der jungen Dame so unbefangen und standhaft freundlich auf mich gerichtet gesehen, daß ich ein Esel wäre, leidenschaftliche Gefühle für mich in ihr zu vermuthen; somit spiele ich mich mit Erfolg auf den ergebenen Freund auf, und es würde mir sehr lieb sein, wenn ich als solcher eine wirkliche Rolle von ihr zuertheilt bekäme!“
„Eine Rolle? Inwiefern das?“
„Aber, mein guter Regi, wie kommst Du mir denn vor? Spielen wir doch mit offenen Karten! Nachdem Du meine Gefühle sondirt hast – gieb zu, daß ich es Dir kinderleicht machte! – kommst Du an die Reihe, denn Du bist doch nur deshalb zu mir herabgestiegen, um mir eine Beichte abzulegen – wie?“
„Ja denn!“ In das edle Gesicht stieg eine leichte Röthe, und die Augen bekamen ihren schwärmerischen Glanz. „Ich kam, um Dir zu sagen, daß ich Fräulein Gerold – daß ich mich um sie bewerben möchte – daß sie schon beim ersten Sehen einen ganz ungewöhnlich tiefen Eindruck auf mich hervorgebracht hat und daß ich damals schon daran dachte, sie mir für das Leben zu gewinnen. Seitdem habe ich immer an sie denken müssen, trotz aller wichtigen Berufsarbeit – ich – das kann ich Dir nicht so sagen, Fritz – ich denke aber, mein ganzes Leben würde arm und lichtlos sein, wenn sie nicht darin wäre – und wiederum, mein ganzes Leben würde nicht ausreichen, ihr Dank und Liebe und grenzenlose Hingebung zu beweisen, wenn sie mich mit ihrer Neigung beglücken wollte. Ich traf sie heute, wir sprachen miteinander, und ich sagte ihr meinen Besuch für die nächste Zeit zu. Sieh, Fritz, Du gehst dort im Hause schon ein und aus und bist so gewandt und viel weltklüger als ich, der ich zum ersten und sicher auch zum einzigen Mal in meinem Leben – – der ich in solchen Angelegenheiten ganz unerfahren bin! Was räthst Du mir nun, zu thun?“
Der junge Offizier sah ganz ungewöhnlich ernst aus, als er seinem Vetter jetzt nachdrücklich die Hand auf die Schulter legte.
„Hinzugehen – sobald als möglich! – und ihr Deine Liebe zu gestehen – gleichfalls sobald als möglich! Schade, daß es nicht noch heute sein kann!“
Reginald sah etwas beunruhigt aus.
„Du betonst das so seltsam – Du meinst, es hätte solche Eile damit?“
„Das meine ich in der That! Man muß das Schicksal bei der Stirnlocke fassen – das ist meine Losung!“
„Und Du hast diesmal noch einen ganz besonders triftigen Grund dafür?“
Fritz zögerte, ein wenig, dann sprach er ein entschlossenes „Ja!“
„Du brauchst darum noch lange nicht die Segel zu streichen – im Gegentheil! Ein Mensch wie Du kann es mit jedem Nebenbuhler aufnehmen – mit jedem! Aber absichtlich dem – dem – andern allerlei Vortheile und Vorsprünge lassen … wer wird das wollen? Es ist da so ein fataler Mensch um Deine Angebetete herum – ich muß einschalten, daß ich sie mit Entzücken Cousine nennen und als solche behandeln würde! – ein gewisser Professor Delmont – Du nickst bestätigend mit dem Kopf, er ist Dir also auch schon aufgefallen.“
„Gewiß! Und scheint mir sehr gefährlich!“
„Lange nicht so schön wie Du – mach’ nicht abwehrende Gesten, Du bist schön, und damit Punktum! Aber – leugnen kann ich es darum nicht: dieser Delmont hat verteufelte Vortheile! Der Mensch hat ein so unglaublich anziehendes Gesicht, solch seltsam tragische Augen – gescheit ist er sicher auch – hat einen großen Ruf als berühmter Künstler – bedeutendes Vermögen – fällt freilich hier nicht sonderlich in die Wagschale – und nun noch das Bild auf der Ausstellung …“
„Ich war noch nicht dort, habe es noch nicht gesehen!“
„Ah, ich sage Dir, einfach großartig! ‚Der Engel des Herrn‘ nennt sich das Werk – sonst nicht gerade mein Geschmack, aber das – ich kann nur sagen: Geh’ hin und sieh! Fräulein Gerold war da und hat gesehen … undzwar mit ihm zusammen, der beinahe zwei Stunden hindurch nicht von ihrer Seite wich! Also noch einmal: was Du thun willst, das thue bald, sobald als möglich!“
Conventius stand hastig auf.
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[714] „Ich will Deinen Rath befolgen, Fritz! Gleich morgen will ich hingehen!“
„Du wirst sehr wohl daran thun! Setz’ nur voll ein mit Deiner ganzen Persönlichkeit – die Sache will’s!“
„Du hast recht, und ich danke Dir! Guten Abend!“
Die Vettern drückten einander mit einem bedeutungsvollen Blick fest die Hände. Unter der Thür stieß der Pfarrer auf die Hünengestalt des Rittmeisters Thor von Hammerstein, der mit einer Entschuldigung zurückprallte.
Der Ulanenlieutenant war aufgestanden, zog den neuen Gast ohne weiteres über die Schwelle und rief dem Davongehenden ein frisches: „Glückzu!“ nach.
„Warum wünschtest Du Deinem Vetter Glück?“ fragte Thor, während er gemächlich seinen Säbel loskoppelte.
Fritz faßte ihn bei den Schultern und starrte ihm mit vielem Ernst ins Gesicht.
„Dich nannt’ ich thör’ger Reiner.
‚Fal Parsi, –‘
Dich, reinen Thoren, ‚Parsifal!‘
So rief, da er –“
„Wenn Du doch einmal Deinen Unsinn lassen möchtest!“ knurrte der andere mürrisch und machte sich los. „Ich meine nur, dieser Vetter ist ohnehin ein Glückspilz: schön, reich, von gutem Namen, ausgezeichnete Carrière vor sich – was soll man dem noch wünschen?“
„Nun – so beiläufig etwa! – eine passende Frau!“
„Frau! Das ist’s! Eben darum komme ich –“
„Wegen Reginalds zukünftiger Frau?“
„Narrheit! ’s handelt sich nicht um ihn! Ich – hast Du etwas Trinkbares?“
„Alten Sherry.“
„Meinetwegen! Gieb ihn her! Du nicht? Na – also –“ Thor goß sich sein Glas voll, trank es auf einen Zug leer und füllte es bedächtig von neuem. „Du bist ja da im Hause so rasch Liebkind geworden, bist auch ein netter Kerl, – also – hast Du etwa ernste Absichten?“
„Merkwürdig, wie sich heute die Menschen um meine Herzens-Angelegenheiten bemühen,“ dachte Fritz von Conventius; laut fragte er: „Absichten? Auf wen überhaupt?“
„Stell’ Dich nicht dumm an, – Du weißt ganz gut, wen ich meine,“ – Thor zeigte mit dem Daumen rückwärts über seine Schulter, als stände die betreffende Persönlichkeit hinter ihm – „Du weißt es ebenso bestimmt wie ich, daß ich Fräulein Gerold im Sinne habe!“
„Die ältere Schwester oder die jüngere?“
„Aber zum Donnerwetter!“ brach Thor los. „Kannst Du denn nicht vernünftig reden? Ich will wissen, ob Du da Dein Glück versuchen willst – auf eigene Hand?“
„Und wenn ich nun wollte?“
„Dann wär’s natürlich für mich aus – Du hättest mehr Aussicht, – bist von anderem Kaliber als ich, – gefällst den Weibern besser –“
„Na, Thor, lassen wir das! Wenn’s Dich trösten kann: ich will für eigene Rechnung dort nichts haben – Du brauchst mir darum noch nicht die Hand aus dem Gelenk zu reißen – aber, alter Kerl, ob’s Dir darum dort glückt ...“
„Du meinst, sie ist zu klug für mich, – übersieht mich, – was? Daran ist diese verrückte alte Schwester mit ihrem Gelehrtenkram schuld –“
„Erlaube ’mal, Parsifal, – die Schwester ist wirklich nichts weniger als verrückt!“
„Dann ist sie verdreht, das ist so ziemlich dasselbe! Könnte sie dies schöne Mädel nicht in Ruhe lassen? Muß sie sie mit Gewalt geistreich machen?“
„Geistreich machen läßt sich kein Mensch, mein Alter! Wenn das so ginge, – da möchte mancher kommen!“
„Na, ich meine all das Zeug von Philosophie und Kunstgeschichte und Naturwissenschaft, – ein Mädel, wie das eins ist, braucht das im Leben nicht, – das ist für die häßlichen, sitzengebliebenen –“
„Alte Litanei!“ unterbrach ihn der Lieutenant ungeduldig. „Das kennen wir schon! Meiner unmaßgeblichen Ansicht nach schadet es einer schönen Frau eigentlich nicht, wenn sie nebenbei auch noch klug ist und einen gebildeten Geist besitzt! Aber das alles beiseite, – nicht um mich handelt es sich hier, – und – und ich fürchte, es wird sich auch nicht um Dich handeln –“
„Warum nicht?“ Thor strich herausfordernd den rothen Schnurrbart. „Wenn man auch kein Adonis ist, – ein Ulanenrittmeister mit Vermögen und von altem Adel ist am Ende kein Pappenstiel –“
„Gewiß nicht – aber solch’ ein Mädchenherz trifft zuweilen eine absonderliche Wahl! Da ist ein gewisser Professor Delmont, – ein Maler –“
„Ach, – der!“ Thor erhob sich und stieß mit einer gleichgültigen Gebärde seinen Stuhl zurück. „Solch ein Farbenreiber, – mit dem hat’s keine Gefahr, – da kann unsereiner es getrost drauf ankommen lassen! Hat er nicht ein Bild ausgestellt, – was war’s doch gleich?“
„‚Der Engel des Herrn‘ – vom Wiener Kunstverein für fünfzigtausend österreichische Gulden angekauft, – der Mann hat ein schönes Vermögen erworben und eine jährliche Durchschnitts-Einnahme von etwa dreißigtausend Mark!“
„Alle Wetter! Aber meinst Du denn, daß das bei einem Mädchen wie dies so schwer ins Gewicht fallen dürfte?“
„Wenn dies Mädchen die heute übliche windige Töchtererziehung erhalten hätte, dann dürfte ihr dieser Umstand von ungeheurer Wichtigkeit sein. Dank der Leitung einer Thekla Gerold aber, die ihrer Schwester etwas weitere Ziele und Gesichtspunkte gesteckt hat –“
„Aha, das soll auf mich gehen!“ murrte der Rittmeister. „Der Hieb sitzt! Lassen wir ihn sitzen, und hören wir weiter! Die junge Dame ist selbst sehr vermögend, – reich sogar, – was wird ihr denn da so ungeheuer imponieren?“
„Vielleicht der Mann selbst und sein Genie!“
„Hm!“ Thor drehte sich schwerfällig herum und langte nach seinem Säbel. „Und was räthst Du mir nun?“
„Geh’ hin, Bethörter, suche Dein Heil!“ sagte der Lieutenant pathetisch. „Und, was Du thun willst, thue bald! Und noch eins: mach’ Dich lieber zum voraus so auf – – auf dies und jenes gefaßt. Bei solchen Angelegenheiten ist’s allemal gut, gesattelt zu sein! Man kann doch nie wissen! Das Leben wird’s Dich gerade nicht kosten, wenn sie Dich ausschlägt, – hm?“
„Allzuviel Muth machst Du mir nicht, das muß wahr sein! Und ich hatte gedacht, … na, … einerlei, was ich gedacht hatte! – Adieu auch!“
Der lange Rittmeister klirrte zur Thür hinaus. Den jungen Lieutenant mußten die zwei Beichten erstaunlich angegriffen haben; er setzte sich wie ein schwermüder Mann vor seinen Arbeitstisch und sprach leise vor sich hin:
„Guter Kerl, der Thor, – aber ein Tapir! Auch einer von denen, die der unerschütterlichen Meinung sind, ein Kavalleriesäbel thäte es bei allen Weibern! Wird bald besser belehrt werden, – geht nicht dran zu Grunde, – kann schon was aushalten! Aber Regi! Vielleicht, daß sie doch – wer lernt bei den Mädels aus! Daß ich mich soviel drum kümmern muß, ob andere Leute ’ne Frau kriegen! Hab’ selbst nicht ’mal eine! – – Komm her, Julchen!“
Julchen fuhr aus ihrem Winkel empor, schmiegte sich an ihres Herrn Kniee und ließ sich von ihm den glatten Kopf streicheln.
„Sollen wir auch heirathen, was, Julchen? So eine nette, niedliche, blonde Frau, die uns gute Bissen giebt und uns liebevoll behandelt? Ich glaube, wir können es haben, Julchen, wenn wir es sehr gern wollen, – wir können es haben!“ – – –
„Heute!“ sagte Annie Gerold vor sich hin, – „heute!“ – –
O hoffendes junges Menschenherz mit deinem stürmischen Schlagen! Sei nicht so ungeduldig, schilt nicht die schleichende Zeit! Sie geht vorwärts, jetzt wie alle Tage, – dem einen entschwindet sie bleischwer, langsam, den andern trägt sie wie auf Flügeln dahin! Auch für dich, frohes, glückliches Herz, kommt rasch die Stunde, da du auf das, was jetzt dein „Heute“ heißt, zurückblickst, wehmüthig, reuevoll, daß du es nicht verstanden hast, die Vorfreude recht zu genießen, sie, die oft die reinste Gabe ist von allem, was das Schicksal uns bietet! –
Thekla hatte einen bösen Nerventag, sie lag abgespannt in ihrem Sessel, die wachsweißen Hände gefaltet, zu elend, um die neuen philosophischen Schriften zu lesen, die der Buchhändler ihr geschickt hatte. Sie lagen unaufgeschnitten auf dem Tisch, der das unberührte Frühstück trug, und die matten Augen der Kranken sahen wehmüthig in den hellen Sonnenschein, der wie lichtes Gold auf allem lag. Und neben ihr Annie, ihr rastloses „Heute“ im [715] Herzen! Sie war tagüber gut und fleißig gewesen, – o, sie konnte sich ein gutes Zeugniß ausstellen! Sie hatte früh morgens mit Agathe gerechnet und war mit ihr auf Einkäufe gegangen, hatte selbst beim ersten Delikatessenhändler und in der größten Handlung für Südfrüchte allerlei schöne Sachen für Thekla eingekauft, – von ihrem eigenen Gelde, versteht sich! Dann hatte sie bei einigen von ihren Armen Besuche gemacht, – ihr Vater hatte sie zum Wohlthun angehalten, und das war ihm leicht geworden, Annie gab schon als Kind gern und freiwillig – und sie hatte diesen Armen außer der Zeit eine Freude bereitet. Thekla schärfte ihr zwar immer ein: „Gieb ihnen kein Geld, – die Männer vertrinken es doch nur; kaufe lieber etwas Nützliches!“ und Annie hatte das auch meistens getan, – aber heute gab sie doch Geld. „Kann man denn immer wissen, was die Leute gerade brauchen,“ dachte sie, „und muß es nicht gerade diesen Armen doppelt werthvoll sein, einmal nach eigenem Ermessen etwas erhandeln zu können, was sie sich wünschen?“ – – Und so drückte denn das junge Mädchen hier und dort mit ihrem lieben Lächeln ein Päckchen in eine arbeitsharte Hand, ein paar Mal mit der treuherzigen Mahnung: „Aber Ihr müßt es nicht für etwas Schlechtes ausgeben!“ Und den Kindern hatte sie Spielsachen gebracht, – nun, das war auch nichts Nützliches, – – aber du lieber Gott! Als ob den kleinen Geschöpfen die warmen Röckchen und Strümpfe Freude machten! Das kam dem magern Geldbeutel der Eltern zugut, und die Kinder hatten doch nichts davon! Jetzt aber, – welchen Eindruck machte das Holzpferdchen und die Puppe und die Schachtel mit Soldaten! Ueberall waren frohe, lachende Gesichter gewesen, – das eben hatte Annie Gerold haben wollen! –
Daheim hatte sie dann hastig zu Mittag gegessen und eigenhändig für Thekla eine besonders feine Fruchtlimonade bereitet, welche die Kranke sehr liebte; ein Stündchen konnte sie ihr auch vorlesen, länger nicht, dann war der Gärtner gekommen, eine lange, wichtige Besprechung wegen der Sämereien und Pflanzen für den Garten mit ihr zu halten, … aber zu alledem, was sie pünktlich und freundlich besorgte, hatte ihr glücklich beklommenes Herz nicht einen Augenblick aufgehört, zu sagen: „Heute!“
Und da ging das hübsche Glockenspiel an der Hausthür, Annie fühlte, wie sie bleich wurde, – und sie dachte: „Nun kommt das Glück!“ und senkte demüthig ihr junges Haupt.
Da trat die alte Agathe ins Zimmer und meldete: „Herr Pfarrer von Conventius!“
Die alte Frau wartete auf eine Antwort, aber von Annie kam keine; sie sah so enttäuscht und unglücklich aus, daß Thekla mit leisem Vorwurf sagte: „Aber Vögelchen!“ und dann, zu Agathe gewendet: „Es wird uns sehr angenehm sein! Führen Sie den Herrn in den Salon, wir kommen auch dorthin!“
Als Reginalds hohe Gestalt über die Schwelle des schönen, von Sonnenlicht durchflutheten Gemaches trat, erschien in der entgegengesetzten Thür ein ergreifendes Bild: Annie, die ihre kranke Schwester liebevoll und sorgfältig ihm entgegenleitete.
Annie war ihm nie schöner, begehrenswerter erschienen! Dies reizende junge Geschöpf, geschaffen, die Königin eines Ballsaales zu sein, sie, die er bisher gefeiert gesehen hatte, … wie entzückend machte sie ihr lieblich barmherziges Thun in seinen Augen! –
Ein wenig verwirrt, nicht so strahlend frisch und freudig wie sonst, blickte sie zu ihm auf, als er sich tief vor ihr verneigte, – aber gleich darauf erröthete sie und lächelte, nicht ganz zwanglos, wie es ihn dünkte, hieß ihn in ihrem Heim willkommen und stellte ihn der Schwester vor; dazu reichte sie ihm die Hand, und er küßte diese liebe Hand ehrerbietig und zärtlich zugleich.
„Steht es so um Dich?“ dachte Thekla Gerold, und ihre klugen Augen hefteten sich mit vermehrter Spannung auf den neuen Gast, von dem sie schon soviel hatte reden hören. Denn Annies „Freundinnen“ waren sämmtlich Feuer und Flamme für den aristokratischen Prediger von Sankt Lukas, er war mit einem Schlage in die Mode gekommen, und es galt als guter Ton, für ihn zu schwärmen. –
„Alle haben sie gesagt, der Mann sähe schön und vornehm aus,“ dachte Thekla weiter, „aber seines gewinnenden, edlen Ausdrucks hat niemand gedacht, und doch ist dies das Anziehendste in dem Gesicht. Wie sehnsüchtig seine Augen an Annie hängen! Schade! Wenn ich mir’s auch nie gewünscht habe, mein Vögelchen möchte einen Geistlichen heirathen, … gegen diesen hätte ich nichts einzuwenden. Er wird sich die Sache sicher zu Herzen nehmen, scheint mir, und das wird der Kleinen leid sein, denn sie hält viel von ihm!“
Unterdessen sagte Reginalds tiefe, wohlthuende Stimme zu ihr: „Ich konnte nicht wissen, daß Sie heute gerade so angegriffen sein würden, Fräulein Gerold. sonst wäre ich nicht gekommen!“
„Es tut nichts,“ erwiderte Thekla mit einem halben Lächeln, „ich bin an mein Leiden gewöhnt, es verläßt mich nie ganz und ist mein treuester Kamerad; lesen kann ich nicht, wenn es sehr schlimm wird, – aber unthätig im Bett liegen und über meine Schmerzen nachdenken, das ist mir vollends unmöglich, – daher freue ich mich jedesmal, wenn wir Besuch bekommen! Erzählen Sie mir, bitte, ein wenig von Ihrem Vetter, Herr von Conventius, – wie geht es diesem flotten, lebenslustigen jungen Herrn?“
„O, sehr gut, ich danke! Sie haben einen sehr warmen Verehrer an ihm gefunden!“
Thekla lachte gutmüthig.
„Es ist unglaublich, – und ich glaub’ es Ihnen doch! Wenn er so daherkommt und mir in seiner treuherzigen, frischen Art allerlei vorplaudert, kommt es wie eine Art von Schmerzvergessen über mich. Er nimmt sich neben mir aus wie ein hübscher Goldkäfer neben einer vertrockneten Cikade!“ Sie bringt das tolle Gleichniß vor, um Annie lachen zu machen, – – das Vögelchen belustigt sich so gern über Theklas wunderliche Ideen. Sie sieht die junge Schwester von der Seite an, – nein, Annie lacht nicht, sie hat überhaupt gar nicht zugehört. Das Köpfchen ein wenig vorgeneigt, scheint sie zu lauschen, … kommt er nicht? Wenn er nur lieber nicht käme!
„Mein Vetter hat mir viel von der Ausstellung vorgeschwärmt, – namentlich von Delmonts Bild, – wollen es die Damen glauben, daß ich noch nicht dazu gekommen bin, es mir anzusehen?“
Da! Eine fliegende Röthe in Annies Gesicht! Bis unter die weichgelockten Stirnhaare, bis in den schöngewölbten Nacken hinein, – dann fragt sie überstürzt, hastig:
„Ist Ihr Vetter, – hat er viel Sinn für die Malerei?“
„Nicht so sehr! Fritz begnügt sich auch hier mit einem oberflächlichen Herumspielen, – er könnte auf verschiedenen Gebieten recht Tüchtiges leisten, wenn er wollte!“
„Und Sie selbst, Herr von Conventius?“
„Ich – nun meine Gnädige, ich bin eben ein einseitiger Mensch! Ich liebe die Musik und liebe die Malerei, – aber ich bevorzuge Oratorien und religiöse Bilder, dies beides spricht vorzugsweise zu meiner Seele; auch hierin bin ich ganz meiner Mutter Sohn!“
„Haben Sie gute Nachrichten von – von –“ Annie stockt ein wenig verlegen – „Ihrem Herrn Vater? Sie erzählten mir damals –“ sie stockt von neuem und erinnert sich, wie seltsam vertraulich und eingehend damals ihre Unterhaltung gewesen war.
„Ja – er scheint sich mit dem Gedanken zu versöhnen, daß ich alle seine Pläne durchkreuzt habe. Ein paar Verwandte von mir, Fritz darunter, haben ihm von meinen Erfolgen – von dem, was sie meine Erfolge nennen! – geschrieben, das scheint ihm doch nicht ganz gleichgültig zu sein, nach seinem letzten Brief an mich zu schließen. Freilich stellt er mir darin eine dringende Bitte, die ich ihm leider wiederum nicht erfüllen kann: er wünscht, ich möge meine Stelle als Gefängnißprediger aufgeben, was mir allerdings gelingen würde, wenn ich es ernstlich wollte!“
„Aber Sie wollen es nicht, – nicht wahr?“
„Nein, gnädiges Fräulein, ich würde es niemals wollen! Gerade dieser Posten, schwer und verantwortlich wie er ist, hat mich gelockt, – ich wäre niemals Pfarrer zu Sankt Lukas geworden, hätte man mir nicht zugleich dies Amt angetragen!“
„Und Sie haben es bereits angetreten?“
„Ich habe eine kurze Ansprache an die Gefangenen gehalten und bin bei einzelnen von ihnen gewesen. Zu regelmäßigen gemeinsamen Andachten ist es bisher noch nicht gekommen.“
Thekla sah ihren Gast mit immer größerer Bewegung an, – seine schlichte Redeweise, so frei von Ueberhebung und rhetorischer Salbung, gefiel ihr ausnehmend. Sie fragte, ob irgend einer der Gefangenen sein besonderes Interesse in Anspruch nähme, und Reginald berichtete kurz ohne Namensnennung seine erste Begegnung mit dem Raubmörder und that zuletzt der Bitte desselben, ihm Blumen in seine Zelle zu schicken, Erwähnung.
Auch Annie war seinem Bericht mit Theilnahme gefolgt, jetzt machte sie eine lebhafte Bewegung.
[716] „O, bitte, Thea, ich möchte ihm von meinen Blumen geben! Lamprecht hat mir so wunderschöne in mein Zimmer gestellt, eine solche Masse, und wir haben noch viel mehr im Treibhause! Er braucht ja nicht zu wissen, – dieser – Mann, meine ich, von wem die Blumen kommen, Herr von Conventius schickt sie ihm, damit ist es gut! Solch’ prächtige Exemplare, – Narzissen und Tazetten, auch ein Fliederbäumchen ist dabei, und schöne Maiglöckchen, – bitte, Herr von Conventius, darf ich?“
„Sie wollen sich selbst einer Freude berauben, um –“
„Aber mein Gott, wer denkt an mich? Wenn man jemand, der am Rande des Grabes steht –“ ein Schauer ging über sie hin – „eine letzte kleine Erdenfreude bereiten kann, eine Freude noch dazu, die so rein ist wie der Genuß an einer Blume, – wer darf uns daran hindern?“
„Nicht ich, – wahrlich, nicht ich!“ Reginald sah mit leuchtenden Augen in Annies bewegtes Gesicht. „Schicken Sie mir Ihre lieben Blumen heute noch, ich will sie hinnehmen und denken, daß es Gottes Boten sind!“
Damit ergriff er Annies Hand und drückte sie lebhaft. – – –
In diesem Augenblick tönte das Glockenspiel an der Hausthür von neuem, und der alte Lamprecht meldete mit einem tiefen, feierlichen Diener: „Herr Professor Delmont.“
Aus Annies Antlitz war die Farbe gewichen, sie konnte kein Wort hervorbringen, sie neigte nur mechanisch den Kopf zum Zeichen der Einwilligung. Ebenso mechanisch erhob sie sich und umklammerte mit beiden Händen die Lehne ihres Stuhles.
Thekla sah gespannt nach der Thür. „Hab’ kein vorgefaßtes Urtheil!“ warnte sie sich innerlich, „denk’ nicht an Annies Prophezeiung: Dir wird er nicht gefallen! Dieser Conventius freilich war dir auf den ersten Blick angenehm, er hat eines von den glücklichen Gesichtern, die sofort Zutrauen und Wohlwollen einflößen, – darum aber ist noch nicht gesagt, daß dir kein andrer Mann als zukünftiger – –“
Hier trat Delmonts hohe Gestalt ein. Er blieb mit einer knappen Verbeugung in der Nähe der Thür stehen und überflog mit einem raschen Blick die kleine Gruppe neben dem Fenster. Annie sah so schuldbewußt und gedrückt aus, als habe sie den Besuch des Geistlichen verschuldet; dieser wechselte einen schnellen Blick mit dem soeben Eingetretenen, verneigte sich sehr zuvorkommend und setzte sich dann wieder mit der Miene eines Mannes, der entschlossen ist, seinen Posten zu behaupten. – Auch Delmont war verbindlich und ruhig; er wendete sich fast ausschließlich an Thekla, und diese konnte nicht umhin, sich selbst zuzugeben, daß Annie wohl zu begreifen war. Welch’ eigenartig anziehende Kraft wohnte doch in diesen Augen mit ihrem tiefen, zwingenden Blick, – wie merkwürdig wirkte der Gegensatz der von eiserner Kraft redenden Stirn zu dem weichgeformten Munde unter dem dunkelbraunen Lippenbart, – – und über dem allem der nie, auch beim Lächeln nicht, weichende Zug von Melancholie zwischen den dichten, dunkeln Brauen, der in das ganze Antlitz gleichfalls ein unlösbares Räthsel hineinzeichnete! Und noch etwas kam hinzu, was Thekla, fast gegen ihren Willen, rührte: die unverkennbare Beklommenheit, mit der dieser Mann, der wie das verkörperte Selbstbewußtsein aussah, immer wieder heimlich Annie Gerold musterte, wie sie mit Conventius sprach. Freilich, dieser war kein zu unterschätzender Nebenbuhler in der Gunst eines jungen Mädchens, – aber er, Delmont, hatte er denn nicht gestern schon Annies sicher sein können, hatten ihm nicht ihre Augen, ihre Stimme, das Beben ihrer Hand verrathen, wie es um sie stand? – Thekla sah, wie es in seinen Mienen zuckte, während er ganz selbstbeherrscht und höflich mit ihr sprach, sie sah seine Hand sich wiederholt öffnen und schließen wie in verzehrender Ungeduld, und es überkam sie etwas wie Sorge um das Schicksal ihres Lieblings an der Seite eines so leidenschaftlichen Mannes. Indessen war sie bemüht, dem Gespräch eine allgemeine Wendung zu geben und Annie aus ihrer Zwangslage neben Conventius zu erlösen.
„Herr von Conventius beklagte sich soeben, aus Mangel an Zeit Ihr Bild, Herr Professor, noch nicht gesehen zu haben!“
„Ich weiß nicht, ob ich ihn gleichfalls beklagen soll,“ sagte Delmont mit einem leichten Lächeln, „denn mein Werk ist nicht mehr mein Werk, wenigstens nicht mehr für mich, seitdem es da zwischen Hunderten von Bildern aufgehängt ist. Als ich es in meinem Atelier hatte, war es noch ein Stück von meiner Seele, – jetzt ist’s losgelöst von mir und gehört allen!“
„Geht es nicht auch Ihnen so, Herr von Conventius, wenn Sie das, was Sie in der Stille Ihres Studierzimmers ausgesonnen, öffentlich zu Hunderten zu sagen haben?“ fragte Annie lebhaft.
„Aehnlich – und doch wieder nicht!“ erwiderte er gedankenvoll. „Das gesprochene Wort ist nicht wie das fertiggestellte Bild, – es wirkt zündend, sich selbst ergänzend, während es geredet wird, – es erstarkt an seiner eigenen Wirkung, an der Fühlung, die es mit denen gewinnt, die gekommen sind, es zu hören. Gedanken, Bilder, Gleichnisse strömen zu, an die ich in der Stille meines Studierzimmers nicht gedacht hatte, – im wahrsten Sinn wird mir das Wort lebendig, und ich habe keinen andern Wunsch als den, es möge allen gehören so wie mir!“
Delmont neigte zustimmend sein Haupt.
„So empfanden Sie, und Ihre Gemeinde mit Ihnen, als Sie zum ersten Mal in der Kirche zu Sankt Lukas sprachen!“
Es war ein Lob für den Geistlichen und sollte ein solches sein; aber während Delmont sprach, suchte sein Blick den Annies, in Erinnerung an jene unvergeßliche Stunde in der Kirche, – und Annies schöne, beredte Augen hoben sich zu ihm empor, zuerst ein wenig schüchtern, – fragend, – dann sonnenhell und glücklich leuchtend in völligem Selbstvergessen. –
„Lassen Sie Photographien anfertigen von Ihrem Gemälde?“ fragte sie, schon wieder ganz bei ihm und seiner Kunst.
„Nein,“ entgegnete er kurz, „ich thue das niemals, es ist mir zuwider. – Warum fragten Sie?“ setzte er nach einer Pause hinzu, da ein Schatten auf ihrem Gesicht erschien.
„Ich – ach – nur weil ich an Thea dachte, die nie ausgehen kann, also auch niemals Ihr Bild sehen würde –“
„Sie hätten es mir gleich sagen sollen, daß Sie sich das wünschen. Dann natürlich wird es geschehen, – ich werde morgen Auftrag geben!“
„Ich danke, – ach, ich danke Ihnen!“
Sie reichte ihm die Hand, und er nahm sie und legte seine andre darüber wie in Angst, man könnte ihm seinen Schatz entreißen. Jetzt waren diese zwei für sich, und Thekla Gerold war auf Conventius angewiesen!
Es sollte aber nicht lange währen! Draußen läutete das Glockenspiel zum dritten Mal, und Lamprecht kam und meldete: „Herr Rittmeister Thor von Hammerstein!“
Der Eintritt dieser Persönlichkeit wirkte auf Conventius befreiend, auf Delmont und Annie niederschmetternd und auf Thekla humoristisch. Wenn der Geistliche schon daran gedacht hatte, zu gehen, so konnte er jetzt immerhin bleiben, es kam gar nicht drauf an, – und er blieb.
Der Ulanenrittmeister war keineswegs entzückt, den „Farbenreiber“ und den schönen „Mann Gottes“ hier vorzufinden. Aber im festen Bewußtsein seiner eigenen bevorzugten Stellung, gegen welche ja die der beiden andern überhaupt gar nicht in Betracht kam, und außerdem fest entschlossen, „ordentlich ins Zeug zu gehen,“ rückte er mit dem ganzen schweren Geschütz seiner militärischen Galanterie an und betrug sich gegen Annie mit so unzweideutiger Absichtlichkeit, daß das junge Mädchen verlegen wurde. Sie hatte bisher noch gar nichts von seiner bewundernden Vorliebe für ihre Person wahrgenommen; was fiel ihm denn nun mit einem Male ein?
Kein Mensch auf der weiten Welt hatte den Rittmeister im Verdacht, daß er geistreich sei, – er hielt sich selber auch nicht dafür, und es beunruhigte ihn durchaus nicht, – was sollte ihm der Geist? Ganz überflüssige Ware für einen Menschen seines Schlages! So konnte er denn auch heute nichts Geistreiches hervorbringen, und zum ersten Male in seinem Leben fühlte er eine Art von Bedauern darüber, da die „absurde Erziehung dieser gelehrten alten Schraube“ dem entzückenden jungen Mädchen, um das er sich bemühte, für dergleichen „Zeugs“ Geschmack beigebracht hatte. Und entzückend war Annie Gerold wirklich, – welch’ ein Wuchs! Hoch, schlank, schmiegsam, jede Linie anmuthig gezeichnet! Und diese satten goldenen Lichter über dem nußbraunen üppigen Haar, – diese wundervollen Augen und der süße, frische Kindermund: Wetter noch eins! Welch eine Acquisition fürs Regiment! Man würde Staat mit ihr machen, und der alte Papa Thor von Hammerstein, ein etwas verdrießlicher General zur Disposition in Coblenz, würde Augen machen, wenn er diese Schwiegertochter sähe, und es seinem Sohn ohne weiteres verzeihen, daß er eine Bürgerliche heimführte.
So richtete denn der Rittmeister unermüdlich Fragen an Annie [717] wie: Diesen Winter viel getanzt, meine Gnädigste? – Casinobälle hier hübsch arrangiert? – Viele Schlittenpartien unternommen? – Kameraden von den Dragonern verkehrten wohl häufig bei Ihnen im Hause? – Schneidige Waffe, meine Gnädige, nicht wahr? –“
Und Annie antwortete immer kürzer, immer knapper, oft nur durch ein Nicken oder Kopfschütteln, und horchte immer eifriger auf das Gespräch Theklas mit den zwei andern Herren, … ihr war dieser langweilige Rittmeister zugefallen, natürlich! Sie fand ihn geradezu unausstehlich mit seinen hervorquellenden Augen, seinem rothen Gesicht und der heisern Baßstimme, – merkte es denn der eingebildete Gesell gar nicht, wie erbarmungslos sie ihn abfallen ließ? –
Immer schräger blickten die Sonnenstrahlen zum Fenster herein, – der Frühlingstag ging zur Neige, – wie hatte sie ihn herbeigewünscht, – was hatte er ihr gebracht! Auch Conventius schien ihr heute seltsam, sein beredter Blick, sein feuriger Handkuß beunruhigte sie; wer weiß … am Ende könnte Delmont gar denken, – nein, unmöglich! Und doch, – er war mißtrauisch und reizbar, das wußte sie nun schon von ihm!
Das Gespräch, mühsam aufrecht erhalten, stockte endlich ganz. Die drei Männer sahen einander an, – sie wußten es ja genau, was jeder von ihnen hier wollte. Ging jetzt der eine, so ließ er den andern den Weg frei, – gingen gar zwei, behielt der dritte den Vortheil allein in der Hand, … das durfte nicht sein! Sie blieben also. Thekla Gerold fühlte eine lähmende Müdigkeit über sich kommen, es kostete sie Ueberwindung, den Mund aufzuthun. Annie kämpfte immer schwächer gegen die bittere Enttäuschung an, die ihr zärtliches Herz überfluthete. Die Sonne war fort, graue Schatten lagerten in den Ecken.
Wie es Thekla in den Sinn gekommen war, Professor Delmont zu fragen, ob er Musik treibe und ob er vielleicht einmal ihren Konzertflügel, den Annie leider so selten benutze, probieren wolle, das hatte sie selbst später nicht zu sagen gewußt. Es war ein merkwürdiges Ansinnen bei einem ersten Besuche. Annie hatte Furcht, Delmont könnte die Frage schroff verneinen, und sah etwas ängstlich zu ihm hinüber, aber er verneigte sich zustimmend vor der älteren Schwester, lächelte der jüngeren zu und schritt zum Flügel.
„Es ist empörend, nun ist dieser Farbenreiber auch noch musikalisch, und sie scheint das zu lieben,“ grollte der Rittmeister innerlich, „der Mensch hat entschieden die meisten Chancen von uns dreien, aber noch ist nichts verloren. Nur nicht locker lassen!“
Alle Rechte vorbehalten.
Die Meininger
In der todten Jahreszeit der deutschen Bühnen kam plötzlich die überraschende Nachricht, daß die „Meininger“ von jetzt ab ihre Gastspielreisen aufgeben würden. Es liefen zwar schon im letzten Jahre seit des Intendanten Chronegk Erkrankung ähnliche Gerüchte um, doch sie verstummten wieder, und die große Reise der Meininger Truppe nach Rußland zeugte noch von dem Unternehmungsgeist, der sie beseelte. Ging doch der Zug diesmal nicht bloß bis nach dem Herzen Altrußlands, der Stadt des Kreml, sondern auch bis an das Schwarze Meer, bis nach Odessa, die weiteste Reise der wandernden Künstler; denn jenseit des Oceans, nach Amerika, dem Dorado der einzelnen Gastspieler, hatten sie sich doch nicht hinübergewagt, obschon ein deutsches Schauspiel dort ganz andern Anklang gefunden hätte als in Rußland; doch der Voranschlag der Kosten ließ das Unternehmen als ein bedenkliches Wagniß erscheinen; der Leiter der Hofbühne, Chronegk, der selbst übers Meer gegangen war, um die dortigen Theaterzustände zu prüfen, rieth zum Verzicht.
Jene Gerüchte hatten sich damals als unglaubwürdig erwiesen; jetzt stehen wir vor der vollendeten Thatsache. Das interessante und ruhmvolle Kapitel der neuen Theatergeschichte, welches den Meiningern gehört, hat einen plötzlichen Abschluß erreicht. Die deutschen Hauptstädte, welche so oft ihr Spiel bewundert haben, werden sie nicht wiedersehen. So sehr schien ihre Wiederkehr gesichert, daß mancher Säumige es auf die nächste Saison verschob, sich an diesen vielgepriesenen Vorführungen zu erfreuen. Andern war es zur „süßen Gewohnheit“ geworden, diese Kunstgenüsse soweit als irgend möglich zu erschöpfen. Und jetzt ist der Vorhang der Wanderbühne für immer gefallen, die Säumigen haben unwiederbringlich einen in seiner Art einzigen Kunstgenuß verloren, die andern werden schmerzlich vermissen, was in ihnen so oft eine in den Tempeln Thaliens seltene Begeisterung wachrief.
Die Meininger hatten eine künstlerische Sendung, und sie haben dieselbe erfüllt. Es war begreiflich, daß ihnen anfangs öfters der Widerspruch auch der berufenen Kritik entgegentrat; denn ihre Stärke hing ja mit einer gewissen Einseitigkeit zusammen, der sie ihre Erfolge verdanken. Man fürchtete, daß die Sorgfalt und der Glanz, womit das archäologische Beiwerk behandelt wurde, demselben eine zu große selbständige Bedeutung verschaffen und den Blick von der eigentlichen dramatischen Handlung ablenken könnte; man fürchtete nicht minder, daß die peinliche Schulung des Zusammenspiels die Freiheit des künstlerischen Schaffens beeinträchtigen müsse. Beide Befürchtungen wurden durch die begeisternde Wirkung der Aufführungen widerlegt, eine Wirkung, welche weder durch Aeußerlichkeiten, noch durch ein bloß dressirtes Zusammenspiel hervorgerufen werden konnte, sondern nur durch das Zusammenwirken aller berechtigten künstlerischen Faktoren. Der Nachdruck, den die Meininger aber auf einzelne derselben legten, kam der ganzen deutschen Schauspielkunst zugute. Man brauchte ihnen nicht zu folgen in der Treue des geschichtlichen Kostüms, besonders dort nicht, wo dasselbe mit den Anforderungen des Schönen in Widerspruch trat; aber die Direktionen gewöhnten sich daran, sinnlose Willkürlichkeiten auszuschließen und mehr als früher den Gesammteindruck der Vorstellungen sowohl durch entsprechende Kostüme, als auch durch die Ausstattungsmittel der Bühne, durch stimmungsvolle Dekorationen und Beleuchtungseffekte zu heben, was bisher nur in der Oper geschah und dem ernsteren Drama versagt blieb. Es ist zwar neuerdings der Widerspruch gegen solche Ausstattung der tragischen Dichtungen erhoben und die Rückkehr zu einer einfachen Bühne gepredigt worden, auf welcher allein das dichterische Wort und das Mienen- und Gebärdenspiel der Darsteller zur Geltung kommen soll; doch die Entwicklung unseres ganzen Bühnenwesens hat sich in der entgegengesetzten Richtung vollzogen und das Schauspiel würde immer das Aschenbrödel des Theaters bleiben, wenn es nach dieser Seite hin nicht Zugeständnisse machte. Auch ist nicht abzusehen, warum die Wirkung einer Dichtung Einbuße erleiden sollte, wenn sie noch durch die Poesie der Scene verstärkt wird. Diese vermag von Hause aus die rechte Stimmung, das rechte Kolorit zu geben, handle es sich nun um ein italienisches Liebesdrama wie „Romeo und Julie“ oder [718] um ein nordisches Drama des Ehrgeizes wie „Macbeth‟. Den Zauber des Südens und die Schauer des Nordens vermag eben die Bühne selbst wirksam zu versinnlichen und so gleichsam den Boden herzugeben für die schönen oder giftigen Blüthen der Leidenschaft.
Noch wichtiger war als Vorbild für andere Bühnen die Pflege, welche die Meininger dem Zusammenspiel, dem Ensemble, zutheil werden ließen. Man hat zwar darin nur den Triumph der Mittelmäßigkeit sehen wollen und bei einseitiger Bevorzugung, auf Unkosten der selbstschöpferischen Begabung der Künstler, nicht mit Unrecht. Doch haben die Meininger sich nie mit mittleren Kräften, auch nicht mit erst heranzubildenden schönen Talenten begnügt: namhafte Künstler wie Ludwig Barnay, Emmerich Robert, Friedrich Dettmer, Pauline Ulrich, Anna Haverland, Max Grube wirkten längere oder kürzere Zeit bei den Aufführungen der Meininger mit. Gerade das sorgfältig einstudierte Spiel der einzelnen, bei denen jedes Wort, jede Bewegung wohlerwogen war und im Einklang stand mit dem Ganzen, vor allem aber die Gesammtgemälde in den Volksscenen, in denen nichts todt und maschinenmäßig war, nichts einförmig und eintönig und an das Spiel der Opernchöre erinnernd, wurden ein leuchtendes Vorbild für alle Bühnen, welche anfingen, den üblichen Schlendrian zu verbannen, große Gruppenbilder, Volks- und Massenscenen mehr als bisher künstlerisch zu beseelen, ähnlich wie der Geschichtsmaler seinen Figuren verschiedenartige Stellungen, mannigfachen Gesichtsausdruck und ein abgestuftes Gebärdenspiel giebt. Nach dieser Seite hin haben die Meininger geradezu Unvergleichliches geleistet, und niemand wird den Eindruck vergessen, den die Forumscene des „Julius Cäsar“ im dritten Akt, den der dritte Akt der „Bluthochzeit“ oder der Einbruch der Pappenheimer in „Wallensteins Tod“ hervorruft. Diese Wirkung war immer eine elektrisirende und niemals sind vorher auf der Bühne durch die Massen selbst Wirkungen dieser Art erreicht worden.
Freilich blieb für die andern Theater auch nachher das Vorbild der Meininger ein fast unerreichbares, aus äußern Gründen; denn welches auf den Tagesbedarf und Tagesgenuß angewiesene Theater hatte Muße genug zu solchen wochenlangen Einstudierungen, wie sie in der friedlichen Stille der kleinen Residenz stattfanden? Und hierzu kam die außerordentlich hohe Zahl der Aufführungen, bei denen wenigstens zum großen Theil lange Zeit hindurch dieselben Kräfte mitwirkten. Wurde doch „Julius Cäsar“ 330 mal, „Wilhelm Tell“ 223 mal, „die Jungfrau von Orleans“ 194 mal gegeben; auch die andern Schillerschen Dramen erreichten weit über hundert Aufführungen. Damit ist zugleich ein anderes Verdienst der Meininger hervorgehoben: die erfolgreiche und glänzende Pflege der ernsten, höheren dramatischen Dichtung in einer Zeit, welche sich mehr der leichteren Unterhaltung und den alltäglichen Lebensbildern auf der Bühne zugewendet hat.
Zu den leitenden Kräften des großen, in seiner Art einzigen Kunstunternehmens gehörte in erster Linie der Herzog von Meiningen selbst; er war kein müßiger Schutzherr, von ihm gingen die hauptsächlichsten Anregungen aus: die Wahl der Stücke, die Entwürfe der Kostüme; er begleitete das Wort, die Stellung, die Gebärde der Darsteller auf jeder Probe mit seiner Kritik, während seine Gattin, früher eine namhafte Künstlerin, die Rollen den jüngeren Darstellerinnen häufig einstudierte. In Ludwig Chronegk, dessen Bild wir bringen, hatte der Herzog eine vorzügliche Kraft gewonnen, der er von Anfang an die Leitung der Gastspiele anvertrauen konnte. Ludwig Chronegk, geboren 1837 zu Brandenburg, hatte am Krollschen Theater in Berlin seine Künstlerlaufbahn begonnen; im Jahre 1873 wurde er Regisseur des Meininger Theaters und leitete schon im folgenden Jahre und dann ohne Unterbrechung die Gastspiele der Meininger bis zur Gegenwart; im Jahre 1876 wurde er zum Oberregisseur ernannt, 1879 zum stellvertretenden Intendanten, 1880 zum Intendanzrath und später zum Hofrath und Geheimen Hofrath. Chronegk ging ganz auf die Absichten des Herzogs ein; als ein Mann von seltener Thatkraft verstand er es stets, die Schwierigkeiten zu überwinden, die sich hier und dort den Gastspielen entgegenstellten, allerwärts auf den Proben den Geist des Ensembles wachzuhalten, die an allen Orten neu hinzukommende Statisterie einzuüben und störungslos in das dramatische Gesammtbild einzufügen. Dazu fehlte bei den Gastreisen die Meininger Muße; unterstützt wurde aber Chronegk bei dieser mühsam sich stets wiederholenden Regiearbeit durch den am Hoftheater üblichen Brauch, daß in den Volks- und Massenscenen auch die ersten Darsteller mitwirken, die Lichter an rechter Stelle aufsetzen und die andern Mitwirkenden anfeuern.
Am 1. Mai 1874 fand das erste Gastspiel der Hoftheatergesellschaft am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater in Berlin statt und erregte sogleich großes Aufsehen bei Publikum und Kritik und einen lebhaften Kampf der Meinungen. Von da bis in den Juli d. J., wo die Schlußvorstellung in Odessa stattfand, sind die Meininger in siebenunddreißig Städten in Deutschland, Belgien, Holland, der Schweiz, England, Rußland, Oesterreich, Dänemark und Schweden aufgetreten; die Zahl der Aufführungen hat die Höhe von 2573 erreicht. Am häufigsten haben die Meininger die Reichshauptstadt besucht; sie sind seit dem Jahre 1875 bis zum Jahre 1887 dort achtmal erschienen und haben immer die regste Theilnahme gefunden; wie in Berlin haben sie auch in Breslau acht Gastvorstellungen gegeben, doch war ihr Aufenthalt dort immer von kürzerer Dauer; Dresden hat sie sechsmal, Leipzig fünfmal, Graz und Pest je viermal, Wien dreimal, Hamburg einmal gesehen.
Unter den darstellenden Kräften finden sich ältere Stammhalter, [719] welche der Bühne treu geblieben sind, wie Paul Richard, der Darsteller des Julius Cäsar, der diesen wie ähnliche Rollen mit edler Haltung giebt; als vorzüglicher Heldenspieler gehörte Nesper längere Zeit der Meininger Bühne an. In Teller und Weiser besaß sie hervorragende Charakterspieler; der König Karl IX. des ersteren ist ebenso bedeutend wie der Shylock, der Orest des letzteren. Im übrigen hat vielfacher Wechsel stattgefunden, und es ist vorzugsweise das Gesammtbild der letzten Jahre, das uns hier vorschwebt und beschäftigt. Unter den tragischen Liebhabern der Gegenwart nimmt Alexander Barthel eine hervorragende Stelle ein; gewinnende Erscheinung und Stimme, hinreißendes Feuer einer dabei maßvoll geregelten Darstellung sind Vorzüge, die seinem Marc Anton, seinem Navarra, wie seinem Karl Moor und Jaronmir zu statten kommen.
Die Reden des Marc Anton trägt er mit meisterlichem Verständniß und hinreißendem Schwung vor. Als erste tragische Liebhaberin hat in den letzten Jahren Amanda Lindner, besonders in Berlin als Jungfrau von Orleans, Aufsehen erregt; der Adel der Erscheinung und der edle Schwung ihres Spiels zeigte sich auch in anderen Rollen, wie als Margarethe von Valois; in sentimentalen und muntern Rollen war Frau Prasch-Grevenberg beliebt; Frau Marie Berg, Fräulein Wasserburger und Frau Teller zeichneten sich in der Darstellung älterer Rollen aus. Treffliche Komiker waren Hassel und Goerner. Die Herren Hellmuth Bräm und Arndt, die jetzt in Berlin und Wien engagirt sind, waren tüchtige Talente; auch Joseph Kainz, als Vorgänger von Barthel, und Max Grube waren längere Zeit ständige Mitglieder der Meininger Truppe.
Es waren vor allem Shakespeares und Schillers Meisterwerke, die das Repertoire der Meininger bildeten. Außer „Julius Cäsar“, ihrem Glanzstücke, und dem stimmungsvoll eingerichteten „Kaufmann von Venedig“ hatte auch „Das Wintermärchen“, nach unserer Ansicht eine der schwächsten Dichtungen des großen Briten, aber ergiebig für phantasievolle Belebung und Einrichtung auf der Bühne, bedeutenden Erfolg. Ebenso gefiel „Was Ihr wollt“, ein Lustspiel, dessen Komik mit kräftigen Zügen von den Darstellern zur Wirkung gebracht wurde. Moliere erschien mit dem Hintergrunde der Rokokozeit. „Der eingebildete Kranke“, aus dem wir eine Scene[2] vorführen, sagte dem Publikum in der knappen Fassung der scenischen Einrichtung besonders zu.
„Die Jungfrau von Orleans“, „Wilhelm Tell“, „Maria Stuart“, „Fiesko“, die Wallensteintrilogie waren Glanzleistungen der Meininger. Von Kleist wurde besonders „Die Hermannsschlacht“ mit allen ihren wilden Scenen gegeben; von Grillparzer die düstere „Ahnfrau“ mit ihrer fahlen poetischen Beleuchtung und das köstliche Fragment „Esther“.
Von neueren Dichtern bevorzugte der Herzog die Vertreter der kraftgenialen Richtung: Albert Lindners „Bluthochzeit“, Arthur Fitgers „Hexe“ und „Rosen von Tyburn“, die beiden ersten Dramen mit unbestrittenem, das letztere wegen des grellen Schlußaktes mit schwankendem Erfolg. Auch Lord Byrons „Marino Faliero“ wurde gegeben, doch konnte diese Aufführung nur als ein interessanter Versuch betrachtet werden.
Nicht ohne Wehmuth gedenken wir dieser jetzt nur der Theatergeschichte angehörigen Vorführungen, die ein für allemal der Vergangenheit anheimgefallen sind. Möge der künstlerische Geist, der das schöne und großartige Theaterunternehmen beseelte, mit ihm nicht abgestorben sein, sondern in irgend einer neuen Gestalt neue Früchte zeitigen.
[720]Zu Plön in Ost-Holstein wird im Laufe des künftigen Jahres ein wissenschaftliches Institut ins Leben treten, welches die Aufgabe hat, die Thier- und Pflanzenwelt des Süßwassers zum Gegenstande eingehender Studien zu machen. Wer davon unterrichtet ist, mit welch’ interessanten Lebensformen uns die letztjährigen Durchforschungen unserer heimathlichen Tümpel, Teiche und Seen bekannt gemacht haben, der wird mit Freuden die Nachricht von der Begründung einer Dauerstation zur näheren Untersuchung jener Organismen begrüßen. Die Umgebung der Stadt Plön ist in vorzüglicher Weise für diesen Zweck geeignet, insofern das Thal der Schwentine, in welchem sie liegt, fast lediglich aus einer Aneinanderreihung von Wasserbecken besteht, von denen die keinsten so groß sind wie unsere ansehnlichsten mitteldeutschen Seen. Hier ist ein großes Feld für faunistische und biologische Forschungen, d. h. für Studien, welche die Feststellung der verschiedenen Thierformen des Süßwassers und die Ermittelung ihrer Lebensgewohnheiten betreffen.
Im Hinblick auf den Reichthum an Lebewesen, welchen das Meer in seinem Schoße birgt, waren viele von der Ansicht beherrscht, daß es sich wohl gar nicht erst verlohne, Zeit und Kraft an die Gewässer des Binnenlandes zu vergeuden. So wurde die Süßwasserthierwelt allmählich zum Aschenbrödel der zoologischen Wissenschaft, und wer sich wirklich damit abgab, lief beinahe Gefahr, von seinen Fachgenossen als ein Forscher zweiter Klasse betrachtet zu werden. Glücklicherweise aber giebt es immer Leute, die den Muth haben, allgemeinen Vorurtheilen zu trotzen, und so hat auch die Süßwasserfauna in den verflossenen zwei Jahrzehnten ihre Freunde und Bearbeiter gefunden. Männer wie F. A. Forel, Asper und Imhof in der Schweiz, P. Pavesi in Italien, Fritsch und Hellich in Oesterreich, O. Nordquist in Finnland, Jules Nichard und Jules de Guerne in Frankreich (zahlreicher anderer nicht zu gedenken) haben mit bewundernswerther Unermüdlichkeit dem Studium der Süßwasserthierwelt obgelegen und Erfolge erzielt, deren wissenschaftliche Bedeutung von niemand mehr in Abrede gestellt werden kann. Wir sind durch diese Forschungen mit zahlreichen Arten von kleinen Krebsthieren (Entomostraceen) bekannt geworden, haben den Reichthum unserer Binnengewässer an schwimmenden und schlammbewohnenden Würmern, an Schnecken, Muscheln, Moosthieren und einzelligen Lebewesen (Protozoen und Protophyten) kennengelernt, sind in die bunte Gesellschaft der Wassermilben und Wasserinsekten eingedrungen, deren Gewimmel hauptsächlich die seichtere Uferzone belebt – kurz, wir haben einen umfassenden Ueberblick über die mannigfaltige Bewohnerschaft unserer heimathlichen Seebecken erlangt, die bisher nur Fische und „allerlei Gewürm“ (als Nahrung für erstere) zu enthalten schienen. Unsere vermehrte Kenntniß erstreckt sich aber nicht nur auf die einzelnen Gattungen und Arten der niederen und zum Theil mikroskopischen Wasserfauna, sondern auch auf die Weise, wie jede Species ihren besonderen Lebensverhältnissen angepaßt ist, wie sie sich ernährt und im Kampfe ums Dasein behauptet, was für Mittel ihr zur räumlichen Ausbreitung verliehen sind, und welcher Zusammenhang zwischen der Bevölkerung des Seegrundes und derjenigen der oberflächlichen Wasserschichten besteht. Aber mit Gewinnung dieser Einsicht sind wieder zahlreiche neue Fragen aufgetaucht, welche sich auf die Ursachen der Veränderlichkeit, die Wirkung der Isolirung, den muthmaßlichen Einfluß des „äußeren Mediums“ etc. beziehen, sodaß es niemals an Arbeit für zahlreiche Forscher auf diesem Gebiete fehlen kann.
Außer dem rein wissenschaftlichen knüpft sich aber auch ein praktisches und gemeinnütziges Interesse an derartige wasserbiologische [721] Untersuchungen, weil wir dadurch genauer, als es bisher möglich war, die Lebensbedingungen der jungen Fischbrut, besonders aber deren natürliche Ernährung kennenlernen.
Hierüber sind wir noch keineswegs hinlänglich im klaren; es herrschen vielmehr große Meinungsverschiedenheiten in dieser Beziehung unter den Fischern und Fischzüchtern. Dasselbe gilt von den muthmaßlichen Ursachen plötzlich auftretender Fischkrankheiten und von der sogenannten Krebspest. Mit der genaueren Erforschung solcher verheerenden Epidemien würde sich der dicht an einem See stationirte Wasserbiolog gleichfalls zu beschäftigen haben, denn er ist selbstredend am meisten in der Lage, die äußeren Veranlassungen für solche Schädigungen unserer Fisch- und Krebsbestände festzustellen. Ueberhaupt könnte eine gut geleitete biologische Süßwasserstation für die gesammte Wasserwirthschaft nach und nach die nämliche Bedeutung gewinnen, welche die landwirthschaftlichen Versuchsanstalten schon gegenwärtig für den Landbau besitzen.
Der Gedanke, eine eigene, dem Studium der Süßwasserfauna dienende Beobachtungsstation ins Leben zu rufen, ist von dem Zoologen Dr. Otto Zacharias ausgegangen, der in den Jahren 1884 bis 1889 zahlreiche Seendurchforschungen in Nord- und Mitteldeutschland vorgenommen hat. Die reichen Ergebnisse dieser Streifzüge, welche auf Kosten der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften ausgeführt wurden, ließen es angezeigt erscheinen, der Thierwelt unserer heimathlichen Wasserbecken künftighin eine größere Aufmerksamkeit zuzuwenden, als dies bisher von fachmännischer Seite der Fall war.
Als Ort für die Verwirklichung seines Planes wählte Dr. Zacharias die Stadt Plön in Ostholstein, welche – wie schon erwähnt – eine besonders seenreiche Umgebung aufweist. Außer dem Großen See, welcher eine Wasserfläche von 50 Quadratkilometern (bei 30 bis 40 Metern Tiefe) besitzt, sind im Umkreise von Plön noch etwa 70 andere Seen vorhanden. Das Arbeitsfeld ist also groß genug.
Das Vorhaben fand in Joh. Kinder, dem Bürgermeister von Plön, einen thatkäftigen Förderer; derselbe kam den wissenschaftlichen Bestrebungen des schlesischen Forschers dadurch entgegen, daß er die Erbauung eines massiven Hauses auf städtische Kosten zusicherte. Unsere Abbildung S. 720 veranschaulicht das Gebäude in seiner unmittelbaren Lage am Großen Plöner See, welchem die Rückseite des Hauses zugekehrt ist. Dasselbe enthält im Souterrain Raum zur Aufstellung von Aquarien, die mit fließendem Wasser gespeist werden; im Erdgeschoß mehrere Arbeitsräume (Mikroskopir- beziehungsweise Secirsaal, Bibliothek und Sammlung), während sich im Oberstock die Wohnung des Direktors befindet, des Begründers des Instituts selbst; unter seiner Leitung arbeiten mehrere Assistenten. Die dreiflügeligen großen Fenster im Erdgeschoß sind diejenigen des Mikroskopirsaales. Mehrere Fahrzeuge stehen jeden Augenblick zur Benutzung bereit, um die entfernteren Gegenden des mächtigen Seebeckens zu besuchen. Mit der Neapeler Station des Prof. A. Dohrn verglichen, ist das Plöner Institut freilich nur ein sehr bescheidenes Forscherheim. Aber dasselbe erfüllt seinen Zweck vollständig: es soll lediglich das Standquartier für 4 bis 5 Naturforscher (Zoologen oder Botaniker) abgeben, welche hier jeden Vortheil zur Erlangung günstigen Untersuchungsmaterials wahrnehmen können.
Der Studienaufenthalt in der Plöner Station wird jedem gestattet sein, der dazu die wissenschaftliche Befähigung mitbringt. Insbesondere freilich sind die 5 Arbeitsplätze für Zoologen oder Botaniker bestimmt, die an Ort und Stelle mikroskopische, anatomische, entwickelungsgeschichtliche oder biologische Arbeiten ausführen wollen.
Die Station ist ihrem Charakter nach ein von der preußischen Staatsregierung unterstütztes Privatinstitut. Ein ansehnlicher Theil der jährlichen Betriebskosten, welche sich auf etwa 5000 Mark belaufen, mußte aber auf anderem Wege beschafft werden, und in dieser Beziehung verdient es große und öffentliche Anerkennung, daß sich eine stattliche Anzahl wohlhabender Privatleute, darunter mehrere Leipziger Buchhändler, bereit finden ließ, die Plöner Station mit beträchtlichen Geldmitteln in freigebigster Weise zu fördern. Andere Beiträge wurden aus Dresden, Gera, Wiesbaden, Kiel etc. gespendet. Auch gegenwärtig dauern die Zuwendungen noch fort, und so wird es dem Dr. Zacharias ermöglicht, die Erforschung des ostholsteinischen Seengebietes mit allen technischen Hilfsmitteln, welcher der Naturforscher heutzutage bedarf, in Angriff zu nehmen. G. H.
Alle Rechte vorbehalten.
Das Lottchen.
Es war etwa um die neunte Stunde eines schönen Sommermorgens im Jahre 1887, als an der Parterrewohnung des stattlichen Patrizierhauses Esplanade 39 in Hamburg heftig geschellt wurde. Es dauerte ziemlich lange, bis eine scharfe Frauenstimme, ohne zu öffnen, von innen heraus die Frage erschallen ließ: „Die Milchfrau?“
„Nein!“
„Wer sonst?“
„Die Kaiserin von Oesterreich.“
Die Fragende war Frau Charlotte von Embden, die Schwester Heinrich Heines, die Antwortende die Kammerfrau der Fürstin auf Oesterreichs Herrscherthron, die das Andenken Heinrich Heines hoch in Ehren hält und an jenem Tage eigens nach Hamburg gefahren war, um von der einzigen noch lebenden Schwester des Dichters Auskünfte über sein Leben und seine Schöpfungen sich zu erbitten. Man kann wohl sagen, daß seit jenem Tage das Lottchen – so nannte Heine seine Schwester mit Vorliebe – wieder populär geworden ist, nachdem die geschäftige Fama sie jahrelang in Ruhe gelassen hatte. Nur von Autographenjägern und neugierigen Verehrern des Dichters wurde die alte Frau in den letzten Jahren mehr als billig heimgesucht, bis durch die Kaiserin von Oesterreich die Erinnerung an sie, die in stiller Muße ihr Alter genoß, in weiterer Oeffentlichkeit wieder wachgerufen wurde.
Am 18. Oktober d. J. feiert die Schwester Heinrich Heines ihren neunzigsten Geburtstag! Ich meine, das ist die würdigste Gelegenheit, um von ihr selbst und von ihren Beziehungen zu dem berühmten Bruder ausführlich zu sprechen.
Charlotte Heine wurde am 18. Oktober 1800 (nicht, wie alle Biographen und auch ich bisher geschrieben, 1803 oder 1805) als die erste Tochter von Samson und Betty Heine in Düsseldorf – zehn Monate nach ihrem Bruder Harry – geboren. Sie war des seltsamen Knaben frohe Spielgenossin; sie theilte seine Arbeiten, seine kindlichen Sorgen und Hoffnungen, und sie blieb auch seine einzige und beste Freundin, die Vertraute seiner Freuden und Leiden bis zu seinem Tode. Lottchen war ein aufgewecktes, ein kluges und munteres Mädchen. Von ihren Jugendspielen mit dem Dichter wissen die Biographen manches hübsche und anmuthige Bild zu entwerfen. Mit Vorliebe suchten die beiden Kinder Reime zu machen. In aller Frühe, wenn die anderen noch in tiefem Schlummer lagen, spielten sie schon miteinander auf dem Hofe. Eines Tages quälte sich Lottchen vergebens; sie konnte die gewünschten Verse nicht finden. Da wandte sie sich an den Bruder: „Dir ist es leicht, Reime zu finden, mir wird es sehr schwer. Wir wollen nun ein anderes Spiel spielen. Ich werde eine Fee vorstellen, wir bauen einen Thurm, und ich bewohne ihn; Du bleibst draußen stehen, singst und findest Reime.“
Und in der That bauten sie nun einen Thurm aus leeren Kisten, die sie beide eine auf die andere stellten. Dann kletterte die Kleine hinauf bis zu der letzten Kiste und sprang hinein. Die Fee war verschwunden; denn die Kiste war höher als das Kind.
Als Heine seine Schwester nicht mehr erblickte, wurde ihm bange und er lief ins Haus, um Hilfe rufend. Charlotte versuchte nun, sich selbst zu befreien, die Kisten fingen an zu schwanken, und furchterfüllt kauerte sie laut weinend in einer Ecke nieder. Als man ihr zu Hilfe eilte, blieb sie still und stumm in der Ecke sitzen. Sie fürchtete Strafe, weil sie ihr bestes Kleid angelegt und beim Hineinspringen zerrissen hatte; doch als sie das laute Weinen ihres Bruders hörte, rief sie ihm zu: „Harry, ich lebe, aber mein Kleid ist zerrissen!“ Nicht ohne Schwierigkeiten wurde sie von dem selbsterbauten Thurm heruntergeholt, und Harry umarmte sie stürmisch, überglücklich, sein Schwesterchen wieder am Leben zu finden. Noch am Abend seines Daseins, wenige Wochen vor seinem Tode, erzählte Heine, daß er nie den freudigen Eindruck vergessen, den er damals als achtjähriger Knabe empfunden habe.
Die Fürstin de la Rocca, die Tochter von Charlotte von Embden, erzählt in ihren „Erinnerungen“ noch manche liebenswürdige Geschichte aus der Kindheit Heines und seiner Schwester.
Ein schönes Denkmal hat Heine zur Erinnerung an jene Kinderzeit seiner Schwester in dem Gedicht „Heimkehr“ gewidmet, welches folgendermaßen lautet:
„Mein Kind, wir waren Kinder,
Zwei Kinder, klein und froh;
Wir krochen ins Hühnerhäuschen,
Versteckten uns unter das Stroh.
Wir krähten wie die Hähne,
Und kamen Leute vorbei –
‚Kikereküh!‘ sie glaubten,
Es wäre Hahnengeschrei.
Die Kisten auf unserem Hofe,
Die tapezieren wir aus
Und wohnten drin beisammen
Und machten ein vornehmes Haus.
Des Nachbars alte Katze
Kam öfters zum Besuch;
Wir machten ihr Bückling’ und Knixe
Und Komplimente genug.
Wir haben nach ihrem Befinden
Vorsorglich und freundlich gefragt;
Wir haben seitdem dasselbe
Mancher alten Katze gesagt.
Wir saßen auch oft und sprachen
Vernünftig wie alte Leut’
Und klagten, wie alles besser
Gewesen zu unserer Zeit;
Wie Lieb’ und Treu’ und Glauben
Verschwunden aus der Welt,
Und wie so theuer der Kaffee,
Und wie so rar das Geld! – – –
Vorbei sind die Kinderspiele,
Und alles rollt vorbei, –
Das Geld und die Welt und die Zeiten
Und Glauben und Lieb’ und Treu’.“
Da sie ins Leben eintrat, war Charlotte, die nicht nur ein geistreiches, sondern auch ein schönes Mädchen war, bald die gefeierte Heldin auf allen Festen und Bällen in Düsseldorf, die allen jungen Männern den Kopf verdrehte und das Herz schwer machte. Als die Eltern Düsseldorf verließen, war es ihre erste Sorge, Charlotte zu verheirathen. Wenn ich recht unterrichtet bin, war es Heinrich Heine selbst, der bei seinem Aufenthalt in Hamburg die Bekanntschaft von Moritz Embden machte und mit diesem fortwährend von seiner kleinen Schwester sprach. Embden war neugierig und wollte das schöne, merkwürdige Mädchen kennenlernen. Als er sie sah, hatte er auch bereits sein Herz verloren; sie wurde seine Gattin, und das Hochzeitsgedicht, welches Heine seiner Schwester bei der Vermählung am 22. Juni 1823 auf dem Zollenspieker zwischen Lüneburg und Hamburg machte, soll alle Festgenossen entzückt haben. Er selbst schrieb an Moses Moser: „Es war ein schöner Tag der Festlichkeit und Eintracht. Das Essen war gut, die Betten waren schlecht und mein Oheim Salomon war sehr vergnügt.“
Als Charlotte von ihrem Bruder Abschied nahm, rieth er ihr, die Verse ihres Gatten – denn Moritz Embden versuchte sich in den Mußestunden, die ihm sein kaufmännischer Beruf ließ, auch als Dichter – nur ja recht eifrig zu loben, denn sonst könnte das Unterlassen leicht eine Uneinigkeit in der Ehe hervorrufen. Im „Buch der Lieder“ findet sich auch ein hübsches Gedicht, welches diesen Rath an seine Schwester wiederholt:
Laß ich mich von dir scheiden.“
Die geistige Entwicklung Heines und seinen wachsenden Dichterruhm verfolgte Charlotte mit der innigsten und lebhaftesten Theilnahme. War sie früher seine liebevolle Gespielin, so wurde sie nun auch die aufmerksame, theilnehmende und rathgebende Freundin ihres Bruders, an die er sich in allen seinen Lebensnöthen wenden durfte. Zwischen ihm und seiner Schwester gab es keine Entfremdung, wie oft er auch mit den Brüdern und manchmal sogar mit dem Schwager in Zank und Streit gerathen mochte. Stets war Charlotte die treue und liebenswürdige Vermittlerin, die entweder des reichen Oheims Zorn zu besänftigen oder des Dichters Launen zu beschwichtigen hatte.
Und kein schöneres Zeugniß für des Dichters gemüthstiefe Bruderliebe besitzen wir als das Blatt, welches er in das Album seiner Schwester eingeschrieben:
„Wir können die Menschen füglich in zwey Klassen eintheilen: 1stens diejenigen, die uns lieben, 2tens diejenigen, die uns oft und deutlich sagen, daß sie uns lieben.
Mich, liebes Lottchen, kannst Du dreist zur ersten Klasse rechnen. Ich bin Dir herzlich gut, wenn ich auch nicht viel Aufhebens davon mache.
Wenn Frau Charlotte in ihrem stattlichen, in altpatrizischer Weise vornehm ausgestatteten Zimmer in ihrem Lehnstuhle sitzend den Erinnerungen ihrer Jugend nachgeht, dann ist es vor allem jener Triumphzug, den sie auf einer Badereise in den zwanziger Jahren nach dem Rhein und Süddeutschland gemacht [723] hat, von welchem sie mit besonderer Vorliebe und mit wahrem Eifer erzählt. Zunächst gab sie bei Immermann einen Empfehlungsbrief ihres Bruders ab. Immermann stellte sie seinen Gästen nur als Madame Embden aus Hamburg vor, aber im Verlaufe des Gespräches hielt er es nicht länger aus und sagte es allen, daß diese Frau die Schwester Heines sei, und nun war des Jubels kein Ende. In Frankfurt a. M. gab Rothschild ihr zu Ehren eine große Abendgesellschaft. Alle waren schon versammelt, als die mit Spannung Erwartete ankam. Der Diener riß die Thür auf und rief mit Stentorstimme, da er ihren Namen vergessen hatte, in den Saal hinein: „Madame, die Schwester Heines!“ Die interessanteste war aber unstreitig jene Bekanntschaft, welche Charlotte Embden in Göttingen machte. Dort lernte sie den Grafen August v. Platen kennen. Aber vorsichtig umging sie alle Fragen nach ihrer Familie, weil sie glaubte, der Name Heine*[3] würde bei dem Dichter keine angenehmen Erinnerungen erwecken. Platen war von ihrer Liebenswürdigkeit entzückt und besuchte sie in ihrem Hause. Als er ihr aber beim Abschiede ehrerbietig die Hand küßte, sagte er: „Gnädige Frau, wollen Sie mir eine Frage beantworten? Haben Sie je die Bibel gelesen?“
Frau Charlotte sah ihn erstaunt an und wußte nicht, was sie antworten sollte.
„Kennen Sie, meine Gnädige,“ fuhr der Dichter fort, „die Stelle in der heiligen Schrift: ‚Bin ich der Hüter meines Bruders?‘ Seien Sie meiner höchsten Achtung versichert und genehmigen Sie die aufrichtigsten Wünsche für Ihr Wohl. Mögen die Bäder von Schwalbach Ihnen Genesung bringen.“
Charlotte blieb stumm. Als sie ihrem Bruder diese Scene erzählte, wurde Heine ernstlich böse und sagte zu ihr: „Aber, liebes Lottchen, Du hast doch sonst die Zunge am rechten Fleck, wie konntest Du nur schweigen und nicht die Gelegenheit benutzen, ihm sein Unrecht hernach vorzuhalten?“ Die Fürstin de la Rocca berichtet, daß Heine zum ersten Male damals seiner Schwester böse war, daß sie ihn aber mit liebenswürdiger Hingebung bald zu versöhnen und das schöne geschwisterliche Verhältniß wieder herzustellen wußte.
Auch in Paris bewahrte er der Schwester seine treue Anhänglichkeit. Man kann sich wirklich nichts Liebenswürdigeres denken als den Brief, den er am 13. Februar 1834, nachdem er aus Hamburg die Kunde von der Geburt eines Kindes empfangen hatte, nach Hause schrieb:
Vor anderthalb Minuten erhielt ich den lieben Brief, worin mir unsere glückliche Niederkunft gemeldet wird. Ihr hattet mich also getäuscht, indem Ihr mir sagtet, daß wir erst zum Frühjahr in die Wochen kämen.
Mit tiefem Weh sah ich dem Frühling entgegen. Mein Herz ist jetzt so erleichtert, daß ich vor Freuden tanzen möchte. – Ich umarme Dich, liebes Lottchen und ich sehne mich nach nichts in der Welt mehr, als daß ich die alte Gluck’ und Dich, die junge Gluck und Deine kleinen Küchelchen wohl wiedersehe. Schreibe nur gleich, wie Du Dich befindest. Lebt wohl und behaltet freundschaftlich im Andenken Euren ergebenen H. Heine.“
In späteren Briefen beklagt er bitter, daß er ohne Nachricht über das Befinden seiner Schwester sei: „Ein Wochenbett ist doch kein gewöhnlicher Zustand, und da gebührt es sich wohl, daß ich etwas von dem Wohlsein meiner Schwester erfahre. Wenn Ihr mich bei so wichtigen Umständen öfters ohne Brief laßt, kann ich wirklich krank werden. Ich habe mir fest und steif vorgenommen, recht wirklich krank zu werden, um mich an Dir wegen Deines langen Stillschweigens zu rächen.“
Die ganze Liebe zu seiner Schwester bekundet sich aber in den Briefen, welche Frau Charlotte als ein theures Andenken in ihrem Schreibtisch neben ihren eigenen Erinnerungen, die sie sorgfältig aufgezeichnet, mit treuer Fürsorge bewahrt. Es sind etwa 120 Briefe, die meisten an sie selbst gerichtet, voll froher Laune, voll von glücklichem Humor, aber auch voll von bitterem Sarkasmus, voll von tiefer Verstimmung und brennendem Schmerz, je nachdem die Verhältnisse und Lebenslagen waren, in welchen der Dichter sich an seine Schwester gewandt hat. Wie ein Heiligthum thronte die Liebe zu dieser Schwester in seinem Herzen, und keine Verstimmung vermochte sie daraus zu reißen.
Als sich die beiden Geschwister im Jahre 1843 wiedersahen, empfanden sie beide eine tiefe und innige Freude. Bei dieser Gelegenheit machte Charlotte die Bekanntschaft von des Bruders Gattin Mathilde und suchte auch mit dieser, so weit dies bei den verschiedenartigen Charakteren möglich war, ein liebevolles und freundliches Einvernehmen herzustellen. In den trüben Tagen, welche dieser Reise folgten, als der Dichter mit seiner Familie wegen der Pension sich entzweite, war Charlotte eine treue Vermittlerin. Aber es gelang ihr diesmal nicht wie früher so oft, den gewünschten Frieden wieder herzustellen.
Nur noch einmal sah sie ihren Bruder wieder; es war im Winter des Jahres 1855, zwei Monate vor seinem Tode. Der Dichter lag schwer leidend in seiner „Matratzengruft“, da trat Charlotte bei ihm ein. Sie litt wahre Qualen bei dieser Zusammenkunft, es war ihr herzzerbrechend, ihren Bruder, den einst so schönen und lebensfrohen Mann, so abgemagert und hilflos wiederzufinden. Und dennoch hatte die starkgeistige Frau die Kraft, ihm diesen Eindruck zu verbergen. „Sie that alles, um seine Leiden zu erleichtern, sie errieth seine Wünsche, ehe er sie äußerte, sie errieth seine Gedanken, und beide wahlverwandten Seelen verstanden sich, auch ohne zu sprechen. Er fühlte die Nähe seiner Schwester, wenn er auch regungslos und mit geschlossenen Augen dasaß.“ So erzählt Charlottes Tochter, die Fürstin Marie de la Rocca. Und als Charlotte abreisen wollte, bat sie der Bruder, noch einige Zeit zu bleiben. „Charlotte, wir werden uns nicht wieder sehen!“ wiederholte er beständig. Die Schwester versprach, im Frühjahr wieder zu kommen; die Trennung war eine tiefschmerzliche, und als das Frühjahr kam, da deckte die feuchte Erde des Bruders Grab.
Charlotte von Embden ist seit dem Jahre 1866 Witwe und lebt nur noch ausschließlich den Erinnerungen an ihren großen Bruder. Ein liebevoller, vortrefflicher Sohn, Ludwig Freiherr v. Embden, laut testamentarischer Verfügung der Herausgeber des litterarischen Nachlasses von Heine, widmet ihr die zärtlichste Sorge. Und drei glücklich verheiratete Töchter – in Neapel, London und Berlin – schmücken ihren Lebensabend. Noch heute in ihrem neunzigsten Lebensjahre hat sie etwas von der Anmuth ihrer Jugend. Schwebenden Schrittes, rascher als manches junge Mädchen, eilt sie durch die Zimmer. Wenn sie in ihre Erinnerungen sich vertieft, erglänzen ihre Augen in jugendlichem Feuer. Sie kann stundenlang sprechen, ohne sich zu erschöpfen, bis ihr treuer Sohn und wahrhaft hingebungsvoller Pfleger Ludwig sie daran erinnern muß, sich zu schonen. Auch etwas von dem Sarkasmus, von dem scharfen Witz des Bruders ist auf sie übergegangen. In ihren jungen Jahren war das Embdensche Haus ein Mittelpunkt edelster Geselligkeit, wo Karl Gutzkow, Franz Liszt, Ludwig Wihl, Feodor Wehl, K. Töpfer, die Familie Assing, Therese v. Bacharacht oft und gern verkehrten. Charlotte entzückte damals wie heute – an der Schwelle des neunzigsten Lebensjahres – alle Besucher durch ihren regen Geist, der sich für alle Fragen der Litteratur und Politik interessirt, durch ihren Witz und ihre Liebenswürdigkeit. Die Stunden, welche ich im Hause der liebenswürdigen Greisin verlebt habe, werden mir unvergeßlich bleiben. Ihre Erzählungen aus dem Leben Heines sind die beste Biographie des Dichters und charakerisiren sein Leben und Schaffen eindringlicher als die gelehrtesten ästhetischen Biographien, über die Frau Charlotte gelegentlich auch mit einem scharfen Witz sich lustig zu machen versteht. Für mich ist, da ich diese Zeilen schreibe, namentlich eine ihrer Erzählungen von besonderem Interesse, deren Eindruck mir niemals schwinden wird.
Auf meine Frage nach dem „Rabbi von Bacharach“ erzählte mir Frau Charlotte zum ersten Mal, daß das Werk keineswegs, wie die meisten Biographen annehmen, ein Torso gewesen, sondern daß Heine dasselbe wirklich vollendet habe! Der Hamburger Tempelprediger Dr. Gotthold Solomon, dessen Heine wiederholt in seinen Briefen gedenkt, habe den Roman gelesen und ihn als das beste Bild des altjüdischen Ghettolebens mit warmen Worten gepriesen. Bei dem großen Hamburger Brande im Jahre 1842 aber ging diese Novelle wie alle übrigen Schöpfungen aus des Dichters Jugendperiode leider in Flammen auf. Er selbst schrieb darüber an Ludwig von Embden: „– daß meine Manuskripte und Schriften ein Raub der Flammen geworden, ist mir ein unersetzlicher Verlust. Diese Manuskripte enthielten die Produke meiner ersten Jugendkraft, und nie werde ich wieder so [724] schreiben können. Ich wollte sie liegen lassen, um später, wenn meine Geistesfrische abnehmen sollte, was bei meiner geschwächten Gesundheit nicht unwahrscheinlich ist, von diesem Kapital in meinen alten Tagen zu zehren.“
Betty Heine, die Mutter des Dichters, wohnte damals auf dem Neuen Wall, weit von dem Herde des Feuers, das sich aber in den folgenden Tagen immer weiter ausdehnte. Sie siedelte nun zu ihrer Tochter Charlotte nach der Theaterstraße über. Dort lag sie eines Tages schlummernd auf dem Sofa, als plötzlich die Bonne der Kinder schreiend in das Zimmer trat: „Madame, das Feuer hat den Neuen Wall erreicht, wenn Sie noch etwas retten wollen, müssen Sie sich beeilen!“
„Harrys Papiere müssen in Sicherheit gebracht werden,“ erwiderte die alte Frau rasch. „Sie sind in eine Kiste verpackt, die in meinem Schlafzimmer unter einem Schrank steht. Ich muß selbst hin.“
Aber Charlotte wollte dies nicht zugeben. Ohne die Gefahr zu ahnen, der sie sich aussetzte, eilte sie sofort nach dem Neuen Wall, mit dem Versprechen, die Papiere bestimmt zu bringen.
In wahrhaft dramatischer Weise erzählte nun die greise Frau mir das folgende: wie sie glücklich an das Haus gelangt, da erst der untere Theil der Straße brennt, wie sie die Wohnung der Mutter betritt, dort alles erbrochen findet und zwei wild aussehende Menschen im Wohnzimmer bei einer Flasche Wein antrifft. Ohne sie zu beachten, eilt sie flüchtig dahin, wo die Kiste mit den Papieren steht. Aber einer der Arbeiter ist ihr mit einer Axt gefolgt. Unerschrocken wendet sie sich zu ihm: „Schlagen Sie mir die Kiste ein!“ In der Hoffnung, darin Kostbarkeiten zu finden, folgt er bereitwilligst ihrem Befehl, ist aber sehr enttäuscht, nichts als beschriebenes Papier in der Kiste zu finden. Charlotte nimmt nun das ganze Packet mit den Manuskripten, schnürt es zusammen und eilt nach dem Hausflur. Aber ehe sie die Straße erreicht, hat sich die Scene plötzlich in entsetzlicher Weise verändert. Das Feuer ist mit rasender Schnelligkeit näher gerückt, ein furchtbarer Sturm ist ihm vorausgeeilt und ein Funkenregen dringt auch in dieses Haus ein. Jeder Widerstandsversuch ist unmöglich. Ringsum das Geprassel der Flammen, das Krachen der zusammenstürzenden Häuser, das Schreien und Rufen von Frauen und Kindern, das Fluchen der Löschmannschaft, ein wildes Drängen und Stoßen, ein bewußtloses Durcheinander. Sie aber hält krampfhaft das Bündel mit den Manuskripten ihres Bruders fest. Da wirbelt plötzlich eine dichte Rauchwolke durch das Haus, die alles zu ersticken droht, ein funkensprühender Aschenregen versengt ihre Kleider; ihre Kräfte verlassen sie, sie fällt in Ohnmacht und wird von einem Spritzenmann auf seine starken Schultern geladen und fortgetragen. Da sie nach einiger Zeit wieder zur Besinnung gelangt, liegt sie auf einer Bank. Ihr Retter ist verschwunden, aber auch das Packet mit Manuskripten hat sie fallen gelassen und verloren. …
Einen reichen Schatz von großen und merkwürdigen Erinnerungen wie die oben erzählte birgt Charlotte von Embden in ihrem Geiste. Wohl geordnet liegen in ihrem Kopfe alle diese Erzählungen und Gedanken neben einander. Sie hat nichts vergessen in ihrem hohen Alter von ihrer schönen Jugend, sie hat alles treu bewahrt und, wie sie mir wiederholt versicherte, sorgsam aufgeschrieben. Aber sie wünscht nicht, daß diese Erinnerungen und jener Schatz der bereits erwähnten Briefe des Dichters bei ihren Lebzeiten veröffentlicht werden.
Nun denn, so wichtig ist uns keine Erinnerung aus dem Leben Heinrich Heines wie seine eigene Schwester, die ja die schönste Blüthe in seinem Lebenskranze war. Möge es der greisen Frau noch lange beschieden sein, in ungetrübter Heiterkeit und Geistesfrische an dem Göttergeschenk hohen Alters sich zu erfreuen!
Alle Rechte vorbehalten.
Auf schwankem Boden.
(1. Fortsetzung.)
Ich schritt der breiten Treppe zu, um in mein Zimmer zu gelangen. Unten hatte ich nichts mehr zu thun; ich sah nur noch, wie der Pfarrer die Gestalt Elisabeths umfaßte und sie über die Stubenschwelle geleitete, denn es war, als wanke sie jetzt unter ihrer Last. Was mochte sie hineintragen in dies stille Haus mit diesem Kinde – an Leidenschaft und Sünde? Mich schüttelte ein Grausen, als ich das Wort wiederholte: „Das Kind eines Mörders und einer Ehrlosen!“ – Dachten sie denn gar nicht daran, daß es einen Gott giebt, der die Sünden der Väter heimsucht an den Kindern?
Ich konnte nicht schlafen; ich öffnete das Fenster und schaute in den Garten; die Nachtigallen sangen, der Mond schien so leuchtend hell, jedes Blättlein versilbernd. Er schien auch wohl in die Kerkerzelle des Mannes, welcher die Frau so unsäglich geliebt, der er den Tod gegeben hatte, und in die Fenster unter den meinigen, wo Elisabeth dem Kinde ein Lager neben dem ihrigen bereitete. Es war noch immer leises Kommen und Gehen dort unten, ich hörte es bis herauf.
Dann ward es stiller, und nun vernahm ich leise und doch deutlich die weiche Stimme Elisabeths: „Hermann, ich danke Dir!“
Dann antwortete er laut und bewegt: „Ja, Elisabeth, laß wieder Frieden werden zwischen uns, es ist die höchste Zeit. Dein Kind – unseres – den lieben Jungen, den strafte ich nicht aus Unduldsamkeit oder aus Aerger wegen seines Ungehorsams. Ich hatte Angst, die furchtbarste Angst, daß er sich bei seinem Umhertoben erkälten könnte; Du –“
Sie weinte jetzt ganz laut, und er schloß das Fenster. Auch ich machte das meinige zu.
So etwas vermag auch nur Elisabeth, dachte ich und sperrte das Mondlicht ab durch die dichten Vorhänge. Weich und trübe war es mir zu Sinne. Ich hätte den Muth nicht gehabt. – Welche Fülle von Seelenstärke, welche Selbstlosigkeit und Liebe, welch Gottvertrauen gehört dazu, dieses Kind ans Herz zu nehmen! –
Am andern Morgen sagte ich meine Ansicht klar und offen dem Pfarrer, als wir – es hatte früh gewittert und eine wundervolle kühle Luft wehte – im Garten auf- und abgingen. Ich sah an seinem blassen Gesichte, daß auch er gesorgt und gewacht hatte in dieser Nacht.
„Liebe Frau Anna,“ erwiderte er, als ich ihm bemerke, daß ich an die Erblichkeit der Charakterfehler und Eigenschaften überhaupt glaube, „wir können nichts weiter thun als unsere Schuldigkeit, und das werden wir mit allen Kräften an dem Kinde thun. Das andere liegt in Gottes Hand. – Elisabeth kam heute früh mit verweinten Augen vom Kirchhofe zurück; ihr Schmerz ist milder geworden, sie lebt wieder, sie ist wieder die Alte mir gegenüber. Ich danke es diesem kleinen Fremdling; Gott segne ihn!“
Ich drückte ihm die Hand, „und segne Sie beide,“ setzte ich hinzu.
Einige Tage später reiste ich ab. Meine Ertrapost rasselte vor das stille Pfarrhaus, und als ich mich noch einmal an der Straßenecke zurückwandte, sah ich Elisabeths feine Gestalt auf der Sandsteintreppe vor der Hausthür stehen, das Kind auf dem Arm, und sie winken und nickten.
„Sie ist besser als Du,“ sagte ich einmal wieder wie schon so oft.
Seitdem hatte ich nur Gutes gehört und gesehen von den drei Menschen im Borndorfer Pfarrhause. Ein überaus liebliches Kind war die Kleine geworden, nicht gerade ein Muster von Artigkeit, wie mir Elisabeth schrieb oder sagte, aber auch durchaus keine Absonderlichkeiten ausweisend in ihrem Charakter. Sie hing mit aller Innigkeit an den Pflegeeltern, die sie nur als ihre eigenen kannte. Von dem Vater hatte man nur einmal in der Zeitung gelesen, daß er bei einer allgemeinen Amnestie aus dem Gefängniß entlassen worden sei, das war aber schon Jahre her. Er hatte sich nicht bekümmert um sein Kind; vielleicht hatte er erfahren, daß es wohl aufgehoben war, und mochte gedacht haben, daß er mit seinem verlornen Dasein den Frieden ihres Lebens nicht trüben dürfe, kurz – er war einer richtigen Adoption nicht in den Weg getreten und Martha Steinkopf längst das rechtmäßige Kind der Pflegeeltern geworden.
Ich hatte, wie gesagt, den heranwachsenden, wirklich allerliebsten Backfisch in dem kleinen Nordseebade gesehen, hatte mich an der Schönheit und dem lieblichen Wesen des Mädchens erfreut
[725][726] und sie nach Tantenart gründlich verwöhnt, was Elisabeth in ihrer stillen Weise wirklich kunstvoll abzuschwächen verstand. Sie war sehr fromm damals, die Kleine; über ihrem Bettchen hing ein Christusbild und abends pflegte sie in dem langen weißen Nachtkleide vor dem Lager hinzuknieen und laut zu beten.
„Elisabeth,“ sagte ich einmal, als wir den Strand entlang gingen zur Ebbezeit und Martha und ihr Vater eifrig Muscheln suchend uns weit voraus waren, „wenn sie noch ein bißchen größer ist, ganz utwussen, dann borg mi dat oll Gör mal en beten.“
Elisabeth sah mich an. „Nein, lieb’ Annche,“ erwiderte sie fest, „das paßt für das Kind nicht.“
„Warum denn nicht?“
„Nein, denn was Du willst, Du altes liebes Weltkkind, das weiß ich: Du willst mit ihrer jungen Schönheit Staat machen. Da gehst Du nach Berlin mit ihr und nimmst sie auf Bälle mit oder gar auf weite Reisen, und überall wird ihr was in den Kopf gesetzt. Nein, Anna, noch ist sie nicht fest in sich, noch lasse ich sie nicht aus den Händen, es wäre gewissenlos.“
„Du kannst sie doch nicht einsperren, Elisabeth?“
„Sicher nicht! Thun wir denn das? Sie hat vollauf der Freuden in ihrem Leben. Sieht sie aus, als ob sie entbehrte? Sei nicht böse, Anna, Du ahnst nicht, welch ein Angstkind sie mir immer war!“
„Also doch! – Sei gut, Elisabeth, ich will Dir das Kind nicht verderben,“ sagte ich gerührt.
„Versteh mich nicht falsch, Anna; mein eignes Kind, ich hätte es Dir auf Jahre gegeben, aber dieses – nein. dieses nicht!“
Dann schrieben wir uns nach oft, bis vor anderthalb Jahren; seitdem bekam ich keinerlei Antwort, und – – – – – –
Ich fahre plötzlich empor aus meinen Erinnerungen und bin wieder in der Gegenwart. Es ist dunkel geworden, noch immer rauscht der Regen auf den Lindenblättern und dem Pflaster. Lieber Gott, was mag aus diesem Kinde geworden sein indeß!
Eben will ich nach Licht klingeln, da klopft es schüchtern, und als ich „Herein“ rufe, kommt etwas ganz langsam über die Schwelle, langsam und hustend, und gegen den hellen Hintergrund erkenne ich, daß es ein altes Weiblein ist im Umschlagtuch und weißer Haube.
„Sie kennen mich wohl nicht mehr, Madame, ich bin die ‚oll Kathrin‘ aus der Pfarre, wie Sie immer zu mir sagten.“
„Ei, Kathrin,“ rufe ich, „das ist freundlich von Ihnen!“ Und während ich die Alte zu einem Stuhl geleite und nach Licht klingele, frage ich: „Woher wissen Sie denn, Kathrin, daß ich hier bin?“
„Das will ich wohl nachher sagen, Madame, muß mich nur erst ein bißchen verpusten.“ Und sie hustet wieder und holt tief und rasch Athem.
„Sind Sie denn noch in der Pfarre, oll Kathrin?“
„Ach, Gott bewahre mich! Was sollten sie denn noch mit mir altem Kröpel? Nein, Madame, seit einem Jahre bin ich in dem Altweiberspittel, drunten an der Weißgasse, da, Madame, wissen Sie, wo der Todtenkopf über der Thür ist. Die Herrschaft hat mir da eine Stelle verschafft.“
Das Mädchen bringt jetzt Licht und sieht ganz verwundert die Alte an.
„Da hab’ ich’s ja nun gut und kann geruhig leben,“ fährt sie fort, „wenn man nur den Kummer nicht hätte auf die letzten paar Jahre.“ Das runzelvolle Gesicht von „oll“ Kathrin drückt jetzt, wo ich sehen kann, eine ehrliche Bekümmerniß aus. Sie hat mich scharf ins Auge gefaßt. „Ja, so wie Sie, Madame, sieht sie nicht mehr aus – ganz weiße Haare, und die Augen sind so groß geworden – lieber Gott!“
Ich ziehe mir einen Stuhl herüber zu dem Platz, wo die Alte sitzt, und bitte: „Nun erzählen Sie mir alles, Kathrin.“
„Ja, ich will’s versuchen, und wenn ich so’n bißchen vom Weg komme, dann helfen Sie mir wieder drauf, Madame, und wenn ich husten muß, nehmen Sie’s nicht übel.“
„Ei bewahre, Kathrin.“
„Sie wissen ja, wie’s geschah, daß das Kind in unser Hans gekommen ist. – Ich hab’ damals die Hände überm Kopf zusammengeschlagen, aber die Herrschaft hat’s besser gewußt, die haben gedacht, mit ihrer Liebe und Güte und mit ihrem Gebet ziehen sie aus dem wilden Pflänzlein eine schöne Blume. – Ach, Madame, war das ein feines Kind vom Aeußeren, und auch so in seinem Wesen; als wenn sie von Königs abstammen thät, so stand sie unter den andern Kindern. mit denen sie spielte, und es waren da welche drunter vom Bürgermeister und vom Oberförster und von all denen, die vornehm sind. Und gut ist sie gewesen und schmeicheln hat sie können! ‚Mein herzliebe Kathrin‘ hat’s immer geheißen, wenn sie in der Küche ihr Puppentellerchen voll Milch gewollt hat, oder ein paar Rosinen zum Kochenspielen. Und dann die Klugheit! Was man ihr vorgesagt hat, konnte sie auswendig, aber gleich, und das hat sie denn so hersagen können, so schön, wissen Sie, so mit Handbewegungen. Der Herr Pfarrer hätt’s nicht schöner machen können auf der Kanzel. Nücken und Tücken hat sie auch gehabt, dann hat’s aber Strafe gegeben. Ja, die Frau Pfarrerin ist streng gewesen, obgleich’s ihr schwer wurde, man hat’s ihr allemal angesehen. Dem Herrn Oberpfarrer aber, dem war sie ans Herz gewachsen wie ein eigen Kind.
Wie sie eingesegnet worden ist, da haben alle Leute in der Kirche nur nach ihr geschaut; wunderschön hat sie ausgesehen in dem einfachen schwarzen Kleidchen und mit dem goldenen Kreuzchen auf der Brust, gerad so golden wie ihr Haar. Und wie sie da nachher aus der Kirche trat neben der Frau Oberpfarrerin, da hat’s allenthalben hinter ihr her gewispert, wie schön sie wär’, und der junge Herr Landrath hat den Kneifer ins Auge gethan und sich den Bart gestrichen und hat gesagt: ‚Prachtvoll!‘ Ich war schon draußen, hab’ alles gehört und gesehen, der Frau ihr unwilliges Gesicht und dem Kind sein Erröthen und sein Augenaufschlagen, und da war gerad zum allerersten Mal in den schwarzen Augen etwas, das ich noch nicht darin bemerkt hatte, so – ja ich kann’s nicht ausdrücken, so eine Art Freude, die mir nicht hat passen wollen zu dem Tage und der Stunde. Und wie ich abends hinaufkam, um in ihrem Stübchen nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist, da steht sie vor dem Spiegel und beschaut sich und lächelt sich an. – ‚Herr, Du mein‘ rief ich, ‚Martha, was hast Du zu gaffen? S’ ist wirklich nichts Absonderliches an Deinem Gesicht, die Nase derlänge und der Mund derquer.‘ Da hat sie gelacht und ist roth geworden. Ich hab’s aber wohl gemerkt, daß da ein Funke in den Zunder geflogen war, der ganz heimlich weiter geglimmt hat, bis sie in vollen Flammen stand.
Es ist ja nichts Böses, Madame, es ist sogar natürlich, daß ein junges Mädchen sich seiner Lieblichkeit freut; aber bei ihr war’s etwas anderes. Die Lust am Beifall der Menschen, die hat sie schon als kleines Kind gehabt; damals war sie glückselig, wenn sie als ‚sehr artig‘ gepriesen wurde, nun kam aber ihre Schönheit ins Spiel. – Um die Zeit, da bin ich gerad so ein bißchen elendig geworden und die Herrschaft hat mir zur Stütze ein junges Dienstmädchen angenommen, und unser Kind hat sollen mit der die Wirthschaft führen; mir haben sie gesagt, ich solle mich ausruhen, ein bißchen spinnen und Sommers in der Sonne sitzen und mich wärmen. – Die Ernestine, die hat noch wenig verstanden, aber lustig ist sie alleweile gewesen und singen konnte sie bei ihrer Arbeit, als wenn die ganze Pfarre ihr allein gehören thät. Allerlei Lieder hat sie gewußt, die man auch gekannt hat in seiner Jugend, und weil’s das Fräulein gern hörte, hat sie immerfort in der Küche gesteckt.
Die Frau Pfarrerin hat nichts darüber gesagt, wenn unser Kind im Garten beim Nähen, oder in der Stube drinnen die Lieder nachsummte; sie hat sich nur immer gefreut über sie. Es war ja auch nichts Unrechtes, Madame; es war nur, daß die Ernestine gar soviel schwatzen durfte mit unserem Kind, das von der Welt noch nichts wußte und verstand. – Der Frau Pfarrerin ihr Bruder hat das Kind gern gehabt, hat es auch wollen heirathen, aber da hatten die Eltern gemeint, es sei noch zu jung, und er solle noch warten. Hätten sie nur das nicht gethan! Mit achtzehn Jahren heirathet doch manche! – Liebe Zeit, Madame, still ist’s ja bei uns immer gewesen im Hause; wenn mal eine Gesellschaft war, so hat ein junges Mädchen nicht viel Freude daran gehabt. Lauter ältere Herrschaften, die haben klug geredet und gesprochen, und die Jugend will doch ein wenig Thorheit und Lustbarkeit. Die rothen Bäckchen von dem Kind, die sind allmählich blasser geworden, und wenn sie am Fenster saß, dann hat sie mit ganz großen sehnsüchtigen Augen hinausgeschaut, und ein paarmal habe ich sie sommerabends getroffen, an der Gartenmauer stehend und auf die Dächer hinunterschauend, [727] und die kleinen Füße haben den Takt getrippelt zu dem Tanz, den sie da unten aufspielten, und ihre Augen haben voll Wasser gestanden.
‚Kathrin,‘ fragte sie mich einmal, ‚hast Du in Deiner Jugend getanzt?‘ – Na, lügen mag ich nicht; ich hab’ getanzt und, es ist wahr – schön ist’s gewesen, besonders wenn man mit einem tanzt, dem man gut ist. Ich hab’ aber gesagt: ‚Ja, Kindchen, ’s bringt aber nichts ein als lahme Füße und Herzeleid!‘ und bin rasch davongegangen. – Manchmal hab’ ich zwar gedacht, es ist doch keine Sünde, das Tanzen! Sie hätten’s ihr gönnen sollen; aber davon war keine Rede.
Ich neckte sie einmal mit dem Bruder der Frau Pfarrerin, da ward sie aber arg böse und sagte, der sei wie Mehlsuppe, so einen könne sie nicht leiden! Wahr ist’s, ich hätte ihn auch nicht gemocht, so einen Sanften, Immersüßen; aber ein guter Mann ist er doch.
Nun ist’s gerad anderthalb Jahr, da kommt eines Morgens der Postbote und bringt ein Schreiben mit großem Siegel, und darauf tritt die Frau Pfarrerin in die Küche und sagt zu dem Kinde: ‚Der Vater und ich müssen verreisen auf ein paar Tage, ’s ist wegen einer Familienangelegenheit; Du wirst haushalten müssen, mein Marthchen, ich kann mich ja auf Dich verlassen. Was?‘ Hat das Kind da gebeten: ‚Mutter lieb, nimm mich mit, ach nimm mich mit, es ist so schön in der Welt da draußen, und ich möchte den Rhein so gern sehen, ach so lebensgern sehen!‘ Und sie ist der Frau um den Hals gefallen und hat sie gestreichelt und geküßt; ‚nimm mich mit, ach bitte, bitte!‘ – Hat aber nichts genutzt. Es war gerad im September, das Obst reifte und die Frau Pfarrerin hatte gesagt, das müsse alles gut besorgt werden und das Kind solle brav und lieb sein. Es sei eine Geschäftsreise wegen des Testaments eines verstorbenen Onkels. Sie, die Martha, würde schon mal hinausfliegen in die Welt, vielleicht im nächsten Sommer.
Na, kurz und gut, sie sind allein abgefahren, und das Kind hat ein paar Stunden geweint, dann hat es geträllert; bei ihr war Lachen und Weinen in einem Sack. – Ich sollte nun aufpassen auf das Haus und gut Obacht geben auf die beiden jungen Menschenkinder. Ja, liebe Zeit, Madame, da kommt mir ein Hexenschuß, daß ich krumm und lahm zu Bette liege. Das Kind hat mich gepflegt, gut war es, sehr gut; an die drei Tage hat sie sich kaum von meinem Bette gerührt, hat mir vorgelesen und die Kissen aufgeschüttelt und mich lachen gemacht trotz meiner Schmerzen. Eines Nachmittags kommt sie in meine Stube und bringt mir Kaffee; sie sah aus wie eine Rose, ich meine, das ist vom Herdfeuer – sie kochte gerade Essigpflaumen ein – aber das war’s nicht, denn sie rief schon von weitem: ‚Kathrin, heut abend mußt Du aber doch mal allein bleiben, ich gehe aus.‘ ‚Bist Du bei Schmidts eingeladen?‘ frage ich; denn die Frau Pfarrerin hat die junge Frau Diakonus gebeten, sich um das Kind zu bekümmern. ‚Ja, freilich, Marthachen, da geh nur; die Ernestine kann mir doch wohl auch mal die Suppe kochen.‘ – Da setzt sie sich an mein Bette und sagt: ‚Nein, alte Kathrin, zu Schmidts gehe ich nicht – wenn Du das wüßtest – wohin? rath’ mal!‘ – Ich rathe dann die ganze Stadt durch, aber sie schüttelt nur immer den Kopf, und je mehr ich ins Rathen komme, desto mehr lacht sie und endlich sagt sie: ‚Laß nur, Du triffst’s doch nicht; ich soll mit Mila Krafft ins Theater gehen; vorhin hat Frau Krafft das Mädchen geschickt. Sie ist unwohl und kann ihr Billet nicht benutzen, da wollt’ sie es mir nun gönnen, weil ich so allein bin.‘
Ich denke, ich höre nicht recht! – Sie kennen Kraffts wohl nicht, Madame? Na, das schöne Haus an der Marktecke haben sie und Geld wie Heu und alles scherwenzt hier um sie. Die Mila war noch aus der Schule her mit unserem Kinde bekannt, aber die Frau Pfarrerin hat sie nicht recht gut leiden können, so ein gefallsüchtiges keckes Ding ist’s gewesen; ganz abweisen können hat sie den Umgang aber auch nicht, und die Martha ist immer ab und zu mal zum Thee hingegangen. ‚Was!‘ rief ich, ‚mit Kraffts Mila willst Du ins Theater? Nein, mein Goldkind, mein Püppchen, das erlaube ich nicht!‘ – Sie sah mich ganz starr an. ‚Sei doch nicht häßlich – Kathrin, es wird so ein schönes Stück gegeben, Krawall und Liebe –‘ ‚Na, das wäre das Richtige,‘ ereifere ich mich, ‚Krawall und Liebe, das mag was Sauberes sein; daraus wird nichts!‘ Aber sie hörte mich gar nicht, sie lachte, daß ihr die Thränen aus den Augen liefen, und kniete sich vor mein Bette und schluchzte vor Lachen in die Kissen. ‚Kathrin, ach Kathrin‘ schreit sie, ‚wie kann man nur so was verstehen!‘ Und endlich, als sie sich beruhigt hat, sagt sie: ‚Du kennst doch den weißen Gipskopf in Vaters Stube auf dem Bücherspind, der, dem Du die Nasenspitze abgestoßen hast mit dem Besen, die ich so schön wieder angekittet habe?‘ – ‚Ja, Kind, was soll denn der arme Heilige dabei?‘ – ‚Aber‘ – und ihr tolles Lachen fängt wieder an – ‚das ist ja Friedrich Schiller, der das Stück geschrieben hat.‘ ‚Nun?‘ frage ich, ‚ist’s wahr, Kind?‘ – ‚Ganz, gewiß, Kathrin‘, und ihre Augen blicken ganz ernst. ‚Und nicht wahr,‘ schmeichelt sie, ‚da kann’s nichts Schlimmes sein, Kathrin!‘
Na freilich, wenn unser Herr Pfarrer so einen in seine Stube stellt – was konnte ich dagegen thun? Und ich denke, das ist gewiß so’n Theaterstück von Luther und seiner Käthe, drin lauter liebe Engelein mit vorkommen, und sage: ‚Ja, wenn ich nur wüßte, ob –‘ Aber da wirft sie mir schon die Arme um den Hals und küßt mich auf mein altes Gesicht, so herzlich und oft, daß ich denke, sie thut gerad so feurig, als hätte sie ihren Liebsten zu herzen. Und dann läuft sie davon und kommt erst wieder, als schon die Lampe brennt, hat ihr bestes dunkelblaues Kaschmirkleidchen an und sieht aus wie eine Centifolie so schön.
‚Kind, Dein bestes Kleid!‘ – ‚Ja, Mila sagt, wir sitzen in der Loge, und außerdem ist doch der Fürst zur Jagd da und kommt mit seinen Herren ins Theater,‘ entschuldigt sie sich.
Hab’ gar nicht gewußt, daß unser gnädiger Fürst so fromme Stücke gern sieht – denke ich – ‚Ade, Kathrin,‘ sagt das Kind, und an der Thür wendet sie sich nochmal, und unter der weißen Kapuze mit Pelzbesatz blitzen die großen schwarzen Augen so recht schalkhaft zu mir herüber. ‚Kathrin,‘ ruft sie, ‚ich werde den Hofmarschall von Kalb von Dir grüßen!‘ ‚Wen?‘ frage ich, aber sie ist schon fort.
Da aber fängt’s mich an zu reuen, und so eine unbestimmte Angst überkommt mich. Sehen Sie, Madame, es giebt Ahnungen – lachen Sie mich nur nicht aus! – an dem Abend habe ich gefühlt, daß dem Kind was zustößt, und drunten in des Herrn Pfarrers Stube ist das Bild von der Frau Pfarrerin, wie sie als Braut war, von der Wand gefallen, und in dem Glase ist ein Sprung gewesen. Freilich, es kam auch alles bald genug! – So gegen elf Uhr erst ist die Martha aus dem Theater gekommen; sie hat so recht still in ihr Stübchen hinaufschleichen wollen, ich habe aber gerufen, bis sie hereingekommen ist.
‚Wo bist Du denn so lange geblieben, Kind?‘ frage ich, sie hat aber nicht geantwortet und ausgeschaut zum Erbarmen. – ‚So sprich nur, Kind; ist Dir denn etwas Böses passirt, war’s denn nicht hübsch?‘
‚Nicht hübsch? Wundervoll ist’s gewesen.‘
‚Hast Du geweint, mein Täubchen?‘
‚Ach so sehr, Kathrin.‘
‚Um das Gespiele? Liebe Zeit, Kind, das ist doch aber nur Gethue!‘
Sie steht mich ganz verächtlich an, dann ist sie gegangen mit einem kurzen: ‚Schlaf’ wohl!‘ Sie war gar nicht wie sonst. In der Nacht aber, so gegen den ersten Morgenschimmer, weckt mich das leise Knarren meiner Thür, und sie kommt in Nachtkleidern an mein Bett und sagt: ‚Ich muß Dich doch was fragen, Kathrin, ich kann nimmer schlafen, ehe ich’s nicht weiß.‘
‚Meine Güte, was machst Du für Geschichten!‘ rufe ich, ‚Du willst Dich gewiß erkälten! Erst thue Dir ein Tuch um.‘
‚Es ist nur ganz kurz, Kathrin; ich will nur wissen, ob es wahr ist, daß mein richtiger Vater ein –‘ sie stockt – ‚ein,‘ wiederholt sie nochmals und es will ihr nicht aus der Kehle – ‚daß er meine Mutter erstochen hat?‘
Und das klingt so, als ob einer spricht, der just mit dem Sterben zu thun hat.
‚Mein Jesus, wer hat Dir so etwas gesagt?‘ schreie ich auf.
‚Ist’s denn wahr? Ich will wissen, ob es wahr ist! Daß ich ein angenommenes Kind bin, das weiß ich, das haben sie mir schon in der Schule erzählt. Aber –‘
‚Ich weiß es nicht!‘ lüge ich in voller Angst, ‚frag’ die Eltern, wenn sie wiederkommen. Es ist eine Schande, Dir so etwas zu sagen; wer hat das gethan?‘
[728]
[729] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [730] ‚Eine von den Schauspielerinnen, welche die alte Millern gab,‘ antwortet sie mit sonderbarer Stimme.
‚Wie kamst Du zu den Schauspielerinnen?‘
‚Die Alte hatte mich von der Bühne her schon immer angesehen; ich saß mit Mila und ihrem Vater in der Prosceniums-Loge, und im dritten Akt, wie ich so recht hinsehe und Herzklopfen habe vor Angst, was wohl mit dem armen Liebespaar wird, da klinkt hinter mir die Logenthür und eine Stimme ruft leise meinen Namen. Ich stehe vorsichtig auf, um nicht zu stören, weil ich denke, die Ernestine ist’s, die mir sagen will, daß Du kränker geworden bist, oder daß die Eltern gekommen sind – da steht draußen auf dem Gange leibhaftig die alte Millern und sagt, sie müsse mich nach der Vorstellung auf einen Augenblick sprechen, sie wisse, daß ich das Pflegekind sei von dem Pfarrer und sie könnte mir etwas sagen von meiner Mutter; ich sähe ja aus, als sei ich ihr aus dem Gesichte geschnitten. Und da – da haben wir verabredet, Kathrin, daß sie an der Kirche drüben warten soll. Mila und ihr Vater haben mich nach Hause begleitet, und dann habe ich gethan, als ob ich ihnen noch nachschauen wollt’, und bin ganz fix der alten Millern entgegengelaufen, die im Kirchenportal wartete. Sie meinte aber, ich sollte auf eine Stunde mitkommen in ihre Wohnung, und weil ich doch so gern – ach so furchtbar gern von meiner wirklichen Mutter was wissen wollte – da – schilt mich nicht, Kathrin! – da ging ich mit.‘
Ich schelten, Madame! Ich fand ja gar keine Worte vor Schrecken.
‚Die alte Millern,‘ erzählte das Kind weiter, ‚war noch gar nicht so alt, als sie die Schminke abgewaschen hatte. Sie wohnt da beim Kaufmann Meyer an der Ecke, ganz oben; sie hat mich in die Arme genommen und immerfort geküßt und geweint und erzählt, sie sei damals dabei gewesen, als mein Vater – – ach, Kathrin – und eigentlich hatte sie mich zu sich nehmen wollen, denn sie sei Mamas beste Freundin gewesen, aber sie habe nur das Bedenken gehabt, was sie als junges Mädchen mit mir habe machen sollen.‘
Und auf einmal fühle ich, wie sich das Kind vor meinem Bette niederwirft und bitterlich, so mit wahrer Inbrunst zu schluchzen anfängt, wie sie gestern gelacht hatte. Und dazu ich alter Kröpel, der sich nicht rühren kann, und dem die Angst bis an die Kehle sitzt!
‚Kathrin, ist’s denn wahr, ist’s denn wahr?‘
Ja, was sollt’ ich sagen, Madame? Schweigen ist ja auch eine Antwort. Und wie sie’s verstand, da hat auch sie stillgeschwiegen mit ihrem Jammern. Es war so grad die erste fahle Dämmerung des Morgens heraufgekommen und ich habe gesagt: ‚Geh’ zu Bette, mein Kind, morgen spreche ich mit Dir und dann wirst Du ruhiger; und in das Theater sollst Du auch nicht wieder, und wenn die alte Millern sich hierherwagt, dann fliegt sie hinaus, daß sie Schuh und Pantoffeln verliert.‘
Sie ist auch aufgestanden und der Thür zugewankt, ohne ein Wort weiter zu sprechen. Aber hingelegt hat sie sich nicht; sie ist da immer auf- und abgegangen in ihrem Stübchen. Gott sei Dank! habe ich gedacht, daß übermorgen die Herrschaft wiederkommt. Ich will doch heute morgen noch die Ernestine zur Frau Diakonus schicken, sie soll das Kind hinüber bitten, das arme Kind! – Wenn der Herr Pfarrer wüßte, daß sie in der Stube einer ‚Millern‘ gesessen hat –!
Ja, wie der andere Tag anbricht und der liebe Herrgott den Schaden besieht, kommt ein Brief von der Frau Pfarrerin: ihr Mann ist krank geworden in Bonn, und sie muß dableiben, um das Gesundwerden abzuwarten, denn sie kann ihn nicht verlassen; Martha solle nur ja recht fleißig schreiben, ob sie wohl ist, und der kranke Vater habe so große Sehnsucht nach seinem Liebling. – Martha sieht so merkwürdig aus, als sie den Brief vorgelesen hat, daß ich mich wundere; so gar nicht, als ob es ihr leid thut. Sie hat da mit den Schwarzaugen wie träumend durch das Fenster geschaut, dem sie gegenüber saß, und nichts geredet.
Madame, es war ja so leicht für das Kind, mich zu betrügen; ich lag hilflos im Bette, und die Ernestine, dieser Durchgänger, für die war’s ja nur so recht nach dem Gusto, das Kind noch zu bestärken in dem, was es that, vielleicht thun mußte. Sehen Sie, Madame, ich habe zwar seit meinem achtzehnten Jahre in Pfarrhäusern gedient, aber das habe ich doch trotz allem Predigen immer gesagt, der Mensch thut, was er muß, aber nicht, was er will; der eine wird regiert von einem Engel, wie die Frau Pfarrerin, und der andere, den hetzt der Leibhaftige. Und die, bei denen schon Vater und Mutter und Großeltern und Elterneltern immer nur was mit Engeln zu thun gehabt haben, denen wird’s nicht schwer, eben hübsch in der Mitte weiter zu gehen; aber so ein Kind wie unseres, wo alle Sünden schon zur Kindtaufe eingeladen sind, das hätte müssen Riesenkräfte haben, um auf dem Mittelweg zu bleiben; und sie war ein schwaches junges Menschenkind. Ja, ja, Madame, so sag’ ich, denn Art läßt nicht von Art.“
„Aber, Kathrin!“ unterbrach ich ihre Philosophie.
„So ist’s! Und kurz und gut, Madame, der Leibhaftige hat ihr den Strick um den Hals geworfen, wie ich vorhin sagte, und das Schauspielerblut in ihr, das ist rebellisch geworden. Sie ist heimlich alle Abend in das Theater gerannt, die Billette hat sie von der alten Millern – sie hieß eigentlich Fräulein Fuchs – bekommen, und wie wir dann nachher gehört haben, ist sie nicht im Zuschauerraum gewesen, sondern immer hinter die Coulissen geschlüpft. Ich habe recht oft gehört, wie sie am Tage so vor sich hinflüsterte, und einmal habe ich sie ganz laut etwas sprechen hören unter meinem Fenster, als sie Birnen auflesen sollte, und habe mich ein wenig hochgerappelt im Bette und sehe sie da stehen unter dem Baume mit ausgebreiteten Armen; die schönen Bergamotten sind ihr aus dem Schürzchen gefallen, und ganz laut ruft sie: ‚Ich bin gefangen, ich bin in Banden!‘ und dann noch so Aehnliches von einem Fischer und einem Nachen. der sie hätte retten können. – Ich hab’ wirklich gemeint, sie sei übergeschnappt. Wär’ ich nur nicht so elendig gewesen, ich hätt’s doch wenigstens hinhalten können, bis die Eltern kamen – aber so –.
Einmal hat’s im ganzen Hause gerochen, wie wenn’s Festtag wär’; das Kind hat mir auch Waffeln gebracht zum Kaffee und hat gemeint, es sei doch gewiß nicht schlimm, sie habe gerade solchen Appetit darauf gehabt. Eine Stunde später ist’s mir gewesen wie Tassenklappern und Sprechen im Hause, aber Ernestine hat ganz frech gesagt, es seien nur ein paar Freundinnen vom Fräulein da. Ich mußte es glauben. – Zum Unglück ist zu der Zeit auch noch der Klapperstorch zu Diakonussens aufs Dach geflogen und die haben sich nicht um Martha mehr bekümmern können; so ist denn alles ganz kommod und ohne Störung vor sich gegangen. – Ich freue mich noch eines Tages, als ich das Wochenblatt lese, daß die Schauspieler sich mit einem Gedicht verabschieden, und denke, na, das eine Mal wird’s ja nichts geschadet haben, und es ist gut, daß die alte freche Millern fortkommt. Daß sie mit dem Kinde jeden Abend beisammen gesessen haben, daß sogar der erste Liebhaber, wie sie so einen nennen, in unseres Herrn Pfarrers Studierstube, die seit Menschenalter kein unfrommes Wort gehört hat, mit dem Kinde Komödienstücke eingeübt hat – du liebe Zeit, davon ließ ich mir ja nichts träumen auf meinem Krankenbette!
Tags vorher, ehe die Bande abzieht, kommt ein Brief aus Bonn, der die Heimkehr der Herrschaft auf übermorgen anzeigt. Hab’ ich da aufgeathmet! –
Es war nun schon Oktober, und ich habe der Ernestine gesagt, sie solle Tannenzweige aus dem Walde holen zu Guirlanden und das Kind solle Sandtorte rühren, das ist dem Herrn Pfarrer sein Lieblingskuchen. ‚Ja, ja!‘ hat’s geheißen von allen Seiten; und gegen Abend ist das Kind in meine Stube gekommen, der Mond hat durchs Fenster geschaut und ich hab’ sie ganz deutlich sehen können, ihr liebes weißes Gesichtel und die goldschimmernden Zöpfe und die großen Augen.
‚Komm her, mein Schäfchen,‘ hab’ ich gebeten, ‚setze Dich zu mir! Gelt, Du freust Dich auf die Eltern, sehr freust Du Dich?‘
Sie hat sich auch hingesetzt auf mein Bett, wieder mit dem Gesicht nach dem Fenster, aber gesagt hat sie kein Wort.
‚Marthekind,‘ necke ich sie, ‚Du bist so anders als sonst. – Hast etwa einen, dem Du gut bist? Gelt, das wird fein, wenn hier mal Hochzeit gehalten wird in der alten Pfarre; ’s wird auch kommen, wie der heutige Tag gekommen ist.‘
Da hat sie scharf aufgelacht: ‚Mich wird auch einer wollen, das Schauspielerkind, dessen Vater im Zuchthaus gesessen hat!‘
‚Ei der Tausend, Martha, spukt Dir das noch immer im Kopfe? Hat Dir der liebe Gott nicht die besten Eltern von der Welt gegeben?‘
[731] ‚Natürlich, Kathrin, ’s ist bloß das, daß einer immer nur auf seine besondere Art glücklich werden kann.‘
‚Wirst schon auch noch glücklich werden, mein Aepfelchen.‘
‚Das will ich auch, Kathrin!‘ ruft sie laut, und in den Augen leuchtet’s auf, ‚das will ich auch!‘
Dann hat sie die Arme um meinen Hals geschlungen und gesagt: ‚Gute Kathrin, betest Du denn noch immer für mich abends wie früher, als ich noch klein war?‘
‚Ja, mein Käferchen, freilich, immer, jeden Abend.‘
‚Dann thue es auch fernerhin, liebe Kathrin, bitte, bitte!‘
Und dann hat sie mich noch einmal geküßt, und dabei ist mir ein heißer Tropfen auf dem Gesichte zurückgeblieben, und ehe ich mich noch besinnen kann, ist sie fort.“
Die alte Frau schluchzt jetzt ganz laut.
„Madame,“ stößt sie hervor, „wie ich’s erfuhr von der Ernestine am andern Morgen, daß sie mit in die Welt gelaufen ist, ins Elend hinein, da haben mich Schreck und Schmerz und Angst so gepackt, daß ich noch am selbigen Abend in gänzlicher Bewußtlosigkeit gelegen habe; und das hat Wochen gedauert. Ich hab’s nicht mit erlebt, was die Eltern sagten, als sie das leere Nest fanden, ich weiß nicht, wie groß der Aufruhr in der Stadt gewesen ist, und ob der Herr Pfarrer Schritte gethan hat, um sie zurückzuzwingen – nichts weiß ich, gar nichts! Als ich wieder klar denken konnte, da lag Schnee auf den Dächern und die Wintersonne schien durch die Eisblumen an meinen Fenstern; und drunten im Wohnzimmer, da saß die Frau und sah auf die Straße hinaus, ganz still und ruhig, und ihr Haar war so weiß wie der Schnee da draußen. – Kein Wort des Vorwurfs habe ich gehört, und als ich erzählen wollte, da hat der Herr Pfarrer nur die Hand gehoben und Schweigen gewinkt.“ –
Eine lange Pause entstand; ich erhob mich und trat zum Fenster, um es zu schließen, denn die Nachtluft wehte kühl herein. Dann blieb ich stehen. Ja, so ungefähr hatte ich es mir gedacht. Das ererbte Blut, die Lust an diesem bald heiteren, bald so furchtbar ernsten Vagabondenleben hatte seine Rechte geltend gemacht. War denn das so wunderbar? Es geht ein Zauber von dem Wort „Theater“ aus, eine Poesie, die jedes junge Herz einmal berauscht, und nun gar ein Schauspielerkind! Die Kunst! die Kunst, und wären die Bretter noch so erbärmlich, wäre der Tempel auch in einer alten Scheune aufgeschlagen, die Kunst hält auch über dieses Elend ihre Hände und macht es zu etwas Zaubervollem. Ich selber hatte ja als Backfisch einmal Schauspielerin werden wollen, obgleich ich die Jünger und Jüngerinnen Thaliens nur ein einziges Mal in der Schenke meines heimathlichen Dorfes gesehen hatte, wo sie „Minna von Barnhelm“ aufführten. Der Abend steht mir noch heute als einer der stimmungsvollsten meines ganzen Lebens in Erinnerung. – Arme kleine Martha, mußtest Du wirklich, wie oll Kathrin sagt? Arme Elisabeth, die einsam blieb auf ihre alten Tage, deren Liebesmüh’ so verloren war!
Ich senkte den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe und biß auf mein Taschentuch, um nicht laut zu schluchzen.
Da räuspert es sich hinter mir. „Madame,“ sagt oll Kathrin, „nun möchte ich nur noch fragen, wollen Sie dem Kind denn nicht ein paar gute Worte gönnen? Sie hat’s gehört, daß Sie hier sind, und meint, Sie könnten ihr helfen – sie hat nicht nachgelassen, bis ich –“
„Wie?“ frage ich athemlos, „Martha ist hier?“
„Ja, mit den Schauspielern; droben in der Mansarde, Madame. Deshalb kam ich ja zu Ihnen!“
Ich stehe sprachlos da, während die Alte schüchtern fortfährt: „Das arme Ding meint, der Herr Direktor würde auf Ihre Fürbitte erlauben, daß sie hier nicht aufzutreten braucht –“
„Hier soll sie spielen? Mit dieser Truppe ist sie hier?“
Ich fange an, im Zimmer auf- und abzugehen.
„Um Gotteswillen, das darf Elisabeth nicht erleben! – So rufen Sie sie,“ sage ich; „wie nennt sie sich jetzt?“
„Wie ihre Mutter hieß – Tosca von Korinska. Ach, sehen Sie, Madame –“
„Schon gut, Kathrin; holen Sie Fräulein Tosca von Korinska!“
Die alte Frau geht. Sie mag wohl mein aufgeregtes Wesen für Stolz halten, während es einfach Verlegenheit ist – wie soll ich die behandeln, die mir jetzt gegenübertreten will? Ich habe sie einst in den Armen gehalten, sie geherzt und geküßt, sie meinen Liebling, mein süßes Kind genannt; wie nun, nachdem sie Verrath an der Frau geübt, die mir so theuer ist wie eine Schwester? – Ich schelle und lasse noch eine Lampe bringen, denn ich will sie genau sehen, und gehe dann wieder im Zimmer auf und ab; es dauert eine Ewigkeit, bis sie kommt.
Endlich kopft es, und auf mein „Herein!“ öffnet sich langsam die Thür und eine Erscheinung tritt über die Schwelle, die ich kenne, die ich gesehen habe vor Jahren dort unter der Linde inmitten der singenden Studenten – nur schöner noch und jugendlicher ist die, die ich heute schaue! Wir stehen uns stumm gegenüber. Sie hat den Blick zu Boden geschlagen und sieht sehr bleich aus. Sie trägt ein gelblich weißes Kaschmirkleid – offenbar hat sie erst Toilette gemacht – wie sie es wohl in modernen Lustspielen auf der Bühne benutzt. Es hat billige geringe Spitzen an Hals und Aermeln und sieht aus, als wäre es vor ein paar Minuten aus der Kleiderkiste hervorgezerrt worden, so zerdrückt ist es. Die goldigen Haare aber liegen noch mit dem nämlichen einfachen Scheitel um den schön geformten Kopf, und die zwei prächtigen Zöpfe hängen noch ebenso über den Rücken herunter wie damals, als ich die „lütte Martha“ am Meeresstrand sah und meine Freude an ihr hatte. In einem sonderbaren Gegensatze stand diese kindlich einfache Haartracht zu dem modernen billigen Kleidertand.
Das ist Martha Steinkopf!
Ich weiß nicht recht, was ich aus ihr machen soll. Halb Theaterdämchen, halb vornehme Erscheinung – halb Weib, halb Kind. Wie alt ist sie denn eigentlich? Richtig, zwanzig Jahre; das Köpfchen aber wie das einer Sechzehnjährigen! Mir wird ganz wunderlich vor diesem Räthsel.
„Tante Anna,“ klingt es endlich zu mir herüber.
Ich kann nicht antworten. Wie es still bleibt, schlägt sie die Augen auf, in denen Thränen funkeln; ein flehender zärtlicher Ausdruck liegt auf ihrem Antlitz.
„Martha,“ sage ich, mit Gewalt die Rührung bekämpfend, die mich bei diesem Blicke überkommt, „ich hatte mir unser Wiedersehen anders gedacht –“
„Ach, Tante Anna – wenn Du wüßtest –“
„Setze Dich und sage mir, was Du von mir willst!“
„Tante Anna,“ beginnt sie hastig, „ich kann hier nicht spielen, ich glaube, ich würde wahnsinnig darüber; ich ertrage den Gedanken nicht, daß die Borndorfer in Strömen kommen, um Pfarrers Martha auf den Brettern zu sehen. Ich kann nicht spielen in der Erinnerung an den Vater und die Mutter, an die unschuldige selige Kinderzeit – ich – kann nicht!“
Sie hat die Hände vor das Gesicht geschlagen und weint. „Tante Anna, um der Mutter willen geh’ zum Direktor – Du bist ja reich – kaufe ihm mein Spiel ab – ich kann nicht!“
„Du bist ja nicht mehr Pfarrers Martha, armes Kind –!“
„Ja,“ ruft sie, „hier bin ich es, in der Erinnerung! Ach, Tante, jeder Stein hier kennt mich, jeder Baum im Walde und jedes Fenster in den Häusern schaut mir vorwurfsvoll ins Auge, ach – und die Menschen! Und, Tante, wenn der Vater das liest, was morgen auf dem Zettel steht! – Tante, sie dürfen nicht ausgetragen werden!“
„Was steht denn darauf?“
Sie reicht mir mit zitternder Hand ein Theaterprogramm: Faust – Margarethe * * * – wiederum drei Punkte, und ich lese:
„Die talentvolle junge Tragödin dürfte dem hochverehrten Publikum unserer kunstliebenden Stadt nicht unbekannt sein. Sie hat noch vor anderthalb Jahren in diesen Mauern geweilt als gehegtes und geliebtes Pflegekind eines unserer ersten Mitbürger. Die Liebe zur Kunst, die ihr angeboren – sie ist die Tochter jener unvergleichlich schönen jungen Schauspielerin, die vor Jahren hierselbst durch die Hand ihres eifersüchtigen Gatten einen raschen Tod fand – trieb sie aus dem friedlichen, aber eng begrenzten Kreis. Wie fast jedes bedeutende Talent mußte auch sie Fesseln brechen, ehe sie zur Freiheit gelangte, aber herrlich hat es sich gelohnt etc. etc.“
Es war noch eine lange Litanei.
„Wo ist der Direktor?“ frage ich.
„Ich will Dich hinführen, Tante Anna – ach, ich danke Dir!“
[732] Ich muß eine schlecht beleuchtete Treppe hinaufsteigen, die mir nur zu genau bekannt ist. Auf den Stufen begegnen uns zwei Herren. Ein kleiner, jovial aussehender, beleibter Mensch ruft, ohne sich durch mich beirren zu lasen: „Ah, die Pfarrerstochter in Weiß! Wohin denn, mein Täubchen? Wieder zum Alten? Laß Dich nicht blicken bei ihm, er ist rasend wüthend auf Dich!“
Der andere, ein schlanker, hochgewachsener junger Mann, dessen Gesicht, soweit ich’s beurtheilen kann bei dem Dämmerlicht, einen idealen Typus zeigt, ungefähr wie Byrons Porträt aus seiner Jugendzeit, ist, den Hut in der Hand, zurückgetreten und läßt uns vorüber.
„Sei nicht so thöricht, Martha,“ murmelt er, und seine Augen blicken sie zürnend an.
„Ist er oben?“ fragt sie anstatt der Antwort.
Er nickt kurz und fixirt mich mit einem kühlen, fast feindseligen Blick. –
„Wer sind die beiden, Martha?“
„Der Kleine – unser Komiker.“
„Und der andere, Martha?“
„Der erste Liebhaber,“ stottert sie.
„Und die dutzen Dich?“
Sie wird glühend roth. „Wir dutzen uns alle untereinander,“ sagt sie, „das ist so Sitte.“
Im nächsten Augenblick stehe ich vor dem Gestrengen in der kleinen Mansardenstube; sie ist draußen geblieben.
„Meine Gnädigste,“ erwidert er auf meine Bitte, „Sie wollen doch nicht verlangen, daß – aber Gnädigste können ja unsere Verhältnisse nicht beurtheilen! Stellen Sie sich vor, es regnet morgen, dazu spielt Fräulein Martha Steinkopf, die durch verschiedene Vorkommnisse in hiesiger Stadt ein riesiges Interesse erregt, erregen muß; was ist die Folge? Ein ausverkauftes Haus –! Meine Gnädige, gerade so gut könnten Sie zu einem Landwirth sagen, er solle aus irgend einem unvernünftigen Grunde sein Heu nicht einfahren lassen, obgleich die Sonne scheint.“
„Ich biete Ihnen Ersatz, Herr Direktor.“
Er sieht mich lächelnd an mit den halbverschleierten grauen Augen. Er steht da wie eine sehr schlechte Nachäffung von Friedrich Haase in irgend einer Lustspielrolle, die linke Hand unter der Weste verborgen, die andere auf den Tisch gestützt. „Ich bin außer stande, den Schaden auch nur annähernd zu berechnen, der mir erwachsen könnte, gnädige Frau; auch hätte ich mit dem besten Willen keinen Ersatz für eine derartige Rolle. Gnädige sollten uns die Ehre schenken und sich das Spiel der Kleinen ansehen.“
„Danke sehr! Wenn Fräulein Tosca nun aber krank wird, wie dann, Herr Direktor?“
„Ah, meine Dame, das sind abgebrauchte Witze. Sie kann sechs Wochen hindurch nicht jeden Abend einen Krampfanfall vorgeben; einmal muß sie hier zuerst an die Lampen, und – je eher, je besser. Außerdem war ich bereits beim Kreisphysikus und sagte ihm für einen derartigen Fall Bescheid. Lassen Sie sie nur getrost hier spielen; später, wenn durchaus Ihr Herz nach Fräulein Tosca von Korinska verlangt, will ich sie Ihnen ohne Entschädigung überlassen.“
Er lacht und zieht die Uhr und legt einige Broschüren von einem Platz des Tisches auf den andern.
„Was soll das heißen?“ frage ich.
Er zuckt die Schultern. „Daß im Leben nichts aus ihr wird,“ sagt er geringschätzig, „kein Funke von Talent, kein Feuer, nicht eine Ahnung davon, wie sie sich zur Geltung zu bringen hat.“
‚Sie wäre ganz unbefähigt?‘ frage ich athemlos.
„Ganz,“ erwidert er. „Es ist ja auch nicht anders möglich; das ursprüngliche Talent ist erstickt in den frommen Tabakswolken der pfarrherrlichen Studierstube. – Nichts Halbes – nichts Ganzes – gar nichts! Konfirmandenmanieren statt naiver Frische, und bei tragischen Scenen ein Betstundengesicht; ganz unmöglich für die Bühne, rein unmöglich! Die Mutter, der sie so ähnlich sieht, ja, da war Rasse drin! O, das wäre ein Stern ersten Ranges geworden!“
„Aber, Herr Direktor, wenn dem so ist –“
„Hier muß sie spielen, Madame, ihr Vertrag läuft bis Johanni, und hier füllt ihr Name das Haus derartig, als wäre sie irgend eine große Berühmtheit.“
„Wenn Sie, Herr Direktor, auf meinen Wunsch eingehen und den Vertrag sofort lösen, zahle ich Ihnen dreitausend Mark,“ sage ich kühl. „Sie können mir Ihre Entscheidung bis heute abend zukommen lassen. Leben Sie wohl!“
Es kommt mir vor, als sei die ehrfurchtsvolle Verbeugung des Mannes kein übles Zeichen. Er geleitet mich bis zur Thür und sagt: „Hab’ die Ehre, Frau Baronin – aber – ich würde ja sehr gern gefällig sein –“
„Leben Sie wohl, Herr Direkor!“
Sie sitzt draußen noch auf der Treppe, auf dem nämlichen Platz, wo ich das erste Mal ein kleines süßes Kind gesehen habe. „Komm mit in mein Zimmer!“ bitte ich. Dort unten spreche ich: „Ich hoffe, er besinnt sich, Martha; laß den Kopf nicht hängen! Ueberdies, man kann Dich doch unmöglich an den Haaren auf die Bühne ziehen. Wie gesagt, ich denke, er giebt Dich frei, und Du fährst dann morgen früh mit mir fort. Und hör’, mein Deern, im Gedenken daran, daß Du meiner Elisabeth theuer warst, werde ich Dich zu mir nehmen, natürlich in der Voraussetzung, daß Du – der Direktor sagt mir, Dein Vertrag läuft bis zu Johanni –“
Ich breche auf einmal ab. Des Mädchens Hände sind niedergesunken, funkelnd treffen mich die schwarzen Augen.
„Ich will nicht,“ sagt sie barsch, „denn ich liebe meine Kunst, ich liebe sie über alles! Bei dieser Truppe wäre ich so wie so nicht geblieben, ich gehe an das fürstliche Theater zu D., Se. Durchlaucht selbst hat mir das Versprechen gegeben, daß ich angestellt würde.“
„Kind!“ schreie ich entsetzt, „weißt Du denn nicht, was es heißt, bei diesem Fürsten in Gunst zu stehen?“
„Nein,“ erwidert sie, „Durchlaucht ist hinter die Coulissen gekommen, hat mich gelobt und mir versprochen, daß –“
„So sehr gefiel ihm Dein Spiel?“ frage ich ironisch.
„Ja!“ sagt sie stolz, „und ich weiß, ich habe gut gespielt an jenem Abend. Nein, Tante,“ fährt sie fort und tritt mit gefalteten Händen vor mich hin, „denke nicht, daß ich meinen Beruf verachte – ich schwärme für ihn, ich möchte ihm nicht entsagen um allen Luxus der Welt, den ich bei Dir haben würde, um alle Güte nicht, mit der Du mich dulden würdest, ich bin mit Leib und Seele Künstlerin. Nur hier, hier kann ich nicht spielen; ich weiß es, ich würde wie gelähmt sein. Ach, Tante, erbarme Dich, was soll ich beginnen, ich kann das den Eltern nicht anthun.“
„Und konntest ihnen doch weit Schlimmeres anthun!“ mahne ich streng. „Weißt Du, daß Deine Pflegemutter in Melancholie verfallen ist, und daß Dein Vater, der Dich wie ein eigenes Kind an sein Herz genommen hatte, ein gebrochener Mann geworden ist?“
„Ach, Tante, ich will mein Leben hingeben, um es wieder gutzumachen, aber nicht meine Kunst!“
Ich zucke die Achseln; was soll ich sagen?
„Du bist böse auf mich, Tante,“ stammelt sie, „Du glaubst nicht an meinen Beruf!“ Und mit thränenerstickter Stimme fährt sie fort: „Ich habe ja auch Stunden, in denen ich vor Sehnsucht nach den Eltern sterben möchte, nach dem alten trauten Hause. Wie oft bin ich im Traum darin! – Tante, verdamme mich nicht ganz; sage es den Eltern, ich sei gut geblieben, ich wolle lernen und streben. Und wenn ich zu der Stufe gestiegen bin, die ich mir vorgesteckt habe, dann will ich kommen und Euch alle um Verzeihung bitten. Tante, es kann doch jeder Stand ehrenwerth sein!“
Sie ist mir etwas näher gekommen und macht eine Bewegung, als ob sie ihren blonden Kopf an meine Schulter schmiegen möchte, um „Tanting, goldenes Tanting“ zu sagen wie einst. In ihren großen sprechenden Augen liegt etwas wie Heißhunger nach Zärtlichkeit und Liebe, aber sie wagt nicht, mich zu berühren; ich ziehe sie endlich zu mir heran und streichle sie, und da fängt sie an zu weinen.
Sie ist so jung noch, so voller Ideale; noch liegt ein Hauch der frommen Kindertage über ihr, als sie auf des Vaters Knieen saß und die Bilderbibel besah und die Mutter ihr die kleinen Finger an die Stricknadeln fügte; noch liegt er über ihr, jener Hauch, wie duftiges echtes Schaumgold auf einem Weihnachtsapfel – aber wie lange noch?
„Geh wenigstens nicht nach D. an das fürstliche Hoftheater, Martha,“ sage ich rauher, als ich gewollt, „ich meine es gut mit Dir. Lieber bleib bei Deiner Wandertruppe!“
[733]
[734] Sie fährt empor. „Tante, denkst Du, ich genüge nicht?“
„Deshalb nicht! Die Damen, die sich dort engagiren lassen, sind – nun, ich möchte Dich nicht mit ihnen in eine Linie gestellt wissen.“
Sie ist ein Weilchen still, wie erschreckt. „Ach, Tante,“ antwortet sie dann, „jetzt verstehe ich Dich; aber sieh, ich bin dagegen gefeit. Daß man über mich spricht, muß ich mir gefallen lassen, ich trat ja an die Oeffentlichkeit; aber ich wünschte nur, ich könnte Dir sagen, welch einen starken Schutz ich habe durch das Andenken an die Eltern, und außerdem –“
„Denke daran, was Emilia Galotti sagt, als sie von ihrem Vater den Dolch erbittet, um sich zu tödten.“
„Ja, Tante, ich habe die Emilia gespielt, aber Du weißt nicht, Tante –“ Sie ist purpurrot geworden und sieht zu Boden, dann schlingt sie wieder den Arm um meinen Hals und küßt mich, als wollte sie mit diesem Kuß gewaltsam ein Geheimniß zurückdrängen, das ihr schon auf den Lippen schwebte. „Tante,“ flüstert sie endlich, „ich wollte, Du könntest mich einmal spielen sehen; ich weiß, Du hast ein Urteil.“
„Ich will Dich nicht sehen, Martha, es thut mir zu weh. Aber nun Gott befohlen, ich bin müde.“ Sie hat wieder so einen flehenden zärtlichen Ausdruck in den Augen; sie küßt meine Hand und verläßt das Zimmer. In der That, ich fühle mich kaum noch fähig, zu sprechen.
Wie sie fort ist, nehme ich mein Tuch. Ich muß noch Luft schöpfen. Der Garten hinter dem Hause wird leer sein bei dem Wetter, freilich, es regnet noch. So benutze ich die Kegelbahn als Wandelgang, denke ich. – In dem dunklen Gärtchen ist es wirklich völlig einsam, wunderbar duftet der Flieder, die Luft legt sich wohlthuend kühl auf meine heiße Stirn. Allmählich gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit, ich erkenne deutlich die Tafel an der Wand der Kegelbahn, in der ich auf- und abgehe, erkenne die Baumpartien und die schwarze Masse der Häuser oberhalb des Gartens, der terrassenförmig aufsteigt; das große hohe Dach dort muß das Pfarrhaus sein.
„Arme Elisabeth!“
Ich bleibe am Ende der Bahn stehen, lehne mich an eine der schmucklosen Holzsäulen, die dem Gebäude einen hallenartigen Anstrich verleihen sollen, und schaue hinauf. „Arme Elisabeth!“ wiederhole ich. Wie lange ich da meinen Gedanken nachhänge, weiß ich nicht, da höre ich Schritte und Flüstern, das leidenschaftliche, unverständliche Sprechen einer Männerstimme zunächst. Jenseit des Bosketts müssen sie stehen, die da mit einander reden. Nun antwortet eine Frauenstimme – das ist Martha. – „Quäle mich nicht so furchtbar!“ sagt sie eben, und ihre Stimme klingt müde.
„Ich Dich quälen?“ fährt er auf, „Du quälst mich und Dich! Glaubst Du, es sei schön für mich, Dein Schwanken anzusehen, zu merken, daß Du am liebsten noch heute abend mit bloßen Füßen und Asche auf den Haaren in die Pfarre flüchten möchtest? Geh doch, geh, aber rede nie wieder davon, daß Dir die Kunst heilig ist; lege nie wieder Deine Arme um meinen Hals und sage mir, daß Du jetzt erst wüßtest, was Leben heißt, jetzt wo Dir das Heiligtum der Kunst erschlossen, jetzt – wo Du liebst. – Geh hin in die alte Stickluft und stäube die Bücher ab in der Studierstube Deines Vaters und setze Dich dann fein sittsam an das Fenster und ziehe die Fäden durch die Leinwand! Versuche, wie das Leben Dir wieder gefällt in dieser Beschränkheit, nachdem Du goldene Freiheitsluft geathmet; ich sage Dir, Du wirst das elende Weib beneiden lernen, das mit dem Leierkasten von Ort zu Ort zieht.“
„Ich liebe Dich ja, Waldemar, und ich liebe meine Kunst; Du weißt am besten, wie sehr. Nur hier, hier – glaube es mir, ich kann hier nicht spielen!“ vertheidigt sie sich weinend.
„Du kannst nicht?“ braust der Mann auf; „Du willst nicht, sage es gerade heraus! Wenn ich Dir glauben soll, daß Du mich liebst, so beweise es, indem Du durch Dein Auftreten der ganzen Welt zeigst, daß Du auf einer höheren Stufe stehst als auf der einer philisterhaften Engherzigkeit, daß es Dir Ernst ist um Deinen Beruf, daß Du eine wahre Künstlerin bist. Zeige es ihnen durch Dein Spiel; stolz tritt ihnen entgegen, und sie werden Dir zujauchzen.“
„Waldemar, Du hast ja tausendmal recht,“ sagt sie – „aber die Eltern –“
„Nun, ist etwa ein Pfarrer nicht auch ein halber Schauspieler?“ fragt er bitter, „tritt er nicht vor das Publikum und redet dasselbe an wie Du und ich, wie allabendlich Tausende von Künstlern? Wo ist da ein Unterschied? Ist die Bühne nicht ebenfalls ein Erziehungsmittel für das Volk, sogut wie die Kanzel? Wollen nicht die großen Geister, die unsere Dramen gedichtet haben, das Sittliche, das Gute im Menschen wecken? Wie, Tosca? Was hast Du darauf zu sagen? Wärst Du am Königlichen Schauspielhaus in Berlin angestellt, jubelten Dir allabendlich Tausende zu, so würden Dir die Pfahlbürger hier die Pferde ausspannen und Deine Pflegeeltern stolz Dich segnen. Aber Du schämst Dich des kleinen Anfangs, der umherziehenden Truppe, und vergißt, daß der Weg zum Gipfel des Ruhmes über Dornen und Disteln geht. Deine Begeisterung, Deine Kraft reicht nicht aus. Gehe hin zu Deiner Gönnerin, die Dich dem Direktor abkaufen will, lasse Dich von ihr zurückführen in das träge Wasser dem entronnen zu sein Du so glücklich warst, vergiß, was Du erlebt hast, und kümmere Dich nicht darum, was aus mir wird! Ich muß mich schon ohne –“
Hastige Schritte eilen jetzt den Weg entlang. Dann ein Schrei, so recht aus einem armen gequälten Herzen heraus: „Waldemar, gehe nicht!“
Eine lichte Gestalt fliegt hinter dem dunklen Gebüsch dem Manne nach, und im nächsten Augenblick hält sie ihn, nicht drei Schritte von mir, umschlungen, wortlos, schluchzend.
„Du bleibst bei uns?“ fragt er drohend und zärtlich zugleich, während ich mich, so sehr ich kann, in das tiefste Dunkel hinter die Säule drücke.
„Ja, ja!“ schluchzt sie.
„Bei mir, Tosca?“
„Ja – immer!“
„Und Du spielst morgen?“
„Ja!“ schreit sie auf, „weil Du es willst!“
Da hebt er sie ungestüm empor und küßt sie, als wolle er sie ersticken, und in förmlichem Sturmschritt eilt er mit seiner schönen Last an mir vorüber. Ich höre die Gartenpforte zuschlagen, und nun ist’s ganz still um mich her. Ich fasse mich an die Stirn und schüttele den Kopf. Will sie – wird sie wirklich spielen? Aber freilich, wie die Sachen liegen – o, dies unselige Kind!
Jetzt klingen die Töne eines schrecklich verstimmten Klaviers aus dem Gartensaal an mein Ohr, zu denen eine gar nicht üble Tenorstimme singt. Es ist das kleine traurige Lied Koschats:
Unfähig, es weiter zu hören, kehre ich in das Haus zurück und in mein Zimmer.
Auf dem Tische vor der brennenden Lampe liegt ein Schreiben. Ich öffne es und muß lachen beim Lesen. In ausgesucht artigen Worten teilt der Direktor mir mit, daß er eventuell geneigt sei, Fräulein Korinska zu dispensiren, falls die gnädige Frau gewillt wäre – und nun kommt eine Forderung, die an Unverschämtheit nichts zu wünschen übrig läßt.
Nun, Martha hat ja entschieden, diese Angelegenheit ist erledigt. Freilich weiß ich von ihr selbst nichts, ich habe nur gelauscht, und ich will doch den Beweis geben, daß ich alles zu thun bereit bin, um sie – Elisabeths wegen – von einem Auftreten hier loszukaufen. Mit dem Briefe in der Hand erklimme ich noch einmal die Treppe zu dem obern Stock. Die erbärmliche Flurlampe ist im Erlöschen, und ich habe Mühe, die Thür der Mansardenstube zu finden, die Martha bewohnt. Ohne weiteres drücke ich die Klinke auf und trete ein. Das Mädchen sitzt halb ausgekleidet auf dem Rande ihres Bettes und hat das Haar aufgeflochten, um es durchzukämmen. Sie erinnert mich in diesem Augenblick so lebhaft an das reizende Kind von ehedem, wenn es mit den aufgelösten goldenen Wellen vom Badestrand kam und Elisabeth mich hastig am Kleide zupfte, sobald ich meiner Bewunderung über diesen Anblick Worte geben wollte.
„Tante!“ ruft sie verlegen und springt auf.
„Nun, Kind, ich bringe Dir etwas Gutes,“ sage ich, „der Direktor läßt sich auf Unterhandlungen ein – Du brauchst nicht zu spielen.“
Sie hat ihr weißes Kleid hastig vom Stuhle geräumt und hängt es auf. Als sie mir jetzt wieder ihr Gesicht zuwendet, ist es dunkelroth, und ihre Augen blicken an mir vorüber. „Ach, Tante,“ ist alles, was sie äußert; sie will sprechen und vermag es nicht. Ich kann den Kampf ihrer Seele in dem zuckenden Gesicht erkennen.
[735] „Nun, Martha?“ frage ich, „hast Du mich verstanden? Du brauchst nicht aufzutreten; wir haben es ganz in der Hand.“
Sie senkt den Kopf und windet die Hände ineinander.
„Tante,“ klingt es kaum vernehmlich an mein Ohr, „verzeihe, daß ich Dich bemühte – ich habe es mir anders überlegt, ich werde spielen.“
„Du willst spielen, Martha? Woher kommt diese rasche Sinnesänderung?“
Ihre blassen Lippen bewegen sich, aber sie bringt kein Wort hervor.
Ich wende mich kurz zum Gehen, da hält sie mich am Kleide fest und kniet vor mir nieder. „Tante, geh nicht so – geh nicht so – ich muß spielen; frage mich nicht – ich muß!“ Ganz verzweifelt ruft sie es, und mir nachrutschend auf den Knieen, fährt sie athemlos fort: „Ach, verdamme mich doch nicht, ich kann ja nicht anders, ich muß spielen. Es war so unrecht, daß ich mich weigerte, sie müssen es ja alle sehen, daß ich nicht in abenteuerlicher Lust davongelaufen bin, daß ich meinen Beruf ernst nehme. ‚Ganz ober gar nicht‘ meinte der Vater immer. Ach Gott, was soll ich nur noch sagen, damit Du mir vergiebst!“
„Besinne Dich, Martha; Du schenktest mir ja immer Vertrauen.“
Wieder fliegt ein dunkles Roth über das thränenfeuchte Gesicht. Sie senkt den Kopf und zieht, als schäme sie sich, eine von den goldigen Strähnen ihres Haares gleich einem Schleier vor das Antlitz.
„Nun, Martha, hast Du, außer der Liebe zur Kunst, keinen andern Grund für die ungeheure Kränkung, die Du Deinen Pflegeeltern anthun willst?“
Sie bleibt unbeweglich. „Nein!“ flüstert sie endlich.
„So leb’ wohl, Kind!“ –
Ich mache mich los von ihr, hastig los, und die Thür entschlüpft meinen Händen, daß sie unsanft zuschlägt und die Wände des Flurs widerhallen. Ich höre, wie sie drinnen noch einmal ruft: „Tante, ach Tante!“ Aber ich bin so aufgeregt, daß mir der wehe Klang nicht mehr zum Herzen dringt. Drunten setze ich mich sofort an den Schreibtisch und theile dem Direktor mit, daß ich bedaure, auf seine Vorschläge nicht eingehen zu können, da Fräulein Tosca von Korinska nunmehr fest entschlossen sei, morgen abend aufzutreten.
Alle Rechte vorbehalten.
Friedrich Rückert.
Wieder zahlt unser deutsches Volk eine Ehrenschuld an einen seiner hervorragendsten Dichter: das Rückertdenkmal in Schweinfurt ist ein Zeugniß solcher Dankbarkeit für geistige Schätze, welche aus der Fülle seines Denkens, Empfindens und Schaffens heraus ein hochbegabter Meister poetischer Form seiner Nation gespendet hat.
Friedrich Rückerts Leben und Wirken ist in eingehenden Biographien, in geistvollen Würdigungen von berufener Feder oft genug dargestellt worden; auch die „Gartenlaube“ hat den gedankenreichen Dichter nicht nur pietätvoll auf seinen letzten Lebenswegen begleitet; sie hat sein Bild unserem Volke näher gerückt, die Freude an allem, was er geschaffen, zu beleben gesucht durch verständnißvolle Erläuterung. Der Sohn des phantasiereichen Frankenlandes, der im gemüthswarmen Thüringen eine zweite Heimath gefunden, stand ja von Hause aus der „Gartenlaube“ nahe, die in jenen mitteldeutschen Berggegenden die ersten, starken Wurzeln ihrer Kraft fand.
Nicht oft Gesagtes zu wiederholen ist der Zweck dieser Zeilen; doch am Ehrentage des Dichters wollen wir noch einmal einen Blick auf sein Gesammtbild werfen und festzustellen suchen, worin seine bleibende Bedeutung besteht. In unserer Litteraturgeschichte erhebt sich sein Denkmal dauernder als Erz, und alle seine Werke ohne Ausnahme sind sinnvolle Reliefs, die es schmücken; der Geschichtschreiber und Litteraturforscher wird ihnen allen ohne Ausnahme gleichmäßig gerecht werden müssen; anders steht es mit dem Volke, dem großen Lesepublikum. So groß ist die Zahl der werthvollen geistigen Erzeugnisse, daß die Zeit selbst bei den größten Dichtern einen Scheidungsprozeß zwischen dem Bleibenden und Vergänglichen vollziehen muß; denn nicht unerschöpflich ist die Genußfähigkeit der sich ablösenden Geschlechter, und von dem einen zum andern mindert sich das Erbe, nicht des Dichterruhms, der ein bleibender ist, sondern jener geistigen Hinterlassenschaft, die man selbst „erwirbt, um sie zu besitzen“.
Friedrich Rückert war ein überaus fruchtbarer Dichter; es giebt zwar feindlich gesinnte Beurtheiler, welche über seine sämmtlichen Werke den Konkurs eröffnen möchten, indem sie seine ganze Dichtweise verdammen; doch diese sind vielleicht gerade durch seine Fruchtbarkeit, durch die Fülle des von ihm Gebotenen verwirrt gemacht worden und haben bei blindem Zugreifen in dieselbe nicht das Rechte herausgefunden. Allerdings werden diejenigen, welche so einseitig sind, von dem Dichter nur die Weihe der Empfindung und die Gabe der Gestaltung zu verlangen, Rückert leicht neben andern Dichtern von geringerer Bedeutung herabsetzen; sie vergessen dabei, daß der Dichter auch einen priesterlichen Beruf hat und ein Lehrer der Menschheit sein soll, und daß er dies in um so höherem Maße ist, je mehr es ihm gelingt, für solche Lehren das unvergeßliche treffende Wort zu finden, das sich dem Gedächtniß des Volkes einprägt und dort tiefe Wurzeln schlägt, Wahrheit im unvergänglichen Gewande des dichterisch Schönen … Rückert hat sie verkündet, und er steht in dieser Hinsicht dicht neben dem Altmeister Goethe, der ja auch mit voller Hand leuchtende Gedankenperlen ausstreute.
Einen solchen Schatz von Spruchwahrheiten in schlaghafter Fassung und von tiefem Sinn, wie Rückert in der „Weisheit des Brahmanen“ uns hinterließ, hat keine andere Nation aufzuweisen. In dieser Fülle liegt etwas Märchenhaftes, als besäße der Poet die Zauberlampe Aladins, kehrte aus der Wundergrotte zurück und schüttete ganze Säcke mit Perlen und Juwelen vor uns aus; denn es ist in der That ein unermeßlicher geistiger Reichthum, der ihm zur Verfügung steht. Und dabei nichts von wohlfeiler Alltäglichkeit, alles aus dem Ganzen und Vollen gestaltet, aus der Tiefe stammend, in die Höhe strebend, nicht geistreich im gewöhnlichen Sinn, obschon auch mancher leuchtende Blitz des Witzes darüber hinstreift, sondern tiefsinnig, indem der Poet seine Blicke stets auf das All richtet. Ueber Gott und Welt, Tod und Leben finden sich hier kurzgefaßte, aber schwerwiegende Gedanken; reizende Naturbilder, denen irgend ein sinniger Gehalt abgewonnen ist, sind mit hereingewoben; über das Wesen der Dichtung finden sich eingehende Betrachtungen; ein ganzes Buch mit manchem schlagenden Kernspruch der Schönheitslehre ist ihr geweiht. Am reichhaltigsten vertreten sind die Sprüche der Lebensweisheit über das Gute und Schlechte, Arbeit und Recht, häusliches Glück, den Unterschied der Lebensalter, oft anknüpfend an kleine Begegnisse des Lebens, aber auch die neuesten Richtungen der Zeit mit dem Lichte östlicher Weisheit beleuchtend.
Wenn irgend ein Werk Rückerts Anspruch auf Dauer hat, so ist es diese „Weisheit des Brahmanen“. Eine sechsbändige Spruchsammlung ist freilich kein Gegenstand zusammenhängenden Lesens; nicht bloß die Phantasie, auch das sinnige Nachdenken würde zuletzt von diesem Sprühfeuer einzelner Gedankenfunken ermüdet werden; aber es ist eine Hauspostille, in die man von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr hineinblicken kann, und immer wird man mit hoher Genugthuung eine bedeutsame Anregung daraus schöpfen.
Rückert ist der sprachgewaltigste Vermittler zwischen der Poesie des Ostens und des Westens, und seine „Weisheit des Brahmanen“ ist als westöstliche Bibel dem geistigen Hausschatz unserer Nation anzueignen. Zunächst würden dann seine „Oestlichen Rosen“ als eine Liebespoesie von feuriger Gluth und trunkener Andacht auf diesem Gebiete stehen; diese Gedichte haben einen hinreißenden Schwung, und die Weltanschauung, die sie verherrlichen, die Feier des All-Einen, ist in abendländischer Dichtung nie mit so berauschender Weihe ausgesprochen worden.
Indem in Rückerts Werken alle asiatischen Musen, die chinesische, indische, arabische, persische der deutschen Besuch abstatten, wird er zu einem Förderer der deutschen Sprache, der [736] auf sie einen Pfingstgeist herabbeschwor, daß sie in ungewohntesten Zungen reden lernte; aber als bleibender Schatz unserer National-Litteratur sind diese zahlreichen Aneignungen, Nachdichtungen und Neudichtungen nicht zu betrachten, weder die plauderhaften „Makamen“ des Hariri mit ihrer unerschöpflichen Reimfülle, noch die ältesten arabischen Volkslieder des „Hamâsa“, noch die „Morgenländischen Sagen und Geschichten“, noch die „Brahmanischen Erzählungen“. Sie sind erfreulich und lehrreich für alle, welche dem Schriftthum und der Gedankenwelt der östlichen Völker ihre Theilnahme zuwenden; aber diese Theilnahme ist doch auf eine kleinere halb- oder ganzwissenschaftliche Gemeinde beschränkt. Kaum wird ein größeres Publikum sich hinreißen lassen von der in ihrer Art einzigen, geradezu meisterhaften Uebersetzung der indischen Gitavoginda, die nicht einmal in seine Werke aufgenommen ist, deren stürmischer Cymbelschlag und wie mit Phönixschwingen gerüsteter Dichterflug in den langathmigen, aber nie ermüdenden Verszeilen kaum seinesgleichen hat in unserer Dichtung. Doch zwei Erzählungen, eine dem indischen, die andere dem persischen Heldengedicht entnommen, haben, die erstere durch die Anmuth, die zweite durch die heldenhafte Kraft des Stoffes und der Darstellung, bei uns eine Art von Bürgerrecht gewonnnen: die Erzählungen „Nal und Damajanti“ und „Nostem und Suhrab“.
Wir sind dem Dichter in die Fremde gefolgt, um die Edelsteine, die er dort gefunden und künstlerisch eingefaßt hat, zu prüfen – suchen wir ihn jetzt in der Heimath auf; denn auch aus dem deutschen Leben heraus hat er gedichtet und auch hier Bleibendes geschaffen. Am volksthümlichsten ist sein „Liebesfrühling“ geworden, dessen Blumen auf deutschen Wiesen gepflückt sind. Alle diese Lieder haben zarte Innigkeit und anmuthenden Fluß, nichts von dem Schwerflüssigen, was bisweilen der Muse Rückerts eigen ist; es ist deutsche Volks- und Minnepoesie. Nicht bloß Zeichner haben dies Liebesalbum ausgestattet; auch Komponisten haben diese Lieder in Musik gesetzt, eine Ausnahme bei dem gedankenernsten Wesen des Dichters, an dessen oft spröde Formen die Tonkunst sich selten gewagt hat. Auch der „Liebesfrühling“ Rückerts gehört zum Hausschatz unseres Volkes. Was seine patriotischen Lieder aus der Zeit der Befreiungskriege betrifft, so werden die „Geharnischten Sonette“ durch die Eigenart, mit welcher hier die weiche italienische Strophenform behandelt und in den rauhen Kriegsdienst hineingezwungen ist, sowie durch den markigen Schwung, der sie auszeichnet, stets Interesse erwecken, während die bänkelsängerartigen Spottverse auf die Napoleonischen Marschälle und andere volksthümliche Ergüsse aus jener Zeit jetzt kaum noch Widerhall finden dürften. Dauernden Werth aber hat sein Liebesidyll „Amaryllis“ mit seiner frischen Natur- und Landwüchsigkeit, das so recht im Gegensatz steht zu dem aufgeschminkten Salontirolerthum der gereimten und ungereimten Arkadien; sehr schöne, prächtige Sonette enthalten die „Aprilreiseblätter“. Und neben „Die Weisheit des Brahmanen“ treten seine „Haus- und Jahreslieder“, ein dichterischer Hauskalender aus dem Musensitz Neuses, voll beschaulicher Lebensweisheit, die aber ganz im deutschen Boden wurzelt. Gern verweilt man mit dem Dichter in der Hainbuchenlaube seiner Freudenfrohburg und erfreut sich an der wechselnden Beleuchtung der Tages- und Jahreszeiten, die sich in diesen Gedichten widerspiegelt, oder folgt dem Familienvater an den häuslichen Herd, wo er patriarchalisch waltet, seine Kinder lehrt und ihnen wehrt.
Auch diese Chronik ist so unerschöpflich wie „Die Weisheit des Brahmanen“, aber nicht so tiefsinnig; es läuft manche Reimspielerei, manches Alltägliche und Hausbackene mit unter; aber die Weisheitsfrüchte, die er gleichsam von den Obstbäumen seines Hausgartens schüttelt, haben doch etwas Wohlschmeckendes, Saftiges, Aromatisches, und es finden sich unter diesen Kalendertagen solche, die roth angestrichen werden müssen als Festtage der Rückertschen Muse. Auch unter Rückerts einzelnen Gedichten sind glückliche Treffer, formgewandte und gedankenschwere Ergüsse, und es wechseln feurige Hymnen mit niedlich geschnitzten Nippfiguren, wie „Die Göttin im Putzzimmer“. Was er aus Italien heimbrachte, die kunstvollen italienischen Strophen, deren Verschlingungen er mit meisterlicher Zwanglosigkeit beherrschte, zeugt von der Vielseitigkeit seiner Bildung und seines Talentes; aber der markige Zug seiner Eigenart fehlt darin.
Wir Deutschen haben Dichter, die überreich sind und ihren Reichthum nicht zu Rathe zu halten verstehen. Das sangen schon Schiller und Goethe von einem andern Sohn des Franken- und Mainlandes, Jean Paul. Rückert ist ihm verwandt in nimmer versiegender Geistesfülle; mit den Gedanken dieser beiden Dichter allein ließ sich die umfangreichste Spruchsammlung füllen. Solche Genien sind echt deutscher Art, die Zierde und der Stolz unseres Volkes; ihr Gedankenreichthum strömt aus dem innersten Herzen desselben heraus, und indem wir sie ehren und feiern, huldigen wir dem Genius unserer Nation.
Kein Dichter ist so weit umhergewandert bei fremden Völkern und keiner so echt deutsch geblieben wie Rückert; sein Herz schlug seinem Vaterlande. Nicht bloß die Freiheitskämpfe hat er besungen in seiner Jugend, nicht bloß dem kämpfenden Schleswig-Holstein noch in hohem Alter Blumen in den Lorbeer geflochten – er hat auch fest geglaubt an die Wiedergeburt Deutschlands, die mitzuerleben ihm nicht vergönnt war; voll kühner Begeisterung erklang sein prophetisches Dichterwort:
„Du Volk der Deutschen, Phönix sondergleichen,
Du bist mit Ruhm gealtert ein Jahrtausend,
Doch niemand soll mit Hohn sehn deine Leichen.
Besteig’ den Holzstoß, nicht vorm Tode grausend!
In Flammen soll dir Schwäch’ und Alter weichen,
Und, du hervorgehn, neu in Jugend brausend!“
Und auf dem Boden dieses zu neuer Tugend wiedererstandenen Deutschen Reichs erhebt sich jetzt das Denkmal des Dichters, seinen Enkeln kündend die Verehrung unseres Volkes für einen Hohenpriester des Geistes! G.
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Dem greisen Feldherrn.
Dich grüßt das deutsche Volk am schönen Tage, |
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Blätter und Blüthen.
Das Rückertdenkmal in Schweinfurt. (Mit Abbildung S. 736.) Schon vor zwei Jahren, am 16. Mai 1888, dem hundertsten Geburtstage Friedrich Rückerts, sollte dessen Denkmal in seiner Vaterstadt Schweinfurt enthüllt werden; verschiedene Umstände trugen die Schuld, daß erst heuer, am 18. und 19. Oktober, das Rückertfest gefeiert werden konnte, in welchem die Bemühungen der treuanhänglichen Gemeinde des Dichters ihre Krönung fanden.
Professor Rümann in München, der Schöpfer des figürlichen Theils des Denkmals – der architektonische Theil ist das Werk des bekannten Professors Friedrich Thiersch – bildete die Figur des Dichters in schlichter und gerade dadurch packender Natürlichkeit; gedankenvoll in schaffendem Nachdenken über den Inhalt eines Buches begriffen, ist sie dargestellt, und ein Meisterstück künstlerischer Auffassung ist der Kopf. Ueber das Arbeitsfeld Rückerts geben zwei sinnbildliche Nebenfiguren Auskunft. Die eine zeigt eine Idealgestalt, die zugleich Rückerts Lyrik und, nach dem kriegerischen Beiwerk, die „Geharnischten Sonette“ verkörpert. Die andere, eine ideale Frauenfigur, entziffert orientalische Schrift auf einem Pergamente. Der Künstler hat dabei eine äußerst bezeichnende Nebenwirkung erzielt. Bei geeigneter Stellungnahme vor dem Denkmal hat man den Eindruck, als ob die hehre Gestalt einen Schleier von einem Architektenstück, einem orientalischen Steinhaupt, wegnimmt. Die Symbolik erinnert etwas an die Entschleierung des Bildes von Sais und kennzeichnet zugleich den Sprachforscher und den Dichter der „Weisheit des Brahmanen“.
Um das Andenken des Dichters noch besonders zu ehren und einen Mittelpunkt für die Verehrer Rückerts zu schaffen, soll ein Rückertzimmer im alten Gymnasium, dessen Schüler einst der Dichter war, eingerichtet werden, das eine so weit möglich aus dem Gebrauche der Rückertschen Familie stammende Einrichtung, dann aber auch anderweitige Rückert-Andenken, ferner eine möglichst vollständige Sammlung der Rückertlitteratur und aller sich auf Rückert beziehenden Darstellungen in Bild und Wort, in Originalen und in Reproduktionen enthalten soll. Oskar Steinel.
Die Körperhaltung beim Schreibem. (Mit Abbildung S. 738.) Keine von den Fertigkeiten, die wir in der Schule erlernen, ist von so hoher gesundheitlicher Bedeutung wie das Schreiben. Das Schreiben ist ja eine Arbeit, bei welcher nicht nur das Auge und die Hand, sondern auch der ganze Körper in Mitleidenschaft gezogen wird. Fehlerhafte Körperhaltung beim Schreiben ist längst als die Quelle vieler Uebel bekannt, und längst war das Bestreben vorhanden, Mittel gegen dieselbe zu ersinnen. Wer kennt nicht die große Zahl der Schreibhalter, der zweckmäßigen Stühle, Tische und Bänke, welche zu diesem Zwecke empfohlen wurden und immer noch empfohlen werden? Will man nun von allen diesen Hilfsmitteln, wo es nöthig ist, Gebrauch machen oder will man sich von Schreibhaltern und dergleichen Hilfsapparaten befreien, so muß man in erster Linie doch wissen, wie man eigentlich schreiben soll, welche Stellung des Körpers, welche Lage des Heftes etc. nach den Regeln der Gesundheit zu beobachten ist. Diese Kenntniß dürfte kaum bei einem Bruchtheil der Schreibenden zu finden sein; mit der „Naturlehre des Schreibens“ sind Eltern nur selten vertraut und so kommt es, daß die Aussicht über die Schulkinder im Hause eine höchst mangelhafte ist und diejenigen nicht unrecht haben, welche meinen, daß an den sogenannten Schulkrankheiten nicht so sehr die Schule als vielmehr das Haus schuld [738] ist. Wir glauben darum, daß wir einem weiten Leserkreise eines Volks- und Familienblattes einen guten Dienst erweisen, wenn wir an dieser Stelle kurz die Frage: wie sollen wir schreiben? erörtern; denn diejenigen Eltern, welchen die Bildung und die Gesundheit ihrer Kinder am Herzen liegt, werden dadurch instand gesetzt, manches Uebel rechtzeitig abzuwenden.
Einer der deutschen Aerzte, welche die „Naturlehre des Schreibens“ zum Gegenstand ihrer Studien gemacht haben, Medizinalrath Dr. S. Rembold in Stuttgart, hat diese Frage meisterhaft in seinem trefflichen Buche „Schulgesundheitspflege“*[4] behandelt, und die nachstehenden Regeln für das richtige Schreiben im gesundheitlichen Sinne bilden die Schlußfolgerungen seiner Untersuchungen. Nach eingehenden Berathungen sind sie durch Erlaß der Kultusministerialabtheilung für Gelehrten- und Realschulen in Württemberg eingeführt, dürften sich aber nicht nur für Schüler, sondern für alle, die viel schreiben und schreiben müssen, nützlich erweisen.
Wir setzen uns also an den Tisch und sollen schreiben.
Wie ist zunächst das Heft zu legen? Die Antwort lautet: Möglichst genau vor die Mitte des Körpers, und zwar so gedreht, daß die Zeile, bezw. der entsprechende Heftrand von links unten nach rechts oben in einer Neigung von 30 bis 40° bergan steigt oder der Heftrand mit der Tischkante einen Winkel von 30 bis 40° bildet.
Auf dem so zurechtgelegten Hefte schreiben wir nun derart, daß die Grundstriche der Schrift senkrecht zum Tischrand stehen; die Hand hat von selbst das Bestreben, diese Richtung einzuhalten, weil sie ihr am bequemsten ist, und daraus entsteht eine geneigte Schrift, deren Grundstriche mit der Zeile des Schreibheftes einen Winkel von 30 bis 40° bilden.
Die Haltung des Oberkörpers bleibt dabei möglichst aufrecht, der Oberkörper findet im Rückgrat seine Stütze; ein Anlehnen des unteren Theils an die Rücklehne des Stuhls verhütet die Ermüdung. Man sitzt ferner gerade vor dem Tisch, so daß die Querachse des Körpers oder die Verbindungslinie zwischen den Schultern parallel zu dem Tischrande steht. Die vielfach empfohlene schiefe Stellung des Körpers ist zu verwerfen. Der Körper drückt sich endlich nicht an den Tischrand, sondern bleibt etwa 3 cm von ihm entfernt.
Der Kopf erhält dieselbe Stellung wie der Oberkörper, also parallel zum Tischrande, und senkt sich ein wenig gegen den Tisch.
Auf die Tischplatte werden nur die Vorderarme und nicht die Ellbogen gelegt. Die Ellbogen halten sich etwas tiefer als der Tischrand und dürfen weder zu nahe an den Körper rücken, noch zu weit von demselben entfernt sein; die Höhe der Schulter über dem Tischrand giebt für die Entfernung den Ausschlag.
Beide Hände liegen nahezu symmetrisch auf der Tischplatte.
Die Füße stehen auf dem Boden, während der Oberschenkel wagrechte, der Unterschenkel senkrechte Richtung hat. Zur Abwechselung können die Füße auch zuweilen auf die Fußleiste vorgeschoben oder unter die Sitzbank zurückgezogen werden.
Die Schreibbewegungen werden nur durch die auf der Tischplatte befindlichen Körpertheile ausgeführt. Die Fingergelenke und das Handgelenk besorgen dabei die zur Herstellung von Buchstaben und Wörtern nöthigen Bewegungen. Der rechte Vorderarm wird, um die Zeile weiterzuführen, nicht nach außen auf dem Tischrand verrückt, sondern führt eine drehende Winkelbewegung um den möglichst unverändert bleibenden Stützpunkt aus.
Um eine neue Zeile zu beginnen, hat der Vorderarm die eben vollzogene langsame Drehbewegung in schnellerem Tempo zurückzumachen. Der Stützpunkt des Vorderarmes soll auch beim Vollschreiben der Seite nicht verrückt werden. Zunächst wird die Verkürzung der Entfernung durch Einbiegen des Handgelenkes ausgeglichen, dann muß das Heft emporgeschoben werden.
Das sind die Regeln für das Schreiben, die uns von allen bekannten am zweckmäßigsten erscheinen, deren ungezwungene Natürlichkeit jeder an sich selbst leicht erproben kann und deren Befolgung man als eine wahre Wohlthat empfindet. Die Eltern mögen sie an sich selbst einüben und dann auf ihre Kinder aufpassen.
Es giebt aber noch andere Regeln zu beobachten. „Wie oft sieht man,“ schreibt Medicinalrath Rembold, „in den Privathäusern Kinder in der Dämmerung bei trübem Kerzenlicht, bei rechtsstehender Lampe, stehend am Fenstersims, Klavier etc. oder verkrümmt und verdreht sitzend auf zu hohen Stühlen oder vor zu hohen Tischen, in allen nur denkbaren Situationen lesen und schreiben!“ Und darum ertheilt er den Eltern folgende Rathschläge:
Wenn dein Kind zu Hause schreibt oder liest, so sorge:
1) für gutes Licht. Nie lasse dein Kind in der Dämmerung oder beim trüben Schein einer Talg- oder Paraffinkerze arbeiten! Wenn möglich, vermeide das letztere überhaupt bei künstlicher Beleuchtung, andernfalls sorge für eine gut brennende Petroleumstehlampe, die ungefähr einen halben Meter vom Kopf des Kindes entfernt aufzustellen ist! Wenn das Kind schreibt, so sei stets darauf bedacht, daß das Licht von dessen linker Seite her auf das Papier fällt!
2) Sorge für einen richtigen Arbeitstisch! Lasse dein Kind stets nur an einem viereckigen Tisch, nie an einem runden Tisch, an Klavier, Kommode, Fensterbrett oder ähnlichem Möbel arbeiten! Dringend zu rathen ist, beim Schreiben durch Auflegen eines Reißbrettes oder eines leicht zu fertigenden hölzernen Gestells auf dem Tisch eine leicht geneigte Ebene herzustellen, auf welche das Heft aufgelegt werden kann.
3) Sorge für einen richtigen Sitz!
- a) Der Stuhl sei so hoch, daß die Ellbogen des vor dem Tisch sitzenden Kindes nie über 2 oder 3 cm tiefer stehen als die Platte des Tisches. Da die meisten Stühle zu diesem Zwecke für Kinder zu niedrig sind, so erhöhe den Sitz durch Unterlage eines Kissens oder besser eines entsprechend hohen einfachen hölzernen Gestelles!
- b) Den Füßen gieb stets eine Stütze durch eine untergestellte Fußbank!
- c) Den Stuhl schiebe stets so weit unter den Tisch, daß das Kind sich beim Schreiben an die Stuhllehne bequem anlehnen kann! Beim Lesen kann der erstere etwas zurückgezogen werden. Befindet sich an dem Stuhl keine bequeme Lehne, so hilf durch ein vorgelegtes Kissen nach!
4) An dem so hergerichteten Arbeitstisch überwache fortwährend das lesende oder schreibende Kind! Halte darauf, daß es
- a) stets aufrecht sitzen bleibt, d. h. daß Kopf und Rückgrat nie nach vorn übergebeugt werden. Am besten erreichst du das, wenn du darauf dringst, daß der Rücken fortwährend an der Stuhllehne sich stützt. Wird der Stuhl beim Lesen zurückgeschoben, so darf das Buch nicht auf dem Tisch liegen bleiben, sondern muß in die Hand genommen werden.
- b) Halte darauf, daß das Kind sich nie seitlich verdreht! Lasse, um dies zu verhindern, beim Schreiben Heft oder Tafel stets genau vor die Mitte des Körpers legen und zwar so schräg, daß die Grundstriche der Buchstaben in ihrer Verlängerung senkrecht auf den Tischrand zu stehen kommen! Die Verbindungslinie der Schultern stehe parallel mit dem Tischrande, die Unterarme liegen symmetrisch auf der Tischplatte.
Das sind goldene Regeln – und so klar und einfach, daß die Eltern sie nicht so leicht vergessen, die Kinder sie leicht erlernen können, und zu deren Einprägung unsere Abbildung das ihrige beitragen möge. Sind sie einmal zur Gewohnheit geworden, so wird die fehlerhafte Haltung zur Qual, aus der man schleunigst zu der natürlichen und darum so bequemen zurückkehrt.
Haus und Schule haben noch viele andere Berührungspunkte auf dem Gebiete der Gesundheitspflege. – Wer sie kennen lernen will zum Besten seiner Kinder, der möge das Buch Rembolds „Schulgesundheitspflege“ lesen, gleichviel ob er Lehrer oder Vater ist. *
An den Ahrensklinterklippen im Harz. (Zu dem Bilde S. 728 u. 729.) Die Scharen der Wanderlustigen aus der Ebene haben die grünen Harzberge verlassen, mit ihnen die bunten Sänger in Busch und Baum; es ist still geworden um die trotzigen, starren Steinklippen, zu denen der wirbelnde Wind das herbstlich gefärbte Laub emporträgt, um die er heulende Klagelieder singt, als trauere er um die geschwundene, sommerliche Pracht, die vor kurzem noch das weite Waldgebirge in ihr buntes, schimmerndes Gewand hüllte. Und der Herbststurm weckt auch den wilden Jäger aus dem mondelangen Schlaf, von neuem beginnt er sein nächtliches Streifen; mit gellendem Pfeifen, mit wildem Ruf und Peitschenknall treibt er den schaumtriefenden Renner dem am nächtlichen Himmel hinjagenden Gewölk voran, und die heulende kläffende Meute folgt seinem Hufschlag. Den einsamen Wanderer, den zur Nachtzeit sein Weg durchs Gebirge führt, ergreift wohl furchtsames Grauen; er denkt nur der Schreckgestalt der Sage, weil er die Wald und Luft erfüllenden Töne nicht auf ihren Ursprung zurückzuführen vermag; er sieht nicht die mächtigen Scharen der gefiederten Bewohner der Lüfte, die hoch über ihm auf der breiten Heerstraße der Zugvögel dem Süden zustreben und mit trompetenden, gackernden, pfeifenden Signalen ihre Geschwader zusammenhalten. Mit Freuden begrüßt er den lichten, rosigen Streifen, der im Osten den Horizont säumt; verkündet er ihm doch den nahenden Morgen und damit das Ende der nächtlichen Schrecken! Deutlicher werden die Umrisse der Umgebung; eben schwammen noch die Kronen der Bäume in dem aus den Thälern steigenden Nebelmeer, jetzt grenzen sie sich bereits scharf gegen den hellen Himmel ab und recken trotzig die starken, knorrigen Zweige in die reifkalte Morgenluft.
Unser Weg führt uns über den Jakobsbruch um den Hohnekopf nach [739] den Ahrensklinterklippen. Wir haben die Höhe erreicht und erblicken vor uns die grotesken, starren Felsgebilde, kahl, nur mit kümmerlichen Moosstreifen bewachsen. Stille ringsum; nicht das Zirpen eines Insekts, kein Vogelruf, selbst die beiden Raben hoch über uns ziehen stumm von ihrem Horst zum Fraß in die Ebene hinaus.
Eben wollen wir uns bereit machen, jenen Felsblock zu ersteigen, von dem man die herrliche Aussicht nach dem Brocken, dem Schnarcher, der Achtermannshöhe, dann nach dem versteckt liegenden Bodethal hin genießt, schon hat unser Fuß den Gipfel fast erreicht, sodaß wir die dahinter liegende Waldblöße vor uns auftauchen sehen, als uns ein dröhnender, machtvoller Ruf zusammenschrecken läßt. Wenige Fuß noch empor, und der Urheber desselben steht vor uns, der König der deutschen Wälder, ein Kronenhirsch. Und nun legt er das vielzackige Geweih zurück bis zum Rücken hin und hebt das stolze Haupt hoch empor, und mit dem dampfenden Athem stößt er von neuem seinen wilden Kampflaut aus, den das Echo des Waldes und der Berge vielstimmig zurückgiebt. Unten am Fuße der Klippen steht lauschend das Mutterwild, der Platzhirsch aber zieht dem Gegner entgegen, dumpf orgelnd, zum Kampf bereit, und nicht lange währt es, bis mit wuchtigem Stoß die Häupter der Gegner zusammenfahren und prasselndes Dröhnen dem Harem Kunde giebt von dem Streit, der um seinetwillen ausgefochten wird.
Eugen Friese.
Aus Moltkes Jugendzeit. Der Generalfeldmarschall lebte während eines großen Theils seiner Knabenjahre in Holstein. Sein Vater hatte mit seiner Familie im Jahre 1807 das von den Franzosen eroberte Lübeck verlassen und das Gut Augustenhof im Ostholsteinischen käuflich erworben. Hier hielt Helmuth sich mit seinem Bruder Fritz noch bis 1811 auf; dann brachte der Vater die beiden Knaben nach Hohenfelde in das Haus des Pastors Knickbein, welcher als Erzieher und Lehrer eines guten Rufes genoß. Unter der Obhut des tüchtigen Mannes verlebte Moltke hier zwei für ihn bedeutsame Jugendjahre, deren er später noch in dankbarer Erinnerung gedenkt.
Die kriegerischen Vorgänge jener Zeit regten den Knaben mächtig an, und wenn „Soldat“ und „Krieg“ gespielt wurde, machte sich in dem Spiel auch wohl schon sein strategischer Geist geltend, und der aufmerksame väterliche Freund, der eine besondere Zuneigung zu dem reichbegabten, jugendmuthigen und doch durch so stille Sinnesart ausgezeichneten Zögling gefaßt hatte, mochte in dessen Beginnen schon mehr als bloßes Spiel sehen. So lieh er denn wohl freundliche Beihilfe, gab Erlaubniß und ertheilte Rath zu der Herstellung der Anlage, die der Knabe Helmuth als Leiter im Kriegsspiel mit seinen Genossen schuf. Es ist die kleine Insel, welche wir auf unserer nach einer photographischen Aufnahme hergestellten Abbildung sehen. Nach den Erzählungen des hochbetagten jetzigen Pfarrers von Hohenfelde, der von den Spielkameraden des Feldmarschalls die Schilderungen jener Tage häufig gehört hat, stellte diese Insel ein wasserumgebenes Festungswerk dar, welches Moltke durch kriegerische Einrichtungen zum Widerstand gegen feindliche Angriffe fähig machte. Vielleicht mag die ruhmreiche Vertheidigung Kolbergs die Veranlassung dazu gewesen sein.
Hinter dem stattlichen und dabei traut und freundlich ausschauenden Pfarrhaus liegt die Insel in einem länglichrunden, von Gebüsch und Bäumen umhegten Weiher, nach drei Seiten hin etwa drei Meter vom Ufer entfernt. Nach vorne hin ist sie mit dem Lande durch eine als Brücke dienende Bohle verbunden. Vier Meter beträgt etwa der Durchmesser der Insel, was immerhin für die bauenden Knaben eine gute Leistung bekundet, wenn auch in dem nicht tiefen Teiche leicht eine über den Wasserspiegel ragende Erdbank herzustellen war.
Wall und Befestigung sind längst verschwunden, und anstatt des kriegerischen macht heute das kleine Bild einen idyllischen Eindruck. Niedriges Buschwerk umsäumt jetzt das Eiland, und in seiner Mitte hat man eine Ruhebank angebracht.
Das Stückchen Erde, wo so oft die lauten Spiele des Knaben erschallten, muß uns Deutschen ein theurer und lieber Gegenstand der Erinnerung sein, denn Moltke selber schätzt die beim Pastor Knickbein verlebten Jahre als solche, in welchen seiner ganzen Bildung so manches zu gute gekommen ist. Fast dreißig Jahre nach der Zeit, da er das Pfarrhaus als dreizehnjähriger Knabe verlassen hatte, sandte der schon sehr bevorzugte und vielfach ausgezeichnete Hauptmann im Generalstabe sein erstes litterarisches Werk über „Zustände und Begebenheiten in der Türkei“ nach Hohenfelde mit der Widmung: „Meinem lieben Lehrer und väterlichen Freunde, dem ich so vieles verdanke, sende ich dies mein Erstlingswerk als ein schwaches Zeichen meiner Verehrung.
H. von Moltke.“
Aus dem Pfarrhause selbst stammt das zweite, hier ebenfalls abgebildete Moltkeandenken, der jetzt im Hotel „Stadt Hamburg“ zu Kellinghusen aufbewahrte Moltketisch. Er ist dort zum Stammtisch geworden, ein starker und fester Ausziehtisch, über dessen Platten sich die Knaben im Pensionat des Pastors Knickbein bei ihrer Schularbeit beugten.
Zu diesen Schulkameraden gehörte der Ortsvorsteher Claus Rüymann in Hohenfelde; derselbe erhielt den denkwürdigen Tisch von Pastor Knickbein zum Andenken an die in seinem Hause verlebte Jugendzeit, und nach dem Tode Rüymanns und seiner Frau ging das erinnerungsreiche Möbel 1872 in den Besitz des genannten Hotels über, wo es von den Stammgästen mit all der Ehrfurcht behandelt wird, die ihm geziemt.Dr. Lüttgens.
Das Parkhaus am Hollersee im Bremer Bürgerpark. (Zu dem Bilde S. 733). Die Nordwestdeutsche Gewerbe- und Industrie-Ausstellung, welche in diesem Sommer viele Tausende von Fremden nach der alten freien Hansestadt führte, hat sich ein bleibendes Andenken in dem Parkhause am Hollersee geschaffen. Dasselbe, massiv im Barockstil erbaut, ist mit seiner schönen Kuppel, den schlanken Thürmen, der breiten, wohlgegliederten Fassade eine Zierde des Bürgerparkes, jenes Lieblingsplatzes der Bremer Bürger, dessen Ruf weltbekannt ist. Von den breiten Terrassen des Gebäudes, die durch schattige Baumgruppen gegen die Sonne geschützt sind, hat man eine entzückende Aussicht auf die wohlgepflegten Anlagen des Parkes, die Springbrunnen und Kaskaden, welche abends in den Zauberwellen des elektrischen Lichtes funkeln. Aus dem Hollersee selber erhebt sich eine bewimpelte Bootspagode, die zum Anlegen der Boote dient und den Mittelpunkt für das fröhliche Getümmel auf dem Spiegel des Sees abgiebt. In der Ausstellungszeit war das Parkhaus mit seinen großen Fest- und Gesellschaftsräumen der Hauptsammelplatz für die Besucher von fern und nahe, und es läßt sich voraussehen, daß dieses schöne Gebäude auch ferner bestimmt ist, in dem geselligen und festlichen Leben Bremens einen mächtigen Anziehungspunkt zu bilden.
Falsche Haare. Auch in Deutschland sind falsche Haare eine Ware, welche viele Abnehmer und guten Kurs hat, aber in Frankreich und in der Hauptstadt der Mode ist der Absatz derselben noch viel bedeutender. Am billigsten sind die chinesischen Haare; in Marseille, wo vor kurzem 16 Ballen derselben ankamen, erhält man schon für 3 bis 5 Franken einen chinesischen Zopf. Das chinesische Haar ist nicht so fein und leicht wie das französische; doch das braune Haar steht niedrig im Preis, höher das blonde, am höchsten das silberweiße. Eine Perücke, die aus diesem Haar gefertigt wird, kostet von 200 bis 1000 Franken. Von den französischen Departements sind es besonders die Bretagne und Auvergne, wo der Handel mit Haaren in Blüthe steht. Die jungen Mädchen verkaufen ihren natürlichen Schmuck gegen ein hübsches Kleid oder anderen äußerlichen Putz an die Händler, die
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dort in den Dörfern an Markttagen erscheinen; sie setzen sich auf die hohen Barbierstühle und geben ihr Haar der Schere preis. Außerdem kommen aus Italien, besonders aus Sicilien und Neapel, in Marseille große Haarsendungen an. Bei uns in Deutschland fehlt es zwar auch nicht an falschen Haaren, doch ist das Angebot hier kein so starkes. Im ganzen geben unsere Mädchen auf dem Lande mehr auf diese angeborene Schönheit als auf bunten Tand, den sie mit dem Opfer derselben erkaufen könnten. †
Unglückstage. Der Mensch liebt es bekanntlich, sein Unglück dem feindlichen Schicksal in die Schuhe zu schieben. Deshalb ist von altersher der Glaube an unglückliche Tage und Zeiten ein bei allen Völkern fest eingewurzelter. Die alten Römer schlossen während des ganzen Monats Mai keine Ehe, außerdem sahen sie als besonders große Unglückstage den 7. Mai, 8. Juli, 8. November an, weil da die Unterwelt offen stand. Bei allen christlichen Völkern gilt bekanntlich der Freitag, der Todestag Christi, für unglücklich, aber die Russen setzen ihm noch den Montag an die Seite und kennen außerdem eine ganze Menge besonderer Unglückstage. Die Araber dagegen haben deren vier in jeder Woche: Sonntag, den Todestag des Propheten, Montag und Donnerstag; als ganz besonders schlimm wird aber der Sonnabend angesehen. Eine eigene Wissenschaft der Glücks- und Unglückstage haben die Tibetaner, Siamesen und Japaner ausgebildet, sie muß vor Antritt einer Reise, zum Beginn eines Hausbaus etc. sorgfältig berücksichtigt werden. In Madagaskar giebt es ganze Unglücksmonate: die während derselben geborenen Kinder wurden früher einfach umgebracht. Die Hindu sehen in dem Mittwoch den Verderbenbringer, dagegen gilt ihnen der Freitag für glücklich; dafür galt der Freitag, als Tag der holden Göttin Freya, auch den alten Germanen, bis ihm das Christenthum die schlimme Bedeutung beilegte. Die großen germanischen Glückstage aber waren Donnerstag (nach dem mächtigen Gott Donar oder Thor so benannt) und Mittwoch (Wodanstag), dessen alter Name im englischen Wednesday noch anklingt. Der letztere wurde, als der dem neuen Glauben gefährlichste, von der christlichen Geistlichkeit in Deutschland ganz ausgetilgt, und der farblose „Mittwoch“ an seine Stelle gesetzt, der die Bedeutung des Glückstages gänzlich verloren hat. Dem deutschen Gebirgsvolk in Bayern und Oesterreich gelten dafür die drei „großen Tage“ Dreikönig, Johanni und Fastnacht.
Der christliche Kalender beherrscht heute Brauch und Vorstellung des Volkes, aber in seinem Aberglauben, z. B. in der Furcht vor den sogenannten „Rauhnächten“, in denen die alten Götter als unheimliche Gespenster noch immer umgehen sollen, tauchen deutlich genug die Anklänge an eine ferne Vergangenheit empor, und eine Menge uraltheidnischer Vorstellungen sind in seine Glücks- und Unglückstage mitherüber genommen worden. Br.
Selbstmassage. Die Massage ist in einem Jahrzehnt zu einem vielverbreiteten Heilmittel geworden. Vor einiger Zeit konnten wir in den Mittheilungen eines bewährten Arztes unsere Leser auf die Thatsache aufmerksam machen, daß in Deutschland zu viel Männer und Frauen die Massirkunst erlernt haben und infolge dessen viele Masseure und Masseusen durch Ausübung ihrer Kunst nicht den Lebensunterhalt finden konnten, den sie sicher erhofften. Heute ist diesen neuen Heilgehilfen ein Nebenbuhler entstanden – in Gestalt eines Apparates, der es jedem möglich machen soll, sich selbst zu massiren. Zwei Gummiwalzen, die eine glatt, die andere gezahnt, vertreten die Hand und die Finger. Da die Walzen auch an einem krummen Stiel (wie bei den bekannten Rückenkratzern) befestigt werden können, so kann mit dem Apparat jede Körperstelle bearbeitet werden. Die Sache sieht sehr verlockend aus; denn in keinem anderen Falle ist der Menseh so sehr geneigt, die Selbsthilfe als die höchste Tugend anzuerkennen wie auf dem Gebiete der Heilkunde. Soweit es sich um die Heilung bestehender Krankheiten handelt, ist sie leider am allerwenigsten berechtigt, und schon das alte Spottsprichwort: „Arzt, heile dich selbst!“ beweist es recht drastisch.
So werden auch von den wirklich Kranken wohl nur wenige die Selbstmassage anwenden dürfen und auch diese nur auf Anrathen und unter Aufsicht des Arztes. Aber wir wollen das Gebiet der Anwendung der Massage nicht so eng begrenzen. Der berühmte arabische Arzt Avicenna hat schon vor Jahrhunderten gesagt: „Die Medizin ist die Erhaltung der Gesundheit und die Heilung der Krankheiten“ – und er hat damit die Hygieine, die Erhaltung der Gesundheit, an die erste Stelle gerückt.
Unsere Zeit strebt nach dieser Richtung gewaltig vorwärts, und sie hat allerlei Vorschriften aufgestellt, um die Gefahren abzuwenden, welche die Gesundheit des Kulturmenschen bedrohen. Für die große Schar derjenigen, welche zu einer mehr oder weniger sitzenden Lebensweise genöthigt sind, wird allerlei Gymnastik empfohlen. Die Massage ist nun eine sehr wirkungsvolle passive Gymnastik und verdient auch Beachtung als Mittel zur Förderung und Stärkung der Gesundheit. Für diesen Zweck scheint uns der von den Eisenwerken Gaggenau hergestellte Apparat zur Selbstmassage besonders geeignet. Ein Bureaumensch, ein Stubenhocker, den ja sonst eine Legion allgemein bekannter Leiden bedroht, kann die Selbstmassage mit großem Nutzen anwenden. Diese Klasse der Menschen soll ja Hausgymnastik treiben; viele versuchen es damit, aber bei den meisten schläft die Sache mit der Zeit ein. Das ewige Einerlei lähmt die Ausdauer. Darum greifen viele zu Hanteln, Stäben, Gummisträngen und anderen ähnlichen Werkzeugen und fachen dadurch die erlahmende Thatkraft von neuem an. Der Nutzen dieser Hilfsmittel ist unbestreitbar, und diesem häuslichen Gesundheitsrüstzeug kann sehr zweckmäßig auch der Apparat zur Selbstmassage angereiht werden. Ein weises Maß ist hier selbstverständlich innezuhalten, denn die Wirkung dieser „Gummihand“ ist recht eingreifend, und gewisse Stellen des Körpers, wie z. B.. die Herzgegend, wo die großen Nerven und Blutgefäße ziemlich ungeschützt liegen, müssen besonders geschont werden.
„Abwechslung ergötzt!“ Das ist eine alte Losung der Menschheit. In dieser Hinsicht kann man mit den Erfindungen solcher hygieinischer Apparate zufrieden sein; denn sie gewähren den Heilsuchenden ein reichhaltiges Programm für ihre gesundheitlichen Uebungen. *
Charade. |
Bilderräthsel. |
Auflösung der geometrischen Aufgabe
auf S. 708: | |
Wenn der Sommer Wald und Wiesen |
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Magisches Dreieck. |
Auflösung des Bilderräthsels „indianischer Muschelgürtel“ auf S. 708:
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Die Buchstaben sind so zu ordnen, daß die |
Der Gürtel besteht aus weißen und dunklen (braunen) Muscheln. Ordnet man die Buchstaben jeder Sorte arithmetisch nach der Anzahl der Muscheln (jede Sorte für sich), so ergeben die weißen Muscheln: „Die viel reden“, und die dunklen: „die luegen viel“. | ||
Auflösung des Anagramms auf S. 708: |
Auflösung der Skataufgabe Nr. 6 auf S. 708:
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Messen + i = Nemesis; Karat + m = Makart; Eldena + s = Seeland; Brahma + c = Marbach; Stoa + h = Athos; Samen + i = Amiens; Hera + l = Rahel; Speise + l = Pleiße; Erbsen + i = Serbien; Gerona + n = Garonne; Rasen + g = Angers; Sehne + s = Hessen; Alter + h = Thaler; Carmen + o = Menorca; Wechsel + s = Schwefel. „Im Schillingshof“. |
Der Spieler drückt richtig Trumpf-Daus und -Zehn. Bei folgender Sitzung: Vorhand: gW, eK, eO, e7, gO, g9, g8, g7, aO, a8, Mittelhand: rW, sW, c9, c8, rK, rO, r9, r8, sK, s9 wird der Gegner in Vorhand, um nicht eine schwach besetzte Zehn des Freundes zu gefährden, am besten Trumpf oder Grün (p.) anspielen. Danach nimmt das Spiel folgenden Verlauf: | ||
a |
b
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- ↑ Aus dem im Verlage von Friedrich Conrad in Leipzig erschienenen Werke „Die Meininger“. Von C. W. Allers. Prachtmappe mit 40 Zeichnungen in Lichtdruck.
- ↑ Die des 7. Auftrittes der ersten Handlung, in welcher Belinde dem eingebildeten Kranken, Argan, den Pelzrock giebt und ihn die Nachtmütze fest bis über die Ohren ziehen läßt, ihn in seinen Lehnstuhl setzt und von allen Seiten mit Kissen, welche Toinette herbeischleppen muß, bestopft.
- ↑ * Heine hatte im dritten Bande seiner „Reisebilder“ auf einige Angriffe Platens in überaus scharfer Weise geantwortet.
- ↑ * Tübingen, Verlag der H. Lauppschen Buchhandlung.