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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[837]

No. 50.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Eine Erscheinung.

Hinterlassene Erzählung von Fanny Lewald.

(Fortsetzung.)


Die Wirkung jener Unterredung, welche Hubert von den beiden Freundinnen seiner Mutter erlauscht hatte, gab sich sofort in einer Weise kund, die sich anfangs niemand zu deuten wußte. Hubert wollte plötzlich die Stadt verlassen, wollte nach Stegow hinaus, und da der Vater sich dem Vorhaben widersetzte, zog er sich in auffallender Weise von jedem Zusammentreffen mit den Langenaus zurück. Er nahm ihre Einladungen nicht an, er verließ das Haus, wenn sie abends zu den Eltern kamen, und als endlich einmal meine Mutter ihn über dies Verhalten in meinem und des Vaters Beisein zur Rede stellte, brach er gegen seine sonst gewohnte Selbstbeherrschung in den Ausruf aus: „Was soll ich in der Gesellschaft? Mein schöner Herr Bruder mit seinen geraden Beinen ist ja da, die gescheite Eveline und ihresgleichen zu unterhalten, die in mir doch nichts sehen, als eine in den Kauf zu nehmende Zugabe zu dem Majorat von Groß-Stegow.“

„Hubert!“ herrschte der Vaters, „was soll das heißen?“

Aber auch ich hatte den Gleichmuth verloren. „Verspotte mich nicht!“ rief ich. „Ich habe Dir nichts gethan. Ich beneide Dich nicht!“

„Still!“ gebot der Vater auch mir, indem er zwischen uns beide trat, denn Hubert hatte sich mir mit dem Ausruf: „Unverschämter!“ so schnell er es vermochte, genaht. Ich wandte ihm den Rücken, um das Zimmer zu verlassen, als meine Mutter ihn mit den flehenden Worten zurückhielt: „Bleib, Erwin! gieb ihm

Tiefbagger bei Holtenau.0 Zeichnung von Hans Hampke.

[838] die Hand! gebt Euch die Hände! Ist das die brüderliche Liebe, zu der ich Euch beide herangezogen habe? Die Eintracht, die Ihr vor Augen gehabt in Eurer Eltern Ehe, die Liebe, mit der wir Euch gleichmäßig umfangen nach Eurem Bedürfen? Was –“

„Vor allem, was ist geschehen?“ fragte gebieterisch der Vater. „Die Empfindungen nachher! die Thatsachen voran! – Du hast zu sprechen, Hubert! Was hat Erwin Dir gethan?“

Hubert hielt einen Augenblick inne, dann stieß er ein kaltes „Nichts!“ hervor. „Er hat mir nichts gethan!“ – und setzte dann mit leidenschaftlicher Bewegung hinzu: „Im Gegentheil! er soll mir zu danken haben. Ich mache ihn zum Majoratsherrn von Groß-Stegow! Er kann sie haben, die schöne Eveline! Alle kann er sie haben! – Ich werde mich nie verheirathen!“

„Schweig, Thörichter!“ fuhr der Vater ihn an. „Was hast Du zu bestimmen, was zu wollen, als mir Rede zu stehen, wenn ich’s befehle!“

„Ach!“ klagte die Mutter, „soll er’s denn noch aussprechen müssen? Ihr hört es ja! Er hat Eveline geliebt und sie hat ihn verschmäht!“

„Nein, nein!“ rief Hubert, „nicht das eine, nicht das andere!“ – Er erzählte darauf sein Erlebniß, und da die Mutter ihm die Arme entgegenbreitete, warf er sich an ihre Brust, sein Antlitz an ihrer Schulter verbergend.

Der Vater sah finster darein. Des Sohnes Geschick ging ihm zu Herzen, aber er verrieth es nicht.

„Du willst ein Mann sein!“ sagte er, „und das elende Geschwätz eines niedrig denkenden Weibes wirft Dich derart um, daß Du darüber vergißt, was Du Dir selber schuldig bist und mir und unserem Hause! Was wird sie von Dir sagen, die Langenau, wenn wir, wie Du es zu wünschen scheinst, jetzt plötzlich mit ihr brechen? Was anderes, als was Deine Mutter infolge Deines törichten Gebahrens eben selber vermuthete?“

Er hielt inne und ging offenbar mit sich zu Rathe; und wie es seiner Natur gemäß war, rasch einen festen Entschluß zu fassen, sprach er: „Du mußt endlich mit Dir ins Klare kommen, Hubert, wenn Du Dir die Zukunft nicht trüben, das Leben nicht verbittern willst. Dein Schicksal ist kein gewöhnliches; um so verständiger muß es getragen werden, damit es ein möglichst ehrenvolles und würdiges werde. Für den, der mit Glücksgütern reich ausgestattet ist, wie Du es bist, liegt der Wunsch, sie voll genießen zu können, nahe. Aber die Natur hat Dich nicht begünstigt –“

„Die Natur!“ wehklagte die Mutter.

„Keine Klagen und unnütze Reue!“ fiel der Vater ein, und sich wieder zu Hubert wendend, fuhr er fort: „Du bist unschön und bist lahm, aber Du bist ein gesunder Mann und als solcher hast Du den natürlichen Zug zu den Frauen, deren Wohlgefallen durch Dein Aeußeres zu gewinnen Du keine Aussicht hast. Du mußt das, was Dir fehlt, durch die Bildung Deines Geistes und Herzens zu ersetzen, Du mußt Neigung zu erwecken trachten, indem Du Dich liebreich zeigst. Durch die Schwäche der Mutter, durch meine zu weit gehende Nachsicht für diese hast Du bisher nur Dir und Deinen Neigungen gelebt. Du bist berufen, dereinst das Erbe unseres Hauses zu verwalten – und hast kein Recht, das abzulehnen, wenn ich Dich nicht der Pflicht enthebe. Von dem Tage ab, da wir nach Stegow zurückkehren, trittst Du in meinen persönlichen Dienst und stehst mir bei in der Bewirthschaftung und Verwaltung meiner Güter. Du wirst die Aufsicht über die Schule, wirst die Armenpflege übernehmen. Und wenn es Dir gelingt, wie es mir und unsern Vorfahren gelungen ist, das Zutrauen und die Verehrung der Leute zu gewinnen, wenn Du für andere zu leben gelernt haben wirst, wirst Du nicht mehr daran zweifeln, daß es nicht nur das Aeußere des Mannes ist, das die Liebe der Frauen erwirbt. Du wirst die Erfahrung machen, daß ihr Herz sich leicht demjenigen zuwendet, den sie von Verehrung und Liebe umgeben sehen, wirst erfahren, welches Glück darin liegt, glücklich zu machen!“

Es war eine Stunde feierlicher Erhebung. Nie war mein Herz meinem Vater unterthäniger gewesen. Ich küßte ihm die Hand; Hubert, die Mutter lagen an seiner Brust!

Als er sie aus seinen Armen entließ, drückte er auch mir die Hand und schloß mich an sein Herz. „Habe immer Geduld mit ihm,“ flüsterte er mir zu, indem er mir fest die Hand drückte – und diese Hand!! – –


4.

Es lagen dem Datum nach mehrere Monate zwischen dem Tage, an welchem der einsiedlerische Bahnwärter diese Rückblicke in seine Jugend auf das Papier geworfen, und dem andern, an dem er die folgenden Seiten beschrieben hatte. Immer nur in größeren oder kleineren Zwischenräumen hatte er, von seinen Gedanken und Stimmungen bewegt, die Blätter zur Hand genommen, die ich mit stets wachsender Spannung las.

* * *

Ich habe nichts in mir, so fuhren die Bekenntnisse fort, das ich zur Beschönigung vorbringen könnte. Es ist mir kein Unrecht geschehen. Ich selber habe seit jenem ersten Zusammenstoße mit meinem Bruder kein freies Herz mehr gehabt für ihn. Von wem wir uns das Gute mißgönnt wissen, das unser Glück ist, den können wir nicht lieben. – Der Vater sah das, er beschloß, uns zu trennen; die Gelegenheit dafür war zur Hand.

Ich stand im 21. Jahre und hatte mich für die Garde gemeldet. An Ostern hatte ich mich zu stellen. Der Vater sagte, ich solle schon nach dem Weihnachtsfeste nach Berlin übersiedeln, um dort nicht in eine mir doppelt fremde Welt einzutreten. Ich war damit wohl zufrieden, und es ward gleich damals als selbstverständlich angenommen, daß ich nach beendetem Dienstjahr den Abschluß meiner Universitätsstudien in Berlin – ich hatte mich inzwischen längst der Jurisprudenz zugewendet – machen sollte. Für mich war es unzweifelhaft, daß man während meiner Abwesenheit meinen Bruder veranlassen werde, sich eine Frau zu wählen, oder daß man versuchen werde, ihn zur Heirath mit einer entfernten Anverwandten unserer Mutter zu überreden, an welche diese, wie wir alle wußten, stets mit Vorliebe gedacht und gegen welche der Vater keine Einwendung erhoben hatte.

Mich ließen diese Pläne damals völlig kalt. An den Besitz des Majorates hatte ich nie für mich gedacht. Ich wußte mich durch des Vaters Anordnungen wohl versorgt und von Natur so ausgestattet, daß ich mir zutraute, einen mir zusagenden Lebensweg und eine mir angemessene Stellung durch meine eigene Kraft zu erringen, und während ich meinen Pflichten mit Lust und gutem Willen nachkam, vergnügte ich mich in Berlin mit meinen Alters- und Standesgenossen; aber der Durst nach Erkenntniß, der sich schon früh auf der Universität in mir entwickelte, und die Sehnsucht nach einem höchsten Glück, für das ich kaum das Wort zu finden wußte, schwiegen davor nicht, und dem Geiste folgend, der in jenen Tagen in gewissen Kreisen herrschte, sah ich, zu völligem Unglauben übergegangen, mit dem Stolz des Materialisten auf alle diejenigen herab, die ihre Befriedigung darin finden konnten, sich auf ein geheimnißvolles Unbekanntes, auf ein höchstes Wesen und dessen allmächtiges Walten zu verlassen, das zu begreifen sie nicht imstande waren. Und mit den philosophischen Systemen, an denen ich mich der Reihe nach zu halten, zu stützen, zu erheben trachtete, war es dasselbe. Immer stieß ich auf ihrem Grunde noch auf ein Letztes, das ohne wirklichen Beweis, als wirkende Ursache, als Kraft angenommen werden mußte – immer fand ich mich vor Goethes: „und weiß nun, daß wir nichts wissen können!“ – und doch wollte dies trostlose Nichtswissenkönnen mir das Herz verbrennen.

Ich kam mir in dem Abweisen dessen, woran andere sich getrösteten, wie ein Titan vor und betraf mich dabei mitunter auf einem Verschen, das ich in früher Zeit einmal bei meiner Mutter von einer schönen Frau vernommen hatte. Es lautete:

„Wenn aller Welt Herrlichkeiten
Zusammenblühten in einer Blume der Au!
Und aller Welt Süßigkeiten
Zusammenflössen in einem Tropfen Thau!
Den Tropfen, aus der Blume, in einem Zug –
Den möcht’ ich trinken, dann hätt’ ich genug!“

und es rief in mir mit genußsüchtigem Verlangen: die höchste Liebe der schönsten Frau! sie allein ist das eigentliche Glück! – und ich hatte nur den flüchtigen Rausch der Sinne, hatte in ihm ihre rasche Uebersättigung gekannt.

Mitten in dem Frohsinn der Jugend und meiner Genossen war ich ein an sich selbst Verzweifelnder, als ich unerwartet mitten im Winter die Nachricht erhielt, daß die Eltern sich entschlossen hätten, Casimira von Gliwitzka als Gesellschafterin für die Mutter in das Haus zu nehmen.

[839] Was das zu bedeuten hatte, errieth ich ohne Mühe. Casimira, oder, wie ich sie von jeher hatte nennen hören: Mira, war die verwaiste Tochter einer mit unserer Mutter verwandten polnischen Familie. Wie mein Großvater war Herr von Gliwitzki Militär gewesen und durch die polnische Revolution ebenfalls in das Ausland gestoßen worden. Im Kirchenstaat war er in päpstliche militärische Dienste getreten, hatte später eine Italienerin geheirathet, und er sowohl als seine Frau waren vorzeitig gestorben. Ihr einziges Kind, die kleine Mira, war mittellos zurückgeblieben. Meine Eltern hatten sie in Rom in das Kloster der Nonnen du sacré coeur auf Trinita de’ Monti zur Erziehung gegeben, und uns im Vaterhause war das schöne Kind, dessen Bild auf dem Schreibtisch der Mutter stand, zu einem geläufigen Begriff geworden. Sie mußte nach meiner Berechnung in dem Alter sein, in welchem man sich darüber zu entscheiden hatte, ob man sie in dem Kloster lassen wollte. War das nicht der Fall, so war es Zeit, sie aus demselben zu entfernen, und daß ein Mädchen wie dieses, das alle Eindrücke für das Weltleben und ihre Beurtheilung desselben durch die Vermittelung unserer Mutter zu empfangen hatte, derselben zur Gattin für Hubert geeignet dünken mußte, war mir sehr wahrscheinlich.

Die Sache focht mich indeß zunächst nicht an. Es war gut, wenn sie zu Hause mit der Angelegenheit, um die sich doch schließlich alles gedreht hatte, so lange ich zu denken vermochte, fertig wurden, wie sie konnten, wie es die Eltern am besten zufriedenstellte; und erst als ich gegen das Frühjahr hin von Hubert einen Brief erhielt, der mit den Worten anhub: „Nimm das Blatt mit offenem Herzen auf, es ist ein Glücklicher, Dein glücklicher Bruder, der sich Dir mit neuem Sinnen und neuem Empfinden in die Arme wirft!“ – gewann die damit angekündigte Verlobung von Hubert und Mira für mich eine Bedeutung. Wohl ihm, dachte ich, wenn er sein Ideal gefunden hat, wenn er mit sich zum Abschluß kommt und das Dasein als ein Glück erachten lernt, so lang es währt. Auch beide Eltern zeigten sich der Verlobung froh, und man hatte die Heirath für den längsten Tag des Jahres festgesetzt, um damit wie in einem Symbol dauerndes Glück vom Himmel auf die zu schließende Ehe herabzuwünschen.

Auch Mira hatte ein paar Zeilen in üblicher Weise unter den Brief ihres Bräutigams geschrieben, sich meiner künftigen brüderlichen Freundschaft zu empfehlen. Es war eine so feste, feine Handschrift und eine so schlichte Ausdrucksweise, wie man sie bei einem so jungen Mädchen selten findet.

Der Vater hatte mir geschrieben, daß er, da ich mein Auskultatorexamen bestanden habe, zunächst für einige Zeit meine Rückkehr wünsche, denn ich war nahezu zwei Jahre nicht in Stegow gewesen; und obschon es mich verlangte, die Eltern und die Heimath wiederzusehen, zumal der Mutter Geburtsfest in die nächste Zeit fiel, wußte ich, daß ich mit meiner Weltanschauung sie von mir abstoßen, oder mehr noch als vordem zu einem Scheinleben namentlich vor der Mutter gezwungen sein würde, und vor beidem trug ich Scheu. Aber ich ging – ging mit gutem Willen – ins Verderben!

Die Ostern fielen spät in dem Jahre, und selbst bei uns im Norden knospten die Sträucher schon, als ich am Gründonnerstag auf der Poststation unseren Wagen vorfand und das breite ehrliche Gesicht unseres alten Kutschers mir entgegenlachte, sein treuherziges: „Na, guten Tag auch, junger Herr!“ mir mit bekanntem Klange das Ohr berührte. Ich kannte den Posthalter, er kannte mich. Alle und jeder riefen und nickten mir zu. Selbst der alte schwarze Pudel sprang wedelnd an mir empor – wir flogen mit dem leichten Wagen und den starken Pferden rasch davon. Ich kannte jeden Busch und jeden Baum und jede Hecke, der ganze Zauber der Heimath, der Erinnerung umfing mich. Nun sah ich sie vor mir, die thurmartigen Flügel unseres Schlosses, nun fuhren wir ein in den breiten weiten Hof – und sie traten heraus aus des Schlosses Thor: der Vater, die Mutter, Hubert und Mira, um die er, sich an ihr stützend, seinen Arm geschlungen hatte, und – –

Wie ein Blitzstrahl fuhr es durch mein ganzes Sein! – Das war sie! – das war es, wofür es der Mühe des Lebens lohnte! – Und wie ein niegekanntes Entzücken in mir aufloderte, so loderten der Neid und der Haß in mir auf, gegen Hubert, dem man dies Ideal geopfert, – selbst gegen die Eltern, die es ihm geopfert!

Ich fühlte des Vaters Arm auf meiner Schulter, der Mutter Lippen auf den meinen, des Bruders Hand berührte mich, ich hörte Worte der Liebe, sah Miras Augen mit Neugier auf mich gerichtet – und in mir rief es: fort! fort! noch in dieser Stunde – zurück in die Oede – denn die Welt ist öde und leer, wo sie nicht ist! – Aber sollten sie mich für einen Wahnsinnigen halten?

Jeder pries sie mir. Die Eltern waren ihres Lobes voll, sicher des Glücks ihres Sohnes. Ich empfand Huberts siegesfrohes Lächeln, wenn seine bleichen Lippen ihre Schönheit berührten, wie eine Entheiligung – ich! dem nichts mehr heilig gewesen war in der entgötterten Welt – nichts! als er sich selber, ich mir selber. Mich hatte ich zu behaupten vor den andern! – damit betrog ich mich, um nicht fliehen zu müssen, um bleiben zu dürfen, bleiben zu müssen, als wäre sie nicht da!


Ich darf nicht verweilen bei ihr und bei der Zeit. Wenig Tage vergingen, bis ich gewiß war, daß sie ihn nicht liebte, daß die Mutter sie dazu gestimmt hatte, sich ihm zum Opfer zu bringen, bis ich es sah, wie ihr Blick sich suchend, Rath, Hilfe, Weisung suchend nach mir wendete – bis sie in meinen Armen ihr Geschick beweinte und die glühendste Liebe uns verband.

Wie im Wirbel drehten sich meine Gedanken in meinem Hirne. Ich, der an nichts glaubte, dem nichts heilig war, der die Gesetze der Sitte, der Ehre als menschliche, wandelbare Schranken ansah, die sich ändern und in ihr Gegentheil verkehrt werden können je nach menschlichem Belieben, ich hätte sie nicht in Schande zu besitzen vermocht. Mein sollte sie werden, mein ehrliches Weib, und im Hinblick auf sie begann eine Wandlung in mir, die ich mir nicht zu deuten vermochte.

Ich darf die Geliebte mir nicht zurückrufen in dem Strahlen ihrer reinen Schönheit, aber sie verklärte mir das Leben und die Welt.

Sie war es, die das Wort sprach: „Laß uns fliehen!“

Fliehen? Wie Diebe fortgehen aus dem Vaterhause? Nimmermehr! Fordern wollte ich sie offenen Angesichts kraft meiner und ihrer Liebe – alle Hoffnungen der Eltern, des Bruders, die es zu zerstören galt, konnten nicht in Betracht kommen neben dem Elend und der Schmach, der man Mira überantwortete, wenn man sie zu der verhaßten Ehe mit dem Ungeliebten zwang. Und doch versagte mir immer wieder der Muth, wenn ich die Mutter sah, wie ihr Auge voll Liebe und Stolz auf dem jungen Paar ruhte, wie sie sich im Anblick des Glücks ihres Erstgeborenen selbst wieder verjüngte; wie sie, die den Plan dieser Verbindung zuerst erfaßt und zur Ausführung gebracht hatte, sich ihres gelungenen Werkes freute; wie sie glaubte, nun erst das vermeintliche Unrecht ganz wieder gutgemacht zu haben, das sie Hubert, noch ehe er das Licht des Tages erblickt, durch ihre Unvorsichtigkeit zugefügt und dessen sie sich anzuklagen nie aufgehört hatte. Auch dem Vater schien eine schwere Sorge von der Brust gewichen. Und was ihr Glück war, das war meine Verzweiflung. Mit Hubert selbst hatte ich kein Mitleid, ich haßte ihn, ich konnte, ich wollte nicht glauben, daß das Gefühl, das er so offen zur Schau trug, ein echtes, tiefes sei, daß er in Casimira mehr als eben das Aeußerliche, das schöne, reizende Weib, um das ihn die Welt beneidete, zu schätzen wußte. Der Gegensatz unserer Naturen, wie sie sich von früh auf entwickelt hatten, war ein zu großer, ich war zu sehr daran gewöhnt, das, wofür ich mich begeisterte, was mir als ein Ideal vorschwebte, von dem älteren Bruder verspottet zu sehen und umgekehrt das gering zu schätzen, wofür er sich die überkommene Ehrfurcht bewahrt hatte, als daß ich in diesem Fall an eine Gemeinsamkeit unserer Empfindungen hätte glauben können.

Und sein eigenes Benehmen bestärkte mich in dieser Ansicht, die freilich nur zu sehr mit meinen Wünschen übereinstimmte. Geflissentlich bestürmte er Mira mit seiner unwillkommenen Zärtlichkeit, wenn andere zugegen waren, wenn ich selbst Zeuge sein mußte. Es war, als erriethe er meine Pein, als strebte er so recht absichtlich, den Stachel noch tiefer in die Wunde zu bohren. O, was litt ich damals! Wie mußte ich mir Gewalt anthun, auch nur äußerlich meine Fassung zu bewahren, mich nicht auf ihn zu stürzen, ihn von ihr zu reißen mit Gewalt – doch genug!

Mira verfügte nicht über dieselbe Kraft der Selbstbeherrschung wie ich. Sie hatte alles ruhig über sich ergehen lassen als ein Nothwendiges, so lange sie die Welt eben nur durch die Augen [840] meiner Mutter sah und nicht mehr von der Welt kannte, als diese ihr zu zeigen für gut fand. Nun ihr aber meine Liebe neue, ungeahnte Aussichten erschlossen hatte, an denen sie ermessen konnte, was ihr bevorstand, erwachten die angeborene Leidenschaft und der Stolz der Polin in ihr und empörten sich gegen den Zwang.

„Mach’ ein Ende!“ beschwor sie mich, wenn sie einen Augenblick Zeit gefunden hatte, sich von der Aufsicht, unter der sie mein Bruder hielt, frei zu machen, um in meine Arme zu eilen. „Flieh’ mit mir, verlange mich offen von ihm als Dein Weib, tödte mich, mach’ mit mir, was Du willst, nur so laß mich nicht länger leben!“

Und ich, der Titan, der Himmelsstürmer, der Feigling, ich versprach’s ihr und verschob die Ausführung des Entschlusses von einem Tag auf den andern.

Der Mutter Geburtstag kam so heran. Alle feierten ihn, die Familie, die Nachbarn, die zur Gratulation angefahren kamen, die Dienerschaft, für die der Tag ein besonderer Festtag war, nicht nur, weil sie insgesammt ihre Herrin liebten, sondern auch, weil er ihnen selbst eine Reihe herkömmlicher Vergünstigungen brachte, alle mit aufrichtigem Herzen, mit ungeheuchelter Freude. Nur ich vermochte es nicht und Mira. Denn was galten ihr, der Mutter, alle in noch so großer Zahl dargebrachten Geschenke gegen das eine, das sie sich selbst bereitet hatte, das Huberts Verlobung ihr gewährte, und eben das eine konnten wir ihr nicht gönnen. Alle Glückwünsche übertrug sie im Grund ihres Herzens auf ihn, sein Glück war das ihre; der Tag, den ich seit meiner Kindheit aus vollem Herzen festlich mitzubegehen gewohnt war, vermehrte heute nur meine Qual.

Die Gelegenheiten, da wir uns allein sehen konnten, wurden seltener; Miras Widerstreben, ihr Ekel gegen die Zärtlichkeiten ihres Bräutigams wuchs, seine Ueberwachung ward eine strengere, er mochte wohl ahnen, was in ihr vorging. Es war auch kein Wunder, immer unverhohlener that sie’s ihm kund, ihm und den andern, denn selbst in meines Vaters Zügen las ich zuweilen die aufsteigende Besorgniß; nur die Mutter schien in blinder Freude über das Glück ihres Lieblings von alledem nichts zu bemerken.

So viel wie nur möglich suchte Hubert sein körperliches Gebrechen jetzt zu verbergen, und es gelang ihm dieses auch bis zu einem gewissen Grad, denn er hatte seine schwachen Kräfte stets in Uebung erhalten und der Trotz verlieh ihm nun neue, stärkere. Es war nicht mehr jene gekränkte Eitelkeit, die ihn plötzlich verzichten ließ damals, als wir beide Evelinen von Langenau in harmloser Weise huldigten, sondern ein prahlerischer Trotz, der ihn festhalten hieß um jeden Preis, was ihm einmal nach seiner und der Eltern Ansicht gehörte. Sein Selbstbewußtsein hatte sich gehoben; wie schon einmal in unserer frühen Kindheit wollte er mir’s gleich thun in allen körperlichen Uebungen.

Er lenkte wie sonst sein kleines Gefährt, das nur für zwei Personen Raum hatte, und bei den Besuchen in der Nachbarschaft, den Spazierfahrten in der Umgegend mußte Mira an seiner Seite sitzen, während die Mutter bei mir auf dem hohen Kutschirwagen Platz nahm, da der Vater, welcher sich in dieser Zeit etwas leidend fühlte, uns selten begleitete.

Einmal standen beide Wagen fahrbereit vor der Thür; ich hatte schon, der Mutter wartend, die Zügel in der Hand, während Huberts Gespann noch von dem Reitknecht gehalten wurde. In diesem Augenblick eilte Mira der Mutter und Hubert, die noch im Haus weilten, voraus, sprang zu mir herauf, forderte mich ungestüm auf, zuzufahren, und da ich zögerte, riß sie mir die Zügel aus der Hand und schlug mit der Peitsche auf die erschrockenen Thiere los, die sich erst zornig aufbäumten und dann blitzschnell mit dem leichten Fuhrwerk zum Hofthor hinaus rasten. Ich hatte Mühe, der Leidenschaftlichen, die am liebsten gleich für immer in die Welt, in die Freiheit hinausgefahren wäre, die Zügel, die sie nicht im mindesten zu regieren wußte, aus der Hand zu winden und die scheu gewordenen Thiere nach einer Strecke des wildesten Laufs zum Stehen zu bringen. Huberts Gefährt jagte hinter uns her, so schnell die kleinen Jucker, die es zogen, nur rennen konnten; aber immerhin brauchte es einige Zeit, bis er uns eingeholt hatte. Diese benutzte ich, um Mira zu überreden, daß sie das Geschehene als einen Scherz darstelle, als welchen es denn auch die erschreckte Mutter bereitwillig aufnahm. Auch Hubert that desgleichen, doch sah ich ihm wohl an, daß es nicht sein Ernst war. Trotzdem überhäufte er Mira, die jetzt natürlich zu ihm umsteigen mußte, sobald er zu Athem gekommen war, mit Ausdrücken zärtlicher Besorgniß, nannte sie seinen kleinen Wildfang, während mich aus dem bleichen, durch die hastige Fahrt erhitzten und entstellten Gesicht ein Blick tödlichen Hasses streifte.

Aber seine Kräfte hatten sich bei der ungewohnten Eile der Verfolgung erschöpft, er vermochte kaum mehr, die Zügel zu halten. Der beabsichtigte Besuch mußte aufgegeben werden, und langsam, im Schritt fuhren wir nach dem Schloß zurück.

Auch Bootfahrten wurden wie vordem unternommen, und da die Mutter wie viele Frauen von je ein Bangen davor gehabt hatte, so war ich auch hierbei der nothgedrungene, durch die Sitte bedingte Begleiter des jungen Paares. Aber Hubert duldete kaum, daß ich am Steuer saß, er allein wollte alles besorgen. Er trieb ein verwegenes Spiel mit dem leichten Fahrzeug, ließ es auf dem Wasser tanzen und schaukeln, daß es mit den Bordrändern die Fluth berührte, oder zwang es zu einer plötzlichen scharfen Wendung, daß es sich schräg auf die eine Seite legte; das alles nur, um seine Kraft, seine Kunst, seinen Muth zu zeigen und in der Hoffnung, uns einen Schreck einzujagen, was ihm freilich nie gelang. Denn Mira saß kalt und theilnahmlos ihm gegenüber und warf nur mir, der ich ihr absichtlich ferne saß, zuweilen einen Blick zu, aus dem mir die ganze Leidenschaft, ach, und auch der ganze Jammer ihrer armen Seele entgegensprühte, der mir all das wiederholte, glühender, dringender wiederholte, was sie mir einst, da wir uns noch unter vier Augen sehen und sprechen konnten, mit beschwörender, verzweifelter Stimme gesagt hatte.

Ach, ich hatte nicht den Muth, ihn zu fliehen, diesen Blick, der täglich vorwurfsvoller, flehender auf mir ruhte, und auch nicht den Muth, ihm Stand zu halten. Ich schämte mich vor ihr und vor mir selbst meiner erbärmlichen Feigheit.

Hubert aber triumphirte und einmal trieb er das verwegene Spiel zu toll, daß der Flußgott sich rächte und ihm ein Ruder aus der Hand schlug, wodurch das Boot, auf einen verborgenen Stein aufrennend, jäh umkippte und Wasser fing. Da war er der erste, der erbleichend einen Schrei des Schreckens ausstieß. Ich aber richtete mit starkem Arm das dem Sinken nahe Fahrzeug wieder auf, schöpfte das eingedrungene Wasser aus, wobei mir Mira tapfer beistand, und lenkte es mit dem einen Ruder zurück zur Landungsstelle, während er unthätig, wie gelähmt da saß und mit finsterem Blick, ohne ein Wort zu sprechen, unseren vereinten Bemühungen zusah.

Freilich, einen Augenblick hatte ich auch gedacht, es wäre das Beste, wenn das Boot vollends umschlüge und wir alle drei, die wir auf der Erde nicht zusammen leben konnten, in den Wellen ein nasses Grab fänden. Ja, es wäre für uns alle das Beste gewesen. Einen Augenblick aber hatte mich auch ein anderer Gedanke durchzuckt, ein schrecklicher, sündhafter, wahnsinniger Gedanke, dem ich hier nicht Worte zu leihen vermag.


5.

Es muß sein, ich muß auch dies noch bekennen und in der Erinnerung, die ich heraufbeschwöre, all das Entsetzen und die Qual jenes Tages nochmals durchleben, der über mein Schicksal entschied und über das ihrige und über – – o meine Mutter, meine arme, geliebte Mutter!

Das Leben in Groß-Stegow wurde von Tag zu Tag unerträglicher für alle, die Mutter allein ausgenommen, die noch immer in dem schönen Wahn von Huberts Glück schwelgte, eifrig mit den Zurüstungen zur Hochzeit beschäftigt war und für alle Zeichen des aufsteigenden Gewitters blind und taub blieb. Der Vater hatte aus Miras auffälligem Benehmen Verdacht geschöpft, und wenn auch sein Vertrauen in mich – o wie schnöde habe ich’s ihm gelohnt! – nicht im geringsten erschüttert war, so bestand er doch nicht mehr, wie das ursprünglich seine Absicht gewesen war, darauf, daß ich längere Zeit in Stegow bliebe, vielmehr wünschte er jetzt, daß ich nach Berlin zurückkehrte und wenigstens die ersten Stufen des Staatsdienstes praktisch durchmachte. Natürlich konnte dies erst nach Huberts Hochzeit geschehen, meine frühere Abreise hätte Aufsehen erregt und Gerüchte, die schon hier und dort in der Nachbarschaft umliefen bestätigt.

Die Tage wurden länger und länger, der längste war nicht mehr fern. Und ich, ich schwankte noch immer zwischen Titanentrotz und knabenhafter Verzweiflung, zwischen kühnem Hoffen und

[841]

Die Ostmündung des Nordostseekanals bei Holtenau.
Zeichnung von Hans Hampke.

[842] feigem – Entsagen? Nein, das stand fest in mir, entsagen konnte und wollte ich nicht mehr, es wäre ein Verbrechen an Mira, an mir selbst, ja auch an den Eltern und an Hubert, wie ich mir einzureden suchte, gewesen. Sie gehörte mir durch das Gesetz der Natur, der Selbstbestimmung, des freien Willens, das höher steht als alles Menschenrecht, hoch über all den künstlichen Satzungen, die eine der Natur und ihren Zwecken entfremdete Gesellschaft zur Beschönigung ihres Eigennutzes, ihres Dünkels, ihres hohlen Formenkults aufgestellt hat, hoch über allen Familienrücksichten. So phantasierte ich in meinen muthigen Stunden. Aber ist denn die Kindesliebe, die gehorsame Verehrung derer, die uns das Leben geschenkt haben, und die opfermuthige, dankbare Rücksichtnahme auf ihre Wünsche, auf ihr Glück nicht auch ein Naturgesetz? – So fragte ich mich in den zaghaften. An Huberts, an des Bruders Glück dachte ich nicht, er war des edlen Schatzes nicht werth, den ihm ein Zufall in den Schoß geworfen hatte, ihm wollte ich ihn nicht lassen und wenn ich auf Tod und Leben mit ihm darum kämpfen mußte.

Aber auch dem Vater, von dem ich’s wußte und fühlte, daß ich seine ganze Liebe besaß, auch ihm wagte ich’s nicht, mich anzuvertrauen, nicht in der Stunde, da er mit mir über meine Zukunft sprach, mein Herz vor ihm auszuschütten. Gerade das unbedingte, nicht von dem leisesten Verdacht beirrte Vertrauen, das er auf mich setzte und das ich durch mein Geständniß zerstören mußte, hielt mich zurück von dem Schritt, zu dem mein Herz, mein Gewissen mich drängten.

O, hätt’ ich’s gethan, hätt’ ich ihm alles gesagt, so wie ich’s heute in verspäteter Reue auf dieses Papier schreibe, es wäre anders geworden!

Worin es mir Hubert jetzt mehr denn früher zuvorthat, das war das Pistolenschießen, für das er von Jugend an den scharfen, sicheren Blick, die ruhige Hand gehabt und worin er sich durch fortwährende tägliche Uebung auf unserem Schießstand zum Meister ausgebildet hatte, derweil ich in meiner Studienzeit diese Uebung vernachlässigt hatte. Der Schießstand war es denn auch, auf dem er mich mit Vorliebe zum Wettkampf herausforderte, und natürlich immer im Beisein Miras, die jede Gelegenheit, in meiner Nähe zu sein, mich mit ihrer stummberedten Augensprache zu einem Entschluß zu treiben, bereitwillig ergriff. Auch die Mutter begleitete uns oft zu dem unblutigen Waffenspiel und strahlte vor Freude und Stolz, wenn, wie dies stets geschah, ihr Liebling als unbestrittener Sieger daraus hervorging. Sie wurde nicht müde, Mira auf die Wunder hinzuweisen, die er vollbrachte, wenn er aus einer aufgesteckten Spielkarte in ansehnlicher Entfernung das Aß mitten herausschoß, oder die Kugeln der Reihe nach mit unfehlbarer Sicherheit zwischen die konzentrischen Kreise der Standscheibe sandte, daß die Schußlöcher dort eine regelmäßige Figur bildeten, oder wenn er zwei gleichzeitig aufgeschnellte Glaskugeln rasch hinter einander hoch in der Luft durchbohrte, daß die Splitter wie ein Staubregen zur Erde kamen. Meine weit geringeren Leistungen begleitete sie mit so herzlichem Lachen, so harmlos heiterem, gutmüthigem Spott, daß ich oft, nur um ihr das Vergnügen zu machen, absichtlich stark neben das Ziel oder gar in die blaue Luft schoß. Huberts Schweigen, sein überlegenes Lächeln in diesem Falle hatte etwas Höhnisches, Beleidigendes, Verächtliches, aber die Mutter lachte so hell, so herzlich – – o dieses Lachen, wie es mir seitdem und heute im Ohr gellt! –

Es war kurz nach jener verunglückten Bootfahrt, als wir, Hubert und ich, uns eines Nachmittags wieder nach dem Schießstand begaben; ein Diener folgte uns, der die Waffen und die Munition trug. Mira, deren absonderliches Benehmen bei Tisch allen, mit Ausnahme der Mutter, aufgefallen, war von letzterer gebeten worden, sie irgend eines auf die Vermählung bezüglichen Geschäfts wegen auf ihr Zimmer zu begleiten. Sie gehorchte mit der Miene eines Opfers, nicht ohne einen vielsagenden Blick auf mich, der Hubert und wohl auch dem Vater nicht entgangen war. Etwas später sollten die Damen uns zum Schießstand nachkommen, und auch der Vater wollte sie heute begleiten. Schweigend schlugen der Bruder und ich den Weg dorthin ein, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Mir brannte Miras letzter Blick, der stumme flehende Opferblick, den sie mir zugeworfen hatte, ehe sie der Mutter zu dem verhaßten Geschäft gefolgt war, und aus dem ich deutlicher, dringender denn je die verzweifelte Bitte: „Befreie mich, ende diese Qual, die ich nicht länger tragen kann!“ herausgelesen hatte, wie ein glühender Vorwurf auf der Seele. Ja, ich mußte ein Ende machen mit diesem Zustand, gleichviel wie! So konnte es nicht länger fortgehen! Aehnliche Gedanken mochten Hubert beschäftigen, der gesenkten Hauptes mit düsterer Stirn neben mir herhinkte, den stützenden Arm des Dieners verschmähend.

(Fortsetzung folgt.)




Der Nordostseekanal im Herbst 1889.

Ein Ueberblick von Gerhard Walter.0 Mit Zeichnungen von Hans Hampke.

Trockenbagger.

Die gerade Linie ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten“. So lautet ein mathematischer Grundsatz, den nicht zum wenigsten die Schiffahrt sich praktisch von je her angeeignet hat. Die Straße des Seemanns führt immer gerade aus. Kein Gebirge lenkt sie ab, kein Fluß nöthigt zum ausweichen, kein Abgrund versperrt sie und zwingt zu langen Umwegen. Wenn aber Hindernisse der geraden Fahrt auf dem Wege sich darboten, den das Schiff zu machen hatte, da ging von alters her das Bestreben darauf hinaus, sich ihrer zu entledigen, wo eine Möglichkeit sich dazu bot; das heißt da, wo dies Hinderniß nicht allzubreit und nicht allzuhoch war, es zu durchstechen und durch einen Kanal zu beseitigen, der eine künstliche Wasserstraße zwischen zwei bisher getrennten Gewässern bilden könnte.

Zum Theil hat in Urzeiten schon die Natur solchem Bedürfniß durch kolossale Umwälzungen, durch vulkanische Einsenkungen oder durch furchtbare Sturmfluthen abgeholfen, indem sie Verbindungen zwischen größeren, einst nicht verbundenen Wasserbecken herstellte und selbst Kanäle schuf, von denen wir ohne weiteres behaupten können, daß, wenn unsere Kulturperiode sie nicht vorgefunden hätte, sie dann nothwendig auf künstlichem Wege hätten hergestellt werden müssen. Ich nenne den „Kanal“ zwischen England und Frankreich, die Straße von Gibraltar, die Straße von Messina, den Hellespont und den Bosporus.

An drei Stellen hat aber die Natur die Verbindung zwischen zwei Meeren nicht geschaffen, die Hindernisse nicht hinweggeräumt, [843] und deswegen ging von jeher, so lange man diese Hindernisse empfand und bedauerte, das Streben der Menschen dahin, sie zu beseitigen. Diese Stellen sind die Landengen von Panama, von Suez und von Schleswig-Holstein. Als vierte könnte noch die Landenge von Korinth angeführt werden. An allen vier Punkten ist die Durchstechung in Angriff genommen worden und heute theils vollendet, theils in gutem Fortschritt, theils – verkracht. Daß aber der Tag kommen wird, an dem alle diese Landengen durchfahren werden wie heute schon die von Suez, daran ist nicht zu zweifeln, wenn es auch um zwei der geplanten Kanäle im Augenblick bedenklich steht: um den Kanal von Panama und den von Korinth; letzteren hatte übrigens, wie sich die Leser aus dem Aufsatze von Eduard Engel in Nr. 30 dieses Jahrgangs erinnern werden, Kaiser Nero schon in Arbeit nehmen lassen, wie König Necho von Aegypten einen uralten Kanal durch die Landenge von Suez; und als Louis Napoleon auf der Festung Ham saß, war er bereit, die Leitung eines Kanalbaues durch die Landenge von Nicaragua zu übernehmen, eine Riesenarbeit, zu der jetzt eben der erste Spatenstich gethan wurde.

Zwei ungeheure Kanalpläne sind außer den genannten in den neuesten Tagen aufgetaucht: eines Seeschiffahrtskanals zwischen Bordeaux und dem Mittelmeer, wo jetzt der Canal du Midi schon für kleinere Schiffe eine Straße bildet, und eines anderen quer durch Italien hindurch, ersterer in einer ungefähren Länge von 450 Kilometern, letzterer von 130 Kilometern. Darüber mag aber aus Garonne und Tiber doch noch viel Wasser ins Meer fließen. Früher wird zweifelsohne die großartige Kanalisirung der Seine von Rouen bis Paris ausgeführt werden, durch die Paris in einen Seehafen verwandelt werden soll, und deren Kosten auf „nur“ 2000 Millionen Franken berechnet werden. Weniger sicher scheint die Zukunft eines Kanals durch Jütland unter Benutzung des Liimfjord, als Konkurrenzunternehmen gegen den Nordostseekanal gedacht.

Uns als Deutsche interessirt vor allem eben dieser „Nordostseekanal“, der aus der Zeit der frommen Wünsche, der vortastenden Versuche und ernsthaften Vorbereitungen endlich in die der Arbeitsausführung eingetreten ist: das erste großartige Stück gemeinsamer deutscher praktisch greifbarer Reichsarbeit.

Die Zeit der frommen Wünsche um sein Zustandekommen reicht weit zurück, weiter als man denkt. Schon im Jahr 1571 machte der tüchtige Herzog Adolf von Holstein-Gottorp dem Kaiser Max II. den Vorschlag einer solchen Wasserstraße für „die Schiffarth durch etzliche Seen und Auen von seiner Stadt Kiel bis in die Eider, ungefehrlich zweitausend Ruten lang“ – also genau auf der Linie, auf der zweihundert Jahr nachher der „Eiderkanal“ gebaut wurde.

Noch weiter zurück als der Plan Herzog Adolfs reicht der, nach welchem in den Jahren 1391–1398 der Stecknitz-Kanal zwischen Lauenburg an der Elbe und Lübeck an der Trave gegraben wurde als die erste tatsächliche Verbindung zwischen Nord- und Ostsee, aber selbst bei der Schiffahrt damaliger Zeit war er für den Seeverkehr nicht geeignet und kann nur zu den Binnenkanälen gerechnet werden. Uebrigens befindet er sich heute noch fast im ursprünglichen Zustande.

Hundertundfünfundzwanzig Jahre später wurde von Hamburg und Lübeck gemeinsam die Arbeit an dem schon lange beschlossenen Alster-Trave-Kanal begonnen; aber das tüchtig gedachte Werk wurde 1550 schon wieder durch eine Fehde der anliegenden Grundherren zerstört. Das alte Kanalbett ist noch theilweise vorhanden, aber die Schiffahrt in demselben ist seit jener Zeit niemals wieder aufgenommen worden.

Den tüchtigeren und weitblickenden unter den dänischen Königen entging die Bedeutung einer Verbindung zwischen Nord- und Ostsee nicht, welche die so sehr beschwerliche und gefährliche Umschiffung von Skagen ersparte. Um 1550 plante Christian III. eine Durchstechung der Halbinsel zwischen Ribe und Kolding oder Ribe und Hadersleben; Christian IV. dachte etwa hundert Jahre nachher an die kürzeste aller Verbindungen zwischen Ribe und Apenrade und wieder hundert Jahre später schlag man eine Linie von Hoyer über Tondern nach Flensburg vor.

Damals schon wurde auch die später noch öfter empfohlene Linie von Husum über Schleswig nach Eckernförde untersucht und für ausführbar gehalten. Der Flottenausschuß der Frankfurter Nationalversammlung schlug 1848 den Ausbau der Eider und des Eiderkanals vor. Im ganzen fand der preußische Geheime Oberbaurath Lentze im April 1864, als er an die Prüfung des großen Planes herantrat, Nord- und Ostsee zu verbinden, nicht weniger als 14 verschiedene Entwürfe vor, unter diesen nicht mitgerechnet den des kaiserlichen Generalissimus und Großadmirals des Baltischen Meeres Wallenstein, der 1628 den Befehl zur Inangriffnahme eines Nordostseekanals gab, über dessen Richtung jedoch Genaueres nicht bekannt ist. Wallensteins Ermordung machte auch diesem Plane des großen Mannes ein Ende. Noch viel verwunderlicher aber taucht hier der Name Cromwells auf, des Lord-Protektors von England! Er hegte den genialen Gedanken einer Erwerbung Wismars durch die Engländer und einer Kanalanlage von der Elbe nach jenem mecklenburgischen Hafen mit Benutzung der Elbe und des Schweriner Sees.

Von dem Augenblick an, da die Herzogtümer von Dänemark getrennt wurden, mehren sich die Pläne massenhaft, und 1866 konnte in der preußischen Thronrede bereits die baldige Inangriffnahme der Kanalarbeiten erwähnt werden. Aber dann kam die Zeit der großen Kriege.

Im Jahre 1878 nahm der Hamburger Reeder Dahlström die Sache wieder auf, die auch von der Regierung nie ganz aus den Augen gelassen war. Dahlström beabsichtigte, unter Betheiligung Preußens oder des Reiches ein Privatunternehmen zu gründen, und 1881 reichte er einen wesentlich aus dem Lentzeschen Entwurf fußenden Plan zu einem Seefahrtskanal ein, der im ganzen und großen den Lauf nahm, nach welchem jetzt der „Nordostseekanal“ vom Reich und von Preußen gebaut wird. An der Mündung des alten „Schleswig-Holsteinischen Eiderkanals“, dort bei Holtenau, hat Kaiser Wilhelm I. am 3. Juni 1887 den Grundstein zu dem neuen Kanal gelegt. Die „Gartenlaube“ hat gelegentlich der Schilderung dieser Feierlichkeit (Jahrgang 1887, S. 426) eine Uebersichtskarte des Kanals gebracht, welcher, bei Brunsbüttel an der Elbe beginnend, die niedrigen Marschen und die Wasserscheide zwischen Eider und Elbe durchschneidet, dann dem Laufe der Gieselau folgt, um von Wittenberg bis Rendsburg im Eiderbette, welches entsprechend hergerichtet wird, weiterzugehen; von hier schließt sich der Kanal den oberen Eiderseen und dann im wesentlichen dem bisherigen Eiderkanal an bis zu seiner Mündung bei Holtenau.

Im Verhältniß zu dem, was wir jetzt bauen, war jener Kanal ja ein Zwerg, aber man soll doch die Arbeit der Leute, die vor mehr als hundert Jahren dort in Moor und Wiese gruben und karrten und die Wasserscheide mit Spaten und Hacke durchbrachen, nicht gering achten. Das alles war Hand- und Kärrnerarbeit, wir arbeiten heut mit Dampf und riesenstarken Maschinen. Und das macht einen Unterschied!

Was die Ausmaße des Eiderkanals und des Nordostseekanals angeht, so ist jener von Holtenau bis Rendsburg 38 Kilometer lang, dieser wird von Kiel bis Brunsbüttel an der Elbe 99 Kilometer lang. Jener mußte, obgleich man gern mehr leisten wollte, wegen Geldmangels auf eine Wassertiefe von 3,2 Metern, also 10 Fuß, beschränkt werden, konnte also immer nur als Schiffahrts-, nicht als Seefahrtskanal gelten; d. h. „Seeschiffe“ konnten ihn nicht benutzen wegen seiner geringen Tiefe und wegen seiner sechs Schleusen, die je eine nutzbare Länge von nur 32 Metern haben bei einer Breite von 8 Metern. Dieser wird 9 Meter tief gegraben, also 30 Fuß, und wird nur an den beiden Mündungen je eine mächtige Schleuse haben; außerdem eine kleinere beim Einfluß der Eider in den neuen Kanal, die immerhin noch 71 Meter lang, 11½ Meter breit und fünf Meter tief sein wird. Der Nordostseekanal ist also ein Durchstich, kein Treppenschleusenkanal.

Die beiden Endschleusen werden ungeheuere Bauwerke sein. Bei Brunsbüttel kommt es darauf an, einmal dem Kanal Schutz zu schaffen auch gegen das denkbar und erfahrungsmäßig schwerste Hochwasser der stürmenden Nordsee, das bis zu 20 Fuß über den mittleren Wasserstand der Ostsee sich heben kann und, wenn es ungehindert in die neue Wasserstraße hineinfluthen könnte, sie selbst und das umliegende Land strömend verwüsten würde.

Man wird hier die mächtigen eisernen, hydraulisch zu bewegenden Schleusentore nur immer zwischen Ebbe und Fluth auf etwa 3 bis 4 Stunden offen halten können und sie schließen müssen, sobald die Ebbe zu tief und die Fluth zu hoch wird. – Welcher furchtbaren Gewaltthaten die Nordsee fähig ist, davon legen die Kirchspiele Brunsbüttel und Büsum genugsam Zeugniß [844] ab. Zweimal ist Brunsbüttel in den Abgrund der Elbe gerissen und zweimal Büsum von den Wogen der Nordsee verschlungen worden.

Die Kanalmündung liegt bei Brunsbüttel in kurzer Entfernung vom Hafen, etwas oberhalb desselben. Die Landschaft ist hier die denkbar einfachste und doch dabei von einer stillen Großartigkeit. Unter dem hohen Seedeich breitet sich das freundliche Brunsbüttlerhafen. Vom Deich aus schweift der Blick weit hinaus in die Ebene der Marsch. Feierlich still liegen die stattlichen Gehöfte mit ihren reinlichen Häusern über das reiche, fruchtbare Land zerstreut, umschlossen vom frischen Grün der Bäume und Gebüsche. Und nach der See zu breitet sich majestätisch die Elbe, auf der Schiff um Schiff dem Meere zuzieht oder heimkehrend das nahe Ziel der Fahrt grüßt.

Ein Schlafraum in den Baracken.

Beide Endschleusenbecken, das bei Brunsbüttel und das bei Holtenau, müssen für die Zwecke der Marine groß genug sein, um gleichzeitig mit mehreren großen Panzern durchfahren werden zu können. Jede dieser riesigen Kammerschleusen soll eine Länge von 360 und eine Breite von 60 m haben, wird also imstande sein, unter Umständen auch eine große Anzahl von Handelsschiffen auf einmal zu fassen. – Die Riesenthüren der Schleuse bei Holtenau werden – da die Schwankungen des Wasserstandes der Ostsee und also auch die durch sie hervorgebrachten Strömungen meist unbedeutend sind – für gewöhnlich offen stehen können; aber sie müssen doch auch imstande sein, Sturmfluthwassermassen, wie die vom November 1872, vom Kanal abzuhalten. Nach den bisher aufgezeichneten Wasserständen werden die Thore der Ostseeschleuse im ganzen nur 25 Tage lang im Jahre geschlossen sein, so oft der Wasserstand einen halben Meter über oder unter die mittlere Höhe steigt oder sinkt.

Was die Breite des Kanals betrifft, so ist, da die Ufer nicht lothrecht, sondern im Winkel abgegraben werden, zwischen Spiegel- und Sohlenbreite zu unterscheiden. Erstere ist normal auf 66 m, letztere auf 22 m angenommen, so daß zwei Handelsschiffe, ohne auf Grund zu kommen, bequem aneinander vorbeifahren können, nicht aber zwei große Kriegsschiffe, für welche darum an geeigneten Orten Ausweich- und Wendestellen angelegt werden. Hier und an den Krümmungen des Kanals treten naturgemäß Verbreiterungen ein, die bei den letzteren jedoch 16 m nicht überschreiten werden. Der Halbmesser der nöthigen Kurven wird möglichst groß genommen werden, damit die Kurven thunlichst flach werden. Um eine später vielleicht nöthige Verbreiterung des Kanals zu ermöglichen, ist gleich ein 10 m breiter Landstreifen auf dem südlichen Kanalufer über den augenblicklichen Bedarf hinaus angekauft worden.

Beide Mündungen werden vor den Schleusen je einen Vorhafen aufweisen. An der Ostsee bei Holtenau können die mächtigen Dämme, schon jetzt erkennbar und stetig durch die Auffüllungen aus dem Kanalbett vergrößert, im scharfen Winkel gegen den ruhigen Kieler Hafen aufgeführt werden. Bei der Elbmündung ist dies anders. Hier geht die Kanalmündung in der Längsrichtung mit dem hier sieben Kilometer breiten Elbstrom, da das Einlaufen der Fahrzeuge rechtwinklig zur Richtung des Fluth- und Ebbestromes mit Gefahren verknüpft sein würde. Die Einfahrt wird hier durch zwei etwa 250 m lange, bogenförmig sich gegen einander neigende Molen gesichert werden, welche den Vorhafen zu bilden haben. Auch mußte hier auf den starken Schlickfall Rücksicht genommen werden. Theils wird, solche Ablagerungen zu verhüten, auf den Fluth- und Ebbestrom gerechnet, theils müssen eigene Spülvorrichtungen geschaffen werden.

Barackenlager bei Holtenau.

[845] Die Länge der gesammten Kanallinie wird reichlich 98,72 km betragen. Damit bleibt die neue Wasserstraße in der Mitte zwischen dem Suezkanal von 160 km und dem Panamakanal von 75 km. Beide aber bleiben nach Breite und Tiefe hinter dem Nordostseekanal zurück. Noch mehr thut das in jeder Beziehung der nordholländische Kanal, der 78 km lang, 38 m breit und 5,6 m tief ist und außerdem 4 Schleusen hat.

Der alte Schleswig-Holsteinische Kanal kostete etwa 6 Millionen Mark in damaliger Zeit, wo das Geld wohl allerdings wenigstens doppelten Werth hatte. Der Nordostseekanal aber ist auf 156 Millionen Mark veranschlagt, und der Reichstag hat sie bewilligt. Preußen giebt davon 50 Millionen auf eigene Rechnung im voraus, weil der Kanal durch sein Gebiet geht. Der Grunderwerb allein erforderte rund 10 Millionen Mark, denn manche größere Güter, die der Kanal zerschnitt und werthlos machte, mußten ganz angekauft werden. So haben die dem Herrn v. Ahlefeld-Lindau abgekauften Besitzungen allein 700 000 Mark gekostet. Die Erd- und Baggerarbeiten sind auf 80 Millionen veranschlagt, des weiteren vertheilen sich die Kosten auf Hafen- und Quaianlagen, Schleusen, Brücken, Fähren, Maschinenanlagen, Befestigungen etc.

Brunsbüttlerhafen.

Was nun den jetzigen Stand der Arbeiten an diesem Riesenwerk betrifft, für dessen Vollendung das Jahr 1895 in Aussicht genommen ist, so wird jetzt fast auf der ganzen Linie gearbeitet, nur in drei kleineren Losen hat die Verdingung der Erdarbeiten noch nicht erfolgen können. Bisher sind rund 66 Millionen cbm Bodenaushub für etwa 57 Millionen Mark vergeben worden. Außerdem sind die Erdarbeiten an den beiden großen Schleusengruben bei Brunsbüttel und Holtenau an Unternehmer übertragen. Da die Art und Ausführung der Arbeiten längs der ganzen Strecke und auch in den beiden Schleusenbecken wesentlich dieselbe ist, wird es genügen, die Arbeiten an einem der letzteren genauer zu beobachten: an dem Holtenauer bei der Ostseemündung.

Wie schon erwähnt, kennzeichnet sich bereits jetzt die Einfahrt zu dem neuen Kanal sehr deutlich durch gewaltige Erdaufschüttungen und mächtige Dämme, die weiter und weiter in die schöne Wiker Bucht vorgeschoben werden. Das Material dazu hat die Schleusengrube in ihren riesigen Ausmessungen hergegeben und giebt sie noch fortwährend her. Es ist ein interessanter Anblick, von oben in das bisher ausgehobene Becken hinabzuschauen. In drei Absätzen und schon bis zu recht gehöriger Tiefe fallen die in Sand und Thon hineingearbeiteten Böschungen ab. Der Grund der nach Länge und Breite vollständig ausgehobenen Grube ist in seiner ganzen Ausdehnung mit ausgegrabenen und freigelegten erratischen Granitblöcken übersäet; sie liegen meistens im klaren, oder vielmehr recht schmutzigen Wasser, das zum Theil Regengüssen, zum Theil dem durchsickernden Grundwasser, zum Theil aber auch lustig und stark rieselnden angegrabenen Tiefgrundquellen entstammt, die aus bisher nicht verschließbaren Brunnen ganz anständige Wassermassen zu Tage fördern und dem großen Pumpwerk mit seiner Schnecke, das ohne Rast und Ruh bei Tag und Nacht arbeitet, genug zu schaffen geben. Wohin man schaut, überall rüstige Arbeit. Dort drüben hält einer jener Arbeitszüge unter der hohen Wand. Hier gerade wird noch mit der Hand geschafft, als Vorarbeit für den Trockenbagger, die Spaten und Hacken wirbeln auf und nieder, die Erdschollen fliegen, es ist ein emsiges, rastloses Thun in langer Reihe auf gelbem Erdhintergrund; farbig und dem Bilde Schmuck verleihend, leuchtet zwischen den grauen einförmigen Gestalten der Arbeiter einer und der andere auf in der rothen Jacke des Polacken. Die Lokomotiven pfeifen und keuchen, die vollbeladenen Züge rasseln dahin, der Bucht zu, die sich im Sonnenlicht vor uns dehnt: links die Reihe fröhlich grünender Linden vor dem alten Holtenauer Zollspeicher, davor die schöne Germania, die einst auf dem Bug des Schiffes emporragte – des nachgemachten, vor dem an jenem Junitage der Thronsessel Kaiser Wilhelms I. stand – und die nun aus dem Grundstein steht, dem der greise Kaiser für seine Bestimmung, bei Beginn der Maurerarbeiten am Schleusenbecken als erster Stein versenkt zu werden, die Weihe gab.

Nahe dabei befindet sich der Obelisk mit der Krone, der als Denkmal der Einweihung des alten Kanals errichtet wurde, und der kleine Kiosk mit dem spitzen Dach, welcher früher als Zollhäuschen diente. Ganz im Vordergrunde der riesige Dampfbagger, dessen Paternosterwerk ohne Rast den „Mudd“, den Schlamm aus der Tiefe holt, da wo der Vorhafen einmal Panzerschiffe aufnehmen soll, und aus dem alten, vom neuvertieften Becken durch einen aufgeworfenen Damm geschiedenen Kanal die Kuffs und Ewer und Tjalks, die ihn von je befahren haben und lustig wie früher ein- und aussegeln; oben auf den [846] Höhen links eine stattliche Kolonie neuerbauter Beamtenhäuser. Hier unter uns rasselt ein leerer Zug über die Schienen zurück; Lärm auf allen Seiten und weiße, aufsteigende, in sich wirbelnde Dampfwolken von stehenden und fahrenden Maschinen, in der Höhe und in der Tiefe grabende, karrende, hackende Männer, hin und her zerstreut in langen beweglichen unregelmäßigen Linien. Dort drüben fährt ein langer Zug einander folgender Handwagen auf leichtem Schienengeleis, von Männern geschoben. Der Inhalt der eisernen Kippkarren ist nicht grauer Thon oder gelber Lehm oder heller Sand: mit dunkler Torferde sind sie gefüllt, die da ausgegraben wird, wo früher eine grüne, saftige Wiese den alten Kanal hart an seiner Mündung begrenzte.

Auf solchen Strecken sind die schwierigsten Arbeiten zu bewältigen, wo der lockere Boden keine Maschine trägt und alles mit der Hand gemacht werden muß, und die Befestigung der Moorufer macht am meisten Sorge und ist am unzuverlässigsten; nach zwei, drei Jahren läßt sich vielleicht erst beurtheilen, ob die vollbrachte Arbeit die gewollte Dauer hat.

Aus dem tiefen, nassen, klebrigen Moortorf ragt es lang und braun und kahl: nebeneinander, in gleicher Richtung hingestreckt, wie einstmals die Riesenfluth sie umstürzte und in Schlamm begrub, liegen da uralte Eichbäume, dicke und dünne in reicher Zahl, und noch werden immer neue ausgegraben von den Arbeitern, die jeder ein paar Pfund Torfmoor an den schweren nassen Stiefeln tragen. Aber die Moorschicht muß weg, darunter liegt blauer Thon zu Tage, dann wird die Arbeit wieder reinlicher.

Die vorgeschichtlichen Funde, welche bis jetzt gemacht wurden, sind im ganzen nicht eben bedeutend. Die Besiedelung der vom Kanal zu durchschneidenden Strecken ist offenbar seit ältesten Zeiten stets eine gleichmäßige gewesen, wie sie durch Beschaffenheit des Bodens und seine Ertragsfähigkeit geboten war. An solche Funde, wie sie anderswo in Riesengräbern gemacht werden, ist hier nicht zu denken, also auch nicht an die Hebung besonderer Merkwürdigkeiten oder Kostbarkeiten. Auch naturhistorische Seltenheiten scheint man beim Kanalbau nicht allzu viel erwarten zu dürfen. Jene halbverkohlten Bäume, Torfbildungen, Findlingsgranit aus Skandinavien, Lehm, Löß und Sand in allen Arten, das findet man, aber weder Kohlenlager noch Erzadern.

Die Arbeit der Hände in Ehren, aber Maschinenarbeit bringt doch mehr fertig.

Das zeigt der Trockenbagger, der nicht weit davon ohne Aufhören schafft und gräbt im festen Erdreich. Es ist ein merkwürdiges, aber im Grunde recht einfaches Ungeheuer. Zwischen zwei langen Armen, die sich nach Bedarf heben und senken lassen, geht, von starker Dampfkraft getrieben, an riesenstarker Gelenkkette ohne Ende ein „Paternosterwerk“, eine Folge von 25 großen, gewölbten Stahlschaufeln, die, wie sie 5 m tief herabgelassen und ohne Aufhör wieder aufwärts gezogen werden, in kreisender Bewegung mit ihrem scharfen Rand das Erdreich losschürfen und abgraben, um ihre Höhlung damit zu füllen und es nach oben zu schaffen; dort klappt jede Schaufel durch ihr eigenes Gewicht in ihrem Gelenk nieder und entleert, was sie gefaßt hat, in den unter dem Baggerhaus haltenden Wagenzug. Ist ein Wagen voll – und dazu braucht’s nicht lange Zeit, in gut einer Minute wird je ein Eisenbahnwagen gefüllt – dann rückt das ganze Unthier langsam auf seinen drei Schienen soweit vor, daß die Kette über dem nächsten Wagen steht – und die Schaufeln kratzen und schürfen wieder; und wo sie gegraben haben, da stellt die Böschung eine etwas ausgehöhlte, aus der Ferne gesehen ganz glatte, flach muldenförmige Wand dar. Und ist so die bestimmte Strecke abgegraben und abgefahren, dann wird das Geleise des Baggers rückwärts verlegt – und die Arbeit fängt wieder an. Und das schafft, besser als wenn Spaten um Spaten mit der Hand ausgehoben und auf Schiebkarren wer weiß wie weit weggefahren werden muß, wie vor hundert Jahren beim Bau des alten Kanals. In der Stunde fördert eine solche Maschine 100 cbm Erdmasse im Durchschnitt. Die Bedienungsmannschaft ist eine geringe. Dreißig Mann im ganzen genügen, um mit einem solchen Bagger am Tage gegen 2400 cbm Boden auszuheben. Die Maschinerie des Baggers selbst erfordert nur vier Mann, zehn Mann verschieben die Geleise, zehn Mann kippen und entleeren die vollen Wagen.

Anfang September waren aus der Schleusenbaugrube 300 000 cbm Erdmasse ausgehoben. Auf der ganzen Kanalstrecke sind jetzt sieben Millionen Kubikmeter, etwa ein Zehntel der ganzen Masse, beseitigt. Beim Bau werden zur Zeit etwa 30 Bagger und 60 Lokomotiven verwendet. Die Erdarbeiten werden überhaupt nicht eben als die schwerste Aufgabe angesehen, das sind eher die Riesenschleusenwerke, die zu ihrer Vollendung die Zeit von viereinhalb Jahren erfordern werden. In demselben Zeitraum hofft man mit den Erdaushebungen durchweg fertig zu sein, wie denn überhaupt die von anfang an festgesetzte Vollendungsfrist bis zum Jahre 1895 eingehalten werden wird – wenn nicht ganz unerwartete und schwer zu bewältigende Schwierigkeiten in die Quere kommen.

Was den eigentlichen „Bau“, die Auf- und Ausmauerung des Schleusenbeckens angeht, so wird der Bedarf an Mauersteinen auf 50 Millionen veranschlagt.

Es mag manche Ziegelei im Lande in ihren Erwartungen arg enttäuscht worden sein, die einen Antheil an der Lieferung einer so ungeheuren Menge Steine für sich erhoffte; der Kanal liefert die Steine nämlich selbst. Die mächtige im Bau begriffene Ziegeleianlage bei Groß-Nordsee nahe beim Flemhuder See mit ihren neun hochragenden mächtigen weißen Luftschachten, die auf einen beständigen Ringofenbetrieb von 24 Kammern eingerichtet, mit ausgezeichneten Trockenvorrichtungen und allen Maschinen der Neuzeit ausgerüstet wird, hat die Arbeit in dem thonreichen Gebiet zu leisten und 40 000 Steine am Tage zu liefern. 800 Millionen Steine sind vorgesehen.

Auch bei Brunsbüttel an der Elbmündung befindet sich jenseit des Kanals eine große Dampfziegelei. Allein der Grunderwerb hat dem Unternehmer über 100000 Mark Kosten verursacht. Das Material zu den herzustellenden Ziegelsteinen wird dem Besitzer kostenfrei bis zur Arbeitsstätte geliefert. Dagegen ist er verpflichtet, monatlich 100 000 Steine zu liefern, die ihm fürs Tausend mit 24 Mark 50 Pfennig vergütet werden.

Um die Kanalufer vor dem sehr starken Wellenschlag der ihn durchfahrenden Panzer zu sichern, werden die Böschungen, soweit er reichen kann, mit Ziegelsteinen belegt, gepflastert oder betoniert werden. Auch zur Pflasterung liefert der Kanal selbst das massenhaft erforderliche Material in den ungezählten erratischen Granitblöcken, deren größte man an Ort und Stelle mit Dynamit sprengt, um sie dann zu verarbeiten und zuzupassen. Bei Holtenau ist schon nahe am alten Kanal ein Steinmetzhof eingerichtet, auf dem die behauenen und geschlagenen Steine in gewaltigen Haufen wohlgeordnet aufgestapelt liegen.

Es arbeiten zur Zeit bei Holtenau an 300 Arbeiter, auf der ganzen Baustrecke etwa 4600, von denen reichlich 3000 längs des ganzen Kanals in Baracken untergebracht sind. Unter der Gesammtzahl sind etwa 120 Ausländer. Nicht in den Baracken wohnen die Schmiede, Zimmerleute etc. Was den Leuten in den Baracken in jeder Beziehung geboten wird, ist geradezu mustergültig.

Man muß sich unter dem Namen Baracken nicht etwa ein unordentlich zusammengezimmertes oder verfallendes Bauwerk denken. Es sind auf der ganzen Linie hin aus festgefugten Brettern errichtete, braunroth getheerte, mit Pappe gedeckte, von einem Glockenthürmchen überragte, langgestreckte einstöckige Gebäude, die in luftige, helle, je zwei durch einen Ofen heizbare Stuben eingetheilt sind, in denen je acht Mann Unterkommen finden. Die eisernen Bettstellen sind zu je zweien übereinander angeordnet nach Art der Kasernenbetten, mit Matratze und Kopfpfühl, im Sommer mit einer, im Winter mit zwei blau und weiß bezogenen wollenen Decken und mit weißem Betttuch versehen. Die Wäsche wird alle vier Wochen gewechselt. Neben jedem Bett hängen die Handtücher, und je ein Schemel ist für jeden Mann bestimmt.

In den Holtenaner Baracken herrschte, als ich sie besah, tadellose Ordnung und Sauberkeit. Besonders dazu Angestellte machen die Betten, räumen auf und reinigen die Stuben und Geräthe. Im Winter wird der Zementfußboden mit durchlässigen Holzlatten überdeckt. Für etwaige bettlägerige Kranke ist ein besonderer Raum hergestellt, ein Arztzimmer fehlt nicht, und ebenso wenig ein Zimmer für die „Revierkranken“, die der Ruhe und der Absonderung bedürfen.

Ein großer, hochgezimmerter, luftiger Saal dient für die gemeinsamen Mahlzeiten. An langen, reinlichen Tischen und Bänken [847] nahm um 12 Uhr die ganze Schar Platz. Das Essen war in den drei ungeheuren Kesseln der sauberen Küche mit Dampf gekocht. Es gab an dem Tage gerade Reis mit Kartoffeln und Rindfleisch zusammengeschmort. Was da in die reinen, weißemaillirten Näpfe von je anderthalb Litern Fassungsraum gefüllt wurde, sah vortrefflich aus und duftete sehr appetitlich. Auf 300 Mann werden 112 Pfund Rindfleisch oder 100 Pfund Schweinefleisch gerechnet. Wer an den anderthalb Litern nicht genug hat, kann sich nachgeben lassen. Manche bringen es auf zwei ganze Liter. Dafür bezahlt der Mann 35 Pfennig den Tag. In der Frühe giebt es einen halben Liter Kaffee in sauberem Steingutbecher, zu 5 Pfennig, dazu für 5 Pfennig Brot. Das zweite Frühstück kostet den Mann an Brot 5 Pfennig, an Branntwein 5 Pfennig, an Wurst 5 Pfennig; Vesperbrot und Abendessen, reichlich gerechnet, je 15 Pfennig, und das Schlafquartier 10 Pfennig; macht täglich für gänzlich ausreichenden, kräftigen Unterhalt – 1 Mark. Rechnet man dazu den Verbrauch an Kleidung und kleinem Werkzeug täglich auf 80 Pfennig, so behält er bei einem Mindestverdienst von täglich 2 Mark 50 Pfennig im Monat etwa 11 Mark übrig; bei einem Verdienst von 3 Mark 50 Pfennig täglich 1 Mark 70 Pfennig, das macht bei 26 Arbeits- und 30 Verzehrstagen monatlich 37 Mark; im Jahr bei durchgehender Arbeitszeit rund 450 Mark.

Auch eine Bade- und Duscheeinrichtung, einfach und praktisch, ist vorgesehen – aber merkwürdigerweise wird sie so gut wie gar nicht benutzt! Die Gesundheitsverhältnisse waren übrigens durchweg befriedigende. Und auch das Verhalten der Arbeiter ist bisher ein durchaus gutes gewesen. Selten daß wirkliche Ausschreitungen vorgekommen sind, und diese durchweg nur infolge von Trunkenheit – am Sonntag! Sonst machte es einen erfreulichen Eindruck, auf der ganzen Linie keinerlei besondere Sicherheits- und Ordnungsvorkehrungen anzutreffen. Ein einziger Gendarm ist mir bei meinen Kanalwanderungen begegnet, und mit Befriedigung bemerken beobachtende Augen, wie ganz abgerissen angekommene Gesellen allmählich in gutem und schützendem Zeug erscheinen. Die Post bei Holtenau hat reichlich mit Heimsendung von Geldern zu thun. Für regelmäßigen evangelischen und katholischen Sonntagsgottesdienst ist auch Sorge getragen. Dazu werden am Sonntagmorgen die Bänke des Speisesaals gegen das Rednerpult an der einen Querseite gekehrt, und oben von dem Glockenturme läutet man zur Kirche.

Aber zurück zur Baustrecke. Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Durchstich, der mit einem ungeheuren Wasserabzugsgraben verglichen werden kann, auf die Grundwasserverhältnisse der anliegenden Ländereien weithin mächtigen Einfluß haben muß. Es kommt darauf an, trotzdem den Anliegern soweit als irgend möglich denjenigen Wasserstand zu lassen, den dieselben beim jetzigen Kanal haben. Das wird dadurch bewirkt werden, daß diejenigen Strecken des alten Eiderkanals, welche die neue Linie abschneidet, an beiden Enden zugedämmt und in stehende Gewässer verwandelt werden.

Hoch interessant werden die Arbeiten am „Flemhuder See“. Hier sollen, ohne die Schiffbarkeit in der mittleren Rinne des Sees in Frage zu stellen, großartige Ablagerungen von Kanalerde vorgenommen werden. Der See ist sehr tief: 25 bis 30 Meter. Um 7 Meter muß sein Spiegel so wie so gesenkt werden, weil der alte treppenartig ansteigende Schleusenkanal in seiner Scheitelhöhe um ebensoviel über dem Spiegel der Ostsee liegt, mit welcher der neue Kanal in einem Niveau liegen wird. Außerdem bekommt der See auf allen Seiten einen Gürtel in Gestalt eines Dammes umgelegt, der ihn von 234 Hektar auf nur 84 Hektar einengt. Alles andere wird zugeschüttet. Hinter dem See, südlich von ihm, liegt, durch ein Stück Eiderfluß mit ihm verbunden, ein anderer, der sein Wasser an ihn abgiebt, der „Westensee“. Dessen Spiegel soll nicht gesenkt werden, sondern um den dann um 7 Meter verschiedenen Wasserstand beider Seen auszugleichen, wird ein künstlicher Wasserfall von 23 Fuß Höhe am Ausfluß der Eider in den Flemhuder See gebaut werden; außerdem wird zur Bewässerung der Wiesen um den Flemhuder See ein Theil des Wassers vom Westensee durch die Wiesen hindurch geleitet werden. Es werden eben Aufgaben aller Art an die Kanalbaumeister gestellt.

Dort, wo die Wiesen bei Holm an die Mündung des Sees in den jetzigen Kanal grenzen – der hier in den neuen aufgenommen wird – liegt ein Naßbagger, der sich mit Ruhe und gierigem Behagen in den weichen nassen Moorgrund der Wiesen hineinfrißt und sich selbst freibaggert, d. h. er macht sich selbst Bahn, indem er vor sich her die nöthige Tiefe herstellt, so daß er auf dem nachströmenden Wasser schwimmen und immer weiter arbeiten kann. Wo bleibt aber das Material, das er heraufholt und in die Prähme, die flachen viereckigen Kähne, schüttet, die ihm beigegeben sind? – Weiterhin, drüben am andern Ufer des Sees ins Wasser hinausgebaut, hebt sich ein mächtiger, ragender Pfahlbau. Dorthin, unter ihn hin, werden die Prähme geschleppt, und nun löffelt ein anderer Bagger den zähen Schlick aus ihnen heraus und entleert ihn aus seinen Eimern in lange Rinnen, die, kräftig durchspült, die nassen Erdmassen bis dorthin gleiten lassen, wohin man sie haben will.

Bei „Levensau“ ist sehr früh mit den Erdarbeiten begonnen worden. Auf der Strecke, in der von hier bis Knoop der neue Kanal den großen Bogen geradlinig abschneidet, den der alte Eiderkanal machte, hat man ein gutes und betuliches Bild des Kanalbettes in seiner ganzen Breite, das an einzelnen Stellen kaum meterweit entfernt an jetzt noch friedlich bewohnten, bald aber wohl abzubrechenden Bauernhäusern vorbeiführt. Mancher Baum hat fallen müssen – und noch manche werden ihm folgen, und wo in den Buchen auf gerundeten Höhen der Buchfink schlug, da werden unten im Grunde Panzerschiffe schnaufen. Schöner wird das ganze liebliche Gelände nicht werden durch den neuen Kanal, und man wird an ihm entlang an sonnigen Apriltagen keine Veilchen pflücken, wie früher an dem alten, der einem leise durch Gärten, Feld und Wald fließenden gewundenen Fluß glich. Das wird anders! – Aber es muß so sein!

An einer Stelle im neuen Kanalbett, da wo der Trockenbagger in der ganzen Breite der künftigen Wasserstraße Reihe um Reihe ausgeschaufelt hat im grauen festen Thon, sieht es aus wie ein mäßig und gleichförmig bewegtes Meer, das plötzlich stehen geblieben und erstarrt ist. Weiterhin wird das Bett des gewaltigen Durchstichs durch ein Hochmoor geleitet, in dem nebenher ganz praktisch etwas Torfstich geübt wird. Die Befestigung der Kanalufer in diesen Moorgegenden, namentlich weiter westlich zwischen Rendsburg und Elbe, im Meckelmoor und im Kudensee, wird den Technikern unserer Zeit etwa ebenso viel Mühe verursachen wie vor 100 Jahren die kleineren Moorgründe des Obereiderlaufes den damaligen Erbauern. Auch unweit der Ostseemündung des Kanals ist ja solch ein Moorgebiet, aus dem schon jetzt durch den Druck der aufgeschütteten Dämme Torf- und Schlammmassen herausquellen, die dem Tiefbagger dort Arbeit geben, der vor der Mündung liegt. Ein Theil des ausgehobenen festen Bodens, der zumeist aus lehmigem Sande besteht, wird hier zur Herstellung einer festen und sicheren Kanalböschung verwendet werden. An einigen Stellen werden in entsprechendem Abstande vom Kanal parallel zu demselben in dem weichen Moorboden noch besondere Dämme von festem Lehmboden hergestellt, die das an den Kanal grenzende moorige Land verhindern sollen, in ihn einzudringen.

Bei Landwehr arbeiten nicht weniger als 3 Trockenbagger nah bei einander; zwei hüben, einer drüben, von ersteren der eine noch weit vorgeschoben, der andere schon tief zurückgezogen ins Kanalbett. Aber die Geleise seines Kameraden werden ihm bald folgen.

Es wird durchgängig zunächst nur auf halbe Tiefe gearbeitet, aber bei Tag und bei Nacht kratzen und wühlen und schürfen die Stahleimer der Trockenbagger, die allmählich, wie die Arbeit weiter fortschreitet, den Naßbaggern werden weichen müssen, je nach dem Anschluß der Theilstrecken des alten Kanals an den neuen. Ersterer muß wegen seiner Wichtigkeit für den kleineren Handels- und Schiffahrtsverkehr ungestört bleiben während des Baues. Daher werden diejenigen Strecken, die nicht mit dem früheren Eiderkanal zusammenfallen, erst nach ihrer wesentlichen Vollendung mit ihm in Verbindung gesetzt durch Durchstechung der von der alten Wasserstraße sie trennenden Dämme. Diese Abschnitte können dann vor der Hand schon von den kleinen Kanalfahrzeugen benutzt werden, während ohne Aufhör das Bett des Kanals durch Baggerungen weiter vertieft wird bis auf jene neun Meter, und so natürlich auch die in Benutzung bleibenden Strecken des alten Kanals.

Welche Bedeutung für Kriegs- und Handelszwecke wird nun diesem Nordostseekanal zukommen? – Zunächst wird er in letzterer [848] Hinsicht selbstverständlich den Werth für die Kleinschiffahrt behalten, den der alte Kanal gehabt hat, wie er ja auch, außer der großen Mündung bei Brunsbüttel, die ältere, kleinere Eidermündung bei Tönning beibehält. Diese zweite Mündung bildet, nachdem die lästigen und für unsere Torpedoboote zu kurzen Schleusen im Kanal gefallen sind, für letztere auch ein gutes Ausfallthor, um einem Feinde, der vor der Elbmündung liegt, in den Rücken zu fallen, und eine Torpedo- oder gar Panzerkanonenbootflottille, welcher der Rückzug durch den vorgenannten Kanal zur Ostsee kaum abgeschnitten werden könnte, würde einem feindlichen Blockadegeschwader, das sich auf Helgoland stützt, die ernstesten Gefahren und Schwierigkeiten bereiten. Den Schiffern aber, die bisher ihre Kuffs sechsmal mußten durchschleusen lassen, wird die glatte Fahrt auch nicht unangenehm sein in Zukunft.

Entwässerung durch die Dampfpumpe.

Der Kanal soll aber in erster Linie militärischen Zwecken dienen. Die dänische Halbinsel trennt die beiden großen Kriegshäfen Wilhelmshaven und Kiel. Ein einziges feindliches Geschwader, das die Belte blockiert, kann alle Verbindung zwischen den beiden Häfen aufheben. Der Kanal stellt die Verbindung her, und während er den Feind zwingt, zwei Blockadeflotten statt einer aufzustellen, ermöglicht er uns, aus zwei Geschwadern eine Flotte zu bilden, ohne daß der Leuchtthurmwächter auf Skagen es merkt. Nur daß der Kanal im Winter nicht zufriert! Aber gegen die Elemente schützt keine Kraft und Klugheit.

Der Kanal wird natürlich an den Eingängen stark befestigt werden, um einem Feinde die Annäherung an denselben oder die Vergewaltigung der Mündungen unmöglich zu machen. Aber auch dem Landheer in der Nordprovinz wird durch die Schaffung des Kanals eine ganz neue Aufgabe zufallen, nämlich die Deckung des freien Verkehrs von Schiffen der deutschen Flotte von der Ostsee nach der Nordsee und umgekehrt. Wenn die ganze Feldarmee an den Grenzen kämpfen müßte, wäre es nicht unmöglich, daß die Deckung des Nordostseekanals im wesentlichen dem Landsturm der Provinz anvertraut werden müßte. Die Volksbewaffnung und der Kampf gegen Eindringlinge aus Norden ist bei den Schleswig-Holsteinern so nichts Unbekanntes, und für die Mitbetheiligung der Landsturmtruppen an der Küsten- und Landvertheidigung zur Deckung des Nordostseekanals ist die Bodenbeschaffenheit des Landes mit seinen vielfachen „Knicks“ außerordentlich günstig: den niedrigen Wällen, welche die Felder von einander scheiden und die Wege begrenzen, durchgängig mit hohem dichten Buschwerk bepflanzt. In solchem Gelände können ortskundige Landsturmtruppen vorzügliche Dienste thun.

Handausschachtungen.

Der Handelsmarine wird der neue Kanal einmal eine größere Sicherheit der Fahrt und dann eine bedeutende Abkürzung derselben bringen. In der Bauhütte bei Holtenau hängt eine Karte, auf welcher an der ganzen Küste von Nordjütland mit schwarzen, dichtgesäeten Punkten die Stätten aller Schiffsunfälle von 1858 bis 1885 angegeben sind in geradezu erschreckender Anzahl. Es sind im ganzen nicht weniger als 6316, jährlich im Durchschnitt 226 mit einem Gesammtwerth an verlorenen Schiffen und Ladungen von 14 Millionen Mark! In den Jahren 1878 bis 1881 gingen dort an deutschen Schiffen durchschnittlich jährlich 18 mit einem Versicherungswerth von 700 000 Mark – ohne die Ladung! – unter. Die „Jammerbucht“ bei Skagen ist ein Schrecken der Seeleute und eines der verrufensten Küstengewässer auf Erden. Auch unsere „Undine“ ging da 1884 verloren mit jenem berühmten, durch die tosende Sturmbrandung donnernden Hoch auf den Kaiser.

Zu der vermehrten Sicherheit kommt die bedeutende Abkürzung der Fahrt für die Schiffe, die aus der Nordsee in die Ostsee wollen und umgekehrt. Und für den Kaufmann ist Zeit Geld. Der neue Kanal kürzt die Reise von der Ostmündung bis nach Hamburg um nicht weniger als 425 Seemeilen ab, d. h. einschließlich eines angemessenen Aufenthaltes bei den Schleusen um 45 Stunden; nach Bremerhaven um 32 Stunden, nach London um 239 Seemeilen oder 23 Stunden gegenüber der Fahrt um Skagen herum. Es handelt sich dabei um Dampfer, deren Durchschnittsfahrt auf Seemeilen in der Stunde berechnet ist. Nach dem nördlichen England, z. B. nach New-Castle, verringert sich der Vortheil auf einen Gewinn von nur 6 Stunden. Die ganze Schiffahrt aber nach den norddeutschen Küsten, nach Holland, Belgien und dem

[849]

Ein lustiges Lied.
Nach einem Gemälde von H. Sondermann.

[850] englischen Kanal wird den Weg durch den Nordostseekanal nehmen müssen. Außer der Zeitersparniß muß auch noch die nicht unbedeutende Verminderung der Versicherungsgebühr für Schiff und Ladung in Anschlag gebracht werden, wenn ersteres die Fahrt durch den gefahrlosen Kanal wählt. – Die Zeitersparniß, welche Segelschiffe von der Fahrt durch den Kanal haben können, ist naturgemäß eine sehr verschiedene, je nach den Wind- und Witterungsverhältnissen. Der Gewinn, den ein im Skagerrack durch Gegenwind oder im Kattegat und Sund durch Windstille zurückgehaltenes Schiff von der Fahrt durch den Kanal haben kann, wenn es sich schleppen läßt – bei Helsingör liegen oft Hunderte von Schiffen fest, um auf günstigen Wind zu warten – ist zuweilen auf Wochen zu veranschlagen.

Man nimmt nun für den Kanalverkehr etwas mehr als den dritten Theil aller bisher durch den Sund gehenden Schiffe an, nämlich etwa 18 000 im Jahr, und rechnet die Einnahme aus ihnen auf reichlich 4 Millionen Mark (vgl. Sympher im „Zentralblatt für Bauverwaltung“), denen etwa 2 Millionen Mark Unterhaltungskosten gegenüberstehen würden: es würde sich mithin ein verzinsender Ueberschuß von 2 Millionen ergeben, d. h. 4 Prozent der 50 Millionen, welche übrig bleiben, wenn man die 51 Millionen vom Baukapital abzieht, die zu Zwecken der Kriegführung gerechnet werden, und ferner die 50 Millionen, die Preußen als Vorausbetrag gezahlt hat. Damit würde dann mindestens derjenige Kostentheil verzinst sein, der lediglich dem Nutzen des allgemeinen Verkehrs gewidmet ist. –

Nicht geringe Schwierigkeiten werden die Uebergänge über den Kanal machen. Es handelt sich darum, 4 Eisenbahnen, 5 Heerstraßen und eine ganze Anzahl geringerer Wege überzuführen. Für letztere werden Handfähren, für 3 Heerstraßen Dampffähren und für die 2 andern und die Eisenbahnen Drehbrücken, vielleicht auch eine feste Brücke, gebaut werden müssen.

Die Leitung des ganzen Riesenbaues steht unter der kaiserlichen Kanalkommission in Kiel. Sie steht unmittelbar über den vier Bauämtern in Kiel, Rendsburg, Burg und Brunsbüttel. Die Länge des Kanals wird von Brunsbüttel aus gemessen mit 0 km, bis Holtenau mit 98,7 km.

Möge das große Werk, das erste praktische Friedenswerk, an dem Alldeutschland arbeitet, rüstig in Frieden fortschreiten, und an dem Tage, an dem zum erstenmal die Fluthen der Nord- und Ostsee zusammenrauschen, darf auch das deutsche Volk sein Haupt um ein gut Theil freier erheben.




Sakuntala.

Novelle von Reinhold Ortmann.
(Schluß.)
11.

Nun hatte Gerhard Astrids Brief gelesen, zum drittenmal gelesen, und noch immer starrte er darauf hin wie ein Träumender, der auf ein plötzliches märchenhaftes Verschwinden der Schrecknisse hofft, die ihn umgeben.

Astrid gab ihm sein Wort zurück, sein Wort und seinen Ring, der – säuberlich eingepackt – dem Brief entfallen war, als er ihn hastig erbrochen hatte. Und nicht unter dem Einfluß irgend eines Mißverständnisses, einer kleinlichen Eifersüchtelei, nicht in einer zornigen Aufwallung hatte sie den langen Brief geschrieben, der diesen auffallenden Schritt begründen sollte, sondern unverkennbar bei klarster und ruhigster Ueberlegung, unter zielbewußter, nüchterner Erwägung jedes einzelnen Umstandes, der für einen so folgenschweren Entschluß in Betracht zu ziehen war.

Auch ihm hatte sie nichts verschwiegen, und auch ihm gegenüber hatte sie nicht nach irgend welchen Bemäntelungen für die traurige Wahrheit gesucht. Alles, was sie ihm zu sagen hatte, ließ sich in einen einzigen kleinen Satz zusammenfassen: sie verschmähe es, aus Großmuth und Mitleid geheirathet zu werden, und sie trete ihre Rechte auf ihn an diejenige ab, welche ältere und besser begründete Ansprüche geltend machen könne als sie. Sie erwähnte ihres Besuches bei der Sängerin und ihres Aufenthalts in dem Konzertsaal; aber sie gebrauchte nicht ein einziges Wort, das sich als ein Vorwurf gegen ihn hätte deuten lassen. Vielmehr dankte sie ihm für seinen edelmüthigen Versuch, ihre Ehre zu retten, und klagte sich selbst der thörichten Kurzsichtigkeit an, daß sie diesen Versuch nicht schon früher seinem wahren Wesen nach erkannt habe. Von ihrer Gemüthsstimmung sprach sie mit keiner Silbe; ja, man mußte nach dem Ton des ganzen Schreibens wohl annehmen, daß dieselbe weit davon entfernt sei, eine verzweifelte zu sein. Besonders lebhaft und eindringlich wurde ihre Ausdrucksweise an jener Stelle, wo sie Gerhard beschwor, keinen Versuch zur Wiederherstellung des früheren Verhältnisses zu machen, da sie wenn auch keinen Anspruch auf seine Liebe, so doch einen Anspruch auf seine Achtung zu haben glaube. Und gleichsam, um ihn keinen Augenblick darüber im Zweifel zu lassen, wie bitterer Ernst es ihr mit diesen Worten sei, theilte sie ihm am Schlusse mit, daß sie schon im Begriff sei, ihre Vorbereitungen zur Abreise nach Norwegen zu treffen, wohin ein Brief ihres Großvaters sie gerufen habe.

Während Gerhard diesen Absagebrief wieder und wieder las, empfand er eine fast an Verachtung streifende Bitterkeit gegen sich selbst. Diesmal wenigstens hatte er nicht im Unklaren bleiben können über das, was er im Verlauf des ereignißreichen Tages gefühlt hatte und was ihn in diesem Augenblick bewegte. Ja, es hatte eine Stunde gegeben, in welcher etwas von dem alten Rausch mächtiger Leidenschaft, etwas von jenem Taumel des Entzückens über ihn gekommen war, der ihn einst in Ritas Nähe und bei ihrem Gesange zu erfassen pflegte. Als er die Probe verließ, hatten sich Gedanken in seinem Gehirn gejagt, welche nicht allzu unähnlich waren denen, die er hier auf dem glatten weißen Papier mit erbarmungsloser Deutlichkeit vor sich sah. Und dabei hatte er sich auf dem Wege befunden nach dem Weinbergsweg! Nur wenige Dutzend Häuser waren noch zwischen ihm und seiner Braut gewesen, als er dem Kutscher den Befehl gab, umzukehren und ihn in seine eigene Wohnung zu bringen. Nicht in dieser Stimmung hatte er Astrid gegenüber treten wollen, denn er war sich des Verbrecherischen seiner Gedanken voll bewußt, und er dürstete nach Einsamkeit, um den wilden Rausch verfliegen zu lassen.

[851] Und das alte Heilmittel hatte sich gut bewährt. Das fiebernde Blut in seinen Schläfen hatte sich allgemach beruhigt, und andere Bilder waren in seiner Phantasie lebendig geworden als dasjenige, welches er aus dem Konzertsaal mit fortgenommen hatte. Nicht das schöne, verführerische Weib hatte er vor sich gesehen, sondern jenes unbarmherzige, mitleidlose Geschöpf, das in einer stürmischen Winternacht, in duftendes Pelzwerk gehüllt, an seiner Seite in dem bequemen Wagen gesessen und auf seine innigen, flehentlichen Bitten, einer Unglücklichen beizustehen, mit grausamen Worten des Spottes und Hohnes geantwortet hatte. Und vor dieser unauslöschlichen Erinnerung war der neue Rausch schnell wieder verflogen; die Last, welche sich ihm centnerschwer auf Kopf und Herz gelegt hatte, war wie von Geisterhänden abgewälzt, und jene ruhige Seelenheiterkeit, die ihn während der ganzen Dauer seines Brautstandes so glücklich gemacht hatte, war ihm allmählich zurückgekehrt. Ja, er durfte nicht mehr zweifeln an sich selbst. Astrid allein war es, der seine Liebe gehörte, und sie sollte nichts mehr zu fürchten haben von dieser Nebenbuhlerin, die um so viel glänzender war als sie und doch so klein und erbärmlich neben ihrer unschuldsvollen Reinheit und Güte!

Da war Astrids Brief gekommen, und Gerhard hatte erkannt, daß das Schicksal seine Reue und das Wiedererwachen seines besseren Selbst nicht erst abgewartet hatte, um seine Strafe über ihn zu verhängen. Und er empfand die Schwere dieser Strafe in ihrer ganzen vernichtenden Wucht! Jetzt, wo er nicht mehr zweifeln durfte, daß er es für immer verloren habe, erkannte er erst die Größe und den Werth des Glückes, das ihm ohne sein Zuthun und sein Verdienst wie ein Geschenk des Himmels in den Schoß gefallen war, – jetzt erst erschrak er vor der nämlichen Aussicht, an die er vorhin fast mit einer Regung geheimen Wunsches gedacht hatte, vor der Aussicht, fortan ein Leben zu führen, welchem Astrids süße Stimme und ihr sonniges Lachen fehlen würden.

Sein erster Gedanke war gewesen, unverzüglich zu ihr zu eilen; aber er hatte ihn wieder aufgegeben, als er ihren Brief zum zweitenmal gelesen. Nein, hier gab es keine andere Möglichkeit mehr als schweigende Unterwerfung unter ihren Willen. Von den Anklagen, welche hier, wenn auch in der großmüthigsten und schonendsten Form, gegen ihn erhoben wurden, konnte er ja kaum eine einzige entkräften und widerlegen. Nur mit einer Lüge hätte er den Versuch machen können, sich sein Glück zurück zu gewinnen, und er fühlte wohl, daß ihre klaren Kinderaugen diese neue Lüge sofort durchschauen würden, wenn er wirklich den Muth besäße, sie auszusprechen.

Aber trotz dieser traurigen Erkenntniß war etwas in seinem Herzen, das sich wild gegen die Vorstellung auflehnte, daß er schon in wenigen Tagen und Stunden nicht nur durch den Abgrund, welchen seine Schuld zwischen ihnen aufgerissen, sondern auch durch Länder und Meere von ihr getrennt sein würde. Ließ er sie in die weite, unbestimmte Ferne ziehen, so war sie für ihn gestorben, und irgend ein schwacher Rest von Hoffnung, der doch noch in einem Winkel seiner Seele leben mußte, wollte ihm immer wieder zurufen: das wenigstens darf nicht geschehen!

Und er hatte ja ein Mittel, es zu verhindern – ein unfehlbares Mittel, wie er wohl wußte. Wenn Astrid ihrem Großvater auch alles vergeben hatte, was er ihrer unglücklichen Mutter angethan, so konnte sie ihm doch sicherlich die tödliche Kränkung nicht vergeben, die er ihrem armen heißgeliebten Vater noch auf seinem Sterbebette zugefügt hatte. Bis zu dieser Stunde hatte Gerhard ihr nie davon gesprochen; aber er besaß ja den Brief des Herrn Christoph Ulwe, welchen ihm der todkranke Musiklehrer übergeben hatte, und er zweifelte nicht, daß eine Uebersendung dieses Briefes an Astrid mit wenigen erklärenden Worten genügen würde, sie für alle Zukunft von einer Vereinigung mit ihrem Großvater abzuhalten. Er schloß ein Fach seines Schreibtisches auf und entnahm ihm den kurzen, nach Form und Inhalt so verletzend geschäftsmäßigen Brief. Da waren noch die beiden verwischten Stellen, auf welche die heißen Thränen des armen Bernhardi gefallen sein mochten, und wenn es irgend eine Sprache gab, die laut und eindringlich zu Astrids Herzen reden konnte, so war es diejenige dieser beiden kleinen Flecken. Schon war Gerhard im Begriff, seinen Vorsatz auszuführen. Da sank der Arm, der sich bereits nach der Feder ausgestreckt hatte, plötzlich schlaff herab und das verhängnißvolle Blatt entglitt seiner Hand.

War das, was er da thun wollte, nicht ein neuer Verrath an Astrid und an ihrem Glück? Hatte ihm Bernhardi nicht gesagt, daß Christoph Ulwe ein sehr reicher Handelsherr sei? Und war es denn nicht der glühendste Wunsch des Musiklehrers gewesen, sein Kind unter dem Schutze und unter der Fürsorge dieses Mannes zu wissen? Gerhard schlug die Hände vor seine heiße Stirn. Hatten seine eigenen selbstsüchtigen Hoffnungen nicht ungleich größeren Antheil an seiner Absicht gehabt, als der Gedanke an Astrids Wohl? Und würden diejenigen nicht recht haben, welche seine Handlungsweise als eine Erbärmlichkeit bezeichneten?

Im nächsten Augenblick flammte Christoph Ulwes Brief im knisternden Ofenfeuer zu Asche. Gerhard aber hüllte sich in seinen Ueberrock und eilte hinaus ins Freie, planlos und ziellos durch die Straßen und dann durch die stillen, menschenverlassenen Wege des Thiergartens, von keinem anderen Wunsche erfüllt als von dem Verlangen, seine brennende Stirn in dem schneidend kalten Abendwinde zu kühlen.


12.

Ein Geräusch, ähnlich dem fernen Branden des aufgeregten Meeres, durchwogte dem weiten Konzertsaal, der jetzt nicht in dämmerndem Halbdunkel dalag wie bei den Proben, sondern in der glanzvollen, fast blendenden Helligkeit, welche von der Decke und von der Galeriebrüstung her die elektrischen Glühlichter aus ihren geschlossenen Gläsern über ihn ausgossen. Kaum jemals hatte man bei einer öffentlichen Veranstaltung ein gewählteres und vornehmeres Publikum gesehen, als es sich heute zur ersten Aufführung von Steinaus Oratorium eingefunden hatte, und jene angenehm erwartungsvolle Erregung, die sich vor künstlerischen Ereignissen von besonderer Bedeutung stets einzustellen pflegt, äußerte sich sowohl in den Mienen der Erschienenen wie in ihren Gesprächen.

Auf dem Podium und im Orchesterraum hatten sich mit Ausnahme der Solisten und des Dirigenten selbst die Mitwirkenden bereits vollzählig eingefunden, denn schon waren einige Minuten über die für den Beginn des Konzerts festgesetzte Zeit verstrichen. Die Damen des Chores waren durchweg in eleganten weißen Balltoiletten, und die Edelsteine wetteiferten in ihrem funkelnden Glanze mit den schönen Augen, welche in mehr oder weniger harmloser Koketterie manchen sprühenden Blitz in die Zuhörerschaft hinabsandten. Die Musiker waren mit dem Stimmen ihrer Instrumente längst zu Ende, und mehr als einmal wandten sich ihre Blicke erwartungsvoll nach der kleinen Thür, durch welche der Held des Abends, der Komponist Steinau, eintreten mußte.

Da endlich – ein Gemurmel der Befriedigung und der Bewunderung ging durch den gewaltigen Raum – die kleine Schar der Solisten hatte das Podium betreten! Es waren einige der ersten Mitglieder des königlichen Opernhauses und ein sehr berühmter Konzertsänger. Als die letzte von allen erschien Rita Gardini. Sie trug eine gestickte Sammetrobe, die ein kleines, und einen Brillantschmuck, der ein großes Vermögen werth war, und das halblaute „Ah!“ des Staunens und des stillen Neides, das den mit gesteigerter Aufmerksamkeit spähenden Damen entschlüpfte, bedeutete an und für sich schon einen Triumph für die sieggewohnte Künstlerin. Und wie hartnäckig blieben die Operngläser der Herren auf ihr schönes Gesicht, auf ihre königliche Gestalt geheftet! Wahrhaftig, wem die Liebe dieser Frau zutheil wurde, der war ein Auserwählter unter den Sterblichen, und der hatte wohl Ursache, den Göttern ein freiwilliges Opfer zu bringen, um ihren Neid zu versöhnen.

Und jetzt tauchte auch Gerhard Steinaus schlanke Gestalt vor dem Dirigentenpulte auf. Der Eindruck, welchen Ritas Eintritt hervorgebracht hatte, war so groß gewesen, daß man sein Erscheinen kaum beachtet hatte. Er aber hatte, ehe er sein Gesicht dem Podium und den Sängern zuwandte, einen einzigen raschen Blick in den Zuschauerraum geschickt. Nach jener Seite hin war dieser Blick geflogen, wo die für Astrid und Frau Haidborn bestimmten Plätze lagen. Er hatte gefunden, was er erwartet hatte: die Plätze waren leer! Ein schmerzliches Zucken ging über sein blasses Antlitz und seine Lippen bebten leise. Aber während er die beiden Stufen zu seinem erhöhten Sitz hinanstieg, sagte er halblaut vor sich hin: „Gleichviel!“ Und dasselbe trotzige Wort wiederholte er noch einmal, als er mit einer beinahe krampfhaften Bewegung den goldenen Knopf seines Taktstockes umklammerte.

Das Orchestervorspiel begann. Es wurde tadellos ausgeführt und brachte unverkennbar einen durchaus günstigen Eindruck hervor. [852] Nun setzte der Chor von Sakuntalas Gespielinnen ein und ein rauschender Strom von süßem Wohllaut durchfluthete von der Empore herab den Saal.

„Reizend! Entzückend! Welch’ eine Musik!“ flüsterte man sich hier und da zu. Aber diejenigen, welche sich’s nicht versagen konnten, dem Verlauf der Tondichtung an der Hand des Textbuches zu folgen, verharrten in gespanntestem Schweigen; denn sie wußten ja, daß unmittelbar auf diesen Chor ein Solo der Gardini folgte.

Und da – die gefeierte Sängerin war bereits bis an die Orchesterrampe vorgetreten, den schönen Kopf ein wenig zurückgeneigt, so daß die Steine, welche ihren Hals schmückten, wie in einem Brillantfeuerwerk auffunkelten – da, statt der erwarteten Töne voll quellenden Wohllauts ein kurzes hartes Aufklopfen des Dirigentenstabes und ein jähes, gehorsames Verstummen aller Instrumente.

Mit einer langsamen Armbewegung schlug Gerhard Steinau die Partitur zu und legte den Taktstock auf das geschlossene Buch. Dann wendete er sich gegen das Publikum, in ruhiger fester Haltung, aber mit wahrhaft erschreckend bleichem Gesicht und mit fiebrisch glühenden Augen.

„Meine Damen und Herren! Ich muß zu meinem Bedauern auf die Ehre verzichten, Ihnen mein Werk vorzuführen. Ein Unwohlsein, das sich mit jeder Minute steigert, macht es mir unmöglich, weiter zu dirigiren, und ich kann es nicht über mich gewinnen, die Leitung der Aufführung anderen Händen anzuvertrauen. Man wird das Eintrittsgeld an der Kasse zurückerstatten.“

Er machte eine Verbeugung und stieg von seinem Platze herab, um langsam durch den schmalen Gang im Orchester der kleinen Ausgangsthür zuzustreben. Und während er ging, blieb es unter der vielhundertköpfigen Menge diesseit und jenseit des Orchesters todtenstill. Das Unerwartete, Ungeheuerliche des beispiellosen Vorganges hatte eine gleichsam lähmende Wirkung hervorgebracht. Aber das Geräusch der kleinen Thür, die sich hinter Gerhard schloß, löste die Erstarrung.

Mit einem gellenden Aufschrei brach Rita Gardini ohnmächtig zusammen. Sie allein wußte, was die unerhörte Handlungsweise Gerhards zu bedeuten habe, sie hatte den Blick verstanden, den er ihr zugesandt, als er das Zeichen zum Abbrechen der Musik gegeben hatte, und das Bewußtsein der Unmöglichkeit, die grausame, tödliche Beleidigung auf der Stelle an ihm zu rächen, warf sie nieder.

Und während man sie in das Künstlerzimmer trug, wo einige Damen sich unter dem Beistand eines Arztes bemühten, sie ins Leben zurückzurufen, entleerte sich langsam und unter lautem Lärm der Saal. – – – – – – – – – – – – – – – – –

Wie lange Zeit er gebraucht, und welche Wege er eingeschlagen hatte, um zu seiner Wohnung zu gelangen, darüber hätte Gerhard selbst wohl schwerlich Auskunft zu geben vermocht. Der Diener, welcher ihm öffnete, schien von allem unterrichtet zu sein, denn er sprach kein Wort, während er ihm behilflich war, den Ueberrock abzulegen. Erst als sich Gerhard mit gesenktem Haupt und müden Bewegungen der Thür zu seinem Arbeitszimmer zuwendete, fragte er mit einer gewissen unsicheren Hast:

„Befehlen Sie, daß ich drinnen Licht anzünde, Herr Steinau? – Es ist noch ganz dunkel.“

Aber der Gefragte lehnte kurz ab.

„Nein! Es ist mir eben recht so!“ sagte er mit rauher, fremd klingender Stimme. Dann schloß sich hinter ihm mit dumpfem Klange die Thür.

„Er auch nicht!“ murmelte der Diener mit einem Achselzucken. „Diese Scheu vor dem Licht muß ja ganz was Besonderes zu bedeuten haben!“

Gerhard machte in dem dunkeln Zimmer einige Schritte bis zu dem Ruhebett und warf sich auf dasselbe nieder. Es war todtenstill um ihn her, und diese Stille that seinen bis zur Raserei erregten Nerven unendlich wohl. Was er gethan hatte, war nicht eine Eingebung des Augenblicks, nicht die thörichte Handlung eines eigensinnigen Knaben gewesen, sondern ein Ergebniß langer und schwerer Kämpfe, eine Sühne für seine eigene Schuld und seine Rache an Rita, über deren Antheil an der Gestaltung seines Schicksals er ja nicht im Zweifel sein konnte.

Und er war sich der Folgen dieser Handlung wohl bewußt. An eine nochmalige Aufführung der „Sakuntala“ war nicht zu denken, und er selber wünschte sie nicht einmal. Doch darin lag vielleicht noch nicht einmal die schlimmste Folge dieses Abends. Die vermeintliche Rücksichtslosigkeit mußte ihm allgemein verübelt werden, und seine künstlerische Stellung war möglicherweise auf eine lange Zeit hinaus ernstlich erschüttert.

Vorübergehend schossen ihm alle diese Dinge durch den Kopf; aber sie erschienen ihm geringfügig und bedeutungslos jenem großen, unheilbaren Leid gegenüber, das er selbst durch die unsinnigen Aufregungen der letzten Stunden nicht zu betäuben vermocht hatte.

Mitten in das wüste Wirrsal seiner trostlosen Gedanken hinein summte wie zum Hohne immer und immer wieder eine Weise, die er als Knabe zuweilen von den blassen Lippen Bernhardis gehört hatte. Seit dem frühen Morgen dieses Tages klang sie ihm unausgesetzt im Ohr und selbst durch das Rauschen des vollen Orchesters hindurch hatte er sie zu vernehmen geglaubt.

Warum hatte ihm nur gerade diese eine unselige Stelle des traurigen Goetheschen Liebesliedes so fest im Gedächtniß bleiben müssen – –

„Es stehet ein Regenbogen
Wohl über jenem Haus!
Sie aber ist weggezogen,
Und weit in das Land hinaus.

Hinaus in das Land und weiter,
Vielleicht gar über die See – –“

Er stöhnte laut auf und drückte das Gesicht in die Hände. Da – was war das? – In jähem Erschrecken fuhr er empor. Ein warmer Hauch hatte seine Wange, seinen Hals gestreift, und nun fühlte er zwei Arme um seinen Nacken und einen weichen, schmiegsamen Körper an seiner Brust. Wie ein Blitz schoß ihm der Gedanke durch das Gehirn – Rita!

„Hinweg!“ schrie er in wildem Zorn. „Wie kannst Du es wagen, mich bis hierher zu verfolgen! – Hinweg, ich will Dich nicht sehen; denn Du bist die Mörderin meines Glücks!“

Aber die beiden Arme umschlangen ihn nur noch fester. Zwei warme Lippen suchten die seinigen und eine liebe Stimme flüsterte:

„Und wenn Du mich auch von Dir stoßen wolltest – jetzt lasse ich Dich nicht mehr; denn ich weiß ja, daß Du mich liebst!“

„Astrid – Du!“

Er brachte nicht mehr heraus als die beiden Worte, die wie ein Jubelruf durch das dunkle Zimmer klangen. Dann preßte er sie an sich, als ob er sie ersticken wollte mit seinen Küssen. –

Und endlich, nach einer Spanne seligen Schweigens, begannen sie einander zu erzählen, was sie gelitten und wie schwer sie gerungen hatten. –

Trotz aller Bitten und Warnungen der Rechnungsräthin, die um Astrids Gesundheit ernstlich besorgt gewesen war, hatte sich’s diese nicht versagen können, das Konzert zu besuchen. Von einem der verstecktesten Plätze aus, ihre schlanke Gestalt eng hinter eine Säule schmiegend, war sie Zeugin der außerordentlichen Vorgänge gewesen, welche sich dort vollzogen hatten, und sie war ebenso wenig wie die tief gedemüthigte Sängerin im Zweifel darüber gewesen, welche Deutung sie ihnen zu geben habe.

Was ihr jetzt noch zu thun übrig bleibe, sie hatte es auf der Stelle gewußt. In athemloser Hast war sie zu Gerhard geeilt, sich an seine Brust zu werfen und seine Vergebung zu erflehen. Als sie erfahren hatte, daß er noch nicht zurückgekehrt sei, hatte sie den Diener bestimmt, sie in dem dunkeln Zimmer warten zu lassen, ohne Gerhard etwas von ihrer Anwesenheit zu verrathen. Sie wußte ja, daß sie das Heilmittel besäße, welches ihm mit Zauberschnelle Genesung bringen würde, und sie hatte sich in der Hoffnung auf seine wunderbare Wirkung nicht betrogen.

* * *

Rita Gardini erhielt wenige Wochen später einen mehrmonatigen Urlaub zu einer Gastspielreise durch Amerika, und sie ist von dieser Reise nicht mehr in die Hauptstadt des Deutschen Reiches zurückgekehrt. Ueber die Gründe, welche sie dazu veranlaßt haben könnten, waren eine Zeit lang die verschiedenartigsten Gerüchte unter ihren Bewunderern und unter ihren Neidern im Umlauf.

Keines derselben traf die volle Wahrheit; denn Gerhard Steinau und seine glückliche junge Frau, die einzigen, welche das Geheimniß hätten verrathen können, sie thaten des Namens der Sängerin niemals Erwähnung, nicht einmal in jenen traulichen Stunden des Alleinseins, da mit den Erinnerungen an glückliche und leidvolle Tage der Vergangenheit auch das Bild des schönen, verführerischen Weibes lebendig wurde in ihren Herzen.




[853]

Deutsche Bühnenleiter.

Max Staegemann.

Den Lebensbildern deutscher Bühnenleiter, welche die „Gartenlaube“ ihren Lesern bereits vorgeführt hat, wollen wir heute das Porträt Max Staegemanns, des Leiters der Leipziger Stadttheater, anreihen.

Leipzig steht in dem Rufe, ein ebenso theaterlustiges als theaterverständiges Publikum zu besitzen; in der That wendet sich in kaum einer anderen der großen deutschen Städte das Interesse so allgemein und, man möchte sagen: so ehrgeizig dem Theater zu wie in der alten Universitätsstadt Sachsens, dem Welthandelsplatze Leipzig.

In dem eigenartigen und nach architektonischer Seite in großem Stile entwickelten Stadtbilde nimmt der monumentale, in edlen Linien sich haltende Bau des Neuen Stadttheaters eine hervorragende Stelle ein, und wie der dem Schönen und der Pflege der Kunst zugewandte Gemeinsinn sich in der Errichtung dieses würdigen Tempels der Kunst ausspricht, so wird das Institut selber durch die Gemeindevertretung sowohl wie durch die Theilnahme des Publikums in finanzieller und ideeller Hinsicht mächtig gefördert.

Unter solchen Verhältnissen müßte es eigentlich – sollte man meinen – eine leichte Aufgabe sein, die Leitung des Leipziger Theaters mit glücklichem Gedeihen zu führen. Und doch ist die Laufbahn eines Leipziger Bühnenleiters dornenvoll und schwierig: Laube verließ nach wenigen Jahren seiner Kunstthätigkeit Leipzig, nachdem er vorzeitig seinen Vertrag gelöst hatte, Haase und Förster haben schwere Jahre in Leipzig durchgemacht; harte Preßfehden verbitterten ihnen das Leben, und das Theater selbst wurde oft der Schauplatz stürmischer Meinungsäußerungen, denn wie tausendfach auch die Beziehungen sind, welche in Leipzig die Einwohnerschaft mit dem Theater verbinden, und wie innig dieselben sich auch gestalten, so verschieden und oft weit auseinandergehend treten die Wünsche hervor, welche man bezüglich der Leitung hegt.

Auch Staegemann sollten trübe Erfahrungen in dieser Beziehung nicht erspart bleiben, aber er lenkte das seiner Führung anvertraute Theaterschiff mit geschickter Hand durch die oft hoch genug gehenden Wogen, und der Erfolg blieb nicht aus: noch vor Ablauf seines siebenjährigen Vertrages wurde ihm in ehrenvoller Weise durch das Vertrauen der Bürgerschaft und der Gemeindeleitung der Pachtkontrakt um weitere sechs Jahre verlängert.

Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Mann Eigenschaften haben muß, die ihn ganz besonders zur Leitung einer großen Bühne befähigen und ihn geeignet erscheinen lassen, einem anspruchsvollen, stark kritisch veranlagten und auf sein Theater stolzen und eifersüchtigen Publikum Genüge zu leisten.

Man wird die Ursache dieses Erfolges vor allem darin suchen müssen, daß Staegemann mit ehrlicher Kunstliebe und unermüdlichem Fleiße seinem Berufe nachkommt. Er ist eine echte Künstlernatur, für das Schöne und Erhabene empfänglich und begeistert und durch künstlerisches Feingefühl und veredelten Geschmack von vornherein zu einem erfolgreichen Förderer der Kunst bestimmt. Er ist zudem ein Mann der That und Arbeit, der an allen Zweigen seiner Thätigkeit frisch zugreift und selbständig vorgeht; er giebt sich nicht damit zufrieden, einfach den Rath seiner Regisseure, seines Dramaturgen zu befolgen, nur anzudeuten und zu bestimmen und die weitere Ausführung des Begonnenen seinen Mitarbeitern zu überlassen, sondern er steht, ausgerüstet mit voller Bühnenkenntniß und vertraut selbst mit anscheinend geringfügigen Kleinigkeiten, den Kapellmeistern und Regisseuren, den Darstellern, ja sogar dem technischen Personale mit Rath und That zur Seite. Sie alle schätzen seine künstlerische Einsicht und folgen willig dem bewährten Führer.

Die Thätigkeit eines Leipziger Theaterdirektors ist vielumfassend; drei Bühnen – das Neue und das Alte Stadttheater und das in der Südvorstadt gelegene Carolatheater – unterstehen seiner Leitung; alle dramatischen Kunstgattungen werden gepflegt; die große Oper, die Spieloper und die Operette, das höhere Drama wie das Lustspiel und die Posse, und überall hat Staegemann sich das erste und das letzte Wort gewahrt.

Mit welchem Verständniß er seine Aufgabe als Regisseur auffaßt, wie liebevoll er den Empfindungen der Dichter und Komponisten entgegenkommt, wie sorgfältig er deren Absichten zum richtigen Ausdrucke verhilft, hat er oft genug bei der Inscenierung größerer Werke bewiesen, deren einige er alljährlich selber einstudiert. Die „Zauberflöte“, „Don Juan“, „Figaros Hochzeit“, „Fidelio“, „Rheingold, „Die drei Pintos“, „Die Walküre“, „Siegfried“, „Die Götterdämmerung“, „Der fliegende Holländer“, „Lohengrin“, „Tannhäuser“, „Der Sommernachtstraum“ u. a. m. wurden von Staegemann selber insceniert und fanden ein dankbares, begeisterten Beifall spendendes Publikum sowie eine gerechte Würdigung seitens der Kritik.

Sein Kunsturtheil hat weit und breit guten Klang. Alljährlich kommt eine große Anzahl von Kunstnovizen aus Deutschland und aller Herren Ländern nach Leipzig, ihre Befähigung durch den kunstverständigen Bühnenleiter beurtheilen zu lassen. Mittags, wenn die Proben beendet sind und die große Bühne frei wird, treten diese Kunstjünger in den Lichtkreis der Soffitenlampe, und während von der Bühne herab die Arien oder Monologe in den leeren Raum schallen, sitzt Staegemann in einer der vordersten Parkettreihen in tiefem Dunkel und folgt mit antheilsvoller Aufmerksamkeit, mit scharfem Blick und seinem Gehör den Vorträgen. Seine Kritik über diese Leistungen ist stets offen und wahrhaftig und völlig rückhaltlos; er hat manchen schon von einer Laufbahn zurückgehalten, die dem wenig Befähigten nur schwere Enttäuschungen hätte bringen müssen. Manches Talent aber, das noch unentwickelt vor ihn trat und erst in ferner Zeit zur Entfaltung zu gelangen versprach, hat er ermuthigt und mit Rath und That gefördert; [854] oft wurden aus solchen Kunstnovizen Schüler, und wem dieses Glück zu theil wurde, der war geborgen für seine Zukunft, denn Staegemann ist ein ebenso ausgezeichneter Lehrer der Gesangskunst, wie er ein genialer Sänger war.

Ihm ward das Erbe künstlerischen Sinns und Strebens zu theil, denn er entstammt einem Künstlergeschlechte, das sich in unserer Kunstgeschichte einen hohen Ruf erworben hat. Seine Mutter war die Nichte des großen Ludwig Devrient, die Schwester der drei Devrients: Karls, Eduards und Emils. Der erstere wurde berühmt als genialer Darsteller scharf gezeichneter Charaktere, der zweite als trefflicher Bühnenleiter und Verfasser der besten Geschichte des deutschen Schauspiels, der dritte als der schwunghafteste, ritterlichste und liebenswürdigste Darsteller der Liebhaber- und jugendlichen Heldenrollen aus klassischer und nachklassischer Zeit. Der älteste Sohn ihrer Schwester war der am 10. Mai 1843 in dem märkischen Bade Freienwalde geborene Max. Die Eltern lebten später in Dresden, wo Emil Devrient eine mächtige künstlerische Anregung auf den hochbegabten und feurigen Knaben ausübte. Als Max in der Prima der altberühmten Dresdner Kreuzschule saß, kam das Künstlerblut zum Durchbruch. Unterstützt von seinem Oheim, der mit Scharfblick die verwandte geniale Natur erkannt hatte, setzte Max es seinen Eltern gegenüber durch, die in Aussicht genommene akademische Laufbahn mit der des darstellenden Künstlers zu vertauschen. Er besuchte fortan das Dresdener Konservatorium, wo er unter der Leitung des vortrefflichen dramatischen Lehrers Heine sehr bald zu einem der tüchtigsten und hoffnungsvollsten Schüler heranwuchs.

Bildete er sich hier nun zu einem guten Darsteller heran, so daß der erst Neunzehnjährige 1862 in Bremen mit Erfolg auftreten konnte, so lenkte er doch jetzt schon sein Streben auf die Ausbildung seiner Singstimme, welche bereits in Dresden Aufmerksamkeit erregt hatte; er wollte dramatischer Sänger werden.

Durch den Hofkapellmeister Fischer in Hannover, dessen Urtheil er einholte, ermuthigt, gab er sich nun mit Eifer musikalischen Studien hin und erzielte, unterstützt durch ein in der That unvergleichlich schönes Stimmmaterial, bereits im Mai 1863 auf der Hannoverschen Hofbühne einen so unbestrittenen Erfolg, daß er sofort angestellt wurde. Seine sympathische, sonore Barytonstimme, sein geistvolles, tief durchdachtes und anmuthig belebtes Spiel, die schöne männliche Erscheinung gewannen ihm schnell die Herzen der Einwohner der kunstsinnigen Stadt.

Doch hielt er sich damit nicht für fertig; in seinen ersten Ferien ging er nach Paris und studierte dort bei Meister Delsarte drei Monate lang; nach Hannover zurückgekehrt, setzte er fleißig seine Studien unter dem Schweden Lindhuld fort. So immer mehr zur Vollkommenheit emporstrebend, ward er 1865 an Zottmayrs Stelle zum ersten Baryton ernannt und wurde namentlich in Marschnerschen Opern, welche die Hannoveraner aus Pietät gegen ihren früheren Kapellmeister besonders bevorzugten, ein unübertrefflicher Sänger. Der Ehrentitel „Marschner-Sänger“ ward ihm zu theil; verstand es doch niemand die Helden dieses Komponisten so ergreifend und herrlich zu gestalten wie Staegemann. Wem der Genuß zu theil ward, ihn in „Hans Heiling“, im „Vampyr“, im „Templer“ zu hören, der wird diese Stunden nie vergessen; aber auch sein Fliegender Holländer, sein Hans Sachs, sein Tell erschienen als die Verkörperungen der Idealgestalten, welche den Schöpfern dieser Werke vorgeschwebt hatten. Am glänzendsten traten die Vorzüge seiner Begabung im Don Juan zu Tage; in dieser Rolle, deren vorzüglichster Vertreter er war, verschmolzen Gesang und Spiel zu einer Gesammtleistung ersten Ranges.

An Ruhm und Ehren reich, wirkte der Sänger in der Blüthe seiner männlichen Kraft und im Vollbesitz seiner schönen Stimme 13 Jahre an der Hannoverschen Bühne und auf zahlreichen Gastspielen, bis er dem unwiderstehlichen Drange nachgeben mußte, seinem hochstrebenden künstlerischen Geiste ein größeres Feld zur Bethätigung zu bieten. Er übernahm 1876 die Direktion des Stadttheaters in Königsberg und schuf für die alte Pregelstadt eine ungeahnte Blüthe des Theaters, das unter der jahrelangen Herrschaft Woltersdorffs zuletzt des frischen Aufschwungs und der Theilnahme des Publikums entbehrte. Mit einem Schlage änderte sich das, als Staegemann das Scepter ergriff; man hatte sich des Theaterbesuches fast entwöhnt und konnte nur schwer an eine anbrechende Morgenröthe der Kunst glauben, aber der neue Direktor verstand es, sein Publikum ins Theater zu zwingen, und noch heute leuchten dem Königsberger Theaterfreunde die Augen, wenn er an die glänzenden Zeiten der Staegemannschen Direktion denkt, wo ihm das Theater wieder zur weihevollen Stätte hohen geistigen Genusses geworden war.

Zum Leidwesen der Königsberger aber legte Staegemann bereits nach vier Jahren die Direktion nieder, geehrt vom Könige, der ihn zum königl. preußischen Kammersänger ernannt hatte, und umrauscht von Huldigungen, die man schweren Herzens dem Scheidenden darbrachte.

Im Sommer 1882 übernahm er die Direktion des Leipziger Stadttheaters. Daß sein Amt kein leichtes ist, haben wir erwähnt; seine Erfolge in künstlerischer Beziehung beweist die Thatsache, daß das Leipziger Theater unter den Kunstinstituten Deutschlands einen ersten Rang behauptet; in unentwegtem Streben sucht Staegemann die ihm anvertraute Bühne immer mehr zu heben. An äußerlichen Zeichen der Anerkennung hat es denn auch weder seitens des Publikums, noch seitens unserer kunstfreundlichen Fürsten gefehlt. Den größten Lohn aber wird Staegemann in dem Bewußtsein finden, zu allen Zeiten mit völliger Hingabe und unter Einsetzung seiner ganzen Kraft dem höchsten Ziele zugestrebt und stets das Beste gewollt zu haben.

Das Bild dieses hervorragenden Bühnenleiters würde jedoch nicht vollständig sein, wenn ihm die Züge mangelten, welche den Menschen Staegemann neben dem Künstler schmücken und liebenswürdig machen. Vor allem ist seine aufopfernde Hilfsbereitschaft für alle Bestrebungen zu nennen, welche der Linderung menschlicher Noth und menschlichen Elends gelten; selbstlos tritt Staegemann hier in die Schranken und weiß in seiner thatkräftigen Art zu den höchsten Anstrengungen anzuspornen und den Ertrag der Bemühungen geschäftsgewandt zu verdoppeln. Die Pensionskasse des Schriftstellerverbandes, die Genossenschaft der Bühnenangehörigen, wohlthätige Veranstaltungen und Anstalten mancherlei Art, das Komitee des Gutzkowdenkmals etc. – sie alle haben sich der bereitwilligsten Unterstützung des Leipziger Theaterdirektors zu erfreuen gehabt; seine bezwingende Liebenswürdigkeit im persönlichen Verkehr, seine Herzensgüte, seine vornehme Denkungsart und seine gerade, charakterfeste Handlungsweise haben ihm manchen treuen Freund erworben und manchem Gegner Achtung abgerungen.

Möge sein ernsthaftes Streben auch ferner mit Erfolg gekrönt sein! Die Chronik des Leipziger Theaters wird gewiß noch manche künstlerische Großthat Staegemanns zu verzeichnen haben.

Dr. H. Tischler.




Blätter und Blüthen.

Geschenkwerke für den Familientisch. I.

Es ist von jeher in lobwürdiger gewonheyt undt uebung gewest, auch also biß an uns kummen, das Vest, so uns das verlaufendt Jar beschliesst mit groß Freud zu feyern und sorgt sich maennigklich, was er synen hertzviellgeliepten legen mücht under den Lichterbaum zur heyligen Weyenacht. So mir vergunnt eyn Wortlin eynzureden undt myn rat ir fruendlich wolet hoeren: eyn daverndt andenk ist eyn buch. Ein gut Buch ist eyn grosser Schazz.“

So beginnt der originelle altdeutsche Weihnachtsbrief des Reinhard Schmithals, „Hofbuchfürers zu Kreutzenach“, an seine Kunden, und indem wir die gleichen Worte unserem nachfolgenden kurzen Berichte voranstellen, wollen wir unseren Rath ebenfalls denjenigen anbieten, die ihn „freundlich wollen hören.“ Wir sind außer stande, auf dem zur Verfügung stehenden beschränkten Raume auch nur eine annähernd vollständige Uebersicht aller neuen Erscheinungen zu geben, aber bei den angeführten Werken ist die Mahnung befolgt: „Pruevet alls und haltets best.“

Die Erzähler und Erzählerinnen der „Gartenlaube“ haben auch in diesem Jahre ihren Theil zur Schmückung des Weihnachtstisches beigesteuert und die Verlagshandlung von Ernst Keils Nachfolger in Leipzig hat diese Festgaben in ein Gewand gekleidet, daß sie jedem Geschenktische zur Zierde gereichen. W. Heimburgs gemüth- und geistvoller Roman „Lore von Tollen“ erschien in Buchausgabe vor wenigen Wochen und der ersten sofort vergriffenen Auflage mußte eine zweite auf dem Fuße folgen. Einer ähnlich freudigen Aufnahme begegnet jede neue Schöpfung E. Werners, deren fesselnder Roman „Die Alpenfee“ uns in die Hochgebirgswelt führt und den ringenden Menschen mit der majestätischen und machtvollen Gebirgsnatur im Kampfe zeigt. – Freunden kulturhistorischer [855] Erzählungen bietet Stefanie Keyser in der Hofgeschichte „Deutsche Art, treu gewahrt“ eine von feinem Humor durchwebte Dichtung, die im 17. Jahrhundert und am Hofe von Weimar spielt. Von Frankreich herüber drang damals das tändelnde Alamode-Unwesen, dem gegenüber aber der mannhafte Herzog Albrecht von Weimar die kernhafte deutsche Art hoch hielt. Eine reizvolle Liebesgeschichte ist Stefanie Keysers Erzählung „Ein deutscher Liebesgott“, deren Hauptfigur Sif als eines der schönsten Vorbilder holder Weiblichkeit erscheint. – Mit kräftigeren, südliche lebhaften, ja glühenden Farben malt A. Schneegans, von dem ein Band italienischer Geschichten, enthaltend Romeos Tochter, Lenz im Herbst, Speranza, vorliegt. „Speranza“ und „Romeos Tochter“ erschienen (letztere unter dem Titel „Sicilische Rache“) in der „Gartenlaube“ und fanden reichen, wohlverdienten Beifall, dessen auch die hinzugefügte eigenartige Novelle „Lenz im Herbst“ gewiß sein darf. – Ein wohlbekannter Erzähler ist den Lesern der „Gartenlaube“ Balduin Möllhausen, von dem ein neuer großer Roman „Die Familie Melville“ vorliegt. Derselbe spielt, wie fast alle Romane des Verfassers, in Nordamerika, und zwar zur Zeit des Bürgerkriegs und kurz nach demselben. Das bis dahin ungetrübte Glück der Familie Melville wird durch den Krieg jäh unterbrochen; ein Theil der Familie sieht die Sache der Südstaaten als die geheiligte an, der andere kämpft mit ernster Begeisterung für die Union. Die tragischen Konflikte sind ergreifend gezeichnet, Land und Leute anschaulich geschildert. Wer mit der Lebensgeschichte Möllhausens bekannt ist, wird sich seine Vorliebe für amerikanische Stoffe zu erklären wissen. Der Erzähler hat dreimal weite Reisen in Nordamerika gemacht und ist mit Land und Leuten wohl vertraut. Wer den Jahrgang 1862 der „Gartenlaube“ zur Hand hat, kann auf S. 453 ein interessantes Bildniß Möllhausens nachschlagen, das den kühnen Jäger und Reisenden in der Tracht eines nordamerikanischen Trappers darstellt. – Mit dem Romane „Ora et labora“ führt sich ein neuer Erzähler, Friedrich Boettcher, aufs glücklichste ein. Es ist ein Bild aus dem socialen Leben der Gegenwart, das er mit packender Wahrheit vor dem Leser entrollt, zu inhaltreich, um flüchtig durchblättert zu werden, aber ein aufmerksames Studium aufs reichste lohnend.

Von beliebten Mitarbeitern unseres Blattes stammen auch die folgenden Erzählungen her: „Der Nordstern und Anderes“, acht Seenovellen von Helene Pichler (München, Georg D. W. Callwey), wohl die ausgezeichnetsten novellistischen Schilderungen des Seelebens, das die Verfasserin als Gattin eines Schiffskapitäns, den sie jahrelang auf allen seinen Reisen begleitete, gründlich kennen lernte; „Im kühlen Grund und andere Geschichten“ von Julie Ludwig (Minden in Westf., J. C. C. Bruns’ Verlag), der Verfasserin der im vorigen Jahre in der „Gartenlaube“ erschienenen und in das Buch mit aufgenommenen reizenden Weihnachtserzählung „Waldemars Brautfahrt“; „Kasino-Geschichten“ von Carl Hecker, illustrirt von H. Schlittgen (Stuttgart, Carl Krabbe), launige, anziehende Erzählungen aus dem Soldatenleben, von einem feinen, glücklichen Humor durchweht; „Dämon ‚Ruhm‘“, Roman von Anton von Perfall (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt), eine markige, kraftvolle Schilderung der in der That dämonischen Gewalt des „Ruhms“, der den Schlaf von brennenden Augen verscheucht und dessen erträumter Glanz jeden Nerv aufstachelt bis zum Wahnsinn; „Vom deutschen Stamme“, Roman von Ferdinand Schifkorn (Dresden, Heinrich Minden), die ergreifende Leidensgeschichte der Siebenbürger Sachsen, jenes deutschen Volksstammes, der, losgelöst vom großen Mutterlande und umstritten von feindlich gesinnten Nationalitäten, doch durch Jahrhunderte seine deutsche Eigenart auf gefährdeter Scholle treu gewahrt hat – ein Tendenzroman wie desselben Verfassers „Rufer im Streite“ (ebenda), aber ein lesenswerther warmer Appell zu Gunsten der unterdrückten deutschen Stammesbrüder.

„Camilla“ heißt ein neuer Roman von Ernst Eckstein (Leipzig, Carl Reißner); derselbe ist jedoch keineswegs ein Römerroman, wie nach dem Titel und bei der Vorliebe des Dichters für römische Stoffe geschlossen werden könnte, sondern spielt in unserer modernen deutschen Gesellschaft und behandelt, zum Theil mit lustspielartigen Wendungen, das Schicksal eines Mädchens, dessen Verhängniß der Reichthum ist. Dieser läßt sie an aufrichtige Liebe bei keinem ihrer vielen Bewerber glauben, bis die endliche Lösung doch eine glückliche ist. – Die alte Frage „Was ist Glück?“ sucht Oskar von Redwitz in seinem hochbedeutsamen Roman „Glück“ (Berlin, Wilhelm Hertz) zu beantworten, und seine gedankentiefe Dichtung, an welcher er fast zwei Jahre gearbeitet hat, ist ein Beleg für den Erfahrungssatz, daß Lebensgüter und Reichthümer nur da zu beglücken vermögen, wo der innere Mensch geläutert ist, diese Läuterung aber das Glück in sich trägt und bedingt. – Rudolf von Gottschalls Roman „Die Tochter Rübezahls“ (Breslau, S. Schottlaender) zeigt geschichtlichen Hintergrund und spielt zur Zeit der Napoleonischen Zwingherrschaft kurz vor und während der Errichtung des Königreiches Westfalen; der Schauplatz ist zum theil Schlesien, zum theil Kassel. Zeitfärbung und Stimmung jener gährenden Jahre sind vortrefflich wiedergegeben, namentlich in der Erhebung des Volkes zu seiner Befreiung von der französischen Gewaltherrschaft. Die Titelheldin ist die Tochter eines schlesischen Großgrundbesitzers, der seiner Eigenart, mystischen Neigungen und Weltabgeschiedenheit wegen im Volksmunde den Beinamen des Rübezahl führt. – Der Dichter von „Waldmeisters Brautfahrt“, Otto Roquette, legt einen neuen Band anmuthsvoller Novellen „Frühlingsstimmen“ (ebenda) auf den Weihnachtstisch, P. K. Rosegger eine tief ergreifende, tragische Erzählung „Martin der Mann“ (Wien, A. Hartleben), in der er die Liebe einer jungen Fürstin schildert, die in einem Waldarbeiter, aber keinem Bauern, sondern einem politischen Flüchtling, ihr Ideal findet und an seiner Seite die Erhabenheit und die Schrecken der Waldwildniß kennen lernt. * *

Der Werth der Milchzähne. Man begegnet noch immer und besonders in den unteren Volksschichten vielen Eltern, denen an der Erhaltung der Milchzähne ihrer Kinder wenig oder gar nichts gelegen ist und die, wenn man sie auf das Unrecht aufmerksam macht, das sie begehen, sich einfach damit entschuldigen, daß diese Zähne ja nur eine verhältnißmäßig kurze Zeit Dienste thun und dann von selbst ausfallen und durch bleibende ersetzt werden.

Wenn diese Leute Gelegenheit hätten, die vielen Schäden, welche durch Vernachlässigung der Milchzähne entstehen, zu beobachten, so würden sie vielleicht von der Wichtigkeit einer aufmerksamen Zahnpflege bei den Kindern besser zu überzeugen sein, als alle wohlgemeinten Ermahnungen des Zahnarztes dies vermögen. Schon die Thatsache, daß zu frühes Ausziehen eines oder mehrerer Milchzähne fast immer Unregelmäßigkeit in der Stellung der nachfolgenden bleibenden Zähne bedingt, ja daß aus demselben Grunde zuweilen diese zweiten Zähne infolge Verengerung des Zahnfaches ganz ausbleiben, sollte Grund genug sein, mehr Sorgfalt auf die Milchzähne zu verwenden.

Das Ausziehen eines Milchzahnes sollte nur im äußersten Nothfalle vorgenommen werden; in den meisten Fällen, wo das Kind über Schmerzen in einem Zahne klagt, liegt gar kein Grund vor, diesen Zahn nun ohne weiteres herausnehmen zu lassen. Die Ursache liegt gewöhnlich im Hohlsein (Caries), und man kann einen Milchzahn ebenso gut mit einer Masse ausfüllen, „plombiren“, wie einen bleibenden Zahn. Ein so gefüllter Milchzahn wird dann seine Bestimmung erfüllen, bis seine Zeit gekommen ist und er durch seinen Nachfolger ersetzt wird; und dann wird auch nicht zu befürchten sein, daß der bleibende Zahn an einer Stelle erscheint, wo er nicht hingehört.

Ist durch unzeitiges Ausziehen von Milchzähnen eine Unregelmäßigkeit in der Stellung der bleibenden Zähne entstanden, so läßt sich dieser Fehler durch orthopädische Vorrichtungen und entsprechende Behandlung seitens des Zahnarztes oftmals wieder gutmachen; aber in manchen Fällen bleibt der Erfolg aus, und jedenfalls ist die Behandlung, da sie mit viel Mühe und Zeitverlust verbunden ist, nicht so wohlfeil, als wenn man zur rechten Zeit den Milchzahn hätte füllen lassen.

Die Beschaffenheit der Knochen bestimmt auch die Güte der Zähne; ein Kind mit schwachen Knochen wird auch weiche Zähne haben, und da wird wohl der Arzt am besten entscheiden, was zur Kräftigung des Knochenbaues für das Kind räthlich ist. Aber deshalb muß auch den Zähnen knochenschwacher Kinder besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Auf eine Unsitte möchte ich noch aufmerksam machen, welche für die Milchzähne von unbedingtem Nachtheile ist. Dies ist das sogenannte „Schlotzen“ an einem Gummisauger, um den eine Hornscheibe gelegt ist, damit das Kind ihn nicht verschlucken kann. Man begegnet diesem „Schlotzer“ oder „Schnuller“ vorzugsweise in Süddeutschland und nicht selten im Munde von Kindern, bei denen man die Anwesenheit sämmtlicher Milchzähne voraussetzen darf. Ich habe Kinder gesehen, die bis zu ihrem dritten Jahre noch dieser geradezu ekelhaften Gewohnheit huldigen durften, nicht nur des Nachts im Schlafe, sondern auch am Tage auf offener Straße beim Spielen etc.

Abgesehen davon, daß diese Gummischlotzer meistens mit Zuckerwasser befeuchtet werden, wodurch der Magen geschwächt und der Appetit beeinträchtigt wird – es werden auch die Zähne, besonders die weicheren, durch die mechanische Reizung des Schlotzens so abgerieben, daß fast nur noch die Wurzeln übrig bleiben. Ich hatte einmal Gelegenheit, ein Kind vom Lande zu sehen, das mit 21/2 Jahren infolge schwacher Knochen noch nicht gehen konnte und dessen Zähne durch das fortgesetzte Schlotzen so abgenutzt waren, daß da, wo man Zähne hätte vermuthen sollen, nur schwarze Stellen am Zahnfleische sichtbar waren, die das Vorhandensein von Milchzahnwurzeln andeuteten.

Wenn man bedenkt, wie durch gesunde, gleichmäßige Zähne das Gesicht unserer Kleinen verschönt wird, so muß man die armen Kinder bedauern, die infolge der Unvernunft ihrer Eltern dieses Schmuckes entbehren und bei denen auch die Verdauung Noth leiden muß; demnach ist es unsere Pflicht, die Eltern auf die Wichtigkeit der Milchzähne und deren Erhaltung aufmerksam zu machen, damit sie ihren Kindern zu einem kräftigen und gesunden Kauapparat verhelfen. Dr. E. W.

Zimmerpflanzen im Dezember. In der allgemeinen Behandlung der beständig im Zimmer stehenden Pflanzen ist der Dezember nicht von den vorhergehenden Monaten verschieden; da aber mehr geheizt wird, so trocknen die Pflanzen mehr aus, müssen also sorgfältiger begossen werden. Ist ein Fenster mit Pflanzen gefüllt, so vergesse man nicht, wenn kalte Nächte zu erwarten sind, des Abends die inneren Fensterflügel zu öffnen. Bei großer Kälte ist es sogar nöthig, die Pflanzen nachts auf den Fußboden zu stellen, bis die größte Kälte vorüber ist.

Hierzu tritt die Pflege der Treibpflanzen und neues Einstellen von Hyazinthen, Tulpen etc., wozu noch Crocus, Narzissen und Jonquillen kommen. Diese stelle man sogleich in das Fenster, denn sie vertragen keine hohe Wärme. Sind die in Töpfen gezogenen japanischen Lilien, als Lilium lancifolium in mehreren Sorten, L. auratum, die schöne weiße Goldbandlilie, noch nicht umgepflanzt, so ist es die höchste Zeit. Man beseitigt die im Sommer aufgefüllte Erde, wobei die am Stengel neu entstandenen jungen Zwiebeln abgenommen und vereinigt in Samenschalen oder flache breite Töpfe gepflanzt werden; später im Frühjahr versetzt man sie vereinzelt in Töpfe oder ins Gartenland, auf welche Weise man nach drei Jahren schon schwache blühbare Zwiebeln erhält. Den untern Theil der Erde von alten Zwiebeln nimmt man aus den Töpfen. Haben die Zwiebeln schon neue Wurzeln, so lasse man den Erdballen ganz und setze ihn auf eine schwache Unterlage von neuer Erde, nicht viel höher als die Zwiebeln früher gestanden haben, so daß nur die Spitze der Zwiebeln schwach bedeckt ist; das allmähliche Auffüllen von Erde wird später nach und nach vorgenommen, sobald sich neue Wurzeln an den Rändern des Erdballens zeigen. Sind dagegen die alten Wurzeln schlecht oder gar verfault, so schneidet man sie ab, entfernt die alte Erde und pflanzt die ganze Zwiebel neu ein, aber nicht höher als bis zu einem Drittel der ganzen Tiefe der Töpfe. Die neu angewendete Erde muß sandiger Humusboden sein, also entweder reine Heideerde oder solche [856] mit Laub- oder Holzerde vermischt. Die fertigen Töpfe stellt man bis zum Austreiben in den Keller oder in ein ungeheiztes aber frostfreies Zimmer und hält sie da mäßig feucht.

Wer keine Blüthensträucher treibt oder treiben kann, kann sich einen schwachen Ersatz durch abgebrochene Blüthenzweige verschaffen. Man bricht anfangs Dezember Zweige mit Knospen in einer Länge von 1/3 m ab, bindet sie locker zusammen und stellt sie in ein Gefäß mit erwärmtem Wasser. Man wählt nur frühblühende Arten, mit Vorliebe Kirschen, Mandeln, Pfirsiche, Korneliuskirschen (Herlitzen, Cornus mas), gemeine Syringen (Syringa vulgaris), besonders weißblühende, kann es aber auch mit anderen Blüthensträuchern versuchen. Die Zweige müssen gebrochen werden, weil so mehr Gefäße bloßgelegt werden, welche leichter genügend Wasser aufnehmen, als glatt geschnittene Zweige. Das benutzte Gefäß stellt man auf den Ofen (jedoch nicht auf eiserne Oefen) oder in die Nähe desselben und spritzt die Zweige täglich mit einer Zimmerspritze oder einem Sprühapparat. Alle 8 Tage gießt man etwas erwärmtes Wasser hinzu; wird das Wasser im Gefäß aber übelriechend, so wird das alte ganz abgegossen und durch frisches erwärmtes ersetzt. In dieser Weise behandelte Zweige blühen gegen Weihnachten, manche, wie Herlitzen, schon nach 2 Wochen; Sträucher, bei denen sich erst kurze Blüthenzweige bilden müssen, wie Syringen, blühen allerdings kümmerlich, aber sie erfreuen dennoch. H. J.

Erinnerungen an Friedrich Theodor Vischer. Der vor nunmehr zwei Jahren verstorbene Stuttgarter Aesthetiker Vischer war eine in hohem Grade gesellige Natur. Er liebte es, sich auszusprechen, und theilte gern mit von seinem Inneren. Eine anregende Unterhaltung im vertrauten Kreise der Familie oder geistesverwandter Seelen war ihm seine liebste Erholung, und die Nachmittage, an denen er kein Kolleg zu lesen hatte, waren eigens dem Verkehr mit den Freunden gewidmet. Es war deshalb zu erwarten, daß nach seinem Hinscheiden die Zahl derer, die etwas über ihn zu erzählen wissen würden, eine große sein würde, und in der That ist bereits eine Reihe von Veröffentlichungen erschienen, die den großen Todten zum Mittelpunkte haben.

Vor uns liegt ein im G. J. Göschenschen Verlag erschienenes Büchlein „Vischererinnerungen“. Seine Verfasserin ist Ilse Frapan, die sich auch als Novellistin einen Namen gemacht hat und die in Vischers letzten Lebensjahren ganz zu seinem engsten Kreise gehörte. Mit offenherziger Gewissenhaftigkeit erzählt sie uns, wie sie dem verehrten, aber noch mehr gefürchteten Mann – galt ja doch der Verfasser von „Mode und Cynismus“ als ein ausgesprochener Weiberfeind – zuerst von Hamburg aus einige Verse zur Beurtheilung übersandte und darauf eine so freundlich ermunternde Antwort bekam; wie sie dann nach Stuttgart übersiedelte, um Vischer zunächst durch seine öffentlichen Vorlesungen persönlich kennen zu lernen, und wie sie endlich sogar einen Besuch bei dem Gefeierten selbst wagte. „Wir (d. h. die Erzählerin mit einer gleichgesinnten Freundin) wanderten die stille schöne Kepplerstraße entlang und suchten Nummer 34, 2 Treppen. Kein elegantes Haus, aber ein sauberes, gut bürgerliches. Nun standen wir vor der Glasthür im zweiten Stock, lasen links an der Wand das Schildchen mit der Aufschrift: ‚Vischer, Professor‘, und wagten nicht, die Glocke zu ziehen. Als es dann doch geschehen mußte, erschraken wir vor ihrem hellen Ton und wären fast noch davongelaufen. Aber eine ältere Dienerin erschien, legte ein bißchen die Hand ans Ohr, um das ihr fremd klingende Norddeutsch zu verstehen, und sagte: ‚Ja, der Herr Professor sind zu sprechen, gehen Sie nur hinein, da grad vor!‘ Ich klopfte zaghaft; es wurde kräftig ‚herein!‘ gerufen, und da stand er nun, der Bewunderte, Verehrte, mitten in seinem Schreibzimmer, im Schlafrock, und nahm, als er die fremden Gesichter erblickte, die Pfeife aus dem Munde, die ihn und seine Umgebung in große Wolken eingehüllt hatte. Wie herrlich er zu dem Zimmer und das Zimmer zu ihm paßte! Mir schien, als habe ich das alles schon einmal gesehen, in einem freundlichen Traum oder in einem alten Buche. Es war das Urbild eines deutschen Gelehrtenstübchens.“

Ilse Frapan schildert uns nun Vischer als Redner und Lehrer, bei sich daheim und in der Geselligkeit, bald ins Große, Allgemeine strebend und des Geisteshelden innerstes Wesen zu erfassen und zu erläutern suchend, bald in behaglicher Kleinmalerei sich verbreitend über des Mannes menschlich einfache Züge. Es soll dabei aber nicht verschwiegen werden, daß der Verfasserin manches mit unterläuft, was nicht nothwendig zu des Dichters Lebens- und Charakterbild gehört und besser ungesagt geblieben wäre.

Schier unerschöpflich ist die Fülle von gelegentlichen Bemerkungen und Aussprüchen aus Vischers Munde, von Anekdoten und Witzen, mit denen er seine fesselnde Unterhaltung freigebig würzte, und die alle zusammen das Bild des seltenen Mannes so deutlich faßbar, wie er leibte und lebte, vor uns erstehen lassen. Einer der köstlichsten Witze ist der folgende: Im Jahre 1844 wurde Vischer wegen freimüthiger Aeußerungen vom Katheder herab auf zwei Jahre seines Amtes als Professor an der Tübinger Hochschule enthoben; zu gleicher Zeit aber wurde ihm sein erster und einziger Sohn geboren. Beides zeigte er seinen Zuhörern im Kolleg mit den Worten an: „Meine Herren, ich habe heute eine unwillkommene Muße und eine willkommene Unmuße, einen großen Wischer und einen kleinen Vischer, erhalten.“

In seiner Jugend war er eine Zeitlang Vikar in einem erschrecklich öden württembergischen Pfarrdorfe. „Meine Wohnung,“ erzählte er, „war eine wahre ‚Lotterfalle‘, das heißt eine ganz schlechte verfallene kleine Stube mit Oktavfenstern und einem Kachelofen, der zwar eigentlich auch bei mir Wärme verbreiten sollte, sie aber meist der Studierstube des Pfarrers spendete, die nie benutzt wurde, denn der Pfarrer guckte nie ein Buch an.“

Die entsetzliche Langeweile in dem einsamen Dorfe und bei dem offenbar geistig nicht sehr anregenden Pfarrherrn preßte ihm einmal den schönen Vers aus:

„Am Fenster steh’ ich ohne Sorgen
Und werf ein Bröcklein Weck[1] hinaus,
Die Enten thun’s hinunterworgen –
Das ist für meinen Geist ein Schmaus!“ =


Die billigsten Jugendschriften sind wohl die hübschen Bände der „Universalbibliothek für die Jugend“ (von 20 Pfennig an bis höchstens 1 Mark 20 Pfennig), ihr größter Vorzug ist aber sicher der, daß der äußerst gering bemessene Preis ihren inneren Werth in keiner Weise beeinträchtigt hat. Neben den anerkannt werthvollen älteren Jugendschriften hat die Verlagshandlung die besten Erzeugnisse der hervorragenden lebenden Jugendschriftsteller aufgenommen und damit thatsächlich eine Universalbibliothek geschaffen, die ganz geeignet erscheint, jedem nicht gar zu hoch gesteigerten Wunsche Befriedigung zu gewähren. Da sind Erzählungen von Hebel, Jacobs, Christoph von Schmid, Ottilie Wildermuth, Marie Nathusius, Franz Hoffmann, Blüthgen, Höcker, Pichler; Indianer- und Seegeschichten von Cooper, Marryat, Ferry, Murray, Bird; Märchen, Sagen, Fabeln und Gedichte von Musäus, Hauff, Andersen, K. Fr. Becker, Schwab, Gellert, Pfeffel etc. – alle in Originalausgaben oder in sorgfältigen, von kundiger Hand ausgeführten Bearbeitungen. Und dem gediegenen Inhalt entspricht in jeder Beziehung die äußere Ausstattung der Bändchen. Dieselbe ist eine durchaus solide und gefällige, so daß die Bände sowohl für Bibliothekzwecke wie für den Geschenktisch gleich warm zu empfehlen sind. D. Th.

Buchstaben-Vexirräthsel.

Die richtig zusammengestellten Buchstaben geben den Namen eines Minnesängers und den Titelhelden einer Oper, auf welchen die Embleme hinweisen.




Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Reiselustiger in Gr. Die schon im Briefkasten von Nr. 27 besprochene Angelegenheit ist nun von der letzten internationalen Fahrplankonferenz dahin geregelt worden, daß alle schnellfahrenden Personenzüge, bei welchen erhöhte Fahrpreise erhoben werden, die einheitliche Bezeichnung „Schnellzug“, nicht, wie zuerst vorgeschlagen war, „Eilzug“ führen sollen. In den deutschen Winterfahrplänen ist dieser Beschluß bereits durchgeführt worden.

D. S. in K. Da Sie in einer Hafenstadt leben, sollten Sie wissen, was man unter „Flaschenposten“ versteht. Dieselben dienen zur Bestimmung der Meeresströmungen. Früher lieferten hierfür Baumstämme und Pflanzen, deren Herkunft von gewissen Küsten bestimmt werden konnte, wenn sie in der See treibend oder an fremden Küsten angeschwemmt gefunden wurden, wichtige Fingerzeige. In unserer Zeit haben die Seefahrer in der sog. „Flaschenpost“ ein anderes Mittel, das die Erforschung der Seeströmung viel zuverlässiger macht. Deutsche Schiffe, sowohl Kriegs- wie Kauffahrteischiffe, besorgen auf ihren Fahrten regelmäßig die „Flaschenpost“. Von der Admiralität und der „Deutschen Seewarte“ in Hamburg werden den Kapitänen vorgedruckte Formulare übergeben; auf denselben, den Flaschenpostzetteln, die von dem Kapitän nur ausgefüllt zu werden brauchen, sind Ort und Zeit angegeben, wann die Flaschenpost dem Meere anvertraut wurde, und außerdem befindet sich darauf eine Bitte an den Finder der Flasche, seinerseits auf dem Zettel Ort und Zeit des Fundes zu vermerken und den Zettel an die deutsche Admiralität oder die deutsche Seewarte zu senden. Die Zettel werden von den Schiffskapitänen in leere, mit etwas Sand beschwerte und gut verkorkte Flaschen gethan, und darum heißt die Einrichtung: „Flaschenpost“.


Inhalt: Eine Erscheinung. Hinterlassene Erzählung von Fanny Lewald. S. 837. – Der Nordostseekanal im Herbst 1889. Ein Ueberblick von Gerhard Walter. S. 842. Mit Illustrationen S. 837, 841, 842, 844, 845, 848 und 850. – Ein lustiges Lied. Illustration. S. 849. – Sakuntala. Novelle von Reinhold Ortmann (Schluß). S. 850. – Deutsche Bühnenleiter. Max Staegemann. Von Dr. H. Tischler. Mit Porträt. S. 853. – Blätter und Blüthen: Geschenkwerke für den Familientisch. I. S. 854. – Der Werth der Milchzähne. S. 855. – Zimmerpflanzen im Dezember. S. 855. – Erinnerungen an Friedrich Theodor Vischer. S. 856. – Die billigsten Jugendschriften. S. 856. – Buchstaben-Vexirräthsel. S. 856. – Kleiner Briefkasten. S. 856.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Weißbrot.