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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[877]

No. 52.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.

Zur Jahreswende.

Mit keinem Blümlein schmückt die Flur
Das Fest der Jahresneige,
In kahle Felder schaust du nur
Und auf entlaubte Zweige.

Da ringsum mangelt jedes Grün,
So laß’ in dir es sprießen
Und Hoffnung auf ein froh’ Erblüh’n
Das alte Jahr beschließen!

Martin Greil.

[878]

Eine Erscheinung.

Hinterlassene Erzählung von Fanny Lewald.
(Schluß.)


Das Häuschen, das mir Schutz bietet vor den Unbilden der Witterung in der Zeit, da ich nicht draußen im Dienst beschäftigt bin, ist gerade groß genug für mich und meine Bedürfnisse. Es enthält einen Raum zum Schlafen mit einer einfachen Bettstatt, der besten, in der ich seit lange geruht habe; eine Küche mit einem kleinen Herd, auf dem ich mir selbst die bescheidenen Vorräthe zubereite, die ich mir immer für die ganze Woche vom nahen Markt hole, eine Kammer, wo ich sie aufbewahre, und einen Bodenraum für den Holzbedarf, den mir die Eisenbahndirektion liefert. Vor dem Haus ist ein kleines Gärtchen, in dem ich einige Gemüse und Blumen züchte, und daneben ein kleiner Hügel mit einem Kruzifix darauf, wie man sie hier in der Umgegend überall findet. Für mich aber hat der Hügel mit dem Kreuz noch eine besondere Bedeutung; er erinnert mich an das Grab im Garten von Groß-Stegow, und damit er diesem noch ähnlicher werde, hab’ ich ihn mit Felssteinen und Epheu eingehegt und einen Rosenstock darauf gepflanzt, der freilich nur kümmerliche Blüthen trägt. Sobald aber in meinem Gartenbeet ein paar Blumen aufgehen, was auch selten genug geschieht, so winde ich einen Kranz daraus und lege ihn dort nieder.

Mein Dienst ist ein schwerer. Ich muß bei Tag und bei Nacht die meiner Aufsicht zugewiesene Bahnstrecke begehen und nachsehen, ob das Geleise frei und in gutem Zustande ist, „denn die Elemente hassen das Gebild aus Menschenhand“, zumal in unserer Gegend. Ich muß rechtzeitig die Signale aufstecken und die Weiche bedienen für die Züge, die sich hier kreuzen, und das Wohl vieler Menschenleben liegt in meiner Hand, in derselben Hand, deren sinnloses Wüthen einst ein Menschenleben zerstörte, das mir theurer war als das von Tausenden. Ist das nicht mehr, als ich verdiene? Ich versehe daher meinen Dienst auch mit der äußersten Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit, obwohl meine Kraft nicht mehr die alte ist. Die Unruhe, das Wanderleben haben meine Gesundheit, die ja doch jetzt in meinen Mannesjahren die allerstärkste sein sollte, angegriffen. Ich empfinde oft ein Zerren in den Gliedern, ein Stechen auf der Brust; ich muß viel husten und fühle mich manchmal zum Tode erschöpft. Ein Arzt ist hier nicht in der Nähe, auch brauch’ ich keinen; die alte Kräuterfrau im Dorfe hat mir einen Thee gegeben, den ich mir selbst koche und der mir die Schmerzen lindert, so daß ich mich stets wieder aufraffen und meinem Dienst nachkommen kann.

Und doch hat mich auch hier der Versucher noch einmal umgarnt.

Hier, wo die Kurierzüge oft wegen der Kreuzung minutenlang stillhalten, kommt es häufig vor, daß die Passagiere überflüssige Gegenstände auf den Bahnkörper werfen, und darunter befinden sich manchmal auch Zeitungen. Ich pflege das alles aufzulesen und die Blätter, ohne mich weiter um ihren Inhalt zu bekümmern zum Anzünden meines Herdfeuers zu benutzen. Einmal aber, es ist noch gar nicht so lange her, warf ich doch einen Blick in solch ein Zeitungsblatt, und zwar, weil ich beim Aufheben desselben zufällig bemerkt hatte, daß es aus meiner Heimath kam. Es war eine Nummer der Amtszeitung unseres Kreises. Wer mochte sie hier mit andern hingeworfen haben, ohne eine Ahnung, daß sie einem Landsmann in die Hände geriethe? Es war doch ein seltsamer Zufall, wenn es nicht mehr als ein Zufall war!

Nachdem ich die Aufschrift erkannt hatte, konnte ich dem Drang nicht widerstehen, auch weiteres von dem Inhalt zu lesen. Ich las die erste Seite. O, wie fremd berührte mich alles, was da gedruckt stand von Staatsverträgen, Fürstenbesuchen, Volksversammlungen, von dem, was man zusammengefaßt „Politik“ nennt. Es waren große Veränderungen in meinem Vaterland, im ganzen Deutschland vor sich gegangen, von denen ich wohl hier und da ein Wort reden gehört hatte, welche die ganze Welt in Athem hielten und mich, der ich ja todt war für diese ganze Welt, jetzt so kalt ließen.

Dann las ich von Gemeindeangelegenheiten und Familienereignissen, Festen der Freude und der Trauer. Kaum hier und dort noch ein Name von bekanntem Klang, der mir auffiel, ohne daß ich eine bestimmte Erinnerung daran zu knüpfen vermocht hätte. Wie weit lag sie hinter mir, diese Welt mit ihren pomphaft feierlichen Gebräuchen, ihren künstlich zurechtgemachten Begriffen, ihren heimlichen Intriguen, ihren Schmerzen und Freuden, ihrem Hader und Gezänke um ein Nichts! Ich mußte lächeln, und schon wollt’ ich das Blatt mit den andern ins Feuer werfen, da stieß ich auf der letzten Seite, im amtlichen Anzeigetheil, auf ein Inserat mit der fettgedruckten Ueberschrift: „Aufruf an einen Verschollenen.“

So wenig bedarf es, um einen Todten, wie ich mich eben noch nicht ohne Genugthuung genannt hatte, ins Leben zurückzurufen und ihn mitten in das Getümmel, das ihm eben noch so verächtlich schien, hineinzuschleudern.

Ich las meinen Namen, nicht den, welchen ich jetzt trug, sondern den, welchen ich einst getragen hatte, den alten Namen „Klaritz“, und nun fing ich den Aufruf von vorne zu lesen an.

Er lautete, soweit er mir im Gedächtniß geblieben ist:

„Aufruf an einen Verschollenen!

Nachdem der hochedle Herr Hubert von Klaritz, Majoratsherr auf Groß-Stegow, seinem hochseligen Herrn Vater nach kurzer Frist im Tode nachgefolgt ist, so ist von dem Mannesstamm dieses Hauses als letzter Sproß und rechtmäßiger Erbe des Majorats wie der damit verbundenen Einkünfte, Rechte und Pflichten der jüngere Bruder des Verstorbenen, Erwin von Klaritz, (hier folgten die Daten meiner Geburt, meiner Verurtheilung, Freilassung, meines Verschwindens und muthmaßlichen Todes) zu betrachten.

Da eine amtliche Bestätigung des Todes dieses Erben nicht vorliegt, auch die Leiche desselben seinerzeit nicht aufgefunden werden konnte, desgleichen sein dermaliger Aufenthaltsort dem zuständigen Gericht unbekannt ist, so ergeht an ihn, wenn er noch leben sollte, die Aufforderung, seine Rechte innerhalb einer Frist von sechzig Tagen, vom Datum dieses Aufrufs an gerechnet, bei dem Gericht persönlich oder schriftlich unter Vorlage der seine Identität bezeugenden Papiere geltend zu machen, widrigenfalls derselbe gesetzlich als todt, der direkte Mannesstamm Derer von Klaritz als erloschen erklärt würde und das Testament des Erblassers, welches den Verkauf des Besitzes unter gewissen Vorbehalten, die Theilung des Erlöses sowie des vorhandenen Barvermögens unter die von ihm aufgeführten Personen und Korporationen, insbesondere die Auszahlung eines bedeutenden Legats an das Kloster der Nonnen du sacré coeur auf Trinita de’ Monti zu Rom, wo seine im Vorjahr verstorbene Verwandte von mütterlicher Seite und einstige Braut, weiland Casimira, Edle von Gliwitzka unter dem Namen ‚Schwester Magdalena‘ seiner Zeit den Schleier genommen hat, anordnet, rechtsgültig in Kraft träte.“

Es folgte das Datum, das nur wenige Tage zurücklag, die Angabe des Orts und die nähere Bezeichnung des Gerichts, von welchem der Aufruf ausgegangen war.

Eine Weile starrte ich, keines bestimmten Gedankens fähig, auf das inhaltsschwere Blatt. Mein Vater todt und mein Bruder und Mira – – und ich der einzig Ueberlebende, der Erbe, der Herr von Groß-Stegow –, wenn ich wollte! Es war zu viel, als daß es mich nicht verwirrt und betäubt hätte.

Sollte ich sie beklagen, diese Todten, meinen Vater, der das Ziel seiner Sehnsucht erreicht hatte, mit der todten Mutter wieder vereinigt war, und den Bruder, den verkrüppelten Kranken, den diese so sehr geliebt und der nun in verklärter, vollkommener Gestalt bei ihr weilte, und Mira, die sich auf den Namen einer Büßenden getauft hatte und nun wie diese eingegangen war zum ewigen Frieden, vereinigt mit ihrem himmlischen Bräutigam und vereinigt mit den Eltern, dem Bruder in einer Gemeinschaft, die kein Haß, keine Eifersucht mehr stört? – Nein, um sie durfte ich nicht klagen!

Aber ich, der Ueberlebende, hatte ich nicht die Pflicht, ihre Gräber zu pflegen; durfte ich das dem Fremden überlassen, der das Gut kaufte und gleichgültig, mißmuthig vielleicht dem Vorbehalt des Testaments, der sich hierauf bezog, nachkam? War es nicht meine Pflicht, das Erbe meiner Väter anzutreten, die [879] Scholle, die sie bebaut hatten, zu schützen, zu fördern, zu vermehren, wenn und so lang es in meiner Kraft stand, ihren Stamm vor dem Erlöschen zu bewahren, den Namen, den ich geschändet und von mir geworfen hatte, zu neuen Ehren zu bringen, mein Gedächtniß zu reinigen von der Schmach, mit der ich es belastet, und es gereinigt glücklicheren Enkeln zu hinterlassen, wenn man mich neben den Eltern und dem Bruder zur letzten Ruhe einbettete? –

Es war dunkel geworden, unheimlich flackerte und prasselte das Herdfeuer, vor dem ich saß; sein Rauch kräuselte und ballte sich zu gespensterhaften, teuflischen Fratzen, die an den Wänden und an der Decke entlang huschten, tiefe Finsterniß lag in den Ecken des engen Raumes.

„Thu deine Pflicht! Wolle nur!“ raunte mir der Böse ins Ohr. „Die Papiere zu beschaffen, wird dir ein leichtes sein. Wenige leben noch, die dich gekannt haben, sie werden dir die Identität mit ihrem Eid bezeugen, und bist du erst Herr des Guts, so werden sie rasch vergessen, was früher geschehen ist, sie und alle, denen es aus zweiter Hand überliefert wurde. Was aber kannst du erst thun, wenn du Herr von Groß-Stegow bist, welche Fülle von guten, verdienstlichen Werken an den Armen, der Gemeinde, dem Staat, Wohlthaten, die dir im Himmel angeschrieben werden und dir Ehre bringen auf Erden und Liebe und Dankbarkeit bei den Menschen!“ –

Und noch immer saß ich vor dem flackernden Herdfeuer und starrte auf das Zeitungsblatt, das meine Hände krampfhaft umklammert hielten; ein fürchterlicher Kampf tobte in meiner Brust. – Da schlug plötzlich draußen das Glockenzeichen an, das die Abfahrt des Zugs von der nahen Station meldete. Ich sprang auf, zerknitterte das Blatt, das sich an meine Hände festzukleben schien, und schleuderte es in die Flammen, die hoch aufloderten. Dann eilte ich mit der Laterne, die ich rasch entzündete, hinaus. Ich hatte kaum noch Zeit, das Signal aufzuziehen, die Weiche zu stellen, meinen Posten einzunehmen, da brauste der Zug an mir vorüber.

Der kalte Angstschweiß stand mir auf der Stirn, zum erstenmal, seit ich im Dienst war, hätte ich fast meine Pflicht versäumt, und worüber –? Mir graute, wenn ich dessen gedachte, was mich so erfüllt hatte, daß ich die Stunde darüber vergaß, und dessen, was hätte geschehen können, wenn mich die Glocke nicht aus dem Taumel geweckt hätte, wie einst die Osterglocken den Faust. Thränen, die ich lange nicht geweint hatte, traten auch mir in die Augen, nicht das Glockensignal mit seinen paar eintönigen Noten, die ich stündlich vernahm, war es für mich, sondern ein Ton wie von siegenden Engelschören, die eine Seele dem Himmel gerettet.

Als ich in mein Häuschen zurückgekehrt war, fand ich nur noch Gluthen im Herd vor, obenauf lag die Asche jener Zeitung, und auf sie, auf die Asche des Majorats von Groß-Stegow, stellte ich nun den Topf, in dem ich mir erleichterten Herzens meine bescheidene Abendsuppe bereitete. Sie schmeckte mir wie ein Siegesmahl dem Kämpfer nach gewonnener Schlacht.

Dann holte ich vier Kerzen aus meiner Vorrathskammer, ging hinaus und steckte sie auf die vier Ecken des Kreuzpostaments, streute, was ich von Blumen in meinem Gärtchen zusammenbrachte, auf den Hügel und hier hielt ich meine Todtenfeier.

Ist’s nicht gleichgültig, wo das begraben liegt, was der Mensch, wenn er stirbt, auf der Erde zurückläßt? Und so lange er lebt und wirkt: ist’s nicht gleichgültig, wo der Mensch seine Pflicht thut und unter welchem Namen, wenn er sie nur thut? – – – – – – – – – – – – –

Eine größere Zeitpause trennte das im vorstehenden Kapitel Enthaltene von dem folgenden, das nur aus wenigen Blättern noch bestand, die den Schluß dieser Bekenntnisse bildeten.

Das Papier war ein anderes und auch die Schrift war verändert, sie war vielfach verzerrt und schwer zu entziffern, wie wenn jemand mit hastiger, oft stockender Feder seinen letzten Willen niederschreibt. An manchen Stellen brach das Geschriebene jäh ab, um dann ohne die rechte Vermittelung neu zu beginnen, und auch sonst machte sich im Zusammenhang manche Lücke bemerkbar, die ich hier ergänzt und ausgefüllt habe. Man sah, daß ein Kranker, ein Sterbender die Feder geführt mit der letzten Kraft seines Willens, dem die körperliche Kraft oft und endlich ganz versagt hatte, so daß das Geleitschreiben der Eisenbahndirektion, durch die ich diese Papiere empfing, ihren eigentlichen Schluß bildet.


9.

Sie haben es wohl aus den Zeitungen erfahren, welche Verheerungen die Elemente in diesem Frühjahr in unserer Gegend angerichtet haben. Plötzliche Schneefälle führten Ueberschwemmungen herbei, die alles, was Widerstand leistete, unterwühlten und mit fortrissen. Wir bei der Eisenbahn hatten schwer zu thun, um den Verkehr aufrecht zu erhalten. Die Steigung der Bahn auf der mir überwiesenen Strecke ist eine bedeutende und die Züge, die von unten herkamen, brauchten nicht selten eine Schiebmaschine, um sich durchzuarbeiten. Eine solche wurde ihnen oft auf der letzten Station beigegeben, oft auch nachträglich reklamirt. So kam einmal, als der Zug aufwärts meinen Posten schon passirt, wohl auch nach meinem Ermessen die nächste Station schon ohne Hilfe erreicht hatte, eine solche Maschine nachgedampft. „Befohlen!“ schrie mir der Führer im langsamen Vorbeifahren zu. Da muß wohl, dachte ich mir, der Zug, als er an mir vorbei war, also zwischen mir und der nächsten Station, stecken geblieben sein, und ich mußte annehmen, daß das dort bekannt und von dorther die Hilfe bestellt sei. Ich wußte aber auch, daß der nächste thalwärts fahrende Zug dort um diese Zeit fällig sei, und indem ich mir darüber meine Gedanken machte, ertönte das Alarmzeichen, das mir befahl, jedes Fahrzeug, das sich auf der Strecke befand, anzuhalten und wieder einen Augenblick später das Glockensignal, das die Abfahrt des fälligen Zuges meldete.

„Da muß ein Irrthum obwalten, ein Mißverständniß, das von den schlimmsten Folgen sein kann!“ durchzuckte es mich blitzschnell. „Die Hilfsmaschine ist überflüssig, sie rennt vielleicht in den Zug, der von oben kommt, und“ – – Ich dachte nicht weiter, sondern rannte der Maschine nach, die eben an mir vorbeigefahren war. Ein furchtbares Schneegestöber herrschte, ein eisiger Wind wehte von den Bergen, ich stürzte, so schnell mich die Füße trugen, vorwärts auf dem Geleise. „Du kommst zu spät,“ sagte mir die Vernunft, „und wenn die Maschine bei dem Wetter und der Steigung auch nur langsam vorrückt, du wirst sie nicht erreichen, nicht mehr rechtzeitig erreichen.“ Aber die Pflicht trieb mich trotzdem weiter; die Bahn macht hier überdies verschiedene starke Biegungen, so daß die Begegnenden sich, auch abgesehen vom Wetter, nicht früher sehen können, als bis sie aneinander sind und das Unglück nicht mehr zu vermeiden ist. Aber das war’s eben, was mich hoffen ließ, daß es mir doch noch gelingen könnte, die Maschine zu erreichen, ehe es geschehen war, denn ich kannte jeden Pfad an den Berghängen und konnte so die Bogen abschneiden. Freilich waren es böse und heute bei dem Schneewehen doppelt beschwerliche und gefährliche Pfade, aber durch den heulenden Sturm glaubte ich schon das Wehklagen der Hunderte zu vernehmen, Männer, Frauen und Kinder, die mit zerschmetterten Gliedern entsetzlich verstümmelt sich am Boden krümmten oder zwischen den Trümmern der Wagen festgekeilt waren. Das spornte mich zu fast übermenschlicher Hast, ich glitt aus, stürzte, raffte mich wieder auf, kletterte und rannte weiter mit fliegendem Athem und keuchender Brust. Da, da löste sich aus dem Nebel und dem sinnverwirrenden Gewirbel der Schneeflocken etwas Schwarzes, eine schwarze Masse, ich hörte das langsame, stoßweise Stöhnen des Schlots: das war die Maschine. Wie ein Wahnsinniger brüllte ich: „Halt! Halt! Zurück!“ daß mir der Schrei fast die Lungen sprengte, aber im nächsten Augenblick war ich vorne bei der Maschine und sprang auf. „Zurück!“ schrie ich dem erschrockenen Führer zu, „zurück, der Zug kommt, alles ist verloren!“ Ich griff selbst nach dem Hebel, jener kam mir zuvor, einen Augenblick, da stand die Maschine keuchend, in allen Fugen knarrend, dann fuhren wir in rasender Schnelligkeit zurück. An meinem Wärterhaus dämpfte der Führer, dem ich inzwischen eilends das Nähere mitgetheilt hatte, den Lauf seines Fahrzeugs soweit, daß ich abspringen konnte. Ich eilte zur Weiche und dann auf meinen Posten, wo ich fest und regungslos stand. Da, nur einen Augenblick später, wenige Minuten vielleicht, vernahm ich das Schnauben und Stampfen des nahenden Zugs. Er brauste an mir vorüber und ich zählte noch die Wagen, die mit Passagieren überfüllt waren, sah durch die überlaufenen Fensterscheiben die dunklen Gestalten der Menschen, die keine Ahnung hatten von der furchtbaren Gefahr, in der sie geschwebt hatten, und dann vergingen mir die Sinne, ich brach zusammen.

Der Beamte, der mich so fand, ließ mich ablösen und ins Krankenhaus schaffen. Hier liege ich nun und schreibe diese Zeilen, nachdem ich lange in Fieberphantasieen gelegen habe; Brustfieber

[880]

Ein neuer Weltbürger.
Nach einem Gemälde von B. Vautier.

[881] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [882] nennen es die Aerzte und sie schütteln bedenklich den Kopf auch jetzt noch, wo ich wieder bei voller Besinnung bin, nur schwach, so schwach, daß ich kaum imstande bin, die Feder zu halten. Trotzdem habe ich mir Papier und Schreibzeug geben lassen. Nicht vergessen, nicht ganz vergessen will ich sein! Sie sollen, Sie müssen es wissen und es wieder erzählen zu Hause in unserer Heimath, wie ich gebüßt, wie ich das Vergangene gesühnt habe. Der Direktor hat mich besucht und noch mancher andere Beamte, auch etliche von den Passagieren, die in jenem Zug saßen, die ich gerettet habe. Denn es ist so. Der zu Thal fahrende Zug hat zwar im letzten Augenblick vor der Abfahrt, als schon das Zeichen gegeben war, zufällig noch einen kurzen Aufenthalt an der Station gehabt, aber doch bin ich es, der den Zusammenstoß verhindert hat, welcher ohne mein Eingreifen unvermeidlich gewesen wäre. Sie drückten mir alle, zum theil unter Thränen, die Hand, und der Direktor hat zu mir gesagt: „Sie sind ein braver Mann, Sie haben stets Ihre Pflicht gethan, in diesem Fall aber haben Sie noch mehr gethan, Sie haben Hunderten von Menschen das Leben gerettet.“ Hunderten! Habt ihr’s gehört, ihr seligen Geister drüben im Jenseits, hast Du’s gehört, Vater, Bruder, Mira, und Du, theure geliebte Mutter, daß ich für Dein Leben, für das eine, das ich zerstört, der Menschheit Hunderte zurückgegeben habe? O, ich bin stolz auf meine That, und doch fließen mir, wenn ich daran denke, unaufhaltsam die Thränen aus den Augen! O wie süß ist es, zu weinen, so zu weinen!

Der Krankenpfleger – ich habe einen Wärter, der mich aufs liebreichste pflegt – will nicht, daß ich so viel schreibe, weil es mich aufregt, wie er sagt. Des Abends kommen auch die Fieberphantasien wieder, aber es sind keine häßlichen Bilder mehr, wie im Anfang, da mir immer das Eisenbahnunglück vor der Seele schwebte, das ich mich zu verhindern bemühte. Im Traum sehe ich meine Eltern, meinen Bruder und Mira. Sie halten sich an den Händen und blicken so mild, so freundlich auf mich herab, als wollten sie sagen: „Komm zu uns! Wir erwarten Dich!“

Auch meine Mutter, die ich sonst immer nur mit dem Ausdruck des Todes in dem verglasten Auge sah, lächelt mir jetzt versöhnt und freundlich zu.

Ich komme bald, bald! Meine Kräfte werden schwächer, es geht mit mir zu Ende – ich kann nicht mehr.




Hiermit endet das Manuskript. Als ich es gelesen hatte und die Augen wieder emporschlug, dehnte sich vor mir das blaue Meer und über mir lachte der blaue Himmel Italiens. Aber all die sonnige Bläue vermochte mir Geist und Herz nicht zu erheitern wie sonst. Ein trüber Schleier schien sich mir über die herrliche Natur zu breiten, mein Geist weilte hoch im Norden, in der weiten, von Kiefern- und Tannenwäldern durchzogenen Ebene, die der Spiegel des Haffs begrenzt, und alle Empfindung meines Herzens gehörte dem Mann, der dort seinen Lebenslauf voll froher Hoffnung in einem Schloß begonnen und ihn fern von der Heimath im Krankenhaus, mit sich und seinem Schicksal versöhnt, beendet hatte, der lange Zeit für mich und die Welt ein Todter gewesen war, bis er gleich einer Erscheinung bei jenem einsamen Wärterhäuschen vor mir auftauchte, und der mich nun zur Vollstreckerin seines letzten Willens gemacht hat, welchen ich hiermit erfülle.




Ein deutsch-böhmischer Dichter.

Auf einer Fahrt von Dresden nach Prag war es, in schöner Sommerszeit. Der Eisenbahnzug führte durch blühende Auen, durch herrliche Fruchtgefilde, und entzückt hing mein Auge an den schönen Landschaftsbildern, die nur zu schnell vorüber zogen. Einer meiner Reisegefährten hatte sehr bald das rege Interesse erkannt, welches das schöne Böhmerland in mir erweckt hatte, und mit liebenswürdiger Zuvorkommenheit nannte er mir hier die Namen der Städte, dort der Flüsse und Berge. Längere Zeit schon waren wir so an lebhaftem Gespräch gefahren, als mein freundlicher Lehrmeister plötzlich ernst wurde und nach einem Friedhof hinüber deutete, an dem wir soeben vorbei führen. „Dort ruht meine Mutter,“ sagte er, und seine Stimme zitterte leise. Diese Bemerkung veranlaßte nun zu verschiedenen Fragen, und da ergab sich denn zu unser beider Ueberraschung, daß wir uns durch unsere Schriften seit lange kannten und bereits manchen Brief mit einander gewechselt hatten – ich saß Anton Ohorn gegenüber, dem feinsinnigen Dichter, dem gemüthvollen Erzähler, dem warmherzigen Patrioten! Damit erklärte sich mir auch die tiefe Erregung, von welcher der Dichter erfaßt worden war, als er – nach Jahren – das Grab seiner Mutter wieder einmal erblickt hatte. Denn die außergewöhnlichen Lebensschicksale Ohorns hatten ihren letzten Grund in einem Wunsche der Mutter; die schweren und langen Kämpfe, die der Dichter durchmachen mußte, erwuchsen vornehmlich aus der Liebe, von welcher der Sohn zu seiner Mutter erfüllt war.

Die Eltern Anton Ohorns lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen; der Vater war lange Jahre Unteroffizier, zuletzt in Theresienstadt, wo auch der Dichter am 22. Juli 1846 geboren wurde, und dann Subalternbeamter in Böhmisch-Leipa, das als die eigentliche engere Heimath Anton Ohorns betrachtet werden muß, da er hier von 1851 ab seine ganze Jugendzeit verbrachte. Die Mittel für die Ausbildung des geweckten Knaben flossen mithin nur kärglich; trotzdem wurde es ermöglicht, daß er nicht nur die sogenannte Hauptschule, sondern auch das Gymnasium zu Leipa bis zu Ende besuchen konnte. Doch auf die ernste Gymnasialzeit folgten keine heiteren Studentenjahre – es war der heiße Wunsch der Mutter, der Sohn möchte sich dem geistlichen Stande widmen, und der Jüngling unterdrückte seine Sehnsucht nach einer freieren Betheiligung am geistigen Leben der Gegenwart, suchte die Träume, die ihm bereits leuchtende Bilder von Liebesglück und Dichterruhm vorgegaukelt hatten, zu verscheuchen und trat in das Prämonstratenserstift Tepl. Hier und in Prag widmete er sich eifrig theologischen Studien und empfing darauf 1870 auch die Priesterweihe. Der Abt, welcher die hervorragenden geistigen Fähigkeiten des jungen Klerikers bald erkannt hatte, wünschte aber nicht, daß Ohorn die gewöhnliche Priesterlaufbahn einschlage, sondern suchte ihn für das Lehrfach zu gewinnen; Ohorn promovirte daher im Februar 1872 in Prag zum Doktor der Philosophie und sollte nun demnächst die Stelle eines Professors an dem unter dem Orden stehenden Staatsgymnasium zu Pilsen erhalten, als er die Nachricht vom Hinscheiden seiner Mutter empfing. Aufs neue brach nun ein Sturm in seinem Innern los, und das Ende war, daß Ohorn jetzt, da die Rücksichten auf die Empfindungen der Mutter ihn nicht mehr banden, mit dem kühnen Wagemuthe der Jugend seine Fesseln zerriß, seine gesicherte und geachtete Stellung aufgab und im Sommer 1872 ohne Mittel, ohne Freund und ohne Aussicht für die Zukunft aufs Gerathewohl nach Deutschland ging. „So stand ich,“ sagt er in Erinnerung an jene schwere Zeit in dem Gedichte „Auf der Wartburg“:

„So stand ich unter Deutschlands grünen Bäumen,
Allein, verlassen, ohne Glück und Stern,
Allein mit meines heißen Herzens Träumen,
Von jedem Ziele noch so weit und fern:
Und bang und bänger fühlt’ ich’s in mir schwanken
Beim Sturm und Drang der eigenen Gedanken.“

Doch bald sollte sich sein Geschick wieder freundlicher gestalten; Eduard Tempeltey, der bekannte liebenswürdige Dichter, an den er sich gewandt hatte, nahm sich seiner freundlich an und vermittelte eine Audienz beim Herzog Ernst von Sachsen-Koburg-Gotha, die entscheidend für Ohorns ferneres Leben wurde. Der Herzog wendete ihm sein ganzes Wohlwollen zu und empfahl ihn dem herzoglichen Ministerium in Gotha. Ohorn ging daher dorthin und gewann sich in dem Ministerialrath Samwer, dem berühmten Kanzelredner Karl Schwarz, dem Oberschulrath Möbius, dem Hofprediger Schweitzer und im nahen Siebleben in Gustav Freytag rasch Freunde und Gönner.

Eine Stellung freilich wollte sich für ihn vorläufig noch nicht finden. Dagegen bot sich ihm oft Gelegenheit, im Umgang mit den geistvollen Männern sich eine neue abgeklärte Weltanschauung zu bilden, worauf er im Spätsommer 1872 in der Schloßkirche zu Gotha zum Protestantismus übertrat. Bald darauf wurde er als Lehrer an die höhere Töchterschule in Mühlhausen in Thüringen berufen, wo er sich nun auch einen eigenen Herd gründete, indem [883] er sich 1873 mit Julie Löschner, der Tochter eines österreichischen Beamten in Auscha, vermählte. Er erwarb sich damit eine treue Genossin fürs Leben, die auch seinen dichterischen Bestrebungen ein warmes Interesse und ein tiefes Verständniß entgegenbrachte und durch ihre rege Antheilnahme gar manche Schöpfung fördern half.

Ein Jahr später siedelte Ohorn als Oberlehrer an die höhere Töchterschule nach Chemnitz über und trat dann 1877 in den Lehrkörper der technischen Staatsanstalten daselbst, wo er noch jetzt als Professor für deutsche Sprache und Litteraturgeschichte erfolgreich wirkt.

Anton Ohorn.

Seine litterarische Thätigkeit begann Ohorn schon sehr früh. Bereits in der Klosterzelle schrieb er eine Novelle „Der Dorfengel“, dann folgten in bunter Reihe Epen, Romane, Novellen, Dramen und lyrische Gedichte. In fast allen diesen Dichtungen giebt das schöne Böhmerland den Hintergrund ab, und den Inhalt bilden wiederholt die Kämpfe, welche in den böhmischen Thälern um Licht und Freiheit ausgefochten wurden. Nicht selten schreitet der Dichter auch bis in die Gegenwart vor, und dann erhebt sich seine Stimme zum begeisterten Nationalgesange. Weithin wurde es gehört, als er den so schwer bedrängten Landsleuten zurief:

„Getrost, ihr Deutschen bleibt am Steuer,
Ob’s auch wie Sturmwind euch umfliegt,
Das Böhmerland, so lieb und theuer,
Es ist mit seiner Zukunft euer;
Die Bildung ist’s, die endlich siegt.“

Wir heben von den Epen besonders "Die Tochter Judas“, „Die Madonna“ und „In tschechischen Wettern“ hervor. Die erstgenannte Dichtung führt in das düstere Prag Rudolfs II., wo es bei dem unversöhnlichen Glaubenshasse zu entsetzlichen Ereignissen kommt; das Epos „Die Madonna“ entrollt dagegen eine sonnige Künstlergeschichte, in welcher der Dichter ein Liebesidyll mit großer Anmuth schildert; „In tschechischen Wettern“ behandelt den großen Kampf der deutschen Professoren und Studenten gegen wie Hussiten, der bekanntlich schließlich 1409 mit der Auswanderung der Studenten nach Leipzig endete. Der Dichter entwirft hier eine Reihe farbenprächtiger Bilder und charakterisiert dabei den tschechischen und den deutschen Geist in packend scharfer Weise. Huß selbst wird in eine ganz andere als die bisher übliche Beleuchtung gerückt.

Von Ohorns Romanen muß in erster Linie „Der Klosterzögling“ hervorgehoben werden, wo Selbsterlebtes in poetischem Lichte erscheint, sodann der historische Roman „Es werde Licht!“, welcher eine Verwicklung aus der Reformationszeit behandelt und die Kulturzustände jener großen Epoche überaus anschaulich schildert. Auch die Novellensammlungen „Im Lotto des Lebens“ und „Wie sich Herzen finden“ müssen als anmuthige und feinsinnige Schöpfungen genannt werden.

Als Dramatiker hat sich Ohorn in dem leicht und gewandt aufgebauten einaktigen Lustspiele „Komm den Frauen zart entgegen“ und den Schauspielen „Der Uhrmacher von Straßburg“ und „Fürst und Bürger“ versucht. Alle drei Stücke sind wiederholt mit Erfolg über die Bühne gegangen.

Sein tiefstes Denken und Empfinden offenbart Ohorn aber in der Sammlung seiner Gedichte, die er unter dem Titel „Heimchen“ im Verlage von Ernst Keils Nachfolger in Leipzig herausgab. Hier flammt seine Vaterlandsliebe sowohl in rauschenden Festgesängen empor wie in scharfen Zornesliedern; hier erschließt er auch die innersten Falten seines Herzens und klagt um den Verlust eines geliebten Kindes, oder er preist die Gattin, die seines Lebens Sonnenschein; ihr, der „Frau Julia“, ist das Büchlein zugeeignet. Auch für die Schönheit der Natur begeistert er sich; mit echtem Poetensinn weiß er den Zauber des Waldes, die Wonne der Pfingstzeit, die Heiligkeit der Weihnacht zu erfassen und in dichterische Schöpfungen umzusetzen.

Bei so reicher und vielseitiger poetischer Thätigkeit ist denn auch der Name Anton Ohorns vor allem im ganzen Böhmerland, überall, wo Deutsche wohnen, einer der bekanntesten und gefeiertsten geworden; er ist einer der bedeutendsten der jetzt lebenden deutsch-böhmischen Dichter, dessen Lied überall in Böhmen verlangt wird, wo die Begeisterung für die deutsche Sache angefacht werden soll, dessen Zuversicht auf eine bessere Zeit die zagenden Herzen mit neuen Hoffnungen erfüllt. Er selbst sieht gerade in diesem Erfolge seinen schönsten Lohn; es macht ihn mit Recht glücklich, daß er einer der vornehmsten Pfleger deutschen Geistes und deutscher Poesie in Böhmen geworden ist. Ludwig Salomon.




Ueberraschungen.

Eine Weihnachtserzählung von Victor Blüthgen. Mit Abbildungen von W. Claudius.
(Schluß.)


Ein einziges Mal hat man das Dienstmädchen zu Billa hinaufgeschickt, sie möge zum Kaffee und zur Kuchenprobe herunter kommen.

„Fräulein ist nicht da, aber die Lampe brennt,“ ist der Bescheid, den das Mädchen zurückbringt.

„Wir wollen sie nur lassen,“ meint Frau Busse. „Am Ende hat sie noch einen kurzen Gang in der Stadt gethan; die Handwerker werden ja Weihnachten mit den Aufträgen gewöhnlich erst in der letzten Stunde fertig, und dann muß man sie noch drängen.“

„Es ist nur, daß sie nicht zur Unzeit herunter kommt. Dreiviertel acht schicke jedenfalls noch ’mal hinauf und laß ihr sagen, [884] sie soll so lange oben bleiben, bis sie gerufen wird; Erich würde hinauf kommen und sie begrüßen.“

Dreiviertel acht geht dann also Annemarie hinauf. „Es ist wieder niemand oben zu sehen, die Lampe brennt noch immer,“ berichtet sie abermals.

„Das ist dumm,“ brummt Busse ärgerlich. „Wenn uns der Teufel ein Bein stellt, kommt sie gerade aus der Stadt, während die Jungens draußen halten. Nun kommt man aus der Unruhe nicht heraus. Wird das mit der Ueberraschung nichts, dann ist mir der ganze Abend verdorben. Hast Du denn alles soweit fertig, Lotting?“

„Du kannst Dir’s ansehen – Deine Sachen habe ich noch nicht aufgelegt.“

Und Bussens gehen beide in den Saal. Da steht beim Scheine einer Lampe der Quertisch mit dem noch dunklen, flimmernden und funkelnden Baum, rechts und links herlaufend zwei weißgedeckte, vollbelegte Längstische; in dem eingeschlossen Raum aber, hart unter dem Weihnachtsbaum, ein Korblehnstuhl, mit einer Guirlande geschmückt . . .

„Ein Hauptspaß!“ sagt Vater Busse händereibend. „Das ist ein zu netter Einfall von Dir, Lotting. Die Augen, die das alte gute Mädchen machen wird! So’n Glück und so’n Weihnachtspräsent! Weißt Du was, Lotting? Das nächste Mal lege ich ihnen eine hübsche Pachtung auf den Stuhl. Ich habe schon so was auf dem Rohr.“

„Jetzt müssen sie doch jeden Augenblick kommen,“ meint die Mutter.

„Ich werde den Nette oder seine Frau aufpassen schicken; am Thor müssen sie ja die Billa abfangen.“

Er geht hinaus. Die Mutter faltet die Hände und sieht ihr Kind vor sich, das sie glücklich machen will. Im Hausflur hört man Busse rufen, dann mit Nette sprechen . . . ein fernes Klingeln . . .

„Sie kommen, glaube ich,“ ruft Nette von der Hausthür, und Busse, der eben wieder vom Flur her in den Saal treten will, läßt die Thür halb offen stehen und macht kehrt, und die Mutter lacht über das ganze energische und kluge Gesicht und bindet die Schürze ab.

Wahrhaftig! da hält das Klingeln an vor dem Hause, und es ertönen bekannte Stimmen: Erichs „Guten Abend auch, Vatting“ . . . eine andre Stimme, die gleichfalls nicht fremd ist, denn der Vater des jungen Landow war einst Verwalter auf dem gräflichen Vorwerk, eine halbe Stunde von Tempelwiese, gewesen und die Kinder hatten herüber und hinüber miteinander gespielt; Billa und der junge Landow sind eigentlich schon wer weiß wie lange halb verlobt. Und die Mutter tritt unter die Thür.

„Guten Abend, lieber Erich“ . . . „Guten Abend, Mutting“ . . . „Nein, wir brauchen nicht so leise zu sprechen, Billa muß in der Stadt sein . . . nun, sei mir als Sohn willkommen, mein guter Adolf; das Glück macht ja niemand todt, sonst hätte ich Angst, unsre Bescherung könnte schlecht ablaufen. Das Mädchen hat sich gehabt die Zeit her, daß es einen gejammert hat . . . “

Sie waren alle im Komplott; nur Billa hatte nichts davon gemerkt, daß die Mutter endlich dem Vater die Zustimmung zu der Verlobung abgerungen hatte, daß man ihr einen Bräutigam bescheren wollte! Die Mutter führte den großen starken Menschen, der an ihrem Arm zitterte, in den Saal zu dem bekränzten Korbstuhl. „Nun setz’ Dich, sprich nichts, steh’ nicht wieder auf! Du bist ein Geschenk, ein Packet!“

Erich drückte ihn lachend in den Stuhl; „jetzt eine Stolle in den Schoß,“ sagte er. Er war noch der reine Corpsstudent, schlank und hübsch, mit Schmarre und Schnurrbärtchen, wie sich’s gehört. Landow legte den Hut in den Schoß und strich sich über das schwarze Schlichthaar und drehte an den Schnurrbartenden, und in den treuherzigen braunen Augen glänzte es feucht.

„Herrgott, Erich, dreh Dich herum! Junge, Du siehst ja alles“ – die Mutter schob ihn selber herum und auf die Wohnzimmerthür zu. „Karl, Du auch – marsch, hinaus, ich will für Dich aufbauen. Sowie Billa kommt, kann’s losgehen. Mein Theil könnt Ihr später aufbauen oder als Julklapp werfen!“

Landow zog die Handschuhe aus und warf sie in den Hut; er lächelte bewegt zu der Mutter „seiner Braut“ empor, reden durfte er nicht, sie auch nicht. Dann und wann nickten sie einander zu; einmal fuhr sie ihm streichelnd über die braune Wange. Ein derbes, verständiges, gutes Gesicht hatte er!

Im Zimmer nebenan plauderten Vater und Sohn. „Das einzig Vernünftige, was Ihr thun konntet,“ lautete die Ansicht des letzteren, wogegen Busse mit der gehörigen Zurückhaltung meinte:

„Mag’s denn sein, ein Unglück ist’s nicht, aber es kann mich eine Masse Geld kosten. Die Landwirthschaft nährt heute wohl noch kleine Bauern; große Güter kaufen ist eine Luxussache für Leute wie Lieutenant von Zabern, und bei Pächtern kommt alles auf die Pachtsumme, auf das, was einer hineinzustecken hat, auf gute Jahre und auf den Mann selber an. Als alter Landmann überlegt sich das einer, ehe er seine Tochter in solche Verhältnisse bringt. – Aber wo bleibt nur die Billa? Jetzt wird mir das doch zu toll! Es ist ja wohl schon halb neun.“

Der Referendar hatte plötzlich ein unbehagliches Gefühl, als ob in betreff Billas etwas nicht richtig sei.

„Entschuldige mich, Vater, ich will doch mal in ihr Zimmer hinaufgehen. Ist denn heute etwas Besonderes mit ihr vorgefallen?“

„Wieso? – Du glaubst doch nicht – sie war heute früh höllisch aufgeregt und hat noch einmal einen letzten Sturm auf mein Vaterherz versucht, daß ich nahe dran war, mit unserem Geheimniß herauszurücken und auf die Ueberraschung zu verzichten. Aber unserer Mutter wegen wollt’ ich das doch nicht . . . “

Vater Busse blickte ziemlich betreten drein, Erich auch. Der Referendar verließ ohne ein Wort weiter das Zimmer und eilte treppauf. Dem ersten Blick verrieth nichts in Billas Stube auch nur die leiseste Andeutung, was geschehen war. Ruhig brannte die kleine weiße Porzellanlampe auf dem Tisch. Aber Erich ging näher – da sah er den geschlossenen Brief, und er bekam plötzlich Herzklopfen.

„An meine Eltern.“

„Allmächtiger Gott, das unselige Geschöpf – nur nicht das Schlimmste – nicht das Letzte!“

Er riß den Umschlag auf.

„Liebe Eltern! Vergebt mir, wenn ich thue, was mich mein Herz thun heißt. Ich bin auf der Reise, wenn Ihr diese Zeilen lest, und ich werde ohne Adolf nicht zurückkehren. Nie! Ich habe nur ein Ziel, welches ich jetzt verfolgen werde, nämlich die Seine zu werden. Ich bin so elend, daß ich es in diesem Zustande innerlich nicht länger aushalte. Nie habe ich stärker gefühlt als in diesen Tagen, wie ich für alle Freude abgestorben und krank bin. Vergebt: ich konnte das Weihnachtsfest, das Fest der Freude und der Liebe, nicht mit Euch feiern, es war mir unmöglich; ich kann nicht heucheln, nicht das Fest der Liebe entweihen – Liebe –? Ihr habt wohl kaum noch welche zu mir, sonst hättet Ihr nicht so rauh und hart meinen Jammer zurückgestoßen. Adolf wird für mich sorgen – bei ihm wohnt die Liebe, nach der mein ganzes Herz verlangt. Ich kann keinen andern Gedanken denken als – ihn! Sucht nicht nach mir – Ihr werdet mich nun ja doch wohl verstoßen. Wenn Ihr könnt, vergebt mir! Adolf wird beweisen, daß er imstande ist, mir eine Stellung in der Welt auch ohne Eure Hilfe zu schaffen; vielleicht nehmt Ihr dann wieder auf

Eure unglückliche Tochter
Billa.“

Ein Stein fiel dem Referendar vom Herzen. Und plötzlich schlug er ein helles und herzliches Lachen auf – er fiel in einen Stuhl und lachte weiter. „Dieses Teufelsmädchen, diese Billa . . . Ja, alle Wetter, aber was wird denn nun? Was werden die Alten unten sagen? Das dürfen sie auf keinen Fall erfahren!“

Er faltete den Brief zusammen und schob ihn in die Tasche.

„Sicherlich ist sie mit der Bahn gefahren – mit meinem Zuge nicht, sonst hätte ich sie auf dem Bahnhof gesehen, also entgegengesetzt; das kann nur mit dem Sechsuhrzug geschehen sein. Und wer soll sie anders nach dem Bahnhof geschafft haben als der Pötter? Man muß bei ihm nachfragen, er wird ja mit der Sprache herausrücken – schwerlich hat sie ihn ins Geheimniß gezogen.“

Er nickte und ging lachenden Mundes zum Vater hinab ins Zimmer.

„Weißt Du, was ich glaube? Sie ist mir entgegen gefahren.“

„Na nu? Davon hätte sie doch wohl etwas gesagt!“

„Oho – nachdem sie sich mit Dir erzürnt hatte? Da kennst Du doch Billa! Gieb acht, ich habe recht, jedenfalls gehe ich mal jetzt zum alten Pötter, mit einem andern kann sie ja nicht gefahren sein – da werde ich hören, ob ich recht habe.“

„Aber, Junge –“

„Bitte, laß mich, Vater!“

[885]

„Allmächtiger Gott,“ rief Erich, „das unselige Geschöpf!“

Er ging auf den Flur, griff zu Ueberzieher und Pelzmütze, pfiff dem Hunde und stürmte in den Nebel hinaus. „Ist sie wirklich mit dem Zuge abgefahren, dann muß ich sehen, wie ich die Sache einfädele,“ murmelte er bei seinem eiligen Gang.

Während die Zurückbleibenden die Köpfe schüttelten, Vermuthungen tauschten und nebenher horchten, um das Klingeln des Schlittens zu hören, der Billa etwa zurückbrächte – man konnte einander ja in der That möglicherweise verfehlt haben – durchmaß der Referendar den Weg bis zu Pötters. Dort erhielt er von der Frau des alten Fuhrmanns alsbald erschöpfende Auskunft.

„Natürlich; mein Mann hat sie mit dem Schlitten nach der Bahn gefahren. Sie hat was von einer Ueberraschung gesagt, zu Hause sollte niemand was davon wissen.“

„Wann sind sie abgefahren?“

„Um vier; ich habe ihr noch den Schlitten voll Decken gepackt.“

„Ja, dann müßte doch das Fuhrwerk lange zurück sein!“

„Wohl, das ist mir auch sonderbar. Es wird ihnen doch nichts zugestoßen sein? Alt-Pötting wird jetzt manchmal recht schwach im Kopfe; er ist ja all stark in den Jahren!“

Dem Bruder wurde wieder schwül. Immerhin hatte die Sache auch ihre tröstliche Seite: nahe genug lag die Hoffnung, daß irgend ein Zufall die Hinfahrt unterbrochen habe.

„Könnte Alt-Pötting wohl falsch gefahren sein?“ fragte Erich, einem plötzlichen Einfall folgend, die Frau.

„Ja, das wäre möglich; einmal ist er schon gegen Abend gefahren, da ist der Schimmel auf den Weg nach Tempelwiese abgebogen, weil er den mehr gewohnt ist als die Chaussee. Vater fuhr dazumal einen Reisenden, und der hat ihm alle Donnerwetter auf den Kopf geflucht, weil er darum den Zug verpaßte.“

Erich schnippte in die Luft.

„Na, Mutting, dann muß ich der Sache mal nachgehen. Ihren Haken hat sie freilich auch noch. Halb fünf wären sie in Tempelwiese gewesen – um fünf wieder auf der Chaussee – möglicherweise hätten sie noch zum Zug zurechtkommen können, und jetzt, halb neun, müßte der Alte doch wieder hier sein! Kann er wohl die Absicht haben, die Nacht drüben zu bleiben?“

„Das würde er schwerlich thun, wenn ihm nicht was ganz Besonderes begegnet.“

„Gute Nacht einstweilen, Mutting; ich forsche jedenfalls nach, wo sie geblieben sind, und Ihr bekommt Nachricht.“

„Gute Nacht, junger Herr!“

Erich verließ das Häuschen und ging ein paar Straßen weiter. Da lag die Post, die Postmeistersleute waren jedenfalls um den Weihnachtsbaum versammelt. Der Referendar ließ den befreundeten Postmeister in die Wirthsstube bitten, die zur Post gehörte.

„Dewitz, wollen Sie uns einen großen Gefallen thun?“

„Immer zu!“

„Sie haben keinen Telegraphennachtdienst. Aber wollen Sie nicht trotzdem einmal nach der Bahnstation telegraphiren, ob dort heut abend der alte Pötter mit meiner Schwester zu Schlitten angekommen ist? Sie ist mir entgegengefahren, und kein Mensch weiß, was aus dem Fuhrwerk geworden ist.“

„Alle Hagel – ist nicht zurückgekommen? Natürlich telegraphire ich; das ist ja eine dumme Geschichte. Alt-Pötting und so’n Nebel, die passen schlecht zusammen. Warten Sie, ich will bloß meine Frau benachrichtigen.“

Der Postmeister telegraphirte. – „Werde nachfragen,“ telegraphirte man zurück. Und endlich wieder das Zeichen: „Hier weiß niemand etwas von dem Fuhrwerk.“

„Da haben wir den Salat und keine Fische!“ sagte der Postmeister. „Was nun?“

„Ich muß suchen. Ich muß zuerst in Tempelwiese nachfragen, ob der Gaul etwa dahin abgebogen ist.“

„Wollen Sie eins von meinen Pferden reiten, Erich?“

„Sehr freundlich, aber das könnte bei dem Nebel für mich und für das Pferd schlecht ablaufen. Wissen Sie was, Dewitz? Geben Sie mir Ihre Wasserstiefel und Ihre Flinte.“

* * *

Der Schlitten mit Alt-Pötting und Billa war eine Weile flott auf der Chaussee hingeflogen. Vorn baumelte eine Laterne – zu sehen war nichts als ein kleines Stück Weg, das heißt Schnee mit Wagen- und Schlittenspuren. Der Alte vorn sprach nichts, Billa sprach auch nichts. Eine Art Ermüdung war nach den Aufregungen des Tages über sie gekommen, nur einen drängenden Zug nach vorwärts – weiter – zum Ziele fühlte sie. In den vielen Decken war ihr warm, und sie schloß die Augen.

„Na, Fräulein, sind Sie denn nun auch warm?“ fragte plötzlich die schläfrige Stimme des Alten. Er hatte den Kopf zu ihr umgewandt und ließ das Pferd mit lockerem Zügel gehen.

„Ja, Pötting, ich sitze wie am Ofen.“

„Na, dann ist das ja gut. Meine Alte war sehr in Sorge, daß Sie sich verkühlen könnten. ‚Sie wird ja wohl nichts Recht’s mitnehmen,‘ sagte sie, ‚von wegen der Ueberraschung, und weil Du bei Schneiders halten sollst, da sollen sie so wohl zu Hause auch nichts davon wissen, und wo soll das Kind da die Decken bis zu Schneiders bringen.‘ – Jü, Schimmel – nee, was ist das für ein holpriger Weg! Da kann eins ja umschlagen mit dem Schlitten, man weiß nicht wie! Erst ging das doch so gut! Aber so ist das mit den Chausseen, da kratzen sie über den ganzen Sommer den Dreck auf die Seiten, und wenn das friert – hopp! na nehmen Sie ’s nicht übel, ich muß da ein bißchen aufpassen.“

Der Weg war jetzt in der That für eine Chaussee merkwürdig ausgefahren. Die Laterne schlenkerte vorn wie besessen,

„Pötter! Seid Ihr’s?“

[886] Alt-Pötting schüttelte mit dem Kopf und Billa war alle Augenblicke genöthigt, sich mit beiden Händen an die Schlittenwände zu klammern. Eine unbehagliche Besorgniß bemächtigte sich ihrer, wie das so schleuderte und auf und nieder ging, bald hier hoch, bald da hoch, rechts – links – hinten – vorn. Sie besaß sicherlich Muth; aber hier brachte jeder Augenblick Ueberraschungen und den Schein einer neuen Gefahr.

„Pötting, soll das wohl auch der richtige Weg sein?“

„Wo wird er nicht, Fräulein! Auf der offenbaren Chaussee kann doch kein Mensch fehlen, wenn er acht giebt, und ich hab’ ja all immer aufgepaßt. Hopp – das ist doch rein toll, da hätte der alte Schlitten doch um ein Haar umgeworfen.“

Sie hielt standhaft aus und versuchte, aus den am Wege stehenden Bäumen, gegen welche der Schlitten ein paarmal derb anschlug, auf die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Weges Schlüsse zu ziehen. Allein aus diesen schattenhaften Gebilden war in der dicken Nebelluft nichts Rechtes zu machen; es waren eben Bäume, deren gab es aber auch an Feldwegen.

„Nu kommt das ja besser,“ meinte jetzt der Alte vorn und zog den linken Zügel an. In der That war da eine Art glatterer Weg, den der Schimmel nach einem gemächlichen Peitschenhieb einschlug. „So, nu sind wir zurecht,“ versicherte Alt-Pötting treuherzig und befriedigt. „Sie können da ganz ruhig sein, Fräulein! Ich bin ja den Weg hundertmal gefahren, zu allen Tages- und Nachtzeiten und auch zu allen Jahreszeiten. Freilich, wenn ein Mensch nicht Bescheid weiß, dann soll er das bei dem alten ekligen Nebel wohl sein lassen!“

Hopp – da ging es wieder an wie vorher, nur noch viel ärger. Billa war bald außer Zweifel, daß der Schlitten auf Sturzacker fuhr. Der Schimmel stolperte einmal über das andere, fiel in die Kniee und raffte sich wieder auf … Billa stieß einen Ruf des Erschreckens nach dem andern aus; jetzt: „Ach Gott, ach Gott!“ – die eine Kufe war in einen überschneiten Graben hinabgerutscht, die eine Schlittenwand hob sich, und da lag die Bescherung!

„Brr – brrr!“ Der Alte rappelte sich auf und stieß ein paar kräftige Flüche aus; der Schimmel wollte weiter und ließ sich nur mit Mühe halten.

„Pötting, Pötting, was macht Ihr . . . !“ Billa hatte just keinen Schaden davongetragen, sie hatte sich bereits aus den Decken gewickelt, stand auf den Füßen und stäubte den Schnee ab. So dicht war dieser häßliche Nebel, daß sie kaum die verstreuten Gegenstände richtig zusammenfinden konnte.

„Je ja,“ nickte der Alte, „nun glaube ich das beinahe selber, daß das nicht stimmt. Da soll doch der Teufel dreinschlagen. Ich weiß nur gar nicht, wie wir von der Chaussee abgekommen sind!“

„Aber wo sind wir hier? Ich komme ja nicht zum Zug nach der Bahn!“ jammerte Billa verzweifelt.

„Na, so schlimm wird das wohl nicht werden,“ war die zuversichtliche Antwort. „Steigen Sie nur wieder ein, Fräulein, und machen Sie sich alles gut zurecht. Aus der Gegend da sind wir ja doch gekommen; und wenn wir nun wieder dahin zurückfahren, dann müssen wir all wieder auf die Chaussee kommen, und so weit ist das doch auch nicht ab.“

Ihr war das Weinen sehr nahe; nebenher war sie versucht, zu glauben, der Alte sei nicht ganz nüchtern.

„Nein, Fräulein, so was müssen Sie nicht glauben,“ versetzte der merklich gekränkte Alte auf eine dahinzielende Aeußerung. „Ich habe wohl heute nachmittag so ’nen lütten Schuß zu mir genommen, aber das vertrage ich, das thue ich immer, und zuviel trinke ich nie.“

Sie gab ihren Verdacht auf, setzte sich zurecht, und Alt-Pötting machte mit dem Schlitten kehrt und fuhr wieder zurück. Er ließ den Schimmel langsam gehen und achtete auf die Spur, die sich bei der Herfahrt gebildet hatte. Billa beruhigte sich. Nach einer Weile kam das Gesicht des Alten wieder herum:

„Das ist mir doch neulich so gegangen, daß ich nicht aufgepaßt habe und daß der Schimmel bis nach Tempelwiese abgedrusselt ist. Da wußte ich natürlich Bescheid! Freilich war das auch ’ne stockfinstre Nacht.“

„Paßt lieber auf, Pötting, daß wir nicht von der Spur abkommen!“

„He – Sackerlot, da müssen wir wieder umkehren, da sind wir richtig wieder abgekommen.“

Er wollte rasch umlenken, aber er hatte die Rechnung ohne den Schimmel gemacht. Dem kamen die Zügel unter den struppigen Schweif – und war es dies oder eine störrische Anwandlung: kurz, er trottete unverdrossen vorwärts, und je schärfer der Alte den Zügel anzog, je kräftiger er die Peitsche brauchte, desto mehr griff das Roß aus. So ging es eine ganze Weile weiter.

Billa fing an zu schluchzen: „Wir kommen nicht heraus aus diesem Nebel!“

Der Alte schien sich in die Lage gefunden zu haben. „Das brauchen Sie nicht zu glauben; ich lasse den Schimmel laufen und halte immer nach links, dann ist das ja nicht anders möglich, wir müssen auf den Weg kommen, den wir von der Chaussee abgefahren sind, das ist doch ganz klar.“

Er fuhr fort, den linken Zügel anzuziehen.

„Fräulein,“ rief er nach einiger Zeit lebhafter als sonst, „nun haben wir wieder Spur, nun hat’s keine Noth; das ist ’ne ganz frische Spur, das ist unsre. Nun fahre ich wieder gerade aus. Wir müssen gleich auf den Weg kommen.“

Aber sie kamen auf keinen Weg, obwohl Billa zuweilen halten ließ und sich überzeugte, daß sie wirklich die frische Spur vor sich hatten. Plötzlich zog sie die Uhr.

„Allmächtiger Gott, es ist gleich sechs Uhr! Meine ganze Fahrt ist umsonst!“

„Ja, ist das richtig? Dann ist das freilich schlimm. Das thut mir aufrichtig leid, Fräulein. Aber ich weiß nicht, das ist doch rein wie verhext. Das muß doch ein Weg hier sein; da sind ja doch mehr Spuren . . . “

„Haltet an, Pötting; wir wollen rufen, vielleicht hört uns jemand, der uns auf einen Weg bringt.“

„Ja, das wird wohl das Beste sein.“

Der Schlitten hielt; man horchte – nichts zu hören. Rings die Nebelnacht, nur das Lichtfleckchen, welches die Laterne gab, ließ etwas erkennen, nur wenige Schritte weit, dann erstickte der Schein in braunem Dunst. Das Pferd war ganz voll Reif und dampfte; Billa saß mit finsteren gerötheten Augen, steif und frostig zusammengezogen, ihre Pelzsachen waren bereift. Alt-Pötting schloß die Fausthandschuhe vor dem Munde zusammen und grunzte hindurch, so laut er konnte: „Heda!“

„Hilfe!“ rief Billa.

Kein Laut!

„Das Beste ist schon, wir fahren die Spur weiter,“ meinte Pötter. „Einmal müssen wir ja doch auf richtigen Weg kommen. Es giebt doch soviel Wege in der Gegend.“

Und der Schimmel zog wieder an.

Billa fror und weinte vor sich hin. Eine grauenhafte Angst überfiel sie. War das eine Strafe des Himmels für ihre Flucht? O Gott, welch eine Weihnacht – die Leute standen in warmen Stuben um Christbäume und Geschenke, und sie – und sie . . .

Sie sah nach der Uhr, wieder, immer aufs neue. Eine Viertelstunde nach der anderen rückte vor, es wurde sieben, es wurde acht, es wurde halb neun. Sie war so erstarrt, daß sie die Uhr kaum mehr zu handhaben vermochte. Alt-Pötting fuhr mechanisch weiter, dann und wann Unverständliches brummend. Keines von beiden sprach ein Wort. Was auch? und mit diesen steifen Lippen . . .

Da – ein Schuß – ein Ruf, o Gott, ein menschliches Wesen! Ein ferner, dumpfer Ruf, kaum durch die greifbar dicke Atmosphäre dringend. Dann wieder ein Schuß – Hundegebell und danach – ein ganz eigenartiger Pfiff.

„Erich!“ schrie das arme Geschöpf auf, schrill und durchdringend. Sie hörte das nachfolgende Hundegebell nicht mehr; sie hatte den Erkennungspfiff aus den Kinderjahren vernommen, und nun hatte sie nicht mehr nöthig, sich aufrecht zu erhalten. Ihr Kopf sank zur Seite und in tiefer Ohnmacht lehnte sie gegen das Korbgeflecht der Schlittenwand.

* * *

„Pötter! Seid Ihr’s?“ ertönte es aus dem Nebel und ein Lichtschein wurde sichtbar.

„Wohl!“

„Mit meiner Schwester?“

„Wohl, junger Herr! Der Teufel hat uns hier auf dem alten Felde ’rumgeritten. Guten Abend auch!“

„Na, Billa, Du darfst auch von Glück sagen!“

Aber Billa antwortete nicht.

[887] „Herrgott,“ sagte Erich tödlich erschrocken, „das Mädchen liegt ja wie todt da! Sie wird doch nicht . . . “ „Erfroren sein,“ schwebte ihm auf der Zunge.

„Das ist wohl von der Angst gekommen. Es war auch zu arg, daß wir uns da gar nicht und gar nicht ’rausfinden konnten! Sie hat doch eben noch Ihren Namen gerufen!“

Erich nahm hastig Schnee vom Boden und rieb die Schwester – endlich! Gott sei Dank! schlug sie die Augen auf, hing sich um seinen Hals und schluchzte zum Erbarmen.

„Du armes Ding, Du armes Ding!“ sagte er und hielt das dick vermummte Geschöpfchen in den Armen. „Du mußt ja rein erfroren sein, Dein Gesicht ist wie ein Eisklumpen. – Nun bloß keine langen Umstände machen, Pötter! Vorwärts nach Hause, an den Ofen . . . “

„Niemals, Erich –“ im Umsehen war sie zu ihrer ganzen leidenschaftlichen Gluth erwacht. „Ich kann nicht wieder zurück zu den Eltern! Du weißt nicht – bringe mich irgendwohin, Erich, wenn Du einen Funken Liebe zu mir hast, irgendwohin, wo sie von meiner Anwesenheit nichts erfahren. Da will ich Dir beichten – –“

„Ruhig, ruhig, Du Hitzkopf, ich weiß alles.“

„Nun, dann begreifst Du – der Brief . . . “

„Daß Du’s nur weißt: kein Mensch hat ihn gesehen als ich, und hier ist er. Riz – raz – nein, den hebe auf und zeige . . . Na, es ist doch besser so!“ Er zerriß den Brief in winzige Fetzen und warf diese weit umher. – Er war richtig im Begriff gewesen, aus der Schule zu schwatzen!

„Mein Gott – wirklich – Erich . . . “

„Ja ja, auf mein Wort. Ich habe das Schriftstück oben gefunden, habe indeß vorgezogen – bedanke Dich bei mir! – es nicht an seine Adresse zu befördern, vielmehr allen einzureden, Du wärest in Deiner bekannten Manier, ohne jemand etwas zu sagen, nach der Bahn gefahren, um mich abzuholen – von der alten Pötter erfuhr ich, daß der Schlitten noch nicht zurück wäre; von Dewitz, der rasch telegraphiren mußte, daß Ihr nicht an die Bahn gelangt; den Rest konnte ich mir an den Fingern abklavieren. Das sage ich Dir, an mir ist ein Polizeidirektor verloren gegangen, die Nase habe ich dazu. Also wir bleiben dabei: Du hast mich holen wollen; und im übrigen wirst Du als gerettetes Familienglied zu Hause mit Pauken und Trompeten empfangen werden. Nun aber los!“

Da stand Billa, weit vorgeneigt, mit starren Augen.

Er schob Billa sanft in den Schlitten zurück, nahm die mitgebrachte Laterne aus dem Schnee auf, um sie aushilfsweise neben der Schlittenlaterne weiter zu benutzen, gab Pötter das Gewehr vor und setzte sich neben der Schwester zurecht.

Alt-Pötting kutschirte und blieb wohlweislich stumm. Um ein Haar wäre er auf der Chaussee wieder in der verkehrten Richtung weiter gefahren, wenn nicht der Instinkt des Schimmels die Entscheidung übernommen und diesmal die Ehre seines Herrn gerettet hätte. Erich war voll Uebermuth und litt keinen Augenblick, daß Billa zum Gefühl ihrer fragwürdigen Lage kam.

Der Schlitten klingelte, und der Hund tauchte wie ein Gespenst im Nebel auf und verschwand wieder . . .

* * *

„Pötter, halten Sie hier! Du bleibst noch ein paar Augenblicke sitzen, Billa! Ich gehe voraus.“

Erich hob die schwer bestiefelten Beine hinaus, ließ sich das Gewehr reichen und schritt bis an die Gitterthür des elterlichen Grundstücks . . . klapp! schlug sie zu. Und nun klingelte er – und verschwand in der Hausthür.

Billa stieß einen herzbrechenden Seufzer aus.

Aber nun öffnete sich die Thür wieder. „Immer ’ran, Pötter!“ rief Vater Busse. Da kamen sie zu dreien ihr entgegen. „Siehst Du, das hast Du ’mal von Deinem Eigensinn, Lütting. Das geht Kindern so. Mutter, nimm sie nur rasch an den Ofen, daß das Kind aufthaut; wir werden dann ja wohl endlich zum Bescheren kommen. Und Ihr fahrt nach Hause, alter Krümper; ich schicke Euch eine Flasche Rum zum Grog nach, daß Ihr wieder zu Schick kommt. Eure Frau wird sich schön um Euch sorgen!“

„Ich weiß nicht, Herr Busse, das ist mir doch auf alle Fälle ein Räthsel . . . “

„Das wollen wir morgen mal zu lösen versuchen, das giebt ein Feiertagsvergnügen; nun fahrt nur zu! Guten Abend auch!“

„Und ein vergnügtes Fest, Herr Busse! Jü!“

Der Hund kam mit in das Haus und schob sich unverzüglich hinter den Ofen, und am Ofen stand das arme Geschöpf, die Billa, ausgeschält, frostschauernd, bleich und stumm, mit großen Augen, dem Weinen nähe, während ihr die sorgliche Mutter heißen Thee einfüllte.

Ihre Flucht vergebens! Sie eine Gefangene der Weihnachtslust, sie mit dem jammernden Herzen! Und die Mutterliebe schlug so warme Wellen um sie, und der Vater lachte [888] sie so natürlich glücklich an, und der Erich machte schlechte Witze . . .

„Na nu, Kinder, was wollen wir jetzt zuerst: essen oder bescheren?“

„Bescheren,“ sagte Erich. „Wenn ich mal anfange zu essen, dann wird das etwas lange.“

„Hast Du auch alles fertig, Mutter?“

„Alles.“

„Na, dann auf mit den Thüren! Hol’ Du Dir Dein Theil zuerst, Billa!“

Und Erich schob sie vor sich her in den Saal.

Da stand Billa – weit vorgeneigt, mit starren Augen . . . ein Schrei, wie einer auf dem Schafott ihn ausstößt, dem „Gnade!“ zugerufen wird – und wie ein Gedanke flog sie auf den bekränzten Korbstuhl unter dem Weihnachtsbaum zu: „Adolf, mein Adolf!“ und da lag sie auf den Knieen, schluchzend, küssend –

Und Vater Busse im Hintergrunde schlang den einen Arm um seine Frau und fuhr sich mit der andern Hand über die Augen und sagte:

„Es war doch recht so, Mutter; so ist das doch eine schöne Sache! Und das Mädel ist ja rein toll auf ihn!“

* * *

Von jenem Briefe erfahren die Eltern nie etwas. Eine rechtschaffene Frau soll vor ihrem Manne keine Geheimnisse haben, aber . . . selbst Herr Adolf Landow bekam erst nach Jahren davon zu wissen . . .

Und daß der junge Haushalt ihm zuviel koste, den er ein Jahr später begründen half, hat Herr Busse gegen niemand behauptet . . .

* * *

Weshalb Alt-Pötting trotz seines Spurfahrens auf keinen Weg kam? Am Weihnachtstage war der Nebel weg und die Männer untersuchten die Sache; der Gute war einfach immer auf seiner eigenen Spur im Kreise herumgefahren!





Junggesellen im Alterthum.

Von Dr. Otto Schantz.
( gemeinfrei ab 2029)
[889]

Am Sylvesterabend.
Zeichnung von R. Gutschmidt.

[890] ( gemeinfrei ab 2029)


Blätter und Blüthen.

Christnacht der Bergleute. Zu dem Schönsten, was das sagenreiche steirische Hochland uns erzählt, gehören unstreitig die Sagen des Knappenvolkes. Aus dem Eisenerzer Gebiet in der Nähe von Leoben stammt die hübsche Mär von jenem liederlichen Knappen, den die zürnenden Berggeister wieder einem rechten Lebenswandel zugeführt haben. Während Weib und Kind daheim darbten, brachte der leichtsinnige Geselle jede freie Stunde in der Schenke zu. So kam er auch einmal in der Christnacht in betrunkenem Zustande heim zu den Seinen. Er begann alsbald mit seinem Weibe, das ihm seine strafwürdige Lebensweise vorhielt, zu streiten und rief so einen recht stürmischen Auftritt hervor, welcher schließlich damit endete, daß der Knappe seine Grubenlampe anzündete, das Haus verließ und dem Erzberg zuwanderte. Dort begann der Bergmann in der grabesstillem Grube seine Thätigkeit. Eine Stunde mochte er schon gearbeitet haben, als er – Mitternacht mußte nahe sein – neben sich ein Rascheln und Flüstern hörte und plötzlich aus der Felswand winzige Bergleute herauskommen sah. Eines dieser gnomenhaften geheimnißvollen Männchen forderte seine Kameraden auf, Messer zu holen, und diese verschwanden rasch. Den Bergknappen aber erfaßte qualvolle Todesangst; er ließ vor Schreck die Grubenlampe aus seinen zitternden Händen fallen, so daß ihn tiefste Finsterniß umgab.

Daß die Bergmännchen die Entweihung der heiligen Christnacht schwer bestrafen würden, wußte der Liederliche gar wohl. In seiner grenzenlosen Angst wendete er sich mit heißem Flehen dem Himmel zu und versprach reuig Besserung von dieser Stunde an, sofern die himmlischen Mächte ihn diesmal der Gewalt der erbosten Berggeister entzögen. Und seine Bitte fand Erhörung. Milder Lichtschein erhellte plötzlich den nächtigen Grubenraum und der Knappe bemerkte vor sich eine Leiter, welche nach aufwärts führte, die er jedoch früher, da seine Lampe noch brannte, nicht gesehen hatte. So schnell als ihn die wankenden Beine nur zu tragen vermochten, stieg er die Sprossen empor, höher und höher, bis er endlich über sich das sternenhelle Firmament leuchten sah … Aus der kleinen Dorfkirche herüber vernahm er die feierlichen Orgeltöne und das weihevolle Singen der Gemeinde, welche eben der Mette beiwohnte. In inbrünstiges Beten versunken, lag er an den Stufen des Kirchenthores, als die fromme Schar aus dem Gotteshause traf. Am nächsten Christabend aber saß er daheim bei Weib und Kind; denn er hatte sein Versprechen treu gehalten und war ein anderer, ein besserer geworden. Nur sein schneeweißes Haar erinnerte ihn und alle, die ihn kannten, an die fürchterlichste Stunde seines Lebens. E. K.

Nachträgliches vom Büchertisch für die Jugend. Die „Gartenlaube“ braucht ihrer hohen Auflage wegen allein für den Druck einer Nummer etwa 14 Tage, und darum muß die Redaktion der Nummern in der Regel volle drei Wochen vor dem Erscheinen derselben geschlossen werden – allzufrüh zu einer Zeit wie derjenigen vor dem Weihnachtsfeste, wo jeder Tag die schon aufgezählten Christgaben um neue vermehrt. Das haben wir auch wieder bei unserem diesjährigen Weihnachtsbüchertisch für die Jugend erfahren, der seit dem Erscheinen unseres Berichtes in Nr. 49 einen nicht nur ansehnlichen, sondern auch werthvollen Zuwachs erfahren hat, so daß wir unsere Liste empfehlenswerther Schriften gerechterweise durch einen wenn auch gedrängten Nachtrag ergänzen müssen. Kommt derselbe zum Weihnachtsfeste nicht mehr früh genug, so erinnern wir daran, daß unsere Empfehlungen auch keineswegs für dieses Fest allein gelten wollen. Es giebt im langen Jahre noch so manche Gelegenheit zum Bücherschenken, bei der vielleicht ein Rathgeber erwünscht ist, und da blättere man in der „Gartenlaube“ zurück bis zu denjenigen Nummern, welche unsere Empfehlungen zur Zeit des Weihnachtsfestes, aber nicht für dieses ausschließlich enthalten!

Die Bilderbücher für die Kleinsten hat die Verlagshandlung von J. F. Schreiber in Eßlingen noch um einige sehr „dauerhafte“ Neuigkeiten bereichert: „Neuestes ABC“, „Herzblättchens Bilderbuch“ und „Goldene Zeiten“, alle drei gegen die oft etwas zerstörungslustigen Fäustchen der Kleinen dadurch widerstandsfähiger gemacht, daß die hübschen Bilder auf Leinwand gedruckt sind. Dieselbe wohlangebrachte Vorsichtsmaßregel ist auch bei Lothar Meggendorfers Bilderbuch „In Großpapas Garten“ (ebenda) angewendet. Man sollte kaum denken, daß in einem so zierlichen Buche, das man bequem in die Tasche schieben kann, ein so großer Garten wie der dieses Großpapas verborgen sein könnte. Aber das Büchlein ist zum Ausbreiten eingerichtet und erreicht, völlig entfaltet, wohl die stattliche Länge von zwei Metern. – Ein niedliches Bilderbuch ist „Des Kindes Wunderhorn“ von Fedor Flinzer (Breslau, C. T. Wiskott), mit alten Kinderreimen und vorzüglichen, künstlerisch schönen Bildern. – Zu den werthvollsten Büchern für Kinder im Alter von 6 bis 9 Jahren gehört „Die Fahrt zum Christkind“, ein Weihnachtsmärchenbuch von Julius Lohmeyer, illustrirt von V. P. Mohn (Glogau, Carl Flemming). Die feinsinnige Dichtung und die vollendet schönen, farbenprächtigen Bilder deuten in gleichem Maße auf die Meisterhand. Diesem köstlichen Bilderbuch reihen sich endlich noch drei zierliche Büchlein an, deren überaus anmuthender Bilderschmuck in englischem Geschmack gehalten ist: „Sonnige Tage, wonnige Stunden“, „Vom Himmel her“ und „Laß dir was erzählen“ (München, Theo. Stroefers Kunstverlag), kleine Prachtwerke für Kinder, mit leichtverständlichen Reimen.

Zu den Geschichtenbüchern für die Kleinen nennen wir noch J. A. C. Löhrs „Kleine Erzählungen“ (Stuttgart, K. Thienemanns Verlag), mit acht wirklich herzigen Kinderbildern von L. v. Kramer, und „Herzblättchens Zeitvertreib“ von Th. von Gumpert (Glogau, Carl Flemming), ein Jahrbuch, das bereits im 34. Jahrgang vorliegt.

Die Zahl der Märchensammlungen vermehrt G. Chr. Dieffenbach um eine weitere: „Das Goldene Märchenbuch“, mit vielen Illustrationen von Carl Gehrts (Bremen, M. Heinsius Nachfolger). Neues ist darin nicht enthalten, doch sind die schönen alten Märchen kundig [891] ausgewählt und mit einem reichen Bilderschmuck von Künstlerhand reizvoll ausgestattet. – Auch auf die anmuthigen „Neuen Märchen und Erzählungen“ von A. Godin (Glogau, Flemming) und die eigenartigen „Japanischen Märchen“ von C. W. E. Brauns (ebenda), beide hübsch illustrirt, kann nur empfehlend hingewiesen werden.

Knabenbücher haben wir schon in Nr. 49 der „Gartenlaube“ eine ganze Anzahl genannt, aber dieselben sind damit nicht erschöpft, und wenigstens einige, die in jeder Beziehung Lob verdienen, müssen wir noch anführen, vor allem das stattliche „Buch der Jugend“ (Stuttgart, K. Thienemanns Verlag), ein reichhaltiges Jahrbuch mit trefflichen Erzählungen und belehrenden Beiträgen; dann: „Heimathlos“ (ebenda), eine für die Jugend berechnete und wohl geeignete Bearbeitung von H. Malots gleichnamigem Roman, mit 50 Textillustrationen und 16 ganzseitigen Tonbildern; „Die Gefahren der Wildniß“ (ebenda), von Franz Hoffmann nach dem Englischen des Dr. Bird erzählt und von Hermann Vogel meisterlich illustrirt; ferner: „Eldoradofahrer“ von C. Falkenhorst (Leipzig, F. A. Brockhaus). Der Verfasser führt seine Leser diesmal nicht nach Afrika in das Reich Emin Paschas, sondern versetzt sie um Jahrhunderte zurück in jene Zeit, da die reichen Augsburger Kaufleute, die Welser, von Karl V. das heutige Venezuela zur Gründung einer Kolonie erwarben und ihre Vertreter das fabelhafte Goldland „Eldorado“ zu entdecken suchten, statt dessen aber nicht als „Thäler des Elends“ fanden. Die Erzählung ist farbenreich und spannend und wird unsere Knaben sicher anziehen. Auch Albert Kleinschmidts vier Erzählungen unter dem Titel „Germanisches Heldenschicksal in Sieg und Untergang“ (Leipzig, Friedrich Brandstetter) sind in erster Reihe, obwohl nicht ausschließlich, für Knaben von Interesse. Der Verfasser erzählt markig und fesselnd, ohne gelehrten Aufputz, aber mit genauer Kenntniß und sorgfältiger Berücksichtigung der Geschichte.

Das Verzeichniß der Mädchenbücher wäre nicht vollständig ohne die Anführung des „Töchter-Albums“ von Thekla von Gumpert (Glogau, Flemming), das im 35. Jahrgang vorliegt und wieder, neben zahlreichen künstlerischen Illustrationen in Farbendruck, ansprechende, gemüthvolle Erzählungen und vermischte Beiträge in bunter Reihenfolge enthält.

Dietrich Theden.

Das Hermann Kurz-Denkmal in Reutlingen.
Nach einer Photographie von P. Sinner in Tübingen.

Das Denkmal für Hermann Kurz in Reutlingen. Es ist noch nicht lange her, seit die Stadt Reutlingen den hundertjährigen Geburtstag ihres größten Sohnes, Friedrich Lists[1], festlich beging, und nun hat sie bereits einem zweiten ihrer Söhne gegenüber eine Schuld der Dankbarkeit und der öffentlichen Ehrung eingelöst, indem sie am 6. Oktober ein Denkmal für den Dichter von „Schillers Heimathjahren“, für Hermann Kurz, feierlich enthüllte. Wie verschieden diese beiden, einem Boden entwachsenen Männer und doch wie ähnlich wieder in ihren Anlagen, Geschicken und – Mißgeschicken! Dort der glühende, vielumhergetriebene, überall auf den praktischen Fortschritt drängende Agitator, hier der sinnige, in enge landschaftliche Kreise sich einschließende, am Romantischen hängende Dichter, aber hier wie dort derselbe unbeugsame, zäh am ergriffenen Ideale festhaltende Sinn trotz aller Enttäuschung, Noth, Kummer und Bitterniß, womit ein hartes Schicksal beider Leben belastet hatte. Hermann Kurz hat nicht wie List mit verzweifelter Hand selbst die ihm gesteckte Lebensfrist gekürzt, er hat ausgeharrt bis zuletzt. Aber die eigenthümliche Tragik seines Verhängnisses liegt darin, daß eben in dem Augenblicke, als seine äußeren Verhältnisse in bessere Wege geleitet waren, ein Herzschlag seinem Leben, am 10. Oktober 1873, ein Ende machen mußte.

Es ist fast merkwürdig, wie es kommt, daß Hermann Kurz – darin seinem Freunde Eduard Mörike gleich – so wenig über die Grenzen seiner engeren Heimath und auch innerhalb dieser nicht über eine verhältnißmäßig kleine Gemeinde hinausgedrungen ist. Paul Heyse, der dem Dichter in seinen letzten Lebensjahren sehr nahe stand und der die Herausgabe seiner gesammelten Werke (Stuttgart, A. Kröner, 1874) besorgt hat, beschäftigt sich in seiner biographischen Einleitung ebenfalls mit dieser auffallenden Erscheinung und meint, das „sorglose Einspinnen in das innigste Heimathsbewußtsein“ sei der Grund, weshalb ein so bedeutendes Talent wie Hermann Kurz im nördlichen Deutschland noch immer nicht durchgedrungen sei. Und doch sind seine beiden großen Romane „Schillers Heimathjahre“ (oder wie der Titel ursprünglich hieß „Heinrich Roller“) und „Der Sonnenwirth“ Meisterwerke nach Inhalt und Form, Arbeiten einer völlig ausgereiften Kraft.

„Nirgend wohl ist der schwäbische Volksgeist so lebendig bis in seine Tiefen durchdrungen worden wie in den einleitenden Kapiteln des ‚Sonnenwirths‘, die eine wahre Fundgrube für den Erforscher des Stammescharakters sind,“ sagt Heyse an derselben Stelle. Die Uebertragung von „Tristan und Isolde“, die Kurz mitten im Gewirre politischer Aufregungen zu Karlsruhe angefertigt hat, ist ein Muster von nachempfindendem Verständniß und ebenbürtiger Wiedergabe, den Schluß aber, den Kurz hinzugedichtet hat, darf man unter das Höchste rechnen, was je auf dem Gebiete der lyrisch-epischen Dichtweise geschaffen worden ist. Und welch köstliche Töne lieblicher Lust und heißen Schmerzes, kecken Humors und herben Ernstes in seinen Liedern, in seinen kleinen Erzählungen, in seinen Jugenderinnerungen! Wahrhaftig, dieser Mann hat es verdient, daß ihm ein Denkmal errichtet werde, nicht weil er dessen bedürfte, sondern weil eine vergeßliche, raschlebige Nachwelt dessen bedarf, damit sie sich von dem Denkmal aus Stein und Erz hinführen lasse zu jenem anderen Denkmal, das der Dichter sich selbst errichtet hat – in seinen Werken.

Seine Büste, die jetzt auf der sogenannten „Oberen Planie“ zu Reutlingen dem Blicke sich bietet und die der eigene Sohn, der Bildhauer Erwin Kurz, modellirt hat, zeigt den mächtigen Dichterkopf und die geistvollen Züge, die ihm im Leben eigen waren, „die Stirn und die glänzenden Augen, die ihm die Muse mit unsprödem Kusse berührt“, wie Mörike von dem Freunde singt. Der Sockel, welcher die in der Stotzschen Gießerei in Stuttgart hergestellte Bronzebüste trägt, ist von rothem Sandstein und nach einem Entwurfe des Bauinspektors Dolmetsch in Stuttgart [892] von dem Reutlinger Bildhauer Launer jr. gefertigt. Ueber lorbeerdurchflochtener Leier verkündigt eine Tafel den Namen und die Lebensjahre dessen, dem das Denkmal gilt und der einst an den Schluß seines Gedichtes „Nachlaß“ die Worte gesetzt hat:

„Doch was ich mir in mir gewesen,
Das hat kein Freund geseh’n, wird keine Seele lesen.“ =

Geschenkwerke für den Familientisch. III. Eine Dichtung voll großartiger Schönheit der Sprache und wunderbarer Farbengluth hat Paul Heyse auf den Weihnachtstisch gelegt. Sie spielt in der Zauberwelt des Orients und betitelt sich „Liebeszauber“ (München, Hanfstängl). Für die Gestalten der Heyseschen Dichterphantasie aber hat sich in Frank Kirchbach ein ebenbürtiger Bildner gefunden. – Ein reizvolles Prachtwerk aus demselben Verlage ist „Wie ist die Erde so schön, so schön!“, ein „Album deutscher Kunst und Dichtung“, zu dem neben den lebenden Künstlern und Poeten auch mancher Dichter der Vergangenheit seine Gaben beigesteuert hat. – Die Erbauung der Straßburger Kaiserpfalz, von der auch die „Gartenlaube“ ihren Lesern im Jahrgang 1887, S. 849 eine Abbildung gebracht hat, ward Hermann Ludwig Veranlassung, den Spuren früherer deutscher Kaiser und Könige in der Hauptstadt der Westmark des Reiches nachzugehen und die mannigfachen Wechselbeziehungen zwischen Stadt und Reich zu verfolgen. So entstand das Werk „Deutsche Kaiser und Könige in Straßburg“ (Straßburg, C. F. Schmidts Universitätsbuchhandlung, Friedrich Bull). Die Abbildungen stützen sich zumeist auf zeitgenössische Grundlagen, Siegel, Münzen und dergleichen, die kaiserliche Landesregierung aber hat das Ihrige dazu beigetragen, dem Buche eine würdige Ausstattung zu geben.

Ein vorwiegend landschaftliches Prachtwerk der edelsten Art ist „Der Schwarzwald“ von Wilhelm Jensen (Berlin, H. Reuthers Verlagsbuchhandlung). Jensen hat eine Reihe von Jahren am Fuße des Schwarzwaldes gelebt, er hat ihn studiert mit dem Auge des Forschers und des Dichters. Und so haben auch an dem Bild, das er jetzt uns bietet, der Forscher und der Dichter harmonisch mitgearbeitet. Nicht das Schlechteste aber haben die zeichnenden Kräfte, W. Hasemann, E. Lugo, M. Roman, W. Volz, K. Eyth u. a., dazu gegeben. – Das Vermächtniß eines verunglückten Alpensteigers hat K. Schulz herausgegeben, „Im Hochgebirge“, Wanderungen von Dr. Emil Zsigmondy, mit Abbildungen von E. T. Compton (Leipzig, Duncker und Humblot). Die Leser erinnern sich wohl des tragischen Geschicks, das den erst 24jährigen Dr. Emil Zsigmondy, der schon eine Berühmtheit als Bergsteiger war, im August des Jahres 1885 in den französischen Alpen hinwegraffte. Dieser hochbegabte Mann hatte die Gewohnheit, jedesmal nach seiner Rückkehr von den Alpen eine Schilderung seiner Bergfahrten in sein Tagebuch einzutragen. Nach diesem hat Karl Schulz einen Theil in einem stattlichen Bande veröffentlicht, gewiß eine allen Alpenfreunden willkommene Gabe. – Und nun einen Sprung von der Alpen Firnengipfeln nach Spaniens sonnenheißen Gefilden. M. Junghändel giebt im Verlage der Gilbersschen Hofverlagsbuchhandlung in Dresden ein Photogravüreprachtwerk heraus über die „Baukunst Spaniens“. Es birgt sich hinter dem technisch klingenden Titel für jeden, der Sinn für architektonische Formen und ihre geschichtliche Entwickelung hat, eine Fülle edelsten Genusses und anschaulichster Belehrung. Der Verfasser, der auch die Photographien ausgewählt und ausgeführt hat, verfolgt in seinem Werke wesentlich den Zweck, nachzuweisen, daß auch Spaniens Kunst eine geschlossene nationale Entwicklung aufweise und nicht bei einem unsicheren Tasten und Borgen stehen geblieben sei. – Ein altvertrauter Anblick sind die Bilder Arthur v. Rambergs zu „Hermann und Dorothea“. Die Grotesche Verlagsbuchhandlung in Berlin hat nun eine würdige Prachtausgabe des Goetheschen Gedichts veranstaltet, welches die Gemälde Rambergs in Vervielfältigung durch Kupferdruck beigegeben sind. – Ein Prachtwerk, das eigentlich erst eines werden soll, möge den Beschluß machen. Es ist eine von E. Zehls Verlag in Leipzig herausgegebene stattliche Mappe „Reise-Album“ mit leeren Kartontafeln zur Aufnahme unaufgezogener Photographien und anderer Reiseerinnerungen.

Ein neuer Weltbürger. (Zu dem Bilde S. 880 und 881.) Ja, das ist ein wichtiger Augenblick, den der Altmeister Benjamin Vautier da wieder aus dem Stillleben des Landvolkes – es ist diesmal aus dem Berner Oberland – herausgegriffen und auf der Leinwand verewigt hat, wichtig für die Eltern, die herzige junge Mutter und den wohlbehäbigen Vater, für die nähere und fernere Verwandtschaft, für die ganze Gemeinde – unwichtig, höchst unwichtig nur für das halbwüchsige Kindervolk; das kleine Bürschchen mit seinem Familienregenschirm giebt sich wenigstens das Ansehen vollständiger Theilnahmslosigkeit, und das Mädchen, das an den Holzpfeiler der Kirchenvorhalle sich lehnt, scheint auch für die geschäftige Erregung und Neugier der Alten kein Verständniß zu besitzen. Aber es ist trotzdem ein wichtiger Augenblick, wenn so ein junger Weltbürger, und vollends einer, der in einem so stattlichen Bauernhause, wie das auf unserem Bilde rechts drüben sichtbare, das Licht erblickt hat, zur Kirche gebracht wird, um aufgenommen zu werden in den Schoß der Gemeinde und künftig Freud und Leid mit ihr zu theilen, ihr Ehre oder Schande zu machen. =

Einbanddecke zur „Gartenlaube“. Wie in früheren Jahren hat die Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig auch für den Jahrgang 1889 der „Gartenlaube“ solide und geschmackvolle Einbanddecken herstellen lassen. Dieselben sind von olivenbrauner Farbe und nach einem Entwürfe von Prof. Fr. Wanderer in Gold- und Schwarzdruck ausgeführt. Die Decken sind durch die Buchhandlungen zu dem mäßigen Preise von 1 Mark 25 Pfennig zu beziehen.

Auflösung des Buchstaben-Vexirräthsels auf S. 856: Tannhäuser.

Das T wird durch den Schwertgriff dargestellt; das a bildet den unteren Theil der Saitenspannung der Mandoline; die beiden n sind auf dem Notenblatte, das h am Buchrücken, das ä ebenfalls auf dem Notenblatte; das u ist im Medaillon der Ehrenkette enthalten; das s wird durch das fliegende Band gebildet; das e enthält das Siegel des Notenblattes und das r bilden zwei Stränge der Geißel.


Am Jahresschluß.

Bald schließt der zwölfte Glockenschlag
Die letzte Jahresstunde,
Jetzt schlafe, was da schlafen mag,
Wir stehn in froher Runde,
      Es klopft das Herz, es dampft das Glas,
      Bei kräft’gem Wörtlein leert sich’s baß –
Verbrennt Euch nicht die Lippen
Mit Nippen!

Stoßt an! Wem gilt der erste Schluck?
Dem Frieden, der uns segnet.
Dem Kriegsgelüst mit festem Druck
Ward noch ein Jahr begegnet!
      Schwing fürder deinen Palmenzweig,
      Und aus der Heimathscholle steig’
Dem Fleiß ein neuer Segen
Entgegen!

Stoßt an! Mein Spruch zum zweiten spricht:
Ein voller Schluck der Treue,
Die Liebe, Freundschaft, Recht und Pflicht
Gewahrt mit frommer Scheue.
      In allem Glück die Sicherheit,
      Der beste Stab in Noth und Leid!
Bleib’ er im Weiterwallen
Uns allen!

Stoßt an! Wem gilt der dritte Gruß?
Dem tapfern Muth im Streben,
Der wehrhaft und mit festem Fuß
Hinschreitet durch das Leben.
      Ihn lähmt nicht Sorg’ noch Widerdrang,
      Er findet Weg für jeden Gang –
Will ihm das Heut nicht borgen,
Zahlt’s Morgen.

Stoßt an! Und wem der vierte Schluck?
Der Hoffnung frohgemuthet,
Die wie ihr immergrüner Schmuck
Mit keinem Tod verblutet.
      Zerrinnt die Gegenwart zu Schaum,
      Sie rettet uns den schönen Traum
Und winkt uns traut im Stillen
Erfüllen.

Und wenn uns bleiben diese Vier,
Mich dünkt, wir können’s wagen,
Daß heiter unsre Bürde wir
Zwölf Monde weiter tragen.
      Zum guten Schluß die Gläser klar –
      Es schlägt – fahr wohl, du altes Jahr!
Behüt uns Gott mit Treuen
Im neuen!

Victor Blüthgen.

Inhalt: Zur Jahreswende. Gedicht von Martin Greif. Mit Illustration. S. 877. – Eine Erscheinung. Hinterlassene Erzählung von Fanny Lewald (Schluß). S. 878. – Ein deutsch-böhmischer Dichter. Von Ludwig Salomon. S. 882. Mit dem Porträt Anton Ohorns. S. 883. – Ueberraschungen. Eine Weihnachtserzählung von Victor Blüthgen (Schluß). S. 883. Mit Illustrationen S. 885 und 887. – Junggesellen im Alterthum. Von Dr. Otto Schantz. S. 888. – Am Sylvesterabend. Illustration. S. 889. – Blätter und Blüthen: Christnacht der Bergleute. S. 890. – Nachträgliches vom Büchertisch für die Jugend. Von Dietrich Theden. S. 890. – Das Denkmal für Hermann Kurz in Reutlingen. Mit Abbildung. S. 891. – Geschenkwerke für den Familientisch. III. S. 892. – Ein neuer Weltbürger. S. 892. Mit Illustration. S. 880 und 881. – Einbanddecke zur „Gartenlaube“. S. 892. – Auflösung des Buchstaben-Vexirräthsels auf S. 856. S. 892. – Am Jahresschluß. Gedicht von Victor Blüthgen. S. 892.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Erst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.
[893]

An unsere Leser!

Wiederum steht die „Gartenlaube“ am Ende eines Jahrgangs, des siebenunddreißigsten seit ihrem Beginne, und in den Tagen, da die Menschheit sich anschickt, des alten Jahres Rechnung abzuschließen und mit frischem Muth eine neue Seite im Hauptbuche des Lebens aufzuschlagen, pflegt auch die „Gartenlaube“ den Blick zurückzulenken auf die durchmessene Bahn und vorausschauend die Aufgabe zu bezeichnen, deren Lösung sie für das kommende Jahr sich gesteckt hat.

Wenn unsere Leser die Blätter des abgelaufenen Jahrgangs jetzt im Zusammenhange überblicken, so werden sie uns – deß sind wir sicher – das Zeugniß nicht versagen, daß wir nach Kräften bemüht waren, den vielgestaltigen Bedürfnissen unseres Leserkreises gerecht zu werden und jedem etwas zu bringen.

Und wenn wir uns in diesem Vertrauen nicht täuschen, wenn wir die freundliche Stimmung, die sich in so mancher Zuschrift an uns aussprach, als die allgemeine betrachten können, dann dürfen wir auch hoffen, daß das, was wir im neuen Jahre unsern Lesern zu bieten gedenken, allerseits einer günstigen Aufnahme begegnen wird.


Aus dem Vorrathe von Novellen und Romanen, welche unsere Mappen füllen, heben wir hervor:

Flammenzeichen. Roman von E. Werner.

Ein Mann. Von Hermann Heiberg. Ein großartig aufgefaßtes Gemälde moderner Lebenskämpfe.

Finstere Mächte. Von Etmar Weidrod. Eine Bauerngeschichte von packendster Wirkung von einem unsern Lesern noch unbekannten Talente.

Baronin Müller. Von K. v. Heigel. Ein Roman voll spannender Verwickelungen, welche der Eintritt einer adligen Frau in bürgerliche Kreise hervorruft.

Gretchens Liebhaber. Von L. Westkirch. Eine herzbewegende Geschichte, mitten aus dem Leben mit seinen schneidenden Gegensätzen zwischen Schein und Wesen gegriffen.

Quitt. Von Theodor Fontane. Das Jubiläumswerk eines Siebzigjährigen, eine ergreifende Tragödie von Schuld und Sühne.

Der Sprung im Glase. Von A. Frhr. v. Perfall. Ein erschütterndes Bild von der zerstörenden Macht des Aberglaubens unter dem Seevolke.

Roberts erste Liebe. Von Hans Arnold. Eine köstliche Humoreske des auf diesem Gebiete unübertrefflichen Verfassers.

Mariettas Ideal. Von H. Rosenthal-Bonin. Eine lustige Erzählung in den lebhaften Farben des süditalischen Volkslebens.

Eine unbedeutende Frau. Roman von W. Heimburg.

Daß die „Gartenlaube“ den belehrenden Aufsätzen aus den verschiedenen Gebieten des Wissens ihre besondere Aufmerksamkeit zuwendet, gehört zu ihren alten Ruhmestiteln. Sie kann zunächst folgende Artikel in Aussicht stellen:

Der Urgrund der Fehde wider die Fremdwörter. Von Ernst Eckstein.Der Hexenwahn. Von Dr. Georg Winter.Der deutsche Männergesang. Von Prof. Dr. H. Kretzschmar.Tiroler Bauerntheater. Von Max Haushofer.Neue Romane. Von Rudolf v. Gottschall.Die Edelkoralle. Von Carl Vogt.Auf dem Grunde des Meeres. Von C. Falkenhorst.Vom Nordpol bis zum Aequator. Von Alfred Edmund Brehm.Die Gicht. Von Prof. Dr. E. H. Kisch.Gehör-Instrumente. Von Prof. Dr. Bürkner.Ungedruckte Briefe von Fritz Reuter.Originalgestalten der heimischen Vogelwelt. Von Adolf und Karl Müller.Der Gesang in der Kinderstube. Von Dr. August Reißmann.Volkswitz in der Sprache. Von Dr. F. Söhns.Städtebilder: Würzburg, Königsberg, Wien, Braunschweig, München u. s. w.Das Riesengebirge.Die masurischen Seen u. s. w.

Und somit „Glück auf“ zum neuen Jahre!

Leipzig, Dezember 1889. Die Redaktion der Gartenlaube.

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Neujahrsball.
Zeichnung von Fritz Bergen.


  1. Vgl. Nr. 31 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“.